Max Brod: Ausschaltung der Frau? (1929)

Max Brod: Ausschaltung der Frau?

             Die neueste Literatur bekommt mehr und mehr einen harten, kalten, männlichen Zug. Ganz ebenso wie die moderne Musik antiromantisch, antisentimental klingt. Von Liebe darf weder geredet noch gesungen werden. Das verträgt sich nicht mit der „Sachlichkeit“, dem obersten Postulat der Zeit. Die merkwürdige Schwenkung besteht eigentlich in folgendem: Hart und maschinenmäßig formt sich die Zeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts, seit damals jedenfalls in immer deutlicherem Ausdruck – die Dichtung nahm jedoch eine Proteststellung ein, Flaubert erkannte wohl den erbarmungslos nüchternen Mechanismus unserer Epoche, seine Helden aber (die Bovary wie der sentimentale Frederick) zerreiben sich, weil sie sich diesem Mechanismus nicht anpassen können. Dies war im wesentlichen durch Dezennien die Grundhaltung des Dichters. Im Geheimen blieb er Feind der Zeitentwicklung, Feind des Amerikanismus. Das Problem taucht auf: Haben die neuen Dichter submittiert, haben sie ihren Kampf im Namen des Geistes aufgegeben, hat die nüchterne Zeit jetzt endgültig über alle Proteste weg gesiegt?

             Liebe, Liebessehnsucht galt ehedem als Einblick in den tieferen Sinn des Daseins, Leidenschaft für eine Frau erhellte zauberhaft jene Zusammenhänge, die sich in den bloß egoistischen Beziehungen zwischen Menschen des Alltags den stumpferen Sinnen entziehen. (Was hier von Liebe gesagt wird, gilt von jeder über den Alltag hinausschlagenden adeligen Herzenswallung.) –  Die junge Generation hat aus dem Krieg ein sehr berechtigtes Mißtrauen gegen allen, was Herzenswallung ist, mitgebracht. Hinter wie vielem, was edle Leidenschaft schien, hinter wie schönen Farben von Patriotismus, Ver sacrum, nationalem und erotischem Aufschwung lag nichts als Phrase, lag Aergeres als Phrase: niedrigstes Interesse von Kriegsverdienern, politisierenden Kapitalisten! Da ist es zunächst höchst richtig und gesund, wenn eine Generation von Desillusionierten heranwächst. Wenn man mit Remarque und Glaeser erlebt hat, wie alles sich auf den einfachen Nenner der Todesangst und eines Gänsebratens bringen läßt – wenn man solche Not und nie zu vergessende Erniedrigung der Menschenkreatur erlebt hat, dann hat man das gute Recht, alles für Schwindel zu halten – mit einziger Ausnahme des Triebes, derartige Greuelzeiten in Hinkunft von der Menschheit abzuwehren.

             In dieser auf elementare Defensive vereinfachten Situation hat in der Tat Liebe und Frau und Herz und Seele nichts zu suchen. Diese Jugend verteidigt sich nur; Erlebnisse des Herzens waren stets Eroberungszüge in unbekanntes Land – im Sinne der heutigen Autoren also Luxus, Distraktion von wesentlicherem Ziel.

             Die jungen Autoren sehen nur den Alltag, das Dokument, die Photographie, Reportage, Sachlichkeit, über die hinaus es nichts zu erobern, hinter der es keinen Sinn zu erschließen gilt. Religiöse Deutung irgendwelcher Art erschienen ihnen als Illusion. (Dies der deutliche Abstand der „neuen Sachlichkeit“ vom älteren Realismus etwa dem Gerhart Hauptmanns.) Die modernen Autoren haben vor nichts so sehr Angst wie vor Illusionen. Durch Illusionen wurden wir in den Krieg hineingezerrt. Den Alltag nicht etwa bejahen, ihn in seiner ganzen Scheußlichkeit, Chaotik, Unmoral sehen – das erscheint als Gesetz. Vom Alltag, der als das einzig Wirkliche betrachtet wird, hinter dem es nichts Wirklicheres, Gütigeres, Liebenderes (Frauenhafteres) gibt, kann man sich nur durch Witz und Ironie distanzieren. Demgemäß wird Ironie zum einzigen Kunstmittel der jüngsten Generation. In der Dichtung wie in der Musik.

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             Die drei großen Erfolge der letzten Berliner Theatersaison zeigen genau in diese Richtung: „Dreigroschenoper“, „Verbrecher“, „Rivalen“. Die beiden ersten konnte man auch in Prag kontrollieren. „Rivalen“ gab es hier zunächst nur im Film. Von der „Ausschaltung der Liebe“ kann man keinen deutlicheren Begriff bekommen, als wenn man im „Theater der Königgrätzerstraße“ das amerikanische Kriegsstück in der Bearbeitung Zuckmeyers [!] über sich hinwegexplodieren läßt. Zwei Männer streiten in der Etappe um die Schenkwirtstochter. Geht der eine an die Front, gehört sie dem andern. Die Frau als Gebrauchsgegenstand, als ein Stück Wäme und Lust ohne den geringsten Schein innerer Bindung. Wie wertlos sie im Grunde den beiden Männern ist, zeigt die Schlußszene: beide müssen an die Front in demselben Augenblick ist ihnen die Frau ein Dreck, sie sehen sie gar nicht mehr, der Appell der Kameradschaftlichkeit siegt über alle Rivalität, Schulter an Schulter marschieren die beiden Männchen, wieder zu Männern geworden in den Schützengraben.

             Zwar sind im Akt zuvor alle Schrecken des Schützengrabens mit Piscatorscher Eindringlichkeit gezeigt worden (Nie zuvor hat sich Piscators Regiekunst zu solcher Einfachheit, Geschlossenheit der Wirkung erhoben; es ist als Regieleistung ein klassisches Werk.) Man hört Granaten heranpfeifen, Schallplatte und Megaphon, Lärmmusik aller Art überfällt dein Hirn, rhythmisch gegliederte Angst strebt Höhepunkten zu, die man kaum mehr für physisch erträglich hält, das Ineinandergreifen der Schreckensszenen steigert sich, Geschoßwind heult, die Deckungen flattern, die Latten biegen sich, rechts stürzt ein Unterstand ein, in der Mitte wimmert ein Sterbender, selbst der Kommandant schreit: „Nie wieder Krieg!“ – das alles ist von heilsamster Tendenz der Abschreckung. Nein, sinnlich erlebt, wirkt es so. Der Idee nach aber, die schließlich das längerhin Wirksame bleibt, …was erleben wir der Idee nach? Gar nichts. Zwei außerordentlich männliche Offiziere, die sich um ein Weibstück raufen, männlich, falls man unter „männlich“ Fluchen, Saufen, Kartenspielen, Fressen, Puffen, Stoßen, Boxen, Ohrfeigenausteilen versteht. Und ein Schimmer von Sympathie ruht auf den beiden ja doch erst, sobald sie die Frau um der Front willen aufgeben. Klingt aber nicht in diesem Moment (die Gegensätze berühren sich) eine alte, höchst verderbliche idealistische Rattensängerweise herein, etwa so – ganz von Ferne her – : „ Im Felde, da ist der Mann noch etwas wert… frischauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!?“

             Und das ist es, weshalb ich diese Bemerkungen schreibe. Der Stil der Sachlichkeit, der Herzlosigkeit hat seine Gefahrenzone erreicht. Er steht im Begriff, umzukippen, das Gegenteil von dem zu erzielen, was er angestrebt hat. Er steuert, allen Illusionen ausgewichen, einer neuen und viel schlimmeren Illusion zu: der Apotheose des rüden, rein animalischen Menschen. Das Herz und die Sehnsucht hat man ausgeschaltet. Was bleibt übrig: Animal! („Dreigroschenoper“ und „Verbrecher“ weisen, wenn auch nicht so kraß, auf das gleiche Endziel hin.) Nun wäre ernstlich die Frage aufzuwerfen: Wer hat die ärgere Schuld am Krieg, jener Menschentyp, der seine gemeine Gesinnung hinter gleißenden Illusionsphrasen von Gemeinschaft, neuer Zeit, Vaterlandsliebe (im Stil des alten romantischen Idealismus) verbarg und heute noch (teilweise auch vor sich selbst verbirgt oder jene frischfröhlichen Gesellen nach Art der Zuckmeyerschen „Rivalen“, die unter Ausstoßung herzhafter Dialektscherze Revolver zücken und ein Menschenopfer für das wohlfeilste aller Argumente halten? Man kann es auch anders formulieren: Ist der Krieg wirklich infolge eines Zuviel an Herz und Liebe entstanden, so daß man den Heranwachsenden diese romantischen Utensilien gewaltsam aus dem Kopf treiben muß –, wäre nicht vielmehr durch echte Liebe und Verbundenheit, deren Karikaturen allerdings im Nationalismusrausch aufs Gefährlichste kriegsfördernd wirkten, all die Scheußlichkeit nackter Interessenkämpfe, die man als Kampf um höhere Güter der Menschheit aufputzt, einzudämmen gewesen?

             Der überzeugte Ironiker von heute wird einwenden, daß es diese echte Liebe und Menschlichkeit, daß es die Frau, nach der man sich sehnt, in Wahrheit eben nicht gibt, daß sie romantische Illusion und als solche auszurotten ist – daß der Dichter nur die grauenvoll lieblose Wirklichkeit zu zeigen hat.

             Ich werde nicht mit einer Analogie des alten Bonmots antworten: Wenn es keinen Gott gäbe, so müßte man einen erfinden. Dieser gerühmte Satz ist mir nie sehr weise erschienen. Denn ein erfundener Gott ist keiner.

             Ich werde dem Ironiker vielmehr antworten: Seien Sie zynisch, so viel Ihnen behagt, aber seien Sie dabei nicht so sicher! Lassen Sie „Liebe“ zumindest als Problem offen. Mehr als ein schmerzliches, immer wieder schmerzlich erlebtes Problem ist sie ja auch mir nicht. Die Problemlosigkeit ist es recht eigentlich, die ich an den „sachlichen“ Autoren auszusetzen habe; nicht die „Sachlichkeit“, nicht die Wahrheitsliebe, die mir, einem Schüler Flauberts, als Methode und Substanz der Kunst lieb sein müssen. Was bei dieser Problemlosigkeit herauskommt, das zeigt gerade der Fall der „Rivalen“ mit erschreckender Eindeutigkeit. Man zeichnet die Kriegsrüpel objektiv, man zeichnet den Krieg sogar als das unmenschliche Grauen, das er ist, aber in dieser bewußt unmenschlichen, herzausschaltenden Darstellung erscheint mir einem dämonischen Ruck ganz zuletzt, den Autoren gewiß selbst unwillkommen und unheimlich, der Krieg als so etwas wie das verrucht angepriesene „reinigende Stahlbad“. Man hat die Romantik jeglicher (auch der tief berechtigten) Observanz so lange bekämpft, bis man vom äußersten Gegenpol ihrer bösesten Spielart zutaumelt. Wer andern eine Ideologie gräbt fällt selbst hinein.

In: Prager Tagblatt, 11.6.1929, S. 3