Julian Sternberg: Der neue Thomas Mann
Thomas Mann, „Der Zauberberg“. Verlag S. Fischer, Berlin. Vier große Epiker, vielleicht darf man sogar getrost sagen, die vier großen Epiker der deutschen Gegenwart, sind beinahe gleichzeitig mit neuen Werken vor das Publikum getreten: Gerhart Hauptmann und Thomas Mann, Artur Schnitzler und Jakob Wassermann. Schnitzler stürmt seinen Weg dahin, Hauptmann schlendert, Wassermann wandelt, Thomas Mann aber schreitet. An den Priester, der die Messe zelebriert und weihevoll als bewußter Vertreter der Gottheit den Altar umkreist, muß man unwillkürlich denken, will man zunächst einmal sich selbst den Eindruck klar machen, den der Erzähler der Buddenbrooks in seinem neuen Werke durch die Art seines Vortrages hervorruft. Ungemein schwierig übrigens, eine tragbare Brücke zu schlagen zwischen dem berühmten Entwicklungs- und Geschlechterroman Thomas Mann´s und seiner letzten Schöpfung, in der, trotz der verwirrenden Fülle der Gestalten doch nur ein Einzelschicksaal restlos abgewandelt wird, das des Hamburger Patriziersohnes Hans Castorp, der auf dem „Zauberberg“, in einem Sanatorium in Davos zu der wahren Erkenntnis von den eigentlichen und letzten Aufgaben des Menschen gelangt, der alle inneren Kämpfe seelischen Zwiespaltes zuvor siegreich bestehen muß, die Thomas Mann, der Denker und Essayist in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ mit so glühenden, aus der Zeit und ihren Nöten hervorgeholten Farben geschildert hat.
Zuvörderst die Bemerkung, daß es eigentlich so aussieht, als habe Thomas Mann sich diesmal das Ziel gesetzt, in seinem 1200 Seiten starken Roman zu zeigen, daß der Roman als Kunstform, wie ihn seine erlauchten Ahnen, die Balzacs und Dostojewskis, als Rahmen für künstlerische und ethische Glaubensbekenntnisse benützt haben, endgiltig ausgespielt hat.
Er verschmäht es, den Durchschnittsleser durch den lockenden Reiz der bewegten Handlung näher zu kommen und sich damit etwa zu begnügen, daß doch etwas irgendwo haften bleibt von dem Gedankeninhalt des Buches, daß hier und da, von günstigem Wind verweht, ein Samenkorn in einer herablassend überlegenen Selbstverständlichkeit steht es auf jeder der vielen hundert Seiten zwischen den Zeilen geschrieben: Apage Satanas! womit der Durchschnittsleser des Unterhaltungsromans gemeint ist. Dieses Buch fordert starke Nerven und noch mehr; beinahe ebensoviel Geduld nämlich, wie sie die erste und selbstverständliche Bürgerpflicht der Insassen des Zauberberges bildet. Zunächst heißt es sich da und dort zu aklimatisieren, im Buche sich daran gewöhnen, seine Leserexistenz ausschließlich zwischen Schwerkranken und Sterbenden zu verbringen, sich in das Denken und Fühlen dieser Menschen hineinzufinden, die im Bannkreise des Zauberberges leben, die bewußt oder unbewußt den scharfen Trennstrich gezogen haben zwischen sich selbst, ihren Gedanken und Empfindungen, ihrem Hoffen und Fürchten, ihrem Hassen und ihrem Lieben auf der einen Seite und denen da unten im Flachland, den Sklaven des Zeitbegriffs, die nicht das Recht der Schatten genießen, im großen Stil zu rechnen, den Monat oder das Jahr als Zeiteinheit zu betrachten. Für das Dasein auf dem Zauberberg gibt es eben keine Ufer. Das verbietet die Krankheit von der wieder zu genesen, den meisten nur eine Fata Morgana darstellt, die sie im nächsten Augenblick als trügerische Lichtspiegelung durchschauen. Beständige Todesängste bringt es mit sich, so scheint der Dichter zu lehren, daß das Ewig-Menschliche sich freier und unbehindert entfaltet, daß gleich gelösten Ketten die Hemmnisse zu Boden klirren, die den gesunden Durchschnittsmenschen dazu veranlassen, vor sich selbst das unvergänglich Schöne des Menschlichen ganz ebenso zu verleugnen und krampfhaft zu verbergen, wie vor der Umwelt, der man sich nur von Kopf bis zu Fuß gepanzert, mit herabgelassenem Seelenvisier zu zeigen wagt. In jedem Durchschnittsmenschen steckt Faust. Das aufzuzeigen erscheint mir der Wesenskern des neuen Romans Thomas Mann´s.
Solche Heil- und Unheilsbotschaft wandelt er an seinem Helden ab, dem jungen Mann, der sich gesund dünkend, den Zauberberg besteigt, um dort einen kranken Vetter zu besuchen, selbst als Schwindsüchtiger entlarvt wird und dann sieben Jahre lang dort bleibt.
Sieben Jahre: Vielleicht ist diese biblische Frist nicht zufällig gewählt. Vielleicht meint der Dichter sieben Jahre lang habe sein Jakob inbrünstig werden müssen, um die Rachel reifen Menschentums, bis sie sich ihm erschließt und ergibt. Und dann scheidet Hans Castorp aus dem Zauberberg: Sein Vetter, der angehende Offizier, ist dem fürchterlichen Leiden erlegen, wie so viele, viele andere, die in diesem Buche vorbeiwirbeln, das einem großen Friedhof gleicht, auf dem die Lichter unzählige Gräber überglänzen. Und jetzt erreicht der Dichter den Höhepunkt seiner gewaltigen Ironie, indem er Hans Castorp am Schlusse des Romans in den Weltkrieg ziehen läßt. Der Überwinder seiner Krankheit wird zugrunde gehen an der großen Massendummheit und Massenverbohrtheit. Dort, wo Thomas Mann mit grauenhafter Eindringlichkeit und entsetzenerregender Plastik von den Gebresten des menschlichen Körpers spricht und dartut, wie oft sich die schwarzen Abgründe öffnen, wie selten ärztliche Kunst oder ein gewaltsames Aufraffen der Natur die Rettung bringt, wirkt er im Grunde doch nicht nihilistisch. Er ist freilich kein unbedingter Bejaher des Glaubens an den Fortschritt des menschlichen Wissens und er lächelt skeptisch zu der Vorstellung, daß solcher Fortschritt doch im Laufe der Generationen der Vernichtung immer mehr Boden gewinnt; er läßt jedoch die Frage wenigstens offen und jedem Leser bleibt es unbenommen zu glauben und zu hoffen. Ganz ebenso wie auch die Schwerkranken in Davos, selbst jene, die triumphierend von sich das Gegenteil verkünden, das Glauben und Hoffen in Wahrheit nicht verlernt haben. Aber dieser Schluß mit dem Schicksal Hans Castorps, welches das Schicksal so vieler deutscher Durchschnittsmenschen gewesen ist, wirkt niederdrückend und reckt sich mit eiskaltem Prankengriff gegen das wehrlose Herz. Hans Castorp ist, das wiederholt der Dichter mit unermüdlicher Eindringlichkeit, ein Durchschnittsmensch. Darum augenscheinlich mißt er ihm auch ein Durchschnittsschicksal zu. Hans Castorp ist in das arge Tanzvergnügen des Weltkrieges hineingerissen worden. „Wir wollen nicht hoch wetten“, läßt sich Thomas Mann vernehmen, „daß er daraus davonkommt.“ Und er apostrophiert seinen Helden: „Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekümmert die Frage offen.“ Dann rechtfertigt er den Ausdruck „Unbekümmertheit“. Er habe die Geschichte Hans Castorp nicht um seinetwillen, sondern um ihretwillen erzählt. Damit hat der Dichter den letzten Schleier von der Wesensart seines Werkes weggezogen. Um seiner Gestalten willen, erzählt der Romanschriftsteller. Anders der Essayist, dem jene Objektivität, jenes Distanzhalten Selbstverständlichkeit bilden, die dem neuen Werke Thomas Mann’s ihre Signatur aufdrücken.
In: Moderne Welt (1925), H. 15, S. 21, 24, 36.