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Max Brod: Ausschaltung der Frau?

             Die neueste Literatur bekommt mehr und mehr einen harten, kalten, männlichen Zug. Ganz ebenso wie die moderne Musik antiromantisch, antisentimental klingt. Von Liebe darf weder geredet noch gesungen werden. Das verträgt sich nicht mit der „Sachlichkeit“, dem obersten Postulat der Zeit. Die merkwürdige Schwenkung besteht eigentlich in folgendem: Hart und maschinenmäßig formt sich die Zeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts, seit damals jedenfalls in immer deutlicherem Ausdruck – die Dichtung nahm jedoch eine Proteststellung ein, Flaubert erkannte wohl den erbarmungslos nüchternen Mechanismus unserer Epoche, seine Helden aber (die Bovary wie der sentimentale Frederick) zerreiben sich, weil sie sich diesem Mechanismus nicht anpassen können. Dies war im wesentlichen durch Dezennien die Grundhaltung des Dichters. Im Geheimen blieb er Feind der Zeitentwicklung, Feind des Amerikanismus. Das Problem taucht auf: Haben die neuen Dichter submittiert, haben sie ihren Kampf im Namen des Geistes aufgegeben, hat die nüchterne Zeit jetzt endgültig über alle Proteste weg gesiegt?

             Liebe, Liebessehnsucht galt ehedem als Einblick in den tieferen Sinn des Daseins, Leidenschaft für eine Frau erhellte zauberhaft jene Zusammenhänge, die sich in den bloß egoistischen Beziehungen zwischen Menschen des Alltags den stumpferen Sinnen entziehen. (Was hier von Liebe gesagt wird, gilt von jeder über den Alltag hinausschlagenden adeligen Herzenswallung.) –  Die junge Generation hat aus dem Krieg ein sehr berechtigtes Mißtrauen gegen allen, was Herzenswallung ist, mitgebracht. Hinter wie vielem, was edle Leidenschaft schien, hinter wie schönen Farben von Patriotismus, Ver sacrum, nationalem und erotischem Aufschwung lag nichts als Phrase, lag Aergeres als Phrase: niedrigstes Interesse von Kriegsverdienern, politisierenden Kapitalisten! Da ist es zunächst höchst richtig und gesund, wenn eine Generation von Desillusionierten heranwächst. Wenn man mit Remarque und Glaeser erlebt hat, wie alles sich auf den einfachen Nenner der Todesangst und eines Gänsebratens bringen läßt – wenn man solche Not und nie zu vergessende Erniedrigung der Menschenkreatur erlebt hat, dann hat man das gute Recht, alles für Schwindel zu halten – mit einziger Ausnahme des Triebes, derartige Greuelzeiten in Hinkunft von der Menschheit abzuwehren.

             In dieser auf elementare Defensive vereinfachten Situation hat in der Tat Liebe und Frau und Herz und Seele nichts zu suchen. Diese Jugend verteidigt sich nur; Erlebnisse des Herzens waren stets Eroberungszüge in unbekanntes Land – im Sinne der heutigen Autoren also Luxus, Distraktion von wesentlicherem Ziel.

             Die jungen Autoren sehen nur den Alltag, das Dokument, die Photographie, Reportage, Sachlichkeit, über die hinaus es nichts zu erobern, hinter der es keinen Sinn zu erschließen gilt. Religiöse Deutung irgendwelcher Art erschienen ihnen als Illusion. (Dies der deutliche Abstand der „neuen Sachlichkeit“ vom älteren Realismus etwa dem Gerhart Hauptmanns.) Die modernen Autoren haben vor nichts so sehr Angst wie vor Illusionen. Durch Illusionen wurden wir in den Krieg hineingezerrt. Den Alltag nicht etwa bejahen, ihn in seiner ganzen Scheußlichkeit, Chaotik, Unmoral sehen – das erscheint als Gesetz. Vom Alltag, der als das einzig Wirkliche betrachtet wird, hinter dem es nichts Wirklicheres, Gütigeres, Liebenderes (Frauenhafteres) gibt, kann man sich nur durch Witz und Ironie distanzieren. Demgemäß wird Ironie zum einzigen Kunstmittel der jüngsten Generation. In der Dichtung wie in der Musik.

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             Die drei großen Erfolge der letzten Berliner Theatersaison zeigen genau in diese Richtung: „Dreigroschenoper“, „Verbrecher“, „Rivalen“. Die beiden ersten konnte man auch in Prag kontrollieren. „Rivalen“ gab es hier zunächst nur im Film. Von der „Ausschaltung der Liebe“ kann man keinen deutlicheren Begriff bekommen, als wenn man im „Theater der Königgrätzerstraße“ das amerikanische Kriegsstück in der Bearbeitung Zuckmeyers [!] über sich hinwegexplodieren läßt. Zwei Männer streiten in der Etappe um die Schenkwirtstochter. Geht der eine an die Front, gehört sie dem andern. Die Frau als Gebrauchsgegenstand, als ein Stück Wäme und Lust ohne den geringsten Schein innerer Bindung. Wie wertlos sie im Grunde den beiden Männern ist, zeigt die Schlußszene: beide müssen an die Front in demselben Augenblick ist ihnen die Frau ein Dreck, sie sehen sie gar nicht mehr, der Appell der Kameradschaftlichkeit siegt über alle Rivalität, Schulter an Schulter marschieren die beiden Männchen, wieder zu Männern geworden in den Schützengraben.

             Zwar sind im Akt zuvor alle Schrecken des Schützengrabens mit Piscatorscher Eindringlichkeit gezeigt worden (Nie zuvor hat sich Piscators Regiekunst zu solcher Einfachheit, Geschlossenheit der Wirkung erhoben; es ist als Regieleistung ein klassisches Werk.) Man hört Granaten heranpfeifen, Schallplatte und Megaphon, Lärmmusik aller Art überfällt dein Hirn, rhythmisch gegliederte Angst strebt Höhepunkten zu, die man kaum mehr für physisch erträglich hält, das Ineinandergreifen der Schreckensszenen steigert sich, Geschoßwind heult, die Deckungen flattern, die Latten biegen sich, rechts stürzt ein Unterstand ein, in der Mitte wimmert ein Sterbender, selbst der Kommandant schreit: „Nie wieder Krieg!“ – das alles ist von heilsamster Tendenz der Abschreckung. Nein, sinnlich erlebt, wirkt es so. Der Idee nach aber, die schließlich das längerhin Wirksame bleibt, …was erleben wir der Idee nach? Gar nichts. Zwei außerordentlich männliche Offiziere, die sich um ein Weibstück raufen, männlich, falls man unter „männlich“ Fluchen, Saufen, Kartenspielen, Fressen, Puffen, Stoßen, Boxen, Ohrfeigenausteilen versteht. Und ein Schimmer von Sympathie ruht auf den beiden ja doch erst, sobald sie die Frau um der Front willen aufgeben. Klingt aber nicht in diesem Moment (die Gegensätze berühren sich) eine alte, höchst verderbliche idealistische Rattensängerweise herein, etwa so – ganz von Ferne her – : „ Im Felde, da ist der Mann noch etwas wert… frischauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!?“

             Und das ist es, weshalb ich diese Bemerkungen schreibe. Der Stil der Sachlichkeit, der Herzlosigkeit hat seine Gefahrenzone erreicht. Er steht im Begriff, umzukippen, das Gegenteil von dem zu erzielen, was er angestrebt hat. Er steuert, allen Illusionen ausgewichen, einer neuen und viel schlimmeren Illusion zu: der Apotheose des rüden, rein animalischen Menschen. Das Herz und die Sehnsucht hat man ausgeschaltet. Was bleibt übrig: Animal! („Dreigroschenoper“ und „Verbrecher“ weisen, wenn auch nicht so kraß, auf das gleiche Endziel hin.) Nun wäre ernstlich die Frage aufzuwerfen: Wer hat die ärgere Schuld am Krieg, jener Menschentyp, der seine gemeine Gesinnung hinter gleißenden Illusionsphrasen von Gemeinschaft, neuer Zeit, Vaterlandsliebe (im Stil des alten romantischen Idealismus) verbarg und heute noch (teilweise auch vor sich selbst verbirgt oder jene frischfröhlichen Gesellen nach Art der Zuckmeyerschen „Rivalen“, die unter Ausstoßung herzhafter Dialektscherze Revolver zücken und ein Menschenopfer für das wohlfeilste aller Argumente halten? Man kann es auch anders formulieren: Ist der Krieg wirklich infolge eines Zuviel an Herz und Liebe entstanden, so daß man den Heranwachsenden diese romantischen Utensilien gewaltsam aus dem Kopf treiben muß –, wäre nicht vielmehr durch echte Liebe und Verbundenheit, deren Karikaturen allerdings im Nationalismusrausch aufs Gefährlichste kriegsfördernd wirkten, all die Scheußlichkeit nackter Interessenkämpfe, die man als Kampf um höhere Güter der Menschheit aufputzt, einzudämmen gewesen?

             Der überzeugte Ironiker von heute wird einwenden, daß es diese echte Liebe und Menschlichkeit, daß es die Frau, nach der man sich sehnt, in Wahrheit eben nicht gibt, daß sie romantische Illusion und als solche auszurotten ist – daß der Dichter nur die grauenvoll lieblose Wirklichkeit zu zeigen hat.

             Ich werde nicht mit einer Analogie des alten Bonmots antworten: Wenn es keinen Gott gäbe, so müßte man einen erfinden. Dieser gerühmte Satz ist mir nie sehr weise erschienen. Denn ein erfundener Gott ist keiner.

             Ich werde dem Ironiker vielmehr antworten: Seien Sie zynisch, so viel Ihnen behagt, aber seien Sie dabei nicht so sicher! Lassen Sie „Liebe“ zumindest als Problem offen. Mehr als ein schmerzliches, immer wieder schmerzlich erlebtes Problem ist sie ja auch mir nicht. Die Problemlosigkeit ist es recht eigentlich, die ich an den „sachlichen“ Autoren auszusetzen habe; nicht die „Sachlichkeit“, nicht die Wahrheitsliebe, die mir, einem Schüler Flauberts, als Methode und Substanz der Kunst lieb sein müssen. Was bei dieser Problemlosigkeit herauskommt, das zeigt gerade der Fall der „Rivalen“ mit erschreckender Eindeutigkeit. Man zeichnet die Kriegsrüpel objektiv, man zeichnet den Krieg sogar als das unmenschliche Grauen, das er ist, aber in dieser bewußt unmenschlichen, herzausschaltenden Darstellung erscheint mir einem dämonischen Ruck ganz zuletzt, den Autoren gewiß selbst unwillkommen und unheimlich, der Krieg als so etwas wie das verrucht angepriesene „reinigende Stahlbad“. Man hat die Romantik jeglicher (auch der tief berechtigten) Observanz so lange bekämpft, bis man vom äußersten Gegenpol ihrer bösesten Spielart zutaumelt. Wer andern eine Ideologie gräbt fällt selbst hinein.

In: Prager Tagblatt, 11.6.1929, S. 3

Bidens: Theater und Kunst. Revolutionstheater im Neuen Wiener Schauspielhaus. Die Erstaufführung von „Brülle, China!“

             Es ist ein müßiges Beginnen, dem Publikum einreden zu wollen, daß Tretiakows „Brülle, China!“ kein bolschewistisches Propagandastück ist. Man abstrahiere einmal vom chinesischen Milieu, setze statt der Werte „Engländer“ und „Kuli“ die Begriffe „Unternehmer“ und „Angestellter“ und das schönste kommunistische Hetzdrama ist fertig. Man führe nicht an, daß Gerhart Hauptmann in seinen „Webern“ gleichfalls den Konflikt zwischen Lohnherren und Lohnsklaven dramatisch verwertet hat. Zunächst ist Gerhart Hauptmann ein Dichter, der Licht und Schatten gleichmäßig verteilt, dem brutalen Geldmenschen Dreißiger den skrupellosen politischen Abenteurer Moritz Jäger gegenübergestellt hat. Und dann sind die „Weber“ aus der Zeit geschöpft. Wo gibt es aber heute noch einen Befreiungskampf der Unterdrückten? Die Gesellschaft ist vielmehr gezwungen, gegen die Ueberhebung, gegen den Terrorismus der arbeitenden Klassen Gesetze zu erlassen oder wie in Rußland in Knechtschaft zu versinken, die schlimmer ist als die vielverlästerte Gewaltherrschaft eines auf dem Altar einer Schlagwortfreiheit geopferten absolutistischen Regimes. Erst künftige Geschlechter werden den Fluch einer Neuordnung büßen, die allen physikalischen und logischen Gesetzen zum Trotz die Rädchen einer Maschine über den Motor stellt.

             Wem außer Herrn David Bach und seiner Kunststelle will Direktor Feldhammer zu Gefallen sein, wenn er diese dramatische Hetzrede, in der noch der heiße Atem fanatischer Moskauschergen glüht, nach Wien verpflanzt? Wer an der Währingerlinie, deren Anrainer doch für das Neue Wiener Schauspielhaus in erster Linie als Publikum in Betracht kommen, hat Interesse dafür, was am Rande der Wüste Gobi vorgeht? Gut, die mit allem Haß des enragierten Kommunisten gezeichneten kapitalistischen Gewalthaber sind gegen die einheimische Schifferbevölkerung schonungslos und ungerecht vorgegangen. Hat man aber die Greueltaten eines Bela Kun, eines Tibor Samuely ganz vergessen, die, bedeutend näher einem Kulturzentrum, sich gegen wehrlose Bürger ausgetobt haben?  Wem stehen also die Herren zu Diensten? Grausamen Terror hat es überall und jederzeit gegeben, wenn eine Partei oder eine Volksschichte in Gefahr war, die Herrschaft zu verlieren. Merkwürdig war nur, daß die durch einen Umsturz in die Höhe gekommenen „Befreiten“ immer viel bestialischer und hemmungsloser gehaßt haben als die besiegten „Unterdrücker“.

             So werden denn auch in „Brülle, China!“ Wort und Handlung nicht vom Schwung des dichterischen Genius, sondern von der Zentrifugalkraft entfesselter Tendenz getrieben und es ist schade um die Regiekünste des Herrn Peter Fritz Buch aus Frankfurt, der sicher der Bühne viel Interessantes geben könnte, wenn er nicht den Ehrgeiz hätte, Piskator [sic!] II. zu werden. Er hat jedenfalls aus dem Schauspielermaterial des Neuen Wiener Schauspielhauses das Größtmögliche herausgeholt, so daß vieles, was Dressur war, wie Natur erschien. Man muß aus der Menge der Mitwirkenden die Damen Horeschofsky, Rambausek und Eschbaum sowie die Herren Rothauser, Koch, Kniedinger, Varndal, Iwald, Lipschütz und Grassow besonders hervorheben und feststellen, daß Frau Feldhammer in einer kleinen Rolle viel dramatischen Impetus zeigt. Herr Feldhammer aber, der mit sichtlicher Hingabe den Räsoneur des Stückes, einen Anführer der Kulis, spielte, möge bedenken, daß nur ein superkluger Unternehmer beide Geschäfte zu machen versucht. Er wird das Stück vielleicht der sozialdemokratischen Kunststelle zu Dank spielen, das Stammpublikum an der Währingerlinie aber wird sich bestimmt aus dem maskierten Klassenkampf nach der gesunden Hausmannskost des „Roten Tuches“ zurücksehnen.

             Die grau in grau gezeichneten Szenen fanden bei einem Auditorium, das zum großen Teil aus marxistischen Parteigängern bestand und in dem bezeichnenderweise auch Bürgermeister Seitz nicht fehlte, eine Aufnahme demonstrativen Charakters. Die zum Teil von der „nichtbolschewistischen“ Regie eigens eingelegten, im Original nicht enthaltenen Hetzschlagworte (zum Beispiel „Kulis wie wir haben anderswo die Unterdrücker davongejagt!“) wurden mit donnerndem Applaus der „Gesinnungstüchtigen“ aufgenommen und als der zu einem Tyrannenmord umgedichtete Schluß vorbei war, erhob sich ein ohrenbetäubendes Zustimmungsgeheul. Ueber diesen Beifall mag sich aber Direktor Feldhammer keinen Illusionen hingeben. Auch Direktor Berisch haben die Gefolgsleute der sozialdemokratischen Kunststelle zugejubelt. Als er aber Pleite machte, waren sie die ersten, die ihn verleugnet und fallen gelassen haben.

In: Neues Wiener Journal, 3.5.1930, S. 10-11. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Oskar Maurus Fontana: Brülle China! Neues Wiener Schauspielhaus

             Unterdrückung und Befreiung sind die zwei starken Akzente dieses Schauspiels von S. Tretjakow (deutsch von Leo Lania). China ist unterdrückt, ist ausgebeutet von den weißen Männern, die die großen Schiffe und das viele Geld haben. Ein Beispiel dafür erzählt in neun Szenen Tretjakow. Ein englisches Kanonenboot und ein amerikanischer Händler liegen vor der Stadt Wanshien. Geschäfte werden gemacht, Löhne gedrückt. Die Kanonen schauen wie unbeteiligt zu. Wie sehr sie aber beteiligt sind, zeigt sich sofort, als der Amerikaner bei einer Rauferei mit einem Chinesen zugrunde geht. Nun drohen die Kanonen offenen Mord, nun sprechen sie die Sprache der Unterdrückung. Die Stadt und China mit ihr werden rücksichtslos gedemütigt. Der Schuldige ist nicht gefunden worden, also müssen zwei Unschuldige als Sühne sterben.  Alles Flehen hilft nichts, die Kanonen sind aus Erz, sie hören nichts. Die zwei Unschuldigen werden angesichts der ganzen Stadt gehängt. Stumm und leidend hat sie es geduldet. Bis plötzlich die Not der Unterdrückung die Dämme der Angst bricht, bis das Volk der Stadt Wanshien aufsteht, den englischen Kapitän niedermacht und auch dem Bombardement des Kanonenbootes mit der aufgerollten, flatternden Fahne der Kuomintang den unbrechbaren Trotz der Befreiten gegenübersetzt: Brülle China, brülle gegen die Knechtschaft, brülle gegen die Kanonen, die den Nutzen des Händlers sichern!

             Das Stoffliche des Stückes ist seine Stärke. Das Panorama einer Kolonialwelt, das da entrollt wird, regt auf, so sehr seine Zeichnung im einzelnen primitiv und grob sein mag. Menschliche Not und Überwindung menschlicher Not (und geschehe sie auch nur auf dem Theater) rufen seit je am stärksten die Herzen und Geister der Menschen an und damit die Dichter und ihre Gefolgschaft. Denn, darüber darf man sich trotz der alarmierenden Wirkung dieser Szenen keiner Täuschung hingeben, Tretjakow gehört nur zur Gefolgschaft der Dichter, nicht zu ihnen selbst. Sein Schauspielverhält sich zu einer Dichtung wie ein Plakat zu einem Ölgemälde. Tretjakows Schwarzweißtechnik – tieferes Schwarz für die Herren, strahlendes Weiß für die Unterdrückten – genügt für ein wirksames Gegeneinanderausspielen wirkender irdischer Kräfte, aber nicht für die Gestaltung von Menschen, für die innere Erhellung von Situationen. Tretjakows Schauspiel, in einer bereiten Welt entstanden, lebt dennoch, wie die unendlich gültigeren, unendlich reicheren „Weber“ nur von der Trotzmelodie einer unterdrückten Welt: „Ihr fesselt der Armen Hab und Gut und Fluch wird euch zum Lohne!“ Tretjakows Schauspiel kommt darum als künstlerisches und auch revolutionäres Dokument nicht über die Wiederholung hinaus. Das Neue, das es gibt, ist das Stoffliche, ist eine Ahnung der Welt Chinas, ist ein fernes Grollen der Tragödie des chinesischen Volkes.

             Aus diesen Möglichkeiten schlägt die Regie Fritz Peter Buchs Funken. Er gibt ein leidenschaftlich bewegtes Theater im Anschwellen, Abbeben und Wieder-Hochfluten der Massen. Er findet für die Feierstimmung im Schatten der Kanonen auf dem Kriegsschiff spitze Töne der Satire wie er der Verzweiflung der Chinesen den leisen Schmerz und den brüllenden Ausbruch zu geben weiß. Eine starke Regieleistung. Auch dort, wo sie Elemente der Inszenierungen Piscators und Eisensteins (Potiomkin) übernimmt, tritt sie nicht auf dem gleichen Fleck, sucht sie Anregungen weiter zu entwickeln. Daß Buch kein Nachahmer des Szenenaufbaus ist, merkt man an seiner Arbeit – am Schauspieler besonders deutlich. Hier ist nichts verwischt oder beiläufig, hier ist jede Type zu einem lebendigen Ausdruck gebracht.

             Wie ausgezeichnet Josef Zechell als chinesischer Student, geduckt aufbegehrend, wie voll fremder Würde der Dauyin des Herrn Rothauser, welche dunkle Klage ist in Anna Feldhammers Worte gebannt, was für leidende Menschen sind die alten Schiffer der Herren Weiß, Kalwoda, Lipschütz, welche Weißglut der Empörung in Jakob Feldhammers Kuli, welcher Trotz in Kurt Liecks Aufschrei gegen die Kanonen, wie stark und gar nicht theatralisch der Kapitän des Herrn Koch, wie gut ist die exakte, militärisch sachliche Besatzung des Kriegsschiffs von den plaudernden ahnungslosen weißen Zivilisten unterschieden, wie ergreifend mit ein paar Sätzen und Bewegungen der arme Chinesenboy der Elisabeth Eschbaum. Das alles ist starkes Theater und eine Bereicherung des Wiener Theaters.

             Ist es Bolschewistentheater – wie die Hetze höhnt? Nun, dann auch „Die Räuber“ mit ihrem Ruf „In Tyrannos“ als Bolschewikentheater ausgegeben werden. Daß es Revolutionen gegeben hat und geben wird, soll das auf dem Theater verschwiegen werden? Nicht Blindheit und die Torheit der sich Blindstellenden arbeiten den Revolutionen entgegen, sondern nur Erkenntnis und der Mut zur Erkenntnis.

In: Der Tag, 4.5.1930, S. 18. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Ernst Lothar: Gegenwart und Zukunft des Theaters. Kritik und Prognose.

Wir beginnen heute mit der Veröffentlichung des Vortrages, den Ernst Lothar in Deutschland und der Czechosowakei gehalten hat. (Anm. d. Red.)

             Das Wort Theaterkrise ist ein Schlagwort geworden, dessen Schlagkraft die Vernunft zu Fall zu bringen und eine Panik zu erzeugen droht, worin die Begriffe wanken und nichts als steriler Pessimismus oder Nutznießertum der Desperation aufrecht bleibe. Da ist es an der Zeit, sich klar zu machen, was an dem alarmierenden Schlagwort wahr, was übertrieben, was mißverstanden daran ist. Und ob ihm tatsächlich der ganze Schrecken innewohnt, den ihm die Krisenlustschnapper nachsagen.

             Daß es bedrohlich um die Gegenwart des deutschen Theaters steht, leugne ich nicht. Und ich will, ärztliche Gepflogenheit annehmend, die Symptome der Krankheit nennen, bevor ich mich zur Diagnose und damit zur Therapie vorwage. Eine Anamnese ist zu fordern, Geschichte des Krankheitsverlaufes, wie von jedem Patienten, der Heilung sucht; beides, das Leiden, das Geheiltwerdenmüssen, trifft ja auf das kranke Gegenwartstheater und insbesondere auf das Schauspielwesen, dem meine Ausführung gelten, zu. Welche Symptome zeigt der Patient? Gestatten Sie mir, die Dinge nicht nur beim Namen, sondern sogar bei Ziffern zu nennen und auf jede Ziffer einzeln zurückzukommen:

             Erstens: das heutige Schauspieltheater ist zum Schauspielertheater (und zum Regisseurtheater) geworden, wodurch die geistige Situation des Theaters Schaden litt; zweitens: das Schauspieler- und Regisseurtheater wurde zum Prominententheater, wodurch das Ensembletheater, aber auch (mit der geistigen Kontinuität) die wirtschaftliche Prosperität des Theaters Schaden litt; drittens: dieses Theater folgerte aus der Geschäftsstockung, daß es Geschäftstheater zu sein habe; viertens: es bekämpfte und bekämpft die ihm durch den Tonfilm erwachsenen Konkurrenz mit absolut untauglichen Mitteln.

             Erstens: Die geistige Situation des heutigen Theaters hat sich grundlegend geändert. Als Max Reinhardt, zu dessen überzeugten Anhängern ich zähle, soweit es sich um die schauspielerische Regenerierung des Theaters und seiner Erlösung vom Pathos der Verstellung handelt, im Vorjahr jubilierte, sagte er öffentlich: „Das Theater von heute gehört dem Schauspieler.“ Dieser verlesene, also keineswegs einer Bankettimprovisation überlassene Trinkspruch klang wie ein Urteilsspruch. Er war einer. Er sprach der geistigen Bedeutung des heutigen Theaters das Urteil und – verurteilte sie, ohne es zu wollen. Denn vom Standpunkt des Jubilars Max Reinhardt angeschaut, erschien dieser Zustand nicht beklagenswert. Er, Schauspieler von Geblüt, Schauspielerführer von Genie, konnte nicht anders als, indem er der Wahrheit die Ehre gab, den Schauspielern die Ehre geben. Sie, die Schauspieler, waren es, die in ihm gefeiert wurden; sie, die Schauspieler, an die der Erinnerungsglanz sich knüpfte, mit dem der Name Reinhardt zum Theaterhimmel steigt. Sonderbar, daß fast niemand aus diesen Bankettworten heraushörte, was sie waren: die solenne öffentliche Erklärung der Diktatur, der die private längst vorangegangen war. Mit den Worten: „Das Theater von heute gehört dem Schauspieler“, hatte der größte Schauspielerdirektor der Gegenwart die Abdankungserklärung des Bühnenautors und die Herrschaftsübernahme durch die Schauspieler verkündet. Nicht zufällig – in jener geheimnishaften Vorahnung, die ihm eignete und ihn die spirituellen Zusammenhänge so seherisch durchschauen ließ – hatte der zu früh abgerufene Hofmannsthal für Reinhardts neues Wiener Theater 1924 schon den Namen gewählt: „Die Schauspieler im Theater in der Josefstadt, unter der Führung von Max Reinhardt“, ein scheinbar preziöses Firmenschild, das trotzdem jene Entwicklung vorausnahm und in Worte faßte: in diesem Aushängeschild sind die Schauspieler Firmeninhaber und der Dichter zeichnet für das Unternehmen nicht einmal mehr per Prokura.

             Meine Damen und Herren, diese Entwicklung war der Keim des Uebels. Sie stellte zu einer Zeit, als das Wort Tonfilm ungekannt und die wirtschaftliche Stagnation noch nicht von solchem Weltumfang wie heute war, das Theater auf eine Grundlage, die es nicht tragen konnte und daher nicht ertrug. Nichts gegen die Magie des Schauspielerischen! Faszinierter Freund und Beurteiler jeder mimischen Bedeutung, überzeugt davon, daß das Glück des Theaters Verwandlung des Zuschauers durch Illusion ist, fände ich mich in der lächerlichsten Rolle, wollte ich diese Bedeutung auch nur mit einem Worte schmälern. Mit allen Worten dagegen will ich sagen, daß die Ueberbedeutung die man dem Schauspieler und die der Schauspieler sich gegenwärtig zuerkennt, ihm nicht zukommt. Deshalb nicht, weil sie zu der falschen Rechnung führt, welche das Dargestellte zur Null, den Darsteller zur Unendlichkeit macht und uns hinbringt, wo wir halten: zur Schauspielerdiktatur über den Autor.

             Hier meldet sich vielleicht unter Ihnen und bestimmt in mir der Einwand, den jeder Theaterkenner pflichthaft zu erheben hat: Welche Autoren sind gemeint? Ist jene schädliche Entwicklung nicht dadurch erzwungen, daß die Gegenwart an Autoren, welche Werte für das Theater schaffen (und nur um solche kann sich’s handeln) bettelarm, ja, daß sie daran ärmer ist als je eine Epoche? Ja und nein. Ja: Denn wollte ich die deutschen Autoren der jüngeren Generation, von denen das Gegenwartstheater Werte oder zumindest Impulse empfängt, aufzählen, die Finger einer einzigen Hand genügten mir dazu, und noch da bliebe der Daumen unbeschäftigt. Sollen wir’s versuchen? Der Mittelfinger für Bruckner (und erst seit „Elisabeth von England“); der Zeigefinger für Georg Kaiser (aber er hat die Richtung verloren); der Ringfinger für Werfel; der kleine Finger für Zuckmayer. Und sonst – ? Brecht, der steil begann, ist abgestürzt; Unruhs edle Leidenschaft hat „Phäa“ nicht vermeiden können. Leonhard Frank: „Hufnägel“ waren die Sargnägel einer Theaterhoffnung; Hasenclever, Bronnen: konjunkturisiert, politisiert. Von den anderen jüngeren Deutschen nicht zu reden. Sie haben das Schreidrama des Expressionismus mitbegründet oder mitgemacht und sind nun drauf und dran, die neueste Dramenmode mitzumachen: das Agitationsdrama. Hier muß ich zur Klarstellung der Kategorien innehalten und die Begriffe „expressionistisches Drama“ und „Agitationsdrama“ abgrenzen. Niemand kann bestreiten, daß der Expressionismus abgewirtschaftet hat. Das aber beweist nichts gegen die organische Bedingtheit seiner (Nachkriegs-) Erscheinung; nichts gegen die Konsequenz seiner Idee, nichts gegen seine künstlerische Berechtigung. Ich bin weit davon entfernt, im Expressionismus wie andere „ein Kostüm bluffwilliger Schwindler“ zu erblicken und sehe vielmehr in ihm den Ausdruck seiner amusischen Epoche: er war das dramatische Sekundenecho der Kunst auf das Toben der Sekunde; er war und blieb wörtlich wie inhaltlich: Zeitausdruck. Dem Weltmaschinensaal, dem Weltkrampf, dem Weltumsturz einen Theatersaal in Stuck und Gold entgegenzustellen, dessen Bühne dieselben Konflikte, Worte, Kulissen ungeändert hätte beibehalten sollen wie zu Zeiten Wildenbruchs, schien unerträglich. So weit richtig. Trotzdem litt das Richtige Schiffbruch. Der Grund war simpel: es fehlte an Genie. Der Dichter fehlte, der das unwidersprechlich Richtige mit neuen Mitteln zur neuen Gestallt gebildet hätte. „Das Drama schreiben heißt, einen Gedanken zu Ende denken“, notierte Georg Kaiser damals pro domo. Der Gedanke war gedacht, doch nicht gestaltet. So blieb er, ohne eine Tat zu werden, ein Programm. Vom Kino und der Telegraphie entlehnten die Expressionisten die Form. Sie bilderten, statt zu bilden, sparten am Wort und leider geizig an der Seele. Im Formalen lag ihnen der Weg, in der Sprengung der Form. Doch mit dem Sturz der Form läßt sich das Drama nicht erneuern. Nur aus seiner Natur. Aus seiner Natur aber wäre das Drama dann erneuert, wenn es das zu Gestaltende (schematisch gesprochen) nicht wie bisher im Zufall, sondern im Schicksal sähe. Das Drama ist Konflikt. Der Sinn des Dramas die Optik und die Ueberwindung des Konflikts. Der Konflikt des Mißglückten Expressionistendramas entstand aus einem individuellen oder kollektiven Zufall: er war schicksallos. Der Konflikt des wahren künftigen Dramas dagegen müßte aus dem Zusammenstoß zwischen Bestimmung und Willen erfolgen: schicksalhaft. Ziel des neuen Dramas: statt Zufall Schicksal. Statt Realität Vision.

             Dies hatte ich zu sagen, um zu kennzeichnen, welchen Abstieg das sogenannte Agitationsdrama, das in vielen Spielarten hergestellt und gepriesen worden war, dem beschimpften expressionistischen Drama gegenüber (gesehen vom hier maßgebenden Standpunkt des dramatischen Kunstwertes) bedeutet: Dieses, das expressionistische, war zumindest als Kunstform und ideell geboten; jenes, das agitatorische, bloß als Plattform und konjunkturell. Dieses war das Schrei-, jenes ist das Letzte-Schreidrama: Abstieg von der Idee zur Propaganda-Mode. Allerdings hat man auch hier Idee hineinzutragen und -zugeheimnissen versucht, hat mit dem nebulosen Begriffe „Zeitdrama“ Wesens getrieben. Was ist ein Zeitdrama? „Die Dinge auf der Bühne“, formulierte erst kürzlich ein deutscher Beurteiler von Rang, „müssen mich angehen, und sie gehen mich nur an, wenn das Zeitsubjekt weltanschauungshaft in mir getroffen wird“. Da möchte ich mir aber, so verführerisch die Formulierung klingen mag, energisch zu widersprechen erlauben! Hier will man, und tut es ja auch, dem Drama den Reportage- samt dem Kolporteur- und Propagandist seiner Tage anweisen und es zur poltisch-parteiischen Zeitung der Ereignisse, statt im Drama die bedingten Ereignisse zu unbedingten Erscheinungen machen. Kunst als Waffe? Warum nicht. Aber durch das Massewerden darf sie nicht an Kunst verlieren! Der Irrtum, der den Propagandisten hier unterläuft, hat zwei Grundlagen: es ist irrig, daß Dauer und Vergänglichkeit eines Dramas sich auf seine Weltanschauung gründen; und es ist irrig, daß der Besucher des heutigen Theaters in weltanschaulichem Sinn anspruchsverschieden von dem irgendeiner theatralischen Epoche sei. Trotz anderer oder anders gewordener Weltanschauung – und das letztere gilt für den Gegenwartswert der Klassiker – kann ein Drama heute und immer wirken, weil die Wirksamkeit nicht von der im Drama ausgedrückten oder ihm zugrundeliegenden Weltanschauung, sondern bestimmend von der darin gebildeten Gestalt abhängt. Ist diese Gestalt gültig, das heißt: für eine ganze Menschengruppe repräsentativ, dann wirkt sie in der Zeit und überwirkt die Zeit. Daß der Prinz von Homburg den Krieg als geboten voraussetzt, wird pazifistischen Zuschauern gleichgültig vor der gültigen Gestalt des Menschen, der zwischen sich und seiner Pflicht schwankt. Daß der König Lear das Gottesgnadentum der Könige zur selbstverständlichen Bedingung hat, wird dem demokratischen und republikanischen Zuschauer gleichgültig vor der gültigen Gestalt eines Vaters, der sein Kind beweint. Genau so irrig aber, wie die Wirkung von der Weltanschauung abhängig machen zu wollen, ist es, daß der Theaterzuschauer Weltanschauungen oder programmatische Vorgänge (Vorgänge seiner Weltanschauung) auf der Bühne verlangt, um das „tua res“ zu spüren. Wahr ist, daß er sich sozial geändert hat, nach wie vor aber auf der Bühne Menschen sehen will, die ihn angehen. Diese Menschen gehen ihn nicht nur dann an, wenn sie seine Gesinnungsgenossen, sondern entscheidender und allgemeiner dann, wenn sie gültige Gestalten sind, die keinen Privatfall, sondern einen Menschenfall, also auch den seinen inkarnieren. Das sind, sie mögen in der Steinzeit spielen, Zeitdramen. Das sind aktuelle Dramen, weil ihre Aktualität nicht im Januar 1931, sondern im Menschenhaften liegt, und das Menschliche bekanntlich dauernd aktuell, das Aktuelle dagegen desto seltener menschlich ist. Um es meinerseits zu formulieren: das echte Drama ist immer Zeitlosigkeits- und dadurch Zeitdrama, weil es die Zuschauer aller Zeiten zu Menschheitsgenossen macht; das sogenannte Zeitdrama ist bloß Augenblicksdrama, weil es die Zuschauer bestenfalls zu Parteigenossen macht. Es waltet (auch hier) derselbe Tiefen- und Größenunterschied wie zwischen Menschheit und Partei.

             Entschuldigen Sie diesen Exkurs, er war unumgänglich, um zu erkennen, warum die jüngere deutsche Dramenproduktion so mißgeleitet ist: im Expressionismus gestrandet, hat sie im Agitationsdrama den gestalterischen Boden unter den Füßen verloren, weil sie die Gestalt als agitatorischen Vorwand statt als das dramatische Ziel betrachtet, das sie ist. So steht es um die jüngeren deutschen Dramatiker. Die älteren, soweit sie nicht enttäuscht oder verdrossen dem Theater fernbleiben oder sich dem Roman zugewendet haben, sind die kräftigsten nicht mehr und, wenn sie es sind, nicht imstande, die klaffenden Lücken allein zu füllen –: dem deutschen Dichterdrama geht es schlimm. Und dem ausländischen? In England: Shaw, Galsworthy (im Roman unvergleichlich fähiger), Sherriff (mit der „Anderen Seite“), Maugham mit einigen hintergründigen Gesellschaftsstücken. In Frankreich: Romains, Geraldy, Lenormand, Bernard, Bourdet, Savoir. In Italien: Pirandellos längst verblasener Ruhm. In Ungarn: das Theatergenie Molnar und schwache Nachahmer. In der Czechoslowakei: Frantisek Langer, Karel Capek. Davon nähren wir Deutschen uns in der Hauptsache. Wer also sagt: es werden zurzeit nicht genug wertvolle Stücke geschrieben, um das Schauspiel ausschließlich mit ihnen zu beleben, hat recht. Insoweit gilt mein: Ja. Aber das Nein, das ich vorhin zur Antwort gab, gilt insoweit, als diese unanzweifelbare Tatsache zur fragwürdigen Konsequenz verführt, das deutsche Theater sei dem Autor nicht mehr und nur noch dem Schauspieler verpflichtet! Wenngleich es in der Tat wenige neue Dramen und Dramatiker gibt, die der Mühe verlohnen: zunächst müßten einmal diese wenigen aufgeführt werden, was nicht immer geschieht. Und dann, meine Damen und Herren: sollte es außerdem nicht ein paar ältere geben, vor denen die Schlußfolgerung: Weil nicht genug Dichter wirken, muß Konjunkturschmarrn und Konfektionskitsch das Theater überschwemmen, haltlos wird? Unter anderen gibt es einen Dichter, dem die wildesten Zeitgeistschwärmer Mangel an Aktualität nicht werden nachsagen können. Er heißt Shakespeare. Man zähle die deutschen Bühnen, die den Timon von Athen, Coriolan, Caesar, Antonius und Cleopatra: lauter brennende Aktualitäten, im Spielplan haben. Es gibt aber auch einen Dichter namens Schiller: seine Aktualität (in jenem Frühjahr angezogenen Sinne) ist rasant. Ich wenigstens wüßte Weniges, was heutigen Menschen ihre eigene Sache spürbarer machte als der Carlos, der weltanschauungshaft eineinhalb Jahrhunderte vorwegnahm. Kann man sich eine dem Augenblick nähere und wesentlichere Auseinandersetzung denken, als die zwischen Posa und Philipp? (Herr Theodor Tagger, der auf den Namen Ferdinand Bruckner hört, entschuldige, daß sein Philipp diesen Vergleich nicht aushält!) Findet sich jenes erlösend und sozial betonte Wort „Mensch“, das zum eisernen Inventar der letzten Literaturepoche gehört, irgendwo überwältigender ausgesprochen als hier? Und Grillparzer, gänzlich unentdeckt für Deutschland, ja verkannt in Deutschland, beschämend unterschätzt: Sein „Bruderzwist“ vor allem, politisch-geistig zur letzten Gegenwart gewendet! Und Hebbel: für das Zeitalter der Individualpsychologie von einer phantastischen Modernität! Und Grabbe! Und Kleist! Aber, mag man sagen: das alles sind Stücke, sind Dichter, die jedes Kind kennt! Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, ich habe nicht den Eindruck, daß jedes Kind die Ehre dieser Bekanntschaften hat. Jedes Großstadtkind wird Ihnen heute die bestakkreditierten Automobilmarken nennen, ja Ihnen aus entferntem Motorengeräusch prompt Bescheid sagen können, welche Automarke da vorüberfuhr. Ob es den Kindern mit Shakespeare, Schiller und anderen bestakkreditierten Marken eben so ergeht? Bei einer Carlos-Aufführung, die ich in Wien zu sehen bekam, lachte die Galeriejugend stürmisch, als Carlos sich ins Zimmer der Eboli verirrte: Die Sache war der Galeriejugend ganz neu, sie fand sie daher komisch. Man darf den Bekanntenkreis der jungen Generation nicht überschätzen. Manches fehlt darin. Hie und dar sogar die Bekanntschaft mit dem Geist. Aber diese Bekanntschaft ihr zu vermitteln, ja sie ihr lockend, so herrlich erlebnishaft zu gestalten, wie sie ist: dazu sind unter anderem die deutschen Theater da. Bildungstheater? Das Wort hat einen fatalen Präzeptorgeschmack und klingt nach Nachmittagsvorstellung zu ermäßigten Schülerpreisen. Trotzdem sind die Begriffe „Bildung“ und „Theater“ nicht so himmelweit verschieden, wie man heute glauben machen möchte, die Meinung, das Theater sei verpflichtet, nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu lehren, nicht so hirnrissig und antiquiert, wie man sich heute in Direktionskanzleien anzustellen pflegt: Wenn man, wie ich, jenes Galerielachen über Don Carlos‘ Fehltritt noch im Ohre hat, kommt einem die Sache gar nicht so lustig vor.

             Aber doch Don Carlos! Habe ich mir da nicht selbst widersprochen? Also doch aufgeführt, was aufgeführt sein soll? Allerdings. Aber –: warum aufgeführt? Die Frage ist nicht unwichtig. Denn der Don Carlos war nicht aufgeführt worden, weil es der Don Carlos war … bewahre! Er war aufgeführt worden, um Bassermann Gelegenheit zum Philipp zu geben, zu einem prachtvollen Philipp, wie man weiß. Immerhin, dies war der Anlaß. Und dies und dergleichen ist der Anlaß, um heute Werke des dichterischen Welttheaters auf die Bühne zu bringen: nicht um der Werke willen tut man’s, sondern weil der Clavigo eine Moissi-Rolle, weil die Julia eine Bergner-Attraktion sein soll. Nicht, weil das Theater seine Verpflichtung zum Wert erkennt, durchbricht es die Unwertserien: es erniedrigt vielmehr den Wert zur schauspielerischen Gelegenheitsmacherei. Ob hiebei gute oder schlechte Vorstellungen zustandekommen, entscheidet nicht so sehr; entscheidend bleibt zunächst unser Punkt Eins: Die Unterwerfung des Theaters unter die Schauspielerherrschaft sogar dort, wo es sich um Ewigkeitswerte handelt. Jene grundlegende Aenderung der geistigen Theaterstruktur wird dadurch unverkennbar. Sie besteht in der ungeheuren und ungeheuerlichen Bagatellisierung des Inhalts des Aufgeführten. Was ist Bagatelle. Wichtig ist nur, daß „Was“ da ist, um schauspielerische Gelegenheit zu machen.

             Zu der Gelegenheitsmacherei für den Schauspieler tritt die für den Regisseur, die bei klassischen Reprisen am vernichtendsten bemerkbar wurde. Reinhardt, von den fehlgeratenen Großen-Schauspielhaus-Experimenten belehrt, hat für seine Person die Tollheit vermieden und seine geniale Regiekraft wieder ganz dem Schauspieler gewidmet. Er ist kein „Auffassungsregisseur“, kein Zeitgeisteinbläser, deshalb auch kein Werkvergewaltiger. Aber wie viele solche liefen herum! Ihr Stern ist im Verblassen, gottlob. Sie haben trotzdem Unheil genug gestiftet, nicht zuletzt dadurch, daß sie einer Generation, der man das Theater der Größe vorenthielt und die es daher kaum vom Hörensagen kannte, durch tolle Verstümmelungen und Verzerrungen die Meinung beibrachten, es sei so klein wie seine ungebetenen Erneuerer. Jene „Krise der klassischen Darstellungsform“, die Herbert Ihering in seiner Schrift „Reinhardt, Jeßner, Piscator oder Klassikertod?“ hervorhebt, ist nicht zuletzt dem Regisseurgrößenwahn zur Last zu schreiben. Unter dem Vorgeben, es sei in dem falschen Sinne zeitgemäß zu machen, von dem die Rede war, fühlte man sich befugt, dem klassischen Drama eine Form zu geben, welche die überkommene zertrümmerte, ohne die neue gefunden zu haben. Befugt aber fühlte sich die Unbefugten, und unbefugt sind da fast alle, die Ausnahmen bestätigten die Regel. Wenn etwa der Dichter Beer-Hofmann die „Iphigenie“ dramatisch kürzte und zusammenfaßte, wie er’s getan hat, dann war er dazu befugt, als Dichter trat er zu der Dichtung, fühlte sie nach, verehrte sie so sehr, daß er um der Dichtung willen sie neu belebten wollte und belebte. Wenn aber ein zünftiger Auffassungsregisseur, er sei der fixeste, desgleichen tut, dann tut er’s nicht um der Dichtung, sondern eben um der „Auffassung“ willen, die er angeblich hat und die er zeigen wollte: aus selbst Zweck also. Solche Selbstzweckregisseure, die ein Werk inszenieren, um sich dadurch in Szene zu setzen und nach Tragödienschluß im Namen Shakespeares zu danken, haben das epochale Theaterübel verbittert und verschärft. Von der Insolvenz abgesehen, die dazu gehört, daß jemand, der keine andere Legitimation als die der Eisenbahn hat, vor Shakespeare, vor Schiller als eingebildeter Retter mit dem Gedanken tritt: „Das Kind will ich schon schaukeln“, sind solche Schaukler weit davon entfernt, zu retten, und näher daran, zu morden! Lernt die Generation, wie es ihr zu Berlin in der Aera Jeßner erging, das klassische Drama (man erinnere sich an Wilhelm Tell !) aus Auffassungsregien kennen, dann enthält sie eine Vorstellung, deren geistige noch quälender als die szenische ist; von den Abendkassenschränkern der klassischen Hinterlassenschaft ganz zu schweigen, die den Hamlet in den Frack steckten und die Situation unhaltbar, weil sie sie lächerlich machten. Es war daher nicht unverschuldet, daß Jeßner auf seiner Treppe wirtschaftlich zu Falle, der ungleich stärkere Piscator auf dem laufenden Band um keinen Kunstschritt weiterkam. „Vom Ibsen zu Piscator“ betitelte Bernhard Diebold diese Entwicklung, der man kaum anders als durch den Untertitel „Weit gebracht!“ gerecht werden kann.

(Fortsetzung folgt.)

In: Neue Freie Presse, 22. Februar 1931, S. 1-4.