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Grete Urbanitzky: Berichte aus der Wirklichkeit

             Reportage, eine in Frankreich und Amerika längst anerkannte Kunstgattung, beginnt nun auch bei uns, besonders seit den Bemühungen von Egon Erwin Kisch, ernst genommen zu werden. Man lernt die schwindelhaft aufgemachten Sensationsberichte gewisser Blätter von den Berichten aus der Wirklichkeit zu unterscheiden, die die Erzeugnisse verantwortungsbewußter Journalisten und Schriftsteller sind und dem denkenden Zeitgenossen das wirkliche Leben der Gegenwart in packenden Bildern nahebringen. Darum ist das neue Unternehmen des Verlags „Die Schmiede“, Berlin, sehr zu begrüßen, eine Reihe unter dem Titel „Berichte aus der Wirklichkeit“ herauszubringen. Selbstverständlich ist Egon Erwin Kisch in dieser Sammlung vertreten, der in seinem „Kriminalistischen Reisebuch“ eine Schilderung der Verbrechen aller Zeiten und Länder gibt, die von ihrem Verfasser an ihren Schauplätzen aufgesucht und aufgeklärt wurden. Der Leser erhält durch dieses Buch unmittelbaren Einblick in die romantische und doch sachliche Arbeit des Reporters großen Stils.

             Erschütternd wirkt die von Hans Siemsen herausgegebene Briefreihe „Verbotene Liebe“ – Briefe eines Homosexuellen. Das Wesentliche an diesem Buche, dem Hans Siemsen ein ausgezeichnetes Nachwort über das Problem an sich gibt, ist, daß es den Homosexuellen nicht als einen anderen Menschen zeichnet, sondern erkennen läßt, daß auch diese Liebe dieselben Verwicklungen, dieselbe Tragik und die gleiche Naivität kennt, wie die sogenannte normale. Wüßte man nicht, daß diese Briefe von einem Homosexuellen geschrieben sind, so könnte man das Schicksal dieses Knaben, der unter die Räder eines nur allzu gewöhnlichen Liebesschicksals gerät, als das eines jungen Mädchens ansehen. Leo Lania schildert in „Indeta“ – Die Fabrik der Nachrichten“ ein großes Korrespondenzbureau. Obwohl sich hinter der Indeta keine bestimmte Telegraphenagentur verbirgt, wirft das Buch dennoch scharfe Schlaglichter auf das Wesen und die Organisation des modernen Nachrichtendienstes überhaupt.

             Der französische Dichter Pierre Mac Orlan erzählt in dem Bändchen „Alkoholschmuggler“ von der großzügigen Organisation der Steuerhinterziehung um billigen, für Fabrikationszwecke freigegebenen Spiritus als teuren Alkohol in den Handel zu bringen. Das Buch gewährt einen Einblick in die sehr interessante Welt großzügiger Schiebungen. Als schwächstes Bändchen erscheint mir Eduard Trautners „Gott, Gegenwart und Kokain“, das eine Reihe von Menschen zeichnen will, die dem Giftgenuß verfallen sind und an ihm zugrundegehen. Die Darstellung dringt nicht zum Wesentlichen vor, sondern gibt lediglich Phantasien über das Thema. Wenn aber alle Bändchen der Reihe schwächer wären, so wäre die Berechtigung eines derartigen Versuches, Berichte aus der Wirklichkeit zu geben, allein durch eines aus der Sammlung erwiesen, durch das wundervolle Buch Joseph Roths „Juden auf Wanderschaft“. Wie der Verfasser ausdrücklich betont, wendet es sich nicht „an jene Westeuropäer, die aus der Tatsache, daß sie bei Lift und Wasserklosetts aufgewachsen sind, das Recht ableiten, über rumänische Läuse, galizische Wanzen, russische Flöhe schlechte Witze hervorbringen“. Der Verfasser wendet sich an jene Leser, „vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Achtung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet: Westeuropäer, die auf ihre sauberen Matratzen nicht stolz sind, die fühlen, daß sie vom Osten viel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen, daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große Menschen und große Ideen kommen“. Der Westeuropäer pflegt über Bericht über die Wesenheit der Ostjuden mit einem Achselzucken hinwegzugehen, der Ostjude ist für ihn „entdeckt“, und ahnt nicht, welche geheimnisvolle Welt in seiner Nähe ihm noch völlig unerschlossen ist. Was Joseph Roth von der Sehnsucht des Ostjuden nach dem Westen erzählt, von den jüdischen, kleinen Städtchen, von dem Leben der Ostjuden in ihrer Heimat, von den Chassidims, den orthodoxen Juden, die die praktische Idee des Zionismus nicht verstehen können, das rührt tief an unser Herz und enthüllt uns eine fast unbekannte, geheimnisvolle Welt. Besonders interessant ist, was Joseph Roth über die westlichen Ghettos zu erzählen hat, über das Schicksal der Juden in Berlin, Paris, Amsterdam, Marseilles, in Amerika, in Sowjetrußland. Ein bitteres Wort steht in diesem Buche, das Wien nicht zur Ehre gereicht: „Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein; es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien.“ Voll Hoffnung blickt der Verfasser nach Sowjetrußland, wo die Judenfrage gesetzlich gelöst wurde: „Jeder muß achtungsvoll zusehen, wie ein Volk befreit wird von der Schmach zu leiden, und ein anderes von der Schmach, zu mißhandeln“.

             Es sei noch bemerkt, daß der Verlag „Die Schmiede“ die Pappbändchen seiner Serie mit dem billigen Preis von 1.80 Mark in den Buchhandel bringt.

In: Der Tag, 8.7. 1927, S. 10.

Ernst Fischer: Im Schatten der Maschine

Vor einigen Jahren stand ich in der großen, weißen Halle eines Wasserkraftwerkes, das mit vielen Feierlichkeiten eröffnet wurde. Ein Redner nach dem anderen würdigte das Ereignis, ein Redner nach dem anderen sprach von Volkswirtschaft, Aufbauarbeit, Fortschritt und was man so sagt, wenn man dazu berufen ist. Es war sehr langweilig. Schließlich besprengte ein Priester die blanken, jungen Maschinen mit Wasser und weihte sie im Namen des Herrn, nahm sie auf in die Gemeinschaft der katholischen Kirche. Auch für uns Menschen hatte er einige Tropfen übrig, obwohl wir nicht so gute Christen waren, nicht so fleißige Gottesstreiter wie die braven Maschinen und die braven Feldhaubitzen.

Dann trat der Monteur an ein Schaltwerk und stellte einen Hebel: und von diesem Augenblick an bereute ich es nicht, daß ich zu der Eröffnung des Wasserkraftwerkes hinausgefahren war. Hoch oben auf dem Berg hinter dem weißen Haus stürzte das Wasser des gefangenen, des gebundenen Wildbachs in das Turbinenrohr. Heulend, singend, jubelnd, gurgelnd, sausend, orgelnd brach das Element in die Halle herein. Tausend Raubtiere, Drachen, Riesen, Dämonen waren losgelassen, tausend Urwaldstimmen vermengten sich zu wüstem Gesang, tausend Posaunen des Untergangs schleuderten irre Musik in das Chaos. Es war, als habe jemand die dünne Schicht Ordnung und Gesetz, die Haut der Natur, die wir für das Wesen der Dinge halten, von allem Dasein gerissen, als habe jemand die schreckliche Wahrheit, das fürchterliche Blut des Daseins entfesselt. Immer gewaltiger, immer drohender wurde das Gedröhn – in einer Sekunde mußte die Halle zusammenbrechen, mußten Trümmer von Stein und Erz uns alle begraben. Einige öffneten den Mund, riefen, so laut sie konnten, den neben ihnen Stehenden etwas zu – man hörte nichts, die Stimme des Menschen wurde hinweggefegt von der übermenschlichen Stimme niederstürzender Elemente. Hinweggefegt wurden die schönen Worte: Volkswirtschaft, Aufbauarbeit, Fortschritt, hinweggefegt die wohlgefügten Gedanken der Minister, Abgeordneten, Industriellen, die das Wasserkraftwerk eröffnet hatten – der Berg brüllte, das Wasser schrie, die Mächte triumphierten über den Menschen.

Und plötzlich – geisterhaftes Schauspiel! – zitterten die Maschinen aus ehernem Schlaf empor, plötzlich pochten die Pulse der glänzenden Ungeheuer, plötzlich begannen die Räder sich feierlich zu drehen, begannen die Kolben zu stampfen, die Riemen zu gleiten, die Walzen zu rollen. Und plötzlich sprang aus hundert Lampen elektrisches Licht in den weißen Tag, plötzlich schlug das Wasser, das in den Turbinen schoß, hundert gespenstische Augen auf. Plötzlich starrte das Element aus hundert gespenstischen Augen uns an… […]

Von Zeit zu Zeit, im Verlauf der Jahre, war es auf einmal wieder da, diese unvernünftige Angst, dieses Grauen vor der Uebermacht der Maschine – stets aber fand ich pathetische Worte und beruhigende Beweise gegen das Gefühl der Ohnmacht und der Hoffnungslosigkeit, gegen die jähe Vision, daß unser eigenes Werk uns niederwirft, daß wir alle unter die Räder geraten, die wir ins Rollen brachten. Unsere Phantasielosigkeit überwindet solche Eindrücke, diese Phantasielosigkeit, die uns vor dem Wahnsinn bewahrt und die menschliche Gesellschaft mit all ihrem Elend, mit all ihren Krisen und Kriegen, mit all ihren wohlgeordneten Schändlichkeiten und salbungsvollen Schurkereien zusammenhält.

Diese Phantasielosigkeit dann und wann zu zerstören, ist höchste Aufgabe der Kunst.

Solch ein hohes Kunstwerk ist Leo Lanias Film „Im Schatten der Maschinen“, den wir vor einigen Tagen in Wien gesehen haben. Was jeder von Zeit zu Zeit, im Verlauf der Jahre, bedrängend, bedrückend gefühlt hat; diese unvernünftige Angst, dieses Grauen vor der Maschine – hier hat es konzentrierten, herzzermalmenden Ausdruck gewonnen. Der Mensch ist nichts, Die Maschine alles – Bild auf Bild bombardiert uns mit dieser Erkenntnis, Bild auf Bild brodelt empor aus der Hölle der mechanisierten Arbeit. Ehe der Film beginnt, ertönt das Lied der Arbeit, am Ende verklingt es im Schatten der Maschinen wie bitteres Hohngelächter.

Maschinen zerren Hunderttausende täglich hinab in die Dunkelheit der Bergwerke, tragen Hunderttausende täglich empor auf Dächer, Gerüste und Telegraphenmaste, Maschine zwingen die Hände, die Füße, den ganzen Körper des Menschen, sich ihrem monotonen Rhythmus, ihrer magischen Unbeirrbarkeit anzupassen, unterwerfen der starren Diktatur ihrer Hebel und Räder den lebenden Organismus. Ihre Funktionen wechseln – hier brechen sie Kohle, hier hämmern sie Eisen, hier mahlen sie Mehl – aber ihr Wesen bleibt überall gleich: überall dieselbe mörderische Melodie: „Hin und her! Auf und ab! Eins und zwei! Hin und her! Ohne Rast! Ohne Ruh’! Auf und ab! Immerzu! Eins und zwei!“ Anfangs merkt man noch Unterschiede, sieht man noch Einzelheiten, findet man noch bestimmte Eigenarten dieser und jener Produktion – allmählich aber lösen sich diese Unterschiede, Einzelheiten, Eigenarten auf in einen einzigen monotonen Arbeitsprozeß. Was da erzeugt wird, Lebensmittel oder Todesmittel, Dünger oder Giftgas, Mehl oder Stahl, ist dem, der es erzeugt, vollkommen gleichgültig […] Er hat keinen Anteil an dem, was da erzeugt wird – wie sollte er daran Anteil nehmen? Er ist ein Stück Produktionsapparat – schade, daß man den Kerl  bezahlen muß! Man schaltet ihn ein. Man schaltet ihn aus. Und eines Tages montiert man ihn ab: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Tod.

Die Maschine ist vollkommener als der Mensch. Manchmal, wenn man ihr pochendes, pulsendes, stampfendes Auf// und Ab vor den Augen hat, meint man, den ungeheuren Herzschlag, das ungeheure Atemholen eines Lebewesens zu sehn – aber wie unvollkommen ist unser Herz, hundertfältigen Leidenschaften, Gefühlen, Erlebnissen ausgeliefert, launenhaft und unregelmäßig, einmal tobend und einmal stockend, von Schmerzen und Hoffnungen irritiert, von Wünschen bedrängt und von Verzweiflung gelähmt, und ebenso launenhaft, ebenso unregelmäßig der Atem des Lebenden! Wie unvollkommen ist unser Herz, wie vollkommen ist das Herz der Maschine. Mit schauerlicher Genauigkeit vollbringt es die vorgeschriebenen Schläge, keinen zuviel und keinen zuwenig, keinen zu kurz und keinen zu lang, mit fürchterlicher Regelmäßigkeit atmen die stählernen Lungen aus und ein […]

Die Produktion geht weiter, ein Mensch ist nichts, der Mechanismus funktioniert. Erde ist Material, Kohle ist Material, Eisen ist Material, die Menschen sind Material. Hier wird Mehl gemahlen, dort werden Granaten gedreht – werden just Kinderwagen produziert oder Haubitzen, sind es Mehlsäcke, die da liegen oder Leichen? Teuflisch verwirrt sich die Maschinerie: da brechen auf einmal Geschütze und Tanks in die Welt der Technik herein, da sät man Korn, da sät man Blut, da ragen Gewehrpyramiden in leerem Feld und morgen sind es Getreideschober, da wälzt sich eine Nähmaschine über das Land und reife Aehren fallen zu Garben, da wälzt sich ein Tank über das Land, und was ein Aehrenfeld war, wird zum Felde der Ehre, Krieg und Frieden, Erz und Fleisch, Korn und Blut, dieselbe Bewegung, derselbe Takt, dieselbe mörderische Melodie…

Die Produktion geht weiter, ein Mensch ist nichts, der Mechanismus funktioniert. Die Musikanten spielen das Lied der Arbeit – „Stimmt an das Lied der hohen Braut“… Am feuerspeienden Kessel ein nackter Prolet, umflockt von höllischer Glut, niedergetrommelt von Flammenfäusten – „die schon dem Menschen angetraut“ – im Kohlenbergwerk ein nackter Prolet, halberstickt auf dem Rücken liegend, von Schweiß überschwemmt und überprasselt von Wasserstürzen – „eh er selbst Mensch war noch…“ Und ist er Mensch, eingekeilt in Eisen und Stein? ein Stück Produktionsapparat, sonst nichts – „Was sein ist auf dem Erdenrund“ – Erdmassen, Felsmassen stürzen ein, Krämpfe schütteln den Sterbenden, der seiner Frau, seinen Kindern nichts hinterlässt, als das unveräußerliche Proletenrecht auf staatlich geregelten Hungertod – „entsprang aus diesem schönen Bund“ – riesige Zangen greifen zu, schmieden die Kette, Glied für Glied – „die Arbeit hoch!“ – Alleszerstampfend, alleszermalmend rollt ein phantastisches Ungetüm heran, näher und immer näher heran, über uns alle hinweg: die Arbeit in dieser Welt der kapitalistischen Maschinerie

Das ist der Film „Im Schatten der Maschinen“. Ein Fiebertraum, Vision eines pessimistischen Künstlers? Nein: Wahrheit, Wirklichkeit, unsere Welt! Reportage und Photographie, ohne ein Wort der Erklärung und der Anklage. Aber kein Revolutionsfilm der Russen wirkt so aufreizend, so erbitternd, so elementar wie diese konzentrierte, diese kommentarlose Wirklichkeit. […]

In: Arbeiter-Zeitung, 19.5.1929, S. 17-18.