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Joseph Gregor: Republik und Theater (1919)

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

Max Lesser: Von der neuen Kunst

             Es wachsen jetzt seltsame Blumen im Garten deutscher Dichtung und Kunst. Einige treten ganz unblumenmäßig als Quadrate oder Dreiecke oder in der Form von Rhomboiden und Dodekaedern oder als Mischung aller dieser mathematischen Konstruktionen in die Welt der Erscheinung: andre wieder verschwimmen im Nebel der absoluten Unbegreiflichkeit, Gebilde einer Phantasie, in der sich musikalische Elemente, Sturzwellen von Farbenorgien, lallende Gefühlsräusche ineinanderwirren. Nie bisher hat man dergleichen erlebt. Die neuen Bilder sind thematische Variationen von Tönen, die ebensogut durch die Instrumente eines Orchesters wiedergegeben werden könnten; die neuen Gedichte sind von der Palette eines Malers genommen, man sollte sie als Farben und nicht als eine Folge von Worten zu verstehen suchen; die neuen Dramen sind Zusammenklänge von szenischen Kompositionen, in deren Verlauf auch einiges gesprochen wird. Aber dies ist nicht gerade nötig; wir haben neuerdings auch Dramen, in denen die menschliche Rede ziemlich gleichgültig geworden ist, in denen sich der Wille des Dichters auch durch andere Medien der Vermittlung zu manifestieren vermag, wie es denn überhaupt nicht so sehr darauf ankommt, daß etwas geschieht, dem wir folgen können, sondern daß irgendwo im Kern aller Geheimnisse ein mystischer Drang nach Expression Entladungen jenseits des Möglichkeitsbereiches unserer Gedanken und Empfindungen sucht. Von diesen neuen Werken gilt Mephistos Wort über die Mütter: „Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; von ihnen sprechen ist Verlegenheit.“ Wir sind wieder einmal in der Welt der abstrakten Ideen, dort, wo in Urtiefen die Mütter hausen; zu ihnen führt der Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende, ins Unerbetene, nicht zu Erbittende, in grenzenlose Öde und Einsamkeit. Dort sitzen sie, „Gestaltungen, Umgestaltungen, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung, umschwebt von Bildern aller Kreatur.“

             Ach, aber der Schauder, der Faust ergreift, wenn er sich dem glühenden Dreifuß, dem Reich der abgründigen Geheimnisse nahen soll, er will uns nicht befallen, die wir in futuristisch-kubistische Konstruktionen die reine Idee der auf sich selbst bezogenen, von allem Gedanklichen befreiten, von allem Gefühlsgehalt entblößten Kunst begrüßen sollen und denen zugemutet wird, in Gedichten und Dramen die dialektische Überwindung des Sinnes durch ein unbestimmbares Etwas zu verehren, worin sich der Sternennebel werdender geistiger Welten noch nicht Sonnen und Planeten geformt hat. Diese sonderbare neue Kunst, die in unverständlichen Bildern und noch unverständlicheren Dichtungen nach Ausdruck ringt, bewegt sich auf der Grenze, wo die Mechanik einer klug ersonnenen Maschine und die irrationale Welt der losgelassenen Willkür einander bedrängen. Diese Kunst gehört zu unsrer Zeit, in der sich alle Elemente der rechnenden Sachlichkeit und der anarchischen Verstiegenheit mischen. Und darum sind auch die Triebkräfte dieser neuen Kunst nicht Laune oder Mode, sondern das Fordernde, Fragende und so oft Quälende an ihren Erzeugnissen ist es, daß uns ein starkes Gefühl sagt: „Hier ist am letzten Ende doch eine Notwendigkeit, hier sind doch Entwicklungsreihen, durch die wir hindurch müssen, hier beginnt eine neue Wüstenwanderung, von der wir gewiß gern glauben möchten, daß ihr Ziel das gelobte Land sein wird. Aber einstweilen führt der Weg nur selten an Oasen vorüber.

             Berlin ist der rechte Standort zur Beobachtung aller dieser wirbelnden, gärenden, kochenden Dingen, die in einem zwangsläufigen, dialektischen Entwicklungsprozeß immerfort sich selbst eliminieren, um dann in neuen Formen stets mit derselben revolutionären Auflehnung die ruhigen Bürger zu kränken, die Gleichgültigen aufzurütteln, die Jugend zu entflammen und zuletzt mit dem abermaligen Beweis für das Mißverhältnis zwischen dem Gewollten und dem Gekonnten das Bedauern darüber zu verstärken, daß immer nur Vorläufer und Verheißer kommen und gehen und daß kein erlösender Vollender bisher gefolgt ist. Es gibt hier eine breite, empfängliche, in jedem Augenblick für die gewagtesten Sachen zu gewinnende Schicht, die sich um die Novembergruppe und um Herwarth Walden und seinen „Sturm“ gruppiert, die es gläubig verschluckt, wenn auf einem Bilde Zündholzreste und Korkstücke die Aufgabe der plastischen Erläuterung zu erfüllen haben; wenn ein hingeschmiertes Farbenfurioso, das aussieht, als ob ein Esel mit seiner Schwanzquaste von hinten her auf der Leinwand phantasierte, eine „Frau in der Erinnerung glücklich besonnter Tage“ oder sonst was darstellen soll oder wenn dadaistisches Lallen zweifeln läßt, ob man es mit Narren oder mit spitzbübischen Spöttern zu tun hat. – Aber von der Verwegenheit dieser Gattung soll hier nicht gesprochen werden, wir wollen nur von der Bühne sprechen.

             Dieser Winter hat eine lange Reihe von Stücken gebracht, mit denen der Expressionismus in seinen kühnsten Formen zum Worte kam. Allen diesen Darbietungen, die im einzelnen aufzuzählen, kein Bedürfnis vorliegt, ist eine Besonderheit gemeinsam: die Beherrschung durch einen regieführenden Diktator. Wer hat früher viel nach dem Regisseur gefragt? Er war gewiß notwendig, aber man sah ihn als den Techniker an, der für den leichten Gang der Maschine zu sorgen hatte; heute ist der Regisseur die mitdichtende, mitspielende Seele der Bühne, der Kapellmeister, dessen Feldherrnstab Nerven zum Schwingen, Stimmungen zum Tönen, unnennbare Vibrationen zum vergeistigten Klingen zu bringen vermag. Die Schauspieler sind seine Instrumente, der dekorative Rahmen ist eines seiner stärksten Ausdrucksmittel. Der Regisseur ist plötzlich aus der Anonymität herausgetreten, man nennt und kennt ihn, und auch das große Publikum weiß, daß Karlheinz Martin vom Deutschen Theater, Jeßner und Berger vom Staatstheater und Meinhard vom Theater in der Königgrätzstraße gegenwärtig die Spielleiter sind, die mit der sublimsten Einfühlung ihn ihre Aufgabe die intensivste Musikalität der Wiedergabe verbinden. Der auffrischende Geist der neuen Kunst durchdringt die Dramen auch der Vergangenheit, sie blühen in seinem belebenden Anhauch zu Gebilden auf, in denen wir Seele von unsrer Seele wiederfinden. Darum wirkt die Aufführung von „Richard dem Dritten“ im Staatstheater mit Kortner als Richard so aufwühlend, weil wir in dieser Kühnheit, die so gut wie ganz ohne Dekoration und jedenfalls völlig ohne historische Kostüme arbeitet, etwas vom Wesen der Zeit entdecken, nämlich die rücksichtslose Befreiung von der Tradition, das Vordringen auf den letzten Kern und Gehalt, die Lust, überall von vorn zu beginnen. Selbst wo dieser Wagemut über das Ziel hinausschießt, wie in der merkwürdigen Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ im Deutschen Theater, bleibt er noch gewinnreich. Denn es kam hier zum starken Ausdruck, daß sich diese Tragödie auf dem Grunde einer visionären Verstiegenheit abspielt, und wenn die hysterische Verzückung der Johanna in Helene Thimigs Darstellung seltsam erregte, so war die Bühne vollends in eine beunruhigende Mystik eingehüllt, so oft es dem Regisseur Karlheinz Martin gefiel, den Gang der Handlung, ja den Verlauf einer Szene durch wechselnde, sachlich ganz unmotivierte, aber stimmungsmäßig beglaubigte Beleuchtung gleichsam symphonisch aus dem Bereich der Worte in ein malerisches Gebiet zu transponieren. Wir haben ähnliche Wirkungen bei Bergers „Tasso“ – Aufführung im Staatstheater – erlebt, wo gleichfalls die Begier, den dunkelströmenden Untergrund des Geschehens bloßzulegen, uns unmittelbar an das Werk heranführt, nachdem der Reiz des Kostümlichen und alles sonstigen historischen Beiwerks mit Bedacht ausgeschieden worden ist. Wie in diesem Zeitalter neuer Bühnenkunst die schauspielerischen Talente üppiger als seit langem gedeihen, so bildet sich jetzt eine Generation von // Regisseuren heran, deren Aufstieg man mit wachsender Teilnahme verfolgt. Zu ihnen gesellt sich nunmehr auch einer der Spielleiter an der Volksbühne, Jürgen Fehling, dessen jüngste Leistungen (Rabindranath Tagores „Postamt“, Shakespeares „Komödie der Irrungen“) eine schöne und reife Begabung zeigen. Sie geht, was besonders wohltuend ist, ihre eigenen Wege, sie verschmäht die Nachahmung.

             Von den Dramen, die auf den Wegen des Expressionismus gehen, sind es drei, über die hier einiges gesagt werden mag: „Chauffeur Martin“ von Hans Rehfisch (im Deutschen Theater), „Der Kreuzweg“ von Karl Zuckmayer (im Staatstheater) und „Jenseits“ von Hasenclever (in den Kammerspielen). Die Verfasser der beiden ersten Stücke sind Studenten. Es ereignete sich bei der Aufführung der Tragödie von Rehfisch das Seltene, daß ein rein expressionistisches, um die Wirklichkeit des Lebens ganz unbekümmertes Drama die Gunst des Publikums durch ungemein geschickte Technik und durch grelle Deutlichmachung der symbolischen Zutaten zu gewinnen verstand. Der Expressionismus wird in diesem Drama popularisiert, aus einem mühsamen Ringen um neue, vertiefte Ausdrucksformen wird er plötzlich zu einer gemeinverständlichen Mode.

             Der Chauffeur Martin hat an irgendeinem Jahrestage der Republik mit seinem Auto einen Menschen überfahren und getötet, der blindlings in den Kraftwagen hineingerannt war. Der Chauffeur wird freigesprochen, aber in dem einsamen Grübler bohrt der Wurm des Zweifels. Er hat unwissentlich Böses tun müssen, also will Gott das Böse und nicht das Gute, also muß sich der Mensch gegen Gott auflehnen, also muß er sich selbst durch gründliche Vernichtung alles Lebens aus der Welt schaffen, um den vereinsamten Gott zur Verzweiflung zu treiben. So geht der Chauffeur Martin unter die Einbrecher, Räuber und Anarchisten; viel Volk fällt ihm zu, selbst Richter und Ärzte bekehren sich zu ihm; in einer regelrechten Gerichtssitzung wird Gott vielstimmig angeklagt, aber in dem Elendsten von allen, in einem Krüppel, ersteht ihm ein glühend-lobpreisender Anwalt, und als Chauffeur Martin von der Ekstase des Krüppels hingerissen wird, streckt ihn der Pistolenschuß eines fanatischen Anhängers nieder. – Macht dies sonderbare Stück einen errechneten und erklügelten Eindruck, so tritt hier doch auch ein starkes Talent vor den angenehm interessierten Zuschauer hin. Es ist freilich heute kein besonderes Wagnis mehr, diese zuerst von Strindberg vorgezeichneten, von den deutschen Expressionisten weiter ausgebauten Bahnen der supranaturalistischen Andeutungen und der mystischen Klänge und Stimmungen zu gehen, indessen geschieht es hier mit Geschmack und Klugheit, wofür allerdings Erschütterungen und seelische Bereicherungen völlig ausbleiben. – Die Darstellung traf unter der einfühlenden Regie von Karlheinz Martin den gewollten Ton eines phantastischen Schwebezustandes zwischen Realität und zeitloser Ferne sehr gut.

             Aber seltsam, es bekommt den neuen Dramen nicht sonderlich, daß sie verstanden werden oder, wie beim „Chauffeur Martin“, allenfalls noch verstanden werden können; es muß um sie ein Hauch der Unbegreiflichkeit wittern, jede Realität muß eingestampft oder aufgelöst werden – es muß in ihm rätselhaft urtümlich raunen und klingen; das fordern wir von dieser Kunst, darauf warten wir mit Sehnsucht. Es ist ein wunderlicher Zustand. Wir lächeln über das expressionistische Drama der Irrealität und der musikalischen Stimmungsschwingungen, aber das fühlen wir immer wieder mit sonderbarer Ergriffenheit: Hier verlangt etwas Neues nach dem Licht, hier ist Sturm und Drang, und wir fragen, ob die Zeit wie damals reif sei für einen neuen Heilsbringer. Inzwischen wandert vor dem Kommenden mancher her, der vielleicht ein Johannes werden könnte. Vielleicht auch könnte der Heidelberger Student Karl Zuckmayer ein solcher werden. Sein „Kreuzweg“ im Staatstheater gehört zu den stärksten Eindrücken dieser Spielzeit. Das ist nun ein Stück, von dem sich eigentlich gar nichts sagen läßt. Was kann man vom Gesang einer Drossel sagen? Was von der Schönheit eines Rosenblattes? […] Es geschieht nichts, aber es geschieht alles, was als menschliches Erleben möglich ist man versteht nichts, aber man versteht, warum Rätsel sein müssen, die nicht aufgelöst werden können. Und für ein solches Stück, das alles andre als ein Drama ist, die völlig widerspruchslos Achtung des Publikums zu erzwingen, das ist denn wohl eine Leistung, auf die das Staatstheater Jeßners und Bergers stolz sein darf. Aber auch das Publikum darf mit sich zufrieden sein.

             Das Publikum hat freilich auch Hasenclevers „Jenseits“ ertragen, und das spricht mindestens für seine Wohlerzogenheit. Denn in diesem fünfaktigen Unfug, in dem zwei Menschen, Raoul und Jeanne, und niemand sonst endlos reden und reden und nur darum zu reden aufhören, weil Raoul Jeanne totsticht, schneidet der Expressionismus sich selber eine Fratze, und man weiß nicht, ob es sich oder uns verspotten will. Dem Liebespaar wird sein Glück ein bißchen arg verleidet durch den Geist des im Bergwerksstollen verunglückten Mannes. Man sieht ihn als Lichtfleck an den Wänden, er huscht durch die Räume, er poltert und klopft gern. Aber das ist nicht weiter schauerlich, mit seiner erklügelten Scheinwirklichkeit läßt es uns völlig gleichgültig. Dafür wirkt um so aufreizender die Unverständlichkeit der Wechselreden, die, wenn man sie doch irgendwo zu fassen vermag, eine einzige schleimige Trivialität sind. […] Indessen lohnt es sich, zu hören, was Hasenclever über seine Kunst zu sagen hat. Es gibt ein neues Stück von ihm, „Die Menschen“, und dort schreibt er im Vorwort:

             „Es liegt dem Verfasser nichts an der Meinung, der Zuschauer müsse am Ende der Aufführung die Vorgänge auf der Bühne verstanden haben. Die Gesetze jahrhundertelanger Überlieferung sind gesprengt. Die Versuche der Chemie, alle Elemente auf ein Element zurückzuführen, kommen der Alchemie näher, als die öffentliche Meinung zugeben möchte; der Umsturz der Begriffe von Raum und Zeit, Energie und Materie in der Physik, die Errichtung der vierten Koordinate in der Mathematik bestätigen die Lehre der Geheimwissenschaften… Was geht in diesem Schauspiel vor? Ein Ermordeter steigt aus dem Grabe, ein Mensch in des Wortes tiefster Bedeutung, ein Unerlöster, Unvollkommener, ein Debet im großen Schuldbuch der Welt. Wäre sein Leben vollendet gewesen, er hätte am Messer nicht sterben können; seine Schuld war, daß er sterben konnte; er geht beladen mit seinem Haupte, das ihm der Mörder überreicht, zur Sühne an des Mörders Stelle durch die Welt, ein Doppelgänger, bis er die ewige Ruhe findet. „Ich habe getötet,“ beginnt das Schauspiel, „ich liebe“, so endet es. Der Zuschauer, der im Theater sitzt, versuche, sich in das Stück zu verwandeln. Er empfinde am eigenen Leibe die magische Kette von Blut und Wahnsinn, Liebe, Haß, Gewalt und Hunger, Herrschaft, Geld und Verlogenheit. Er ahne im Anblick dieser Leiden den Fluch der Geburt, die Verzweiflung des Todes; er verliere die Logik seines Jahrhunderts; er sehe ins Herz der Menschen!“

             Wenn Hasenclever nur das könnte, was er möchte! Es ist gewiß, daß er es nicht kann, er so wenig wie Georg Kaiser. Aber Dichter wie Karl Zuckmayer sollen uns eine Hoffnung sein.

In: Neues Wiener Tagblatt, 15.3.1921, S. 2-3.

Karl Tschuppik: Wie Österreich zerfiel.

Vor zehn Jahren.

Am 21. Oktober 1918, nachmittags 5 Uhr, versammelten sich im Sitzungssaale des niederösterreichischen Landtags in der Wiener Herrengasse die Abgeordneten der von Österreich übrig gebliebenen Länder. In der kurzen Zeit vom 18. Oktober, an welchem Tag das Manifest Kaiser Karls verlautbart wurde, und dem 21. Oktober, hatten sich die in der Kundgebung apostrophierten Völker verlaufen. Das Manifest versprach, Österreich solle „dem Willen seiner Völker gemäß ein Bundestaat werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet“. Ehe den Lesern an den Straßenecken Wiens klar geworden, wie des Kaisers Proklamation zu verstehen sei, gab es kein Österreich mehr. Die im Reichsrate zurückgebliebenen Herzogtümer und Länder mußten darüber schlüssig werden, was sie nun beginnen sollten.

Es war ein seltsames Bild, als das auf Wien und die Alpenländer reduzierte Österreich ins eigene Antlitz blickte. Es fröstelte ihm in dem großen Bau auf dem Franzensring; das kleine Häuflein der Männer, die sich im Salle der sechs Völker zusammengefunden hatten, erschrak vor sich selber. Man war vereinsamt. In der griechischen Säulenhalle, wo ehedem das bunte Gemisch des Völkerreichs aus sechs Idiomen widerklang, stand ein Mann, umgeben von ein paar Journalisten: Mendel Singer, das Wahrzeichen versunkener Größe. Es war kein symbolischer Akt der Regie, als man das öde Marmorhaus verließ und in die trauliche Stube des niederösterreichischen Landtages übersiedelte; man floh vor der niederdrückenden Gewalt der eben noch lebend gewesenen Geschichte.

Nebenan, im Hause der Herren, agierten die historischen Gespenster. Das Herrenhaus hielt eine Sitzung ab. Es war die einzige Stätte, wo um diese Zeit noch die Stimmen der abziehenden Nationen erklangen. Die Abgeordneten des Volkshauses hatten es nicht mehr der Mühe wert gefunden, dem zusammenstürzenden Reich eine Anklage ins Grab nachzusenden. Die tschechischen Mitglieder des Herrenhauses erklärten sich mit der eben bekannt gewordenen Erklärung des Prager Nationalrates, mit der Errichtung des selbstständigen, freien tschechoslowakischen Staates solidarisch und wiesen den Gedanken einer Selbstbestimmung der Deutschen in Böhmen als „unhistorische und sachlich unbegründet“ zurück. Graf Clam-Marinitz antwortete im Ramen des konservativen böhmischen Adels. Er sprach von der unverbrüchlichen Treue zur Dynastie; der proklamierte Staatenbund könne nur unter Habsburgs Zepter entstehen. Das Herrenhaus applaudierte, die Peers erhoben sich von den Sitzen. Nach Clam-Martinitz spricht Hussarek, der Ministerpräsident. Lebt Österreich noch? Es funktioniert. Vor Hussarek kauern gespannt die Stenographen des amtlichen Nachrichtendienstes, neben ihm füllt der alte Herrenhausdiener frisches Wasser in die freundlich glänzende Flasche, hinter ihm stehen die zwei Ministerialsekretäre mit den Wappen. Hussarek kommentiert das kaiserliche Manifest: „… die logische Ergänzung des letzten Friedensschrittes …, … Bundesstaat…, …jedem Volksstamm das Seine…“ Zum Schluß ein ins Lyrische gesteigerter Satz: „Nach langer Nacht dürfen wir die aufsteigende Morgenröte als das erste Wahrzeichen eines neuen Tags begrüßen, der Wohlergehen und heitere Lebensfreude verheißt.“ Diese Lyrik war selbst den Peers wider den Geschmack. Eisiges Schweigen, als der hohe Körper Hussareks sich niederläßt.

Zur selben Stunde ungefähr hatten sich die Abgeordneten im Sitzungssaal des niederösterreichischen Landtags zusammengefunden. Die Wiener und, von ihnen auch äußerlich unterschieden, Steirer, Kärntner, Tiroler, Oberösterreicher, Salzburger. Die Versammlung wäre ratlos gewesen ohne den Kopf, den sie barg: Viktor Adler. Er sprach ohne Haß gegen das Alte, ohne Phrasen fürs Neue, das Losungswort in klarer Formulierung: der übriggebliebene Rest der Monarchie verwandelt sich in die deutschösterreichische Republik. Die Grabrede auf das alte Österreich hielt Dr. Steinwender: „Ohne Dank scheiden wir aus diesem Staate, mit dem verkettet gewesen zu sein für uns eine schwere und verzehrende Last war…“ Empfand man’s immer so? Hatten die Deutsche Österreichs ihre eigene Geschichte vergessen? Der Sprecher der Christlichsozialen erhebt sich und verkündet das Bekenntnis zur monarchischen Regierungsform. Der Abgeordnete Wolf schließt sich ihm an: „Wir sind und bleiben überzeugte Anhänger des konstitutionellen monarchischen Staates.“ Viktor Adler, die Versammlung vom Druck solchen Pathosdunstes befreiend, ruft halblaut, ohne Ironie: „Herr Kollege, soll Kaiser Karl etwa Herzog von Kärnten werden?“

Draußen, vor dem Barockportal des Landtags und im dunklen Hof stehen zwei Dutzend Neugierige. Es ist kalt, es regnet. „Was ist denn los?“ fragt ein gänzlich Uneingeweihter eine Gruppe Journalisten, die eben die konstituierende Versammlung der Republik Deutschösterreich verlassen. Da ruft eine schmetternde Stimme (sie gehört einem bekannten Wiener Schriftsteller): „Soeben ist der Gesangverein Deutschösterreich gegründet worden.“

Wien hats nicht bemerkt. Vis-à-vis im Cafè Central sitzen die Buddhisten des Schachspiels über ihren Brettern, im Billardsaal klingt das zarte Geräusch des altertümlichen Spiels, die Literatur erhitzt sich beim Tarock. Es hat sich nichts geändert.

Beim Ministerratspräsidium, dem Palais Modena, begegnet man einigen Herren vom Dienst, darunter dem Ministerialrat Doktor Safarik. „Komisch,“ sagt er, „wie sich die Wiener das Ende Österreichs vorstellen. Eben hat mich eines der großen Wiener Blätter angerufen, was denn die Prager Statthalterei zu dem Manifest des tschechischen Nationalrats sage. Wir konnten nur erwidern, daß wir von der Auflösung noch nicht offiziell in Kenntnis gesetzt sind.“ (Ein andere Herr weiß die Antwort der Prager auf so neugierige Fragen: At‘ nàm ve vidni p…p….)

Am Morgen des 22. Oktober, nach langer Redaktionsnacht, gehen wir, Dr. Walter Rode, der Prophet des Untergangs, und ich, in weitspurige historische Betrachtungen versunken, durch die leeren Gassen des schlafenden Wiens. Bei der Oper: ein Wachmann, der Chauffeur eines ramponierten Taxi und ein Straßenkehrer. Der Straßenkehrer, ein alter Mann mit einem kurios verbogenen Knie, den zu kleinen Hut schief auf dem Kopf, ist ganz bei der Arbeit. Mit zäher Beharrlichkeit jagt er jedem widerspenstigen Papierchen nach. „Sonderbar,“ sage ich, „die Revolution hab’ ich mir ganz anders vorgestellt. Wer heißt dem Mann die Arbeit zu verrichten? Wer kümmert sich noch darum, ob er schläft oder kehrt?“ Worauf Dr. Rode: „Sie kennen nicht die eigentliche Funktion der Straßenkehrer? Die Mistschaufler halten die Kontinuität der Gesellschaft aufrecht.“

In: Der Tag, 21.10.1928, S. 13.

Josef Gregor: Republik und Theater

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

N.N. (= Friedrich Austerlitz): Das blutige Gespenst

Die Habsburger haben unser Volk in den Höllenrachen des Krieges hinabgestürzt, ihre Flucht ließ hier eine Wüste wirtschaftlicher Zerstörung, Tod, Hunger und Elend zurück. Doch nun soll gerade das Verbrechen den Verbrecher krönen. Aus unserem Hunger, aus unserer frierenden Not wollen die Monarchisten dem wiederkehrenden Karl seinen Thron zimmern. Das klingt wie hirnverrückter Widersinn, aber in Ungarn ist es doch bereits zur Tat geworden. Dort steht die Monarchie zugerichtet und fertig gebaut und harrt nur des Monarchen. Das vom Kriege entkräftete, durch alle Tollheiten politischen  Irrwahns müde gehetzte ungarische Volk ist so völlig seiner Macht der Selbstbestimmung entkleidet, so völlig durch die Banditenschar monarchistischer Söldner geknechtet, dass es schweigend zusehen muß, wie der Urheber aller Schmach als Retter in den Straßen ausgerufen wird. Und auch bei uns redet und raunt man von der rettenden Monarchie, die Verzweiflung soll auch an uns ihr Werk vollbringen. Von unserem Hunger nährt der Habsburger an seinem Flüchtlingshof seine liebsten Hoffnungen; unser kalter Herd, der Frost unserer ungeheizten Stuben wärmt wohlig sein einstweilen in Ruhestand versetztes liebenden Vaterherz.

Und er hofft nicht allein, freut sich nicht allein unseres Siechens und Hinsterbens. Nicht als ob die Wiederkehr der Habsburger irgend jemandem Herzenssache wäre. Noch nie ist eine Monarchie gefallen, die so wenig echten Royalismus im Lande ihrer einstigen Herrschaft zurückgelassen hätte. In Frankreich brannte das Feuer des legitimistischen Fanatismus hundert Jahre nach und ist jetzt noch nicht gänzlich erloschen; in Deutschland ist es die tiefernste Ueberzeugung vieler, dass nur das hohenzollerische Kaisertum die deutsche Einheit würdig verkörpert hat.  Von solchen Verirrungen des Herzens und des Verstandes brauchen wir hierzulande nichts zu besorgen. Die Habsburger verkörperten keines Volkes Sein und Wesen, im kalten Herrscherhochmut schwebten sie über allen „ihren“ Nationen, hatten an der Entwicklung, an dem Sehnen und Drängen keiner einzigen inneren Anteil, und so gibt es denn auch nirgends in ihrem einstigen großen Reiche Menschen, die aus uninteressiertem Empfinden, aus innerem Gefühl Anhänger der gefallenen Dynastie wären. Der Sturz dieses mehr als sechs Jahrhunderte alten Geschlechts hat kein Auge feucht gemacht.

Nicht die Herzen und die Ueberzeugungen haben sich zu Gunsten Karls verschworen, aber eine Koalition alles Gemeinen, Niedrigen und Verworfenen in unserem Lande ist für seine Wiederkunft geschäftig. Was der Vermögensabgabe entfliehen möchte, was um den Ertrag des Kriegswuchers bangt, was die „Begehrlichkeit“ der Arbeiter möchte „in Schranken gewiesen sehen“ und den alten Zustand des Fabriksdespotismus zurückwünscht, was aus der Herrschaft der Kirche in Schule und Familie seinen Vorteil zieht, der Kastengeist entlassener Söldlinge, bürokratischer Ranghochmut, dem ein freies und gleiches Volk Aergernis ist: all das wirbt heimlich und offen für die Monarchie und nimmt fröhlich die Not des Volkes und seine Verzweiflung zum Bundesgenossen. Die Verlogenheit der bürgerlichen Presse, die die Folgen der wirtschaftlichen und geographischen Unmöglichkeit unseres Scheinstaates in Sünden und Unterlassungen der Republik und in Verbrechen der sozialistischen Arbeiter umdeutet, ist sich ihres Zieles und Zweckes wohl bewußt. Die auf der Schädelstätte unseres Elends die Monarchie wieder aufrichten wollen, täuschen sich am allerwenigsten darüber, dass der Monarch an unseren  wirtschaftlichen Nöten nichts ändern kann, daß kein Krümchen Brot und kein Stückchen Kohle mehr ins Land kommen würde, wenn die habsburgische Sippe wieder einzieht. Allein wozu braucht es Brot und Kohle, wenn ein Monarch waltet, den eine schlagkräftige Prätorianergarde umgibt, nach der Art, wie sie Horthy gebildet? Ein hungerndes und frierendes Volk ist nur fürchterlich, wenn es durch Freiheit und Demokratie die Macht hat, die Folgen der allgemeinen Notlage allen aufzuerlegen. Schützt jedoch eine Horthysche Truppe die Kassen der Reichen vor den Notsteuern einer zusammenbrechenden Wirtschaft und den Unternehmer vor den Lohnforderungen der von der Teuerung gepeinigten Arbeiter, dann mag in seinen Stuben das Volk erfrieren und auf den Straßen vom Mangel entkräftet hinsinken: die Bourgeoisie wird diesem Schauspiel aus sicherer Ferne zusehen. Für die Reichen wäre eine auf Söldner gestützte Monarchie tatsächlich der Retter in der Not, der vollgültige Ersatz für Brot und Kohle.

Und dennoch und trotz der breiten Massen Gedankenloser, die im Wirtshause, auf der Straße, im Tramwaywagen murrend und maulend die Schmähungen der Reaktionäre auf die Republik in armseliger Torheit nachsprechen, ist die habsburgische Restauration eine totgeborne Idee. Man proklamiert sie in Budapest und intriguiert für sie in Wien. Aber Budapest und Wien sind die beiden einstigen Hauptstädte eines Reiches, dass nicht mehr ist und niemals mehr sein kann. In Budapest wie in Wien waren sich die früher machthabenden und jetzt nach der Restauration lüsternen Kreise niemals der wahren Grundlagen ihrer Macht bewußt, und haben, scheint es, auch durch den Zusammenbruch keine bessere Klarheit gewonnen. Weil sich in diesen beiden Städten eine Großmacht darstellte, in allen ihren Attributen sichtbar war, meinte man, hier sei ihr Sitz und ihre Grundlage. Doch nicht einmal Herzpunkte der großstaatlichen Macht, wie dies doch die Kulturzentren nationaler Staaten sind, waren jemals Budapest und Wien. Die Gebiete, aus denen Österreich ausschließlich, Ungarn zum großen Teil ihren wirtschaftlichen Reichtum, ja ihre wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit zogen: die Sudetenländer, Galizien, Siebenbürgen, Kroatien, das Banat, sie lagen stets und liegen heute erst recht außerhalb der geistigen Einflußphäre der einstigen Hauptstädte, ehedem nur durch äußere Machtmittel an diese Mittelpunkte, die nie Anziehungspunkte ihres inneren Lebens und Werdens sein konnten, gebunden. Weil dem aber so ist, so fallen auch die Hoffnungen, die in Deutschösterreich die reaktionäre auf die horthysche Reaktion setzen, in nichts zusammen. Mag die monarchistische Intrigue über die deutschen und magyarischen Sprachgebiete hinaus an der Eifersucht einzelner slowenischer Volkskreise, an der slowenischen Unzufriedenheit Anhalt und Anknüpfung suchen: indem sie hier überall die reaktionär=klerikalen Strömungen aufsucht, regt sie den tschechischen und den südslavischen  Selbstständigkeitsdrang um so lebhafter gegen sich auf und erweckt sie zu desto früherer und kräftigerer Abwehr. Eine habsburgische Monarchie auf das wirtschaftliche Unvermögen der Magyaren und der deutschen Alpenlande, auf die beiden ihrer Existenzgrundlagen beraubten Millionenstädte ohne Hinterland, Wien und Budapest, gegründet, wäre ein Unding, eine Todgeburt. Aber der Habsburger könnte die Budapester oder die Wiener Hofburg nicht betreten, ohne dass sein Erscheinen an diesen alten Städten der Macht, in den alten Zentren einer Herrschaft der Völkerbedrückung, alle die einst bedrückten Völker zu einem Bunde der Abwehr zusammenschweißte.

Eine habsburgische Restauration mag sogar gewissen nationalistischen reaktionären Kreisen in Paris wohlgefällig sein, sie mögen ein wiederhergestelltes Habsburgerreich als Glied an der Kette wünschen und denken, die sie würgend  dem deutschen Volke um den Laib legen wollen. Aber darum ist dieses alles doch nur ein Traum ohne alle Möglichkeit der Verwirklichung. Am Eingang der Monarchie stünde ein Krieg an allen Grenzen, stünde der Kampf gegen eine Koalition, unter deren Druck am ersten Tag die Kraft der beiden verstümmelten, lebensunfähigen Rumpfstaaten zusammenbräche. Im Blut eines Weltkrieges ist das völkerknechtende Haus der Habsburger untergegangen. Den Versuch seines Wiederaufbaues würden die Fluten eines neuen Koalitionskrieges wegschwemmen.

In: Arbeiter-Zeitung 23. November 1919, S. 1f.

Adolf Loos: Vorwort zu: Richtlinien für ein Kunstamt. Wien 1919

Der staat hat sich zu entscheiden, ob er den künstlern helfen will oder der kunst.

In der monarchie war der herrscher der schutzherr der kunst. In der republik ist es das volk.

Solange der monarch, immer gegen die anschauungen des volkes kämpfend, ängstlich besorgt, seine pflicht dem geiste gegenüber zu erfüllen, sich dem willen des künstlers unterwarf, solange er in seinen rechten, die ihm das volk verlieh, seine pflicht dem universum gegenüber erkannte und erfüllte, war er am platze. Er hatte abzutreten, als er die sünde beging, die nicht vergeben werden kann: die sünde wider den heiligen geist. Und wenn er sich auch nur der unterlassungssünde schuldig gemacht hätte.

Seine erbschaft tritt ein neuer herrscher an, das volk. Der heilige geist offenbart sich der menschheit als der große mensch. Keiner nation gehört er an, sondern der ganzen menschheit. Er ist der führer, der wissende, der weise, der wegweiser für kommende geschlechter. Ihm, den die vorsehung immer wieder materialisiert, dem sie einen menschlichen körper verleiht, hat die menschheit den weg zu verdanken, den sie, immer gegen ihren willen, bis heute gemacht hat und noch machen wird; ihm hat sie zu verdanken, daß er sie aus den höhlen der vorzeit in geordnete wohnsitze geführt hat, aus dumpfem triebleben zu freiem denken. Ihm verdankt sie, daß der himmel blau ist und töne das menschenherz bewegen können, daß liebe mehr ist als ein trieb zur vermehrung, und daß der mensch staunend des gestirnten himmels über ihm und des moralischen gesetzes in ihm gewahr wird.

Ein ungeheures verantwortungsgefühl muß nun das volk packen: wie ist die sünde wider den heiligen geist zu vermeiden? Denn diese ist unsühnbar, und keine noch so tätige reue könnte die schmach tilgen, wenn man den geist oder seine inkarnation, van Beethoven, gehindert hätte, die neunte symphonie zu schreiben. Der gedanke, der damit der menschheit geschenkt wurde, hätte in dieser form ihr nie mehr gegeben werden können. Auch der zeitpunkt ist entscheidend. Damals, und nur damals, brauchte die menschheit zu ihrer fortentwicklung diese töne.

Dieser zum menschen materialisierte geist, der uns sprechen, hören und sehen gelehrt hat, der geist, der uns zunge, auge und ohr gebildet hat, er ist es, der unseren körper baut. Er hat uns fühlen gelehrt und unsere seele im wandel der jahrtausende immer neu umgebildet, reicher gemacht und zur aufnahme der dinge in uns, neben uns und über uns befähigt.

Der mensch stellt sich dem heiligen geiste, dem sanctus spiritus, dem schaffenden geiste, dem creator spiritus, feindlich entgegen. Er wünscht ruhe. Glücklich lebt er in der gesicherten position, die ihm die großen der vorzeit bereitet haben. Daß er weiter soll, daß er seinen endlich erreichten, gesicherten platz verlassen soll, bereitet ihm unbehagen, und daher haßt er den künstlermenschen, der ihm die liebgewordenen anschauungen durch neue verdrängen will. Der widerstand, den die menschheit ihren führenden geistern entgegensetzt, wird um so stärker sein, je größer die kluft ist, die zwischen volk und künstler, zwischen dem zeitgenossen und dem künstlermenschen sich auftut.

Die zeitgenossen des künstlers gehören verschiedenen perioden an. In der gewesenen monarchie verteilten sich die einwohner auf die letzten tausend jahre. Im neuen Österreich verteilen sich die menschen auf die letzten drei jahrhunderte. Sprechen diese zustände bloß für eine änderung aus ökonomischen gründen, so gebietet es der geist dem staate, dem künstlermenschen jene umgebung zu schaffen, die ihm die geringsten widerstände entgegensetzt. Die geringsten widerstände werden ihm menschen entgegensetzen, die nicht nur leiblich, sondern auch geistig seine zeitgenossen sind: menschen aus dem zwanzigsten jahrhundert.

Der staat hat daher die pflicht, das volk dem künstler möglichst nahezubringen.

Eine andere art der kunstfürsorge kann der staat nicht leisten. Keinem sterblichen ist es gegeben, den künstlermenschen, der mit uns lebt, zu erkennen. Der einzelne darf sich irren – dem staate müßte ein irrtum als sünde wider den heiligen geist angerechnet werden. Der einzelne ist nur sich selbst verantwortlich – der staat ist, dank der autorität, die er sich anmaßt, der menschheit gegenüber verantwortlich. Der einzelne kann den unterstützen, den er für den künstlermenschen hält, der staat aber würde bei einem irrtum dem ihm unbekannten genius ein martyrium bereiten. Denn eines nur lähmt dessen schaffenskraft: die bevorzugung des nichtkünstlers durch die autorität und das ihr folgende triumphgeheul der urteilslosen menge, in dem die stimme des künstlers erstickt. Gleiches recht, oder, wenn man will, gleiches unrecht für alle!

Zit. nach: A. Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden. Hg. von Franz Glück. Wien: Herold 1962, S. 352-354 unter dem Titel Der staat und die kunst. Online verfügbar hier.

Dr. Eugenie Schwarzwald: Lob der Republik. Eine Festrede in der Schule

Wenn wir einen Geburtstag feiern, so fragen wir uns: Wie stehen wir zu dem Gefierten, was bedeutet er für unser Leben, was könnten wir für ihn tun? Das heutige Geburtstagskind ist unsere Republik.

Was ist eine Republik? Die Republik ist ein Land, ein Staat, in dem alle, das ganze Volk, alle Schichten, Klassen, Stände, Berufe, beide Geschlechter sich an der Herstellung des Allgemeinwohles beteiligen, also um alle öffentlichen Angelegenheiten tätig bemüht sind. An der Spitze steht kein Monarch, weder ein absoluter noch ein durch Konstitution beschränkter. Aber das ist nicht das Entscheidende. Ein Monarch kann ein Despot sein, ein Willkür ausübender Tyrann wie Iwan der Schreckliche oder wie Caligula; er kann aber auch ein heilsam schaffender Philosoph sein wie Marc Aurel; ein Schützer des Landes wie der englische Protektor Oliver Cromwell, der erste Diener des Staates wie Friedrich der Große, oder ein Menschenfreund wie Josef II. Es kann sogar vorkommen, daß sich ein Volk unter einem Monarchen wohlfühlt. Wenigstens hat dies der kluge französische Heinrich IV. angestrebt und Harun al Raschid, wie die arabische Sage erzählt, erreicht. Aber ein von oben regiertes Volk bleibt doch bevormundet, gegängelt, wenn nicht gar versklavt und ausgebeutet. Wie ein Kind erst ein ganzer Mensch wird, wenn es eine Angelegenheiten versteht und tätig selber wahrnimmt, weil es da erst in den Besitz und den Genuß aller seiner Kräfte und Fähigkeiten kommt, so ist ein Volk erst dann keine bloße Herde, wenn es nicht allein sich auf den Verstand und den Charakter seines Herrn oder Hirten zu verlassen hat, so daß seine eigenen Kräfte, seine Geistesgaben, seine Energie, seine organisatorischen Fähigkeiten einschlafen, sondern wenn jeder Volksgenosse den öffentlichen Geist und alle Angelegenheiten der Gemeinschaft mitbestimmt.

Haben wir aber dann schon eine wahre Republik, wenn sich alle Glieder des Volkes um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern? Wenn sie eine Anstalt zum Besten aller sein soll, so müssen alle, die damit zu tun haben, auch wissen, was das allgemein Beste ist, und wenn sie es w i s s e n, es auch w o l l e n. Viele Leute glauben, das sei schon Republik, wenn alles geschieht, was die Mehrheit beschließt. Wenn ihr etwas Gescheites einfällt, so ist ja alles in Ordnung. Aber weiß denn die Majorität immer, was recht ist? Verstand und guten Willen muß man haben, ob man nun ein Monarch, eine Oligarchie von feudalen Rittern oder reichen Bürgern, ein Senat oder eine Parlamentsmehrheit ist. Haben wir nicht gesehen, daß nicht nur Monarchen, sondern auch Parlamente den Weltkrieg beschlossen haben? Ganze Völker können, wie ein einziger, Kriege wollen und führen, um sich durch Eroberungen, Unterdrückungen und Versklavung am Unglück anderer Völker zu bereichern. Ihr habt ja römische Geschichte gelernt. Diese Republik ist ein berühmtes, richtiger berüchtigtes Beispiel für das Gesagte. Solche Republiken können gefährlicher und schädlicher sein als Despotien.

Soll also die Republik eine Gemeinschaft zum Wohle aller werden, so müssen alle lernen, worin das Allgemeinwohl besteht und müssen den Willen haben, dieses durchzusetzen, sogar dann, wenn ihr privates, persönliches Interesse nicht damit übereinstimmt.

Viele glauben, daß sie ihre Bürgerpflicht erfüllt haben, wenn sie sich einer politischen Partei anschließen und nach deren Weisungen handeln. Dazu hat natürlich jeder ein Recht. Insbesondere, wenn dieser Anschluß aus guten Gründen erfolgt, aus Überzeugung, aus Sympathie oder Familientradition. Wir haben Parteien für alle Interessen, Stände und Klassen. Parteien für die Bauern, für die Arbeiter, für die Fabrikanten, für die Kaufleute, für die Beamten, und alle diese nehmen naturgemäß die Interessen ihrer Mitglieder wahr. Alle diese Interessen sind  berechtigt und in Ordnung und verdienen geschützt zu werden, solange sie niemand anderen verletzen. Der Bauer hat das klare Recht, in Frieden und ungestört die Früchte des Bodens und seiner Arbeit zu genießen und zu verwerten. Und seine Partei handelt richtig, wenn sie Einrichtungen, die ihm nützen und seine Arbeit erleichtern, schafft und darauf acht gibt, daß das Gemeinwesen nicht unternimmt, was ihm schaden könnte. Wie aber würde euch das gefallen, wenn diese Partei ihre Macht im Staate dazu gebrauchen wollte, alle, die keine Bauern sind, zu zwingen, ihre Lebensmittel zu besonders teuren Preisen beim Bauern zu kaufen? Oder wenn die Fabrikantenpartei den Bauern zwingen wollte, daß er für die Industrieprodukte, die er braucht, mehr bezahlt als sie wert sind, damit es dem Fabrikanten besonders gut gehe? Oder wenn irgendeine Partei die Fabriksarbeiter zwingen wollte, auf ihre wohlverdiente Muße, auf den Schutz ihrer Gesundheit und ihrer Sicherheit zu verzichten? Oder sie verhindern wollte, Arbeit dort zu suchen, wo sie am besten bezahlt wird? Wenn eine Partei es durch Zahl, Macht und Agitation durchsetzt, daß die Interessen irgendeiner Klasse zum Nachteil der anderen Klassen im Staate bevorzugt werden, so ist die Republik nicht besser als eine Despotie. Kurz  gesagt: die Interessen jedes einzelnen müssen auf die des anderen Rücksicht nehmen. Wir nennen einen Privatmann, der sein Wohl auf Kosten oder gar zum Schaden anderer fördert, einen elenden Egoisten. Ebenso müssen wir den Staat nennen, wenn er ebenso handelt. Die echte Republik kann nur auf allgemeiner Gerechtigkeit beruhen, mit Schonung aller für alle.

Das erste Wort der wahren Republik heißt: Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu. Dieser einfache Satz, den ihr ja alle kennt, ist die Grundlage alles sozialen Lebens, des Staates und der ganzen Zivilisation. Dieser bescheidene Satz verwirft den Streit in der Kinderstube, den Unfrieden in der Schule, den Parteienzwist, die unaufrichtige Diplomatie und verdammt den Krieg, der einen Staat auf Kosten des andern vergrößert und bereichert. Er fordert gebieterisch, daß die Staaten und Völker miteinander umgehen wie anständige Menschen im Privatverkehr: mit Achtung und Rücksicht, liebenswürdig und höflich, krasse Eigenliebe, Roheit und Unhöflichkeit ablehnen. Durchboxen gehört nicht in die Republik.

Dieser Satz: Ne fais pas á autrui ce que tu ne voudrais pas qu’on te fasse, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Er ist, wie die Logiker oder Mathematiker sagen, ein Axiom, ein Satz, der von selbst einleuchtet. Weshalb Vischer in seinem Roman „Auch Einer“ seine Helden sagen läßt, das Moralische verstehe sich von selbst, alle zehn Gebote fließen aus diesem Satze. Jedes denkende Hirn, jedes fühlende Herz schafft diesen Satz sozusagen neu aus sich selbst heraus, sonst könnte die Welt längst nicht mehr bestehen. In unaufhörlichem Streit und Kampf müßte die Menschheit zugrunde gegangen sein, natürlich ohne auch nur die kümmerlichste Kultur und Zivilisation entwickelt zu haben. Und auf die wollt ihr doch nicht verzichten?

Die wahre Republik ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit für alle unter Mitarbeit aller. Auf diesem Fundament erst kann die  zweite Stufe des menschlichen Zusammenlebens aufgebaut werden, die auf dem indischen Worte beruht: Hilf, wo du kannst, denn wer nichts tut, tut übles. Die Gerechtigkeit besteht nämlich nicht in der bloßen Enthaltung von Schadentun, Verletzen, Kränken. Natürlich kann man damit schon ein ganz anständiger Mensch sein. Aber das ist zu wenig. Euch kommt ein solcher Mensch sicher kalt und wenig sympathisch vor. Und er erinnert euch an Kellers „gerechte Kammacher“, die ihr ja alle nicht leiden könnt. Er lebt nämlich nach dem egozentrischen Grundsatz: „Sehe jeder, wo er bleibe, sehe jeder, wie er’s treibe, und wer steht, daß er nicht falle.“ Ein richtiger Mensch aber, den geht es sehr an, daß auch die anderen, gleichgültig, ob mit oder ohne ihr Verschulden, nicht fallen. Ist er aber gar glücklich, so hat er das Bedürfnis, alles  um sich her wenigstens leidlos zu sehen. Das ist der innerste Kern des Christentums, welches als notwendige Ergänzung zu der Gerechtigkeit des alten Dekalogs hinzugetreten ist.

Oft hört ihr, Republik sei nichts anderes als Freiheit. Aber die Freiheit ist nichts Positives. Man kann sie definieren als Abwesenheit von Gewalt. Solange Gewalt von Despoten, Siegern und Eroberern, von Cliquen, Klassen, Parteien, Bündnissen oder Banden sich geltend machen kann, gibt es keine Gerechtigkeit. Freiheit ist also nichts Aufbauendes, sondern bloß die unentbehrliches Vorbedingung für das ordentliche Zusammenleben der Menschen. Das Positive aber muß gelehrt und geübt werden.

Auf unsere junge Republik dürft ihr stolz sein. Sie ist nicht in guten, friedlichen Zeiten, durch den starken Willen, den Freiheitsdrang oder die Selbstbesinnung einzelner geschaffen worden. Eine gewaltige internationale Katastrophe hat wie ein Sturmwind die alten Herren hinweggefegt und uns vor die Notwendigkeit gestellt, das neue Gemeinwesen aus eigener Kraft unter den schwersten Verhältnissen aufzubauen. So ist uns eine Aufgabe zuteil geworden, unvergleichlich schwerer als etwa jene der Schweizer, deren Vorfahren vor Jahrhunderten ihre politische Freiheit verteidigt und erobert haben. Diese haben es leicht, ihre Gemeinschaft langsam und bedächtig zu immer besserer Gesittung weiter zu gestalten. Aber je schwieriger die Aufgabe, desto größer die Ehre und Freude am Geleisteten. Was schon in wenigen Jahren geschehen ist, ist nicht wenig. Wenn ihr bedenkt, daß unser Land im Zustand äußerster Zerrüttung, wirtschaftlich fast zugrunde gerichtet, seiner besten Männer beraubt, seiner wichtigsten Hilfsmittel entkleidet, sich neu zu fassen und nicht nur neu zu organisieren, sondern erst wieder lebensfähig zu machen hatte, so werdet ihr verstehen, was das heißt, daß es bei uns im Lande keine äußerste Unordnung gegeben hat, daß wir den auflösenden Kampf aller gegen alle zu vermeiden gewußt haben. Wir haben unsern armen Staat in leidlicher Ordnung wieder aufgebaut, sind ein geachtetes Mitglied der europäischen Völkerfamilie geworden und ein wichtiges Stück der Kulturgemeinschaft geblieben. Ja, es gibt sogar einige Dinge, in denen wir anderen Ländern als Beispiel dienen. Dies alles ist das Verdienst gewisser Eigenschaften des Österreichers. Sein Sinn für geduldiges und rücksichtsvolles Zusammenleben, für Verständigung und Ausgleichung von Gegensätzen macht ihn für die Republik besonders geeignet. Diese Eigenschaften haben uns vor der Anarchie verzweifelter zurückströmender Armeen bewahrt, vor Aufständen hungernder Volksmassen, vor blutigen Gewalttaten der Revolution, wie vor Handstreichen der Reaktion. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Interessengruppen, Parteien und Bestrebungen könnte in der Geschichte, wenn die Geschichte Luft hätte, auch schöne Dinge aufzuschreiben, als ein Beispiel aufgezeichnet werden, wie sich ein Volk durch seinen Charakter aus der äußersten Notlage hilft.

Die Eignung zum Republikaner ist die erste Voraussetzung für die wahre Republik. Da ihr sie besitzt, wird es euch leicht sein, alles zu lernen, was zu einem rechten Republikaner gehört, und es dann auch mit aller Liebe zu eurem schönen Vaterland zu tun. Wenn wir alle fest wollen, fleißig arbeiten, nicht nach links und nicht nach rechts sehen, sondern geradeaus, nicht groß tun und nicht verzweifeln, dann kann unsere Republik ein wohnliches Heim für alle werden. Dann wird sie mit Recht Republik heißen.

Legt euren Willen zur Republik als Geburtstagsgeschenk zu ihren Füßen.

In: Neue Freie Presse, 12. November 1925, S. 14

Hans Liebstoeckl: Das Theater in der Republik

Für das Theater ist die Festlegung der republikanischen Staatsform von einiger Bedeutung gewesen. Ohne politische Dinge erörtern zu wollen, kann man hier wohl davon sprechen, denn der republikanische Gedanke einhält ja gleichsam den Begriff der Meinungsfreiheit in sich, und es ist gewiß, daß Presse und Bühne ohne ein weitgehendes Maß von Freiheit nicht existieren können. Auch die Monarchie hat eine bestimmte Dosis von Freiheit besessen, sie ging manchmal weiter, als man erwarten durfte, aber sie blieb natürlich schwerhörig in allen Dingen, die den Hof und die zum Hofe gehörige Gesellschaft betraten. Ich selbst konnte ein Lied davon singen.

            Als Maria Jeritza seinerzeit ihren Übergang von der Volksoper n die Wiener Hofoper vollzog, schrieb ich eigens eine Oper für sie, zu der Max Oberleitner die Musik gemacht hat. In dieser Oper, „Aphrodite“ (mit Benützung des Romanes von Pierre Louys), gab die Jeritza die Chrysis (Aphrodite). Das Buch, im Laufe von 14 Tagen in Stockholm von mir niedergeschrieben, ward an der Hofoper sofort angenommen und die Musik, gleichfalls rasch entstanden, wurde kurz darauf geprobt. Die maßgebenden Faktoren der Hofoper verhehlten sich nicht, daß der Stoff für die damaligen Verhältnisse ein bißchen kitzlig war. Meine Oper schilderte Aufstieg und Fall einer Buhlerin, aber man hoffte, die unglückliche Chrysis ungefährdet in die Oper bringen zu können, denn damals war ja die Glanzzeit der „Salome“ und der „Elektra“ von Strauß, zweier Opern, die sicherlich das Normalmaß der Keuschheit, das sich die Monarchie setzte, überschritten. Die berühmte Affäre der „Salome“ mit ihren sieben Schleiern kam glatt unter Dach. Bei meiner „Aphrodite“ konnte es insofern Bedenken geben, als der Höhepunkt der Handlung darin bestand, daß die Buhlerin ein Standbild der Aphrodite zertrümmert und sich selbst in ihrer strahlenden Schönheit n deren Stelle setzt. Da das Bild der Aphrodite gänzlich unbekleidet war, sollte für die Inszenierung in der Hofoper eine Art durchsichtigen Schleiergewandes gewählt werden, das die schöne Gestalt der Jeritza ziemlich aufrichtig erraten ließ. Die Proben waren schon im Gange, aber es sprach sich herum, daß Mitzi Jeritza in dieser Partie nahezu unbekleidet vor den Augen des Publikums erscheine. Nun bekam der Hof Wind davon, und insbesondere eine der Erzherzoginnen nahm Anstoß an dieser Szene. Man debattierte hin und her, doch kam schließlich ein Kompromiß zustande: der Schleier blieb, aber er mußte durch dickere Gewänder ersetzt werden! …

            In diesem Punkt hat die Republik volle Freiheit geübt. Obschon die lokale Zensur in Wien mancherlei Schwierigkeiten machte, blieb die Tendenz doch sichtbar: die Schaustellung des menschlichen Körpers nicht als Ärgernis zu betrachten. Eine Zeitlang überwogen die erotischen Stücke und die Nacktheit auf der Bühne. Ich erinnere bloß an die „Lysistrata“, an manche Novität der Kammerspiele, an Wedekind und Kaisers „Sorina“ und Sternheims „Kasette“, die, obgleich ein außerordentlich schlüpfriges Stück, sogar im Burgtheater Aufnahme fand, von den Freudkomplexen, wie Unruhs „Geschlecht“ und manchen Anstößigkeiten in Wildgans „Kain und Abel“, gar nicht zu sprechen. In den heikelsten Fällen half sich die Wiener Zensur mit Aufführungen vor einem geladenen Publikum, die dann en suite weitergespielt wurden. Der Kampf um Schnitzlers „Reigen“ ist wohl noch in Erinnerung. Noch liberaler verhielt sich die republikanische Regierung zu Stücken mit politischem Hintergrunde. Man spielte Toller und machte in dem einen wie in dem anderen Fall die Erfahrung, daß die „Gefährlichkeit“ aller dieser Dinge von selbst abstumpft. Es gab sogar einen Augenblick, da sich die Abneigung des Publikums gegen reine Schaustellungen und allzu frivole Bühnenkunst darin kundgab, daß die Leute anfingen, aufzuhören; sie hatten die Nacktheit satt. und das kann man verstehen.

            Heute liegen die Dinge so, daß ein Stück mehrere Zensurstellen passiert. Die erste natürliche Zensurstelle sind der Lektor und der Dramaturg, die zweite der Direktor. Dann erst kommt die Behörde, und die Fälle, in denen sie einschreitet, sind immer seltener geworden. Hie und da wird ein allzu gewagtes Wort gestrichen, eine allzu verfängliche Situation gemildert, und es geschieht bisweilen, daß sie auch, bei Schlüsselstücken und Schlüsselfilmen, Rücksicht auf jene Kreise nimmt, die davon betroffen werden. Jedenfalls haben die Zeiten aufgehört, da die Theaterdirektoren wünschen, daß ein eingereichtes Stück verboten werde. Das war ein beliebter Trick, ein solches Verbot wirkte wie Reklame und die Direktion kam mitunter auf ihre Rechnung, mitunter auch nicht.

            Der heutige Zustand lebt also von einem Minimum an Zensur, und es zeigt sich, das möglichst weitgehende Freiheit zur Läuterung des Geschmackes beiträgt, daß sich also gleichsam von selbst ein Regulativ gegen allzu große Üppigkeit einstellt. Das Publikum hat eine viel feinere Nase, als man glaubt, und nichts wäre verkehrter, als die Annahme, die Leute kämen nur deshalb ins Theater, um ihre Sinne und ihre Schaulust zu befriedigen. Die reine Pornographie auf der Bühne hat sichtlich abgewirtschaftet, man läßt sich sie von keinem anderen als von einem wirklichen Dichter gefallen. Nur so scheint es wieder möglich geworden zu sein, daß Dichter wieder zu Worte kommen, die man für erledigt hielt. Die „Wallenstein-Trilogie“ mit Bassermann ist jedesmal bis auf das letzte Plätzchen besetzt. Das ist wahrhaftig kein schlimmes Zeichen, und es macht der Republik alle Ehre. Nach wie vor kann man nur wünschen, daß es so bleibe und daß der Staat seine Oberaufsicht über die von Steuern schier erdrückten Bürger so zahm und linde als möglich ausübe. Er soll da sein, aber je weniger man von ihm weiß, desto besser. Sonst kommen wir eines Tages in die schrecklichen Verkehrtheiten, unter denen heute die russische Kunst leidet, und deren Widersinn nicht nur außerhalb Rußlands, sondern auch in Rußland selbst als lächerlich empfunden wird.

            Es zeigt sich, daß in der Freiheit allein die Kunst gedeiht und daß die Willkür und Ausschweifung sich selbst ein Ende setzen. Das ist menschlicher Gewinn genug, und indem wir davon sprechen, bringen auch wir der jungen Republik Österreich unseren Glückwunsch dar.

In: Die Bühne, H. 53, 12.11.1925, S. 4.