N.N.: Die schwarze Tänzerin (1928)
Wie in anderen Großstädten der Welt, wie in Newyork, London, Paris, Berlin so hat sich auch in Wien die leichte und lockere Kunstgattung der Revue eingebürgert. Eigentlich ist die Bezeichnung „Kunstgattung“ nicht ganz am Platz, denn in der Regel hat die Revue mit Kunst im ernsten Sinne des Wortes nichts zu tun. Sie dient, anders als früher die Operette, die ihre Musik Meistern wie Offenbach, Millöcker, Johann Strauß verdankte, ausschließlich dem Zerstreuungsbedürfnis abgehetzter Großstädter, nervöser Menschen, die auch schon des Zwanges, der Handlung einer Operette zu folgen, überdrüssig sind.
Die Revue besteht aus lose aneinandergereihten Szenen, die kein Handlungsfaden verbindet, aus Musik, Tanz und Scherz, aus prächtigen Kostümen und Dekorationen, aus gutgewachsenen, zumeist wenig bekleideten jungen Mädchen. Sie ist eine Art Potpourri, ein lustiges und bewegtes Allerlei.
Man hat sich in Wien an diese Revuen gewöhnt, hat sie als leichte Zerstreuung schätzen gelernt; niemand ist es bisher eingefallen, an ihnen ernstlich Anstoß zu nehmen. Es bestand gewissermaßen ein Abkommen zwischen den Veranstaltern der Revuen und dem Wiener Publikum daß, wer Lust hatte, sich die Revuen anzusehen, eben hinging; und wer keine Lust hatte, eben zu Hause blieb. Die Direktoren der Revuetheater fühlten sich zu keinerlei besonderer künstlerischen oder volksbildnerischen Leistung verpflichtet wie etwa die Direktoren unserer ernsten Sprechtheater oder musikalischen Bühnen und das Publikum forderte von ihnen keinerlei höheres Verantwortungsgefühl. Man betrachtete das Revuetheater als eine Stätte sorgloser Unterhaltung als eine Art musikalischen Varietes und wußte genug, welche Art Darbietungen einem dort vorgesetzt würden.
Nun soll von heute abends an in Wien eine Revue gespielt werden, gegen die mancherlei Widerstände Klagen und Angriffe laut wurden. Von anderen bisher gespielten Revuen unterscheidet sich diese neue nur insofern als darin die berühmte Josephine Baker, eine dunkelhäutige Amerikanerin, die Hauptrolle spielt. Man kann oft lesen oder hören, Josephine Baker sei eine Negerin. Das ist sie nun nicht; sie ist vielmehr die Tochter eines Weißen und einer Negerin, also eine Mulattin. Aber wenn sie selbst eine Negerin wäre, bestünde noch immer kein Grund, ihrem Wiener Gastspiel feindselig zu begegnen In allen Großstädten Europas hat Josephine Baker, die sehr hübsch und eine begabte Tänzerin ist, Triumphe gefeiert. Seit Jahren dringt von überall her die Kunde nach Wien, welch besonderer Reiz von dieser jungen Mulattin ausströmt, wie anmutig ihr Spiel auf der Bühne ist. Seit ebenso langer Zeit sind viele Wiener begierig, das Wunder // selbst zu sehen, und da ja die meisten nicht in der Lage sind, nach Paris oder Berlin zu fahren, um Josephine Baker zu sehen, freuten sie sich, als sie nun endlich auch nach Wien kam. Jetzt ist sie da, und unbegreiflicherweise ist der Empfang, den ihr Wien zuteil werden läßt, alles eher als freundlich. An verschiedenen Stellen wird über die „Negerschande“ geschimpft, die unsere „weiße Kultur bedrohe“. Man läuft gegen dieses junge Mädchen Sturm, als wäre ihr Auftreten auf einer Wiener Bühne wirklich geeignet, etwa den Respekt vor den Leistungen dies Burgtheaters zu verringern.
Wäre Österreich ein Land mit großem Kolonialbesitz in den Tropen, mit vielen unterjochten, farbigen Völkern, so könnte man diesen Widerstand gegen das Auftreten einer Farbigen auf einem Wiener Theater, wenn auch nicht billigen, so doch begreifen. Amerikaner und Engländer züchten in sich die Verachtung andersfarbiger Völker hoch, weil nur dieser Glaube an ihre Überlegenheit über Fremdfarbige in den Angelsachsen selbst und in den beherrschten Kolonialvölkern das Bewußtsein aufrechterhält, daß sie, die Angelsachsen, von der Natur zum Herrschen und Beherrschen geschaffen sind. Österreich aber hat keinerlei Kolonien und daher nicht einmal diesen Scheingrund, auf irgendein Volk der Erde hinabzuschauen. Für den Österreicher kann die Mulattin, könnte auch eine Negerin ein Mensch wie jeder andere sein.
Es ist nichts als provinzlerische Wichtigtuerei, wenn man dem Gastspiel der Josephine Baker mit politischen, mit rassen- oder kulturschützlerischen Argumenten an den Leib rückt Unserer Kultur kann das Gastspiel der Josephine Baker nichts anhaben. Ihre hübschen Lieder zu hören, ihre anmutigen Bewegungen und ihren reizvollen Tanz zu sehen, kann der Laune mißmutiger Wiener nur nützen. Darum wollen wir jedem, der sich von dem Anblick der Josephine Baker Ärger erwartet, den einfachen Rat geben, zu Hause zu bleiben und jenen, die sie sehen wollen, das Vergnügen nicht zu stören.