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Béla Balázs: Die Filmkrise

Unsere Leser kennen Béla Balázs als geistvollen und erfahrenen

Dramaturgen und Filmdichter

Ich glaube nicht, daß man ohne weiteres annehmen kann, die deutschen Geschäftsleute verstünden durchwegs nichts von ihrem Geschäft und wollten aus ihren eigenen Erfahrungen nicht lernen. Sehen denn diese Verleiher ihre eigenen Bücher nicht an, oder wären sie wirklich außerstande, die richtigen Konsequenzen zu ziehen? Das ist sehr unwahrscheinlich.

Wenn aber beides zugleich aus den Büchern der Verleiher nachzuweisen ist:

  1. Der geschäftliche Erfolg des künstlerischen Niveaus bei den amerikanischen Filmen;
  2. der geschäftliche Mißerfolg des künstlerischen Niveaus bei den deutschen Filmen —

— wenn beides zugleich stimmt, dann allerdings muß das Problem etwas tiefer liegen. Dann scheint das „künstlerische Niveau“ nicht von derselben Art zu sein, hüben und drüben, Die amerikanische Sorte scheint gangbar zu sein. Die deutsche nicht. Und das nicht nur beim Film, sondern überhaupt.

Bei den Deutschen ist gute Kunst und volkstümliche Kunst ein notwendiger, unvereinbarer Widerspruch. Es lag im Wesen der deutschen Geistigkeit, daß jede Tiefe und jede Höhe mit der Entfernung vom Allgemeinverständlichen zu messen war. Popularität aber gilt bei uns noch immer mit Recht als sicheres Zeichen der Banalität und des Kitsches. Dieses Entweder-Oder lag im Wesen der deutschen Geistigkeit, die sich in der Richtung des Spekulativ-Begrifflichen entwickelt hat und zur Geheimsprache der Gebildeten wurde. Ist in der Literatur nicht das gleiche zu sehen? Wo gibt es bei uns den Dichtertypus von Kipling oder Jack London oder auch Maupassant? Dichter, die ganz einfach und naiv, für jedermann verständlich fabulieren und doch große Künstler sind? Diese Oberflächenkunst, die nicht oberflächlich ist, diese Feinheit ohne Finessen, diese unmittelbare, naive Vision, diese sinnliche Freude am Gegenständlichen, dieser Scharm der leichten Mitteilung, diese Magie des einfachen Geschichtenerzählens, die ohne intellektuelle Kompliziertheit bedeutsam und poetisch ist — das ist es, was die deutschen Erzähler nicht haben. Wenn sie gut sind, dann haben sie

andere Qualitäten. Aber was nicht gedanklich tief ist, das ist bei uns flach, und Einfachheit wird hier triviale Simplizität. Wenn deutsche Kunst höher fliegt, dann verläßt sie den Boden — auf dem die Filmproduzenten und Verleiher bleiben müssen. Das betrifft nicht nur das Filmmanuskript. Das Manuskript ist ja nur das Thema, das der Regisseur optisch erzählt. Er vor allem müßte sie in den Fingerspitzen haben, diese Zauberei des Fabulierens, diese Zauberei der kleinen Einzelheiten, mit denen der Zuschauer eingewickelt wird in das Weben einer lebendigen Atmosphäre, die weder mit Gedankentiefe, noch mit Wahrheit oder Wirklichkeit irgend etwas zu tun hat.

Das aber ist nicht deutsche Art. Noch nicht. Ich glaube nicht, daß es an der technischen Ungeschultheit der deutschen Filmleute liegt. (Die ganz gewissenlos hingeschmissenen Kontingentfilme sind natürlich auch technisch schlecht.) Wir haben erstklassige Operateure und viele Regisseure, die handwerklich ganz auf der Höhe sind. Aber sie sehen anders als die Amerikaner oder die Russen. Gerade wo sie ihr Bestes geben, werden sie interessant, originell, vielleicht bahnbrechend sein aber nicht einfach volkstümlich, verführend. Etwas Abstraktes, etwas Unnaives, Doktrinäres wird an ihnen haften. Das liegt einstweilen am Charakter der deutschen Geistigkeit. Für die Filmkunst ist es eine Lebensfrage. Aber sie wird kaum innerhalb der Branche zu lösen sein. Es hat seine sozialen, historischen Ursachen. Aber die können sich auch ändern. Es geht um mehr als um die deutsche Filmindustrie.

Wie bezeichnend ist es, daß sogar ernste Filmkritiker sagen, man müsse dem Publikum zuliebe Konzessionen (im Stofflichen) machen. Ja. Der deutsche Regisseur und Autor muß Konzessionen machen, um volkstümlich zu sein. Aber erkauft etwa Chaplin seine Popularität mit Konzessionen? Es gibt eine Kunst, es muß eine geben, die nicht erst auf ihrer niedersten Stufe, sondern auf ihrer höchsten Stufe einfach ist. Nicht daß wir Konzessionen machen, sondern daß wir sie machen müssen, darin liegt die Gefahr.

Wie bezeichnend ist die Reaktion der ernsten deutschen Kritik auf die schlechten deutschen Filme. Indem sie die unechte Süßlichkeit, die kitschige Romantik ablehnt, fordert sie Wirklichkeit und wieder nur Wirklichkeit. Es ist das Modeschlagwort der Sachlichkeits-Dogmatiker, die in dem Tatsachenrealismus das Heil des Films sehen. Und sie merken nicht, wie konstruiert, wie abstrakt, wie doktrinär diese Forderung ist. Wieder ein typisch intellektueller Bildungskomplex. Jemand schreibt, das Publikum habe sich für den Auslandsfilm entschieden und die „guten Auslandsfilme“ haben erwiesen, daß die filmisch scharf gesehene Wirklichkeit dem „Phantastischen“ überlegen ist. Stimmt denn das? Ist denn in jenen erfolgreichen, guten amerikanischen Filmen so sehr realistische Wirklichkeit gezeigt? So wie das Leben tatsächlich ist? Bleiben wir bei Chaplin. Zeigt er in „Goldrausch“ und in „Zirkus“ „scharf gesehene Wirklichkeit“? Verdankt Chaplin seinen Erfolg dem unerbittlichen Realismus? Wohl in einzelnen russischen Filmen . . . von denen aber nur jene große Erfolge hatten, in denen das ekstatische, große Pathos einer revolutionären, also keiner Alltags-, sondern einer sehr außergewöhnlichen und abenteuerlichen Wirklichkeit gezeigt worden ist.

Nein! Das Gegenteil von falsch ist nicht wirklich, sondern echt, das Gegenteil von verlogen ist nicht wirklich, sondern wahrhaftig, das Gegenteil von leblos und leer ist nicht wirklich, sondern lebendig, sinnfällig, gegenständlich. Aber echt, wahrhaftig, sinnfällig, gegenständlich kann sogar ein Märchen sein. So wie ein Chaplin Märchenfilm es ist. Hingegen eine Bilderreihe von Tatsachen, wie die hochgelobte Filmsymphonie „Berlin“, war, bei allen interessanten Qualitäten, weder Kunst, noch hat sie populären Erfolg gehabt, und sie brachte nicht einmal Wirklichkeit. Denn es gibt keine Wirklichkeit ohne den Menschen, ohne seine Gefühle, Stimmungen und Träume. Das ist eine konstruierte, deutsche Abstraktion.

Freilich kommt es dennoch auf die Wirklichkeit an, und der Realismus liegt freilich auch im Wesen der Filmkunst. Ich meinte bloß . . . tötet nicht Dichtung mit einem Begriff. Denn nicht dieser Realismus, nicht diese Tatsachen – Wirklichkeit ist es, die dem deutschen Film vor allem fehlt. Die Krisis ist akut. Aber ich glaube auch, daß die Aufhebung der Kontingentierung nur mehr nützen kann. Auch ich bin der Meinung, daß die deutschen Chancen nicht ungünstig sind. Obwohl es um mehr geht als um die deutsche Filmbranche. Ihre Krisis ist Krisis der deutschen Bildung überhaupt. Aber in der Geschichte sind die -geistigen Krisen immer die Symptome des aufkeimenden Neuen und Jungen.

In: Die Bühne, H. 185/1928, S. 22-24.

N.N. [Leitartikel]: Austromarxismus.

„Austromarxismus.“ Das ist seit einiger Zeit ein Lieblingsschlagwort im bürgerlichen Sprachgebrauch. „Austromarxismus“ – das ist in ihrem Munde so eine ganz besonders bösartige Spielart des Sozialismus. Und ob der „Austromarxismus“ auf dem Parteitag endgültig begraben worden ist oder auf allen Linien gesiegt hat, darüber kann man in der bürgerlichen Presse jetzt die allermannigfaltigsten und aller allepossierlichsten Ansichten lesen. Wäre es nicht doch an der Zeit, einmal den Herren, die von Geschichte und Wesen des Sozialismus nichts, aber schon gar nichts wissen, zu erzählen, was denn das eigentlich war und ist: der Austromarxismus?

Wir haben das Wort ein paar Jahre vor dem Krieg zum erstenmal aus dem Munde eines amerikanischen Sozialisten, L. Boudins, gehört; es hat sich dann ziemlich schnell eingebürgert. Als „Austromarxisten“ bezeichnete man damals eine Gruppe jüngerer, wissenschaftlich tätiger österreichischer Genossen: Max Adler, Karl Renner, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Otto Bauer, Friedrich Adler waren die bekanntesten unter ihnen. Was sie vereinte, war nicht etwa eine besondere politische Richtung, sondern die Besonderheit ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Sie waren alle herangewachsen in einer Zeit, in der Männer wie Stammler, Windelbrand, Rickert den Marxismus mit philosophischen Argumenten bekämpften; so hatten diese Genossen das Bedürfnis, sich mit den modernen philosophischen Strömungen auseinanderzusetzen. Waren Marx und Engels von Hegel, die späteren Marxisten vom Materialismus ausgegangen, so sind die jüngeren „Austromarxisten“ teils von Kant, teils von Mach her gekommen. Anderseits haben sich diese jüngeren „Austromarxisten“ an österreichischen Hochschulen mit der sogenannten österreichischen Schule der Nationalökonomie auseinandersetzen müssen; auch diese Auseinandersetzung hat die Methode und Struktur ihres Denkens beeinflußt. Und schließlich haben sie alle im alten, von den Nationalitätenkämpfen erschütterten Österreich es lernen müssen, die marxistische Geschichtsauffassung auf komplizierte, aller oberflächlichen, schematischen Anwendung der Marxschen Methode spottenden Erscheinungen anzuwenden. So entwickelte sich hier eine engere Geistesgemeinschaft innerhalb der Marxschen Schule, die man eben, um sich einerseits von der älteren, vor allem durch Kautsky, Mehring, Cunow vertretenen Marxistengeneration, anderseits von den gleichaltrigen Marxistenschulen der anderen Länder, der russischen vor allem und der holländischen, die sich beide unter wesentlich andern geistigen Einflüssen entwickelten, zu unterscheiden, die „Austromarxisten“ genannt hat. Man muß sich dieses Ursprungs des Begriffs des Austromarxismus erinnern, um die ganze Komik zu begreifen, die darin liegt, wenn jeder Berglhuber jetzt den Austromarxismus vernichtet.

Krieg und Revolution haben freilich die „austromarxistische“ Schule aufgelöst: in den Diskussionen der Kriegs- und Nachkriegszeit standen die Männer, die dieser Schule angehört hatten, innerhalb des internationalen Sozialismus in verschiedenen, oft entgegengesetzten Lagern. Das Wort „Austromarxismus“ bekam infolgedessen eine andre Bedeutung. Unsere Gegner gewöhnten sich ganz einfach, die österreichischen Sozialdemokraten „Austromarxisten“ zu schimpfen. Das war natürlich Unfug, der Unfug von Unwissenden, die eine politische Partei mit einer wissenschaftlichen Richtung verwechseln. Aber gerade die Hetze unserer Gegner gegen den „Austromarxismus“ hat das Wort manchen unserer Genossen lieb gemacht; so haben sich denn manche unserer jüngeren Genossen gewöhnt, das Wort Austromarxismus zu verwenden zur Bezeichnung jener theoretischen Auffassungen der großen Streitfragen des internationalen Sozialismus der Nachkriegszeit, die sich in der österreichischen Sozialdemokratie nach dem Kriege allmählich entwickelt und in dem Linzer Programm ihre Zusammenfassung, ihre Formulierung gefunden haben. Worin besteht, wenn man // das Wort in diesem Sinne gebraucht, die Besonderheit des „Austromarxismus“?

Der österreichischen Sozialdemokratie ist es gelungen, in all den Stürmen der Nachkriegszeit ihre Einheit zu bewahren, während die Arbeiterparteien der meisten andern Länder gespalten worden sind. Daß uns das gelungen ist, verdanken wir der Gunst besonderer Umstände. Die besondere Ohnmacht Oesterreichs, die besondere Abhängigkeit unserer Volkswirtschaft vom Ausland haben es den österreichischen Arbeitern in der Sturmzeit der Revolution besonders anschaulich gemacht, daß der Versuch einer Diktatur hierzulande nur mit einer Katastrophe enden könnte. Und die furchtbare Erfahrung Ungarns hat den österreichischen Arbeitern gezeigt, in welche Katastrophe der Kommunismus auch sie hineingezerrt hätte. Aber haben vor allem die wirtschaftlichen Tatsachen und die Lehren der Geschichte die österreichische Arbeiterschaft gegen die kommunistischen Spaltungsversuche immunisiert, so hat zur Abwehr des Kommunismus auch die geistige Erbschaft unserer Partei wesentlich beigetragen. Viktor Adler, der in den achtziger Jahren die Radikalen und die Gemäßigten zusammengeführt hat zu einer Partei, Viktor Adler, der zwei Jahrzehnte lang mitten im Toben der nationalen Kämpfe deutsche und tschechische, polnische und ukrainische, slowenische und italienische Sozialdemokraten zusammenzuhalten verstand in einer Gesamtpartei, er hat uns den Willen, ja den Fanatismus der Einheit, er hat uns die große Kunst überliefert, die verschiedensten Schichten der Arbeiterklasse doch in lebendiger Einheit zu erhalten. Und diese Einheit bestimmt nun die geistige Besonderheit unserer Partei innerhalb der Internationale.

Otto Bauer hat es auf dem Parteitag formuliert: Wo die Arbeiterschaft gespalten ist, dort verkörpert die eine Arbeiterpartei die nüchterne Realpolitik des Tages, die andere den revolutionären Willen zum letzten Ziel. Nur wo die Spaltung vermieden wird, nur dort bleiben nüchterne Realpolitik und revolutionärer Enthusiasmus in einem Geist vereinigt. Die Synthese beider – das ist das Linzer Programm, das ist, wenn man es so nennen will, der „Austromarxismus“. Er ist das Produkt der Einheit: denn daß sich die Arbeiter nicht haben spalten lassen, das allein erklärt die geistige Besonderheit unserer Partei gegenüber den sozialdemokratischen Parteien andrer Länder. Und er ist zugleich die geistige Kraft, die die Einheit erhält: denn daß wir hier die Fähigkeit realistischer Anpassung jedes Tageskampfes an die Besonderheiten des Ortes und der Stunde mit der festen Ausrichtung aller Teilkämpfe auf das große Ziel der Machteroberung der Arbeiterklasse und damit auf das begeisternde Ziel des Sozialismus zu vereinigen vermochten, diese Synthese des realistischen Sinnes der Arbeiterbewegung mit dem idealistischen Schwung des Sozialismus schützt uns vor der Spaltung. Produkt der Einheit und Kraft der Erhaltung der Einheit, ist der „Austromarxismus“ von heute nichts andres als die Ideologie der Einheit der Arbeiterbewegung!

Das fühlen unsere Gegner instinktiv. Und darum sind sie wütend. Oh, wie gern sie es doch hätten, wenn auch hierzulande sich die Arbeiter durch Spaltung schwächten! Am liebsten möchten die Bourgeois hier die Kommunisten subventionieren! Aber das fühlen auch die Arbeiter: die Einheit, die Einheit zu erhalten, das ist das Wichtigste! Und darum hat der Parteitag1 wahrhaftig mit dem Austromarxismus nicht gebrochen. Koalition? Abrüstung? Das sind am Ende taktische Fragen. Der Parteitag hat festgestellt, daß heute zu beidem die Voraussetzungen fehlen. Er hat aber der Zukunft nicht vorgegriffen: hat es nicht abgelehnt, diese Fragen von neuem zu prüfen, wenn unsere Gegner eine neue Situation schaffen sollten. Aber all das sind taktische Einzelfragen, Fragen der Zweckmäßigkeit, die man beantworten mag nach der Notwendigkeit der jeweiligen Stunde. All das rührt nicht an das Wesen. An das Wesen wird aber nicht gerührt! Daß wir alle jederzeit eine Politik machen müssen, die  alle Schichten der Arbeiterklasse zusammenhält; daß wir die Einheit, das höchste Gut, nur erhalten können, wenn wir mit dem nüchternen Realismus den revolutionären Enthusiasmus zu paaren wissen – das ist mehr als Taktik, das ist das Prinzip des Klassenkampfes, das Prinzip von Linz, das Prinzip des Austromarxismus. Wer die Beifallsstürme gehört hat, mi denen der Parteitag, der ganze Parteitag, die Notwendigkeiten der Einheit über alle taktischen Sondererfordernisse gestellt hat, der weiß: die Ideologie der Einheit, das geistige Band, das uns alle vereint, das bleibt unverrückbar, unzerreißbar!

In: Arbeiter-Zeitung, 3.11.1927, S. 1-2.

  1. 29.- 30. 10. In Wien (Arbeiterheim Favoriten) vgl.: AZ, 30.10.1927, S.1-9 : http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=aze&datum=19271030&seite=1&zoom=33