Schlagwortarchiv für: Leben

Carl Marilaun: Die jungen Männer

„Der ‚junge Mann von Welt’, dessen österreichischer, Wienerischer Spielart Richard Schaukal, ein älterer Mann von Welt vor zehn Jahren ein ironisch-apologetisches Brevier gewidmet hat, ist im Aussterben begriffen. Er war ein ‚junger Herr’, und servierte seine tadellos manikürte, nach dem Journal des Londoner Schneiders equipierte und hinreißend gescheitelte Eleganz jeden Mittag in der großen Korsoauslage zwischen Graben und Kohlmarkt. Er war bei Demel zu treffen oder in der Weinstube der Berta Kunz, er plauderte mit Frau Anna Sacher unter der roten Glashalle ihres Hotels, er stand wie angewachsen an der Sirk-Ecke, man traf ihn in der Burgtheaterloge und beim Stelzer, und sein Vormittag in der Statthalterei oder am Ballhausplatz war nur die Einleitung zum Gustostück seines nicht allzu anstrengenden, aus lauter angenehmen, aber dringenden Nebensächlichkeiten bestrittenen Daseins: zum Gang über Graben und Kärntnerstraße, wo man eine Menge von Leuten Gutentag zu sagen und einer Unzahl schöner Frauen die Hand zu küssen hatte.

Heute gibt es nur noch junge Männer in der Gegend des ‚jungen Herren’. Das hübsche, etwas nichtige, nette und küssdiehandgeschäftige Gesicht des jungen Mannes von Welt ist auch auf dem wohlsituierten Korso nicht mehr zu erblicken. Wie es überhaupt auch keinen eigentlichen Korso mehr gibt, welche Tatsache ich natürlich keine melancholische und nicht einmal eine bissige Betrachtung zu knüpfen ersonnen bin. Graben und Kärntnerstraße sind belebter als je, und die jungen Männer, die man dort trifft, tragen zwar bereits Anzüge und Winterröcke des Londoner oder eines nicht billigeren Wiener Schneiders, aber sie behalten den Hut auf dem Kopf, wenn sie mit dem gewissen, unangenehm und impertinent taxierenden Blick des jungen Mannes von heute mit ihren Damen sprechen. Zu ihrer Entschuldigung könnten sie allerdings anführen, daß die Damen danach sind, wenigstens meistens. Der gesellschaftliche Verkehr vollzieht sich auf der Basis einer gegenseitigen und wahrscheinlich wohlangebrachten Geringschätzung. Man trifft sich mittag auf dem Kohlmarkt und begrüßt einander mit einem Augurenlächeln, das vermutlich anderen, weniger gesellschaftsfähigen, aber Gott sei Dank zurückliegenden Begegnungen gelten dürfte. Wenn diese neuen Herrschaften „Guten Tag“ zueinander sagen, klingt es so ungefähr wie: „Weit haben Sie’s gebracht!“ Und da sich die heutige Gesellschaft auch als beste Gesellschaft nicht gern ein Blatt vor dem Mund nimmt, kann man auf dem Kohlmarkt nicht so selten einen jungen Mann im Gürtelüberzieher seine Dame, die einen Pelz von Drecoll oder Grünbaum trägt, mit dem auf dem Graben und Kohlmarkt geflügelt gewordenen Wort begrüßen hören: „Seit wann gehen Sie hier spazieren?“

Worauf der unbeteiligte Zuhörer unter Zuhilfenahme des gesellschaftlichen Jargons eigentlich sagen müßte: „Weit gebracht!“ Aber meistens sagt es schon die Dame selbst.

Man sollte glauben, daß der junge Herr, den es nicht mehr gibt, das am lebhaftesten erstrebte Ideal der jungen Männer von heute wäre. Aber wer dies glaubt, irrt sich vielleicht doch in der Psyche dieser aufsituierten und bereits auf eine bewegte Jugend zurückblickenden Fünfundzwanzigjährigen. Diese jungen Herren haben wirklich andere Sorgen. Ihr Lebensinhalt ist keineswegs der Raglan, den sie tragen. Daß er teuer ist, versteht sich von selbst; daß er beim ersten Schneider bestellt wurde, ist selbstverständlich. Aber er wird lediglich angeschafft, bezahlt und getragen, weil man es sich leisten kann. Man trägt ja auch den wundervoll gerade gezogenen Scheitel des jungen Herrn, aber dieser Scheitel ist eigentlich Sache des Friseurs; eines teuren Friseurs, der für das Geld, das er bekommt, alle unterrichtet, und man knüpft hier jene Verbindungen an, die man in der Taborstraße vielleicht verfehlt hätte.

Wirklich Junge trifft man nicht mehr am Korso. Nur Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährige, denen die Züricher Devisenkurse oder ein greifbarer Posten Chiffon, es können aber auch Schuhnägel sein, den holden Wahn längst ausgetrieben hätte, wenn sie von solchen Torheiten überhaupt jemals etwas auf Lager gehabt haben sollten. Das Leben birgt für sie keine Rätsel und Hindernisse, über die andere gestolpert wären, beseitigen sie mit einem Telephonanruf. Für sie funktioniert nämlich sogar ein Wiener Telefon, denn sämtliche Verbindungen, die sie brauchen, haben sie längst.

Glattrasiert, mit einem Raubtierkinn, breitschultrig, starknackig, gehen sie ihres Wegs; unverträumt, unbelästigt von Widrigem, keinem bösen Zufall anheimgegeben, aber für jeden günstigen parat. Ihnen gehört die Welt. Und davon, daß Schwächlinge in ihr nicht leben können, profitieren sie.

In: Prager Tagblatt, 24.12.1920, S. 3.

A[lfred] P[olgar]: Burgtheater. Die Schönbrunner Dependance – Blätter des Burgtheater.

             Das Schönbrunner Schloßtheater ist ein entzückendes Theater. Der Zuschauerraum, von lachend Rot und Gold überflossen, ein Gleichnis pretiöser Heiterkeit und spielerischer Grazie. Ein Raum in C-Dur, unzeitgemäß wie Erdennot-Ferne, durchatmet von Luxus, Sinnlichkeit, genießerischer Laune. Ein unvergleichliches Bühnchen für zartest-heitere Musik, für subtile Kleinliteratur, für lieblichen Spuk aus Ariels schwereloser Welt.

             Diesem koketten Mozart-Etui jedoch zuzumuten, das Überinventar des Burgtheaters zu bergen, aus diesem Schächtelchen ökonomische Rettung für den wankenden Prunkkasten auf dem Fanzensring gewinnen zu wollen, wäre eine Bieridee, eine Bierersatzidee lächerlichster Art. Durch einen Stacheldraht hoher Billettpreise unzugänglich gemacht, zu Stunden spielend, deren Anfang noch der Werktag schneidet, deren Schluß schon jenseits des Augenblicks, in dem alle gemeinen Möglichkeiten der Fütterung enden, weitab vom Stadtkern gelegen, heute, da Lohnfuhrwerk eine Theorie, und der armen, ihr Tagespensum abkeuchenden Straßenbahn, schief und krumm vor Alter und Überarbeit, jeden Augenblick für kürzer oder länger der Atem ausgeht: wie kann ein so bedingtes Luxustheater auf Gedeihen hoffen? Was soll überhaupt ein Luxustheater in dieser zerbrochenen Stadt und Zeit, an diesem Ort der Krätze, des Hungers, der sauer gewonnenen Witzigkeit, der Angst und der hoffnungslos zerrissenen Stiefel?

             Nach langem höfischen Schlaf ist das Schönbrunner Schloßtheater wieder zum Leben, zu „Tristans Tod“, erwacht. Mit einem ähnlich pappigen Schmatz ist noch nie ein Dornröschen geweckt worden. Wenn es klug ist, legt es sich auf die andere Seite und schläft weiter.

*          *           *

             Es ist die Nummer eins einer neuen Zeitschrift erschienen, die „Blätter des Burgtheaters“ heißt, von Albert Paris Gütersloh gezeichnet. Drei konzentrische Kreise. Der innerste exprimiert, rot auf graublau: Logos, der mittlere: Vita, der Randkreis, also der größte: Ars. Der Kreis „Logos“ ist tiefer Gleichnisse gedrängt voll; der Kreis „Leben“ enthält leicht und gern einschlägige Symbole: Pflug, Grabfahrt, Sonne, Mond, ein sinnendes Mädchen; der Kreis „Kunst“ bietet, konzilianterweise, einen geflügelten, kranzreichenden Genius.

             Einen einleitenden Essay: „Grundsätze“ schrieb Hermann Bahr. Der abgegangene Oberhirt des Burgtheaters bespricht die unlösbare Mischung von Hohem und Gemeinem, als welche das Wesen des Theaters sei. Er redet hievon in jener gütigen Sorgenfalte und Lächeln, Weisheit und Schlichtheit vereinigenden, ein wenig pastoralen, ein wenig tändelnden Freundlichkeit, die seines Geistes Idiom die Charakterfarbe gibt. Von doktrinärer Schwere keine Spur: Wort so biegsam wie Ansicht. Sie würden, das ist das Bezaubernde, mit derselben klugen, seherisch-milden Eindringlichkeit das Gegenteil dieser „Grundsätze“ grundsätzlich bekennen, wären Standpunkt und Gelegenheit andere. Die Welt ist ein farbiger Ball, der sich um viele Achsen dreht, je nach Belichtung oder Verdunkelung jede Farbe des Spektrums als seine Fundamentalfarbe zeigend. Und das Leben, nebst dem, was darunter, nebst dem, was darüber, ist eine Angelegenheit der Dialektik. Sie ist der vierte, inner-innerste Kreis, der Kern des Logos.

             Hermann Bahr hofft, „daß wir nächstes Jahr, nach Verrichtung unserer metaphysischen Andacht durch Claudel und Kornfeld oder Goethes „Pandora“, auch wieder Stücke finden, die, den Tagessinn unbedenklich vergnügend, den Hunger unserer Raben stillen“ Beim Wort „Pandora“ entfährt ihm der Ruf (in Klammer), „welches Fest für Gütersloh müßte das sein!“

             Nächster Beitrag der „Blätter des Burgtheaters“ ist das Fragment einer freien Bearbeitung des Calderon-Spiels „Das Leben ein Traum“ von Hofmannsthal. Vierfüßige Trochäen, deren kurzer Trab eine harte, kühle Musik wie von gestimmten Hölzern macht.

             Es folgt eine schöner Hölderlin-Brief, „über die vaterländische Dichtung“.

             Sodann ein Essay von Erhard Buschbeck: „Versuche im Augenblick“… „Es gilt die Überwindung des Buches auf der Bühne, des literarischen Diktats durch das in der Gebärde sich befreiende Wort, die Erlösung dieses Einsamsten durch die Begeisterung: eine Illumination des Augenblicks.“

             Hierauf Jáakob, Meditation eines Zuhörers von Andreas Thom, der meisterlich die neue Schreibekunst übt, Ultrafarben der Empfindung und des Denkens ins Wort zu verhaften. Und etwas panegyrische Prosa von Walter Eidlitz über „Hedwig Bleibtreu, die Hüterin von Jáakobs Traum“

             Zur Architektur von „Dies irae“ hat Richard Smekal einiges zu bemerken. Ich möchte gern von ihm auch einiges über die Architektonik des Dichters selbst hören, der vor kurzem eine Adresse an Barbusse unterzeichnet hat und doch „Weihelieder den verbündeten Heeren“ sang, darunter ein furchtbar prophetisches „Vae victis!“ Das Gleichgewichtsprinzip, das solche zwei Kundgebungen an ein und dieselbe Dichterseele bindet, wäre schon essayistischer Durchleuchtung wert.

In: Der Neue Tag, 8.6. 1919, S. 11.

Else Feldmann: Hof im Allgemeinen Krankenhaus

            Letzte Sonnentage. Wenn man von draußen kommt, von der Straße, von der Welt, fühlt man einen Augenblick die beklemmende Stille. Draußen geht das Leben weiter: man hört die Signale der Straßenbahn und der Autos, den Lärm und die Erregung der Menschen dringen durch das offene Tor herein, Zeitungen werden ausgerufen …

            Hier, auf den Betten unter den Bäumen liegen die Kranken. Vielleicht der letzte Sonnentag!

            Das Laub fällt langsam, zärtlich auf ein todbleiches Gesicht. Eine junge Frau sagt zur Krankenschwester: „Die Natur ist gut, die Natur ist gerecht: im Herbst muß alles sterben, alles geht zugleich zur Ruh. Das Leben der Menschen ist nicht gut, nicht gerecht: die einen müssen dahin, während die andern blühen und leben …“

            Die Schwester gab ihr eine Injektion. –  –  – Das Leben der Menschen ist nicht gut. –

            Eine alte Frau kam mit Blumen. Die Frau war noch gar nicht so alt, sie sah nur so unendlich traurig aus. Einen kleinen Strauß hatte sie in der zitternden Hand, draußen bei der Blumenfrau gekauft; eine ganz dunkelrote Rose, zwei gelbe, zwei rosa und zwei rote Nelken, eine große weiße Aster und ein wenig Farrenkraut; das Ganze war schändlich auf Draht gezogen.

            „Dort liegt Ihre Marie“, rief ihr die Schwester zu. Sie ging zu dem Lager der Marie. Die schrie leise auf. Das war nicht mehr ihr Kind, so mager, so dünn, so bleich, ein ganz kleines bläulichweißes Gesicht; nur die blonden Haare waren noch jung und lebendig. Die Mutter legt die Blumen auf das Bett in die bleichen, papiernen Hände, und sie weint nicht, sie sieht nur immer auf ihr Kind und sagt: „Marie, aber Marie …“

            Zwei Ärzte gehen vorüber in weißen Mänteln, rauchen Zigaretten, plaudern. Auf den Bänken sitzen junge Burschen, Kinder mit amputierten Beinen; die Krücken stehen neben ihnen.

            Der Wagen mit dem Essen fährt die Allee hinauf.

            Der Herr Professor ist im Auto angekommen, begibt sich in seinen Saal. Aus der Ambulanz hört man kurze, durchdringende Schreie. Man sieht durch das offene Fenster Blut und Knochen.

            In der Herzabteilung ist es ruhig, lautlos. Die Kranken liegen unter Decken, das Atmen ist ihre schwerste Arbeit. Ihre Augen sind wie weltentrückt. Wenn Besuch kommt, ein Vater, eine Mutter, ein Sohn, ein Bruder, schweigen sie meist – Reden strengt sie an und die Mutter oder der Vater sagt sogleich: „Sag‘ mir nichts sei nur still.“

            Im Park vor der Augenklinik stehen die armen galizischen Flüchtlinge, mit der schweren ägyptischen Augenkrankheit, dem Trachom. Ein alter Jude, fast blind, steht angelehnt an einem Laternenpfahl. Er ist aus Sadogora und ganz allein. Er trägt einen breiten grünen Schirm; seine Augen sind rettungslos verloren.

            Und noch ein paar aus dem Kriege sind da. Nachzügler. Sie schleppen sich seit Jahren von Spittal zu Spittal. Nimmer können sie genesen. Jetzt, da sie die Sonne sehen, die sie warm anscheint, sind sie übermütig. Sie haben eine Mundharmoniker, einer hat eine Okarina, sie spielen, pfeifen, trällern Lieder und machen das schönste Konzert – aber nur gedämpft – alles ist hier gedämpft, ein Krankenhaus – stille – Kinderlein, still. Wollt ihr lachen, ihr genesenen Soldaten, obgleich ihr starken Schaden genommen habt? Bei dem einen sieht man die Schulter-, bei dem andern die Kopfprothese … Ein Vorübergehender hat ihnen die heutige Zeitung geschenkt. Welch ein Geschenk! Der eine liest lachend vor: „Drohender Eisenbahnerstreik in England.“ Er wirft die Zeitung hin. Alle schauen einem Dienstmädchen nach, das mit ihren Milchkannen dahintänzelt, sich umdreht und lacht.

            „Habt ihr gesehen,“ fragt der eine, „wie sie gelacht hat?“

            „Was willst?“ sagt der mit der Schulterprothese – „wir sind Krüppel.“

            Am sonnigsten Platz, mitten im trockenen Herbstrasen sitzen auf den kleinen Klappsesselchen die Schwangeren. Sie leben hier in den Tag hinein und warten auf die Geburt. Dienstmädchen, ledige Frauen; manche sind hübsch und sorglos, der Leichtsinn der Jugend schaut ihnen aus den Augen. Andere aber wieder sitzen da in Schwermut und Verzweiflung. Eine ist ganz zerknirscht und weint den ganzen Tag. Sie fragt immer, ob kein Brief für sie da sei. Drüben geht das Sterbeglöcklein – die Schwangere seufzt, sie weint. Dunkel ist der Tod – dunkel ist das Leben …

In: Freie Stunden. Beilage zu „Die Frau“, Nr. 10, 1924, S. 1.