Schlagwortarchiv für: Sport

Arnold Höllriegel: Apotheose des Fußballs.

Ein berühmter Kulturhistoriker hat die Glanzzeit der Hellenen die agonale Periode genannt; wir würden sagen: das Zeitalter der Matches. Es war die Zeit, da außer einer lächerlichen Art Völkerbund, den Amphyktionen, den großen Gedanken der hellenischen Kultureinheit überhaupt nur die zwischenstaatlichen Sportregeln der olympischen Wettspiele repräsentierten. Man datierte damals die Jahre der nationalen Geschichte ungefähr so: im ersten Jahre nach dem Sieg der Mannschaft von Uruguay. Diese Helenen, die unsere Schulmeister fortwährend als Philosophen und Künstler ausgeben wollen, waren vor allem einmal ein Volk der Sportsmen. Was Ihnen die sogenannte nationale Ertüchtigung nutzte, zeigte sich später bei dem Zusammenstoß mit den Römern, die ihre Jahre nach kommandierenden Generalen benannten und die keine Olympioniken trainierten, sondern einfach Rekruten drillten.

*

Nein, das mit der Ertüchtigung ist Schwindel und süße Ausrede. In den großen agonalen Perioden, wenn ganze Nationen vom Wettspielbetrieb erfaßt sind,  wenn der Sieg einer nationalen Mannschaft im Ballschleudern oder dergleichen zu einer, nein, zu der nationalen Sache wird, der Sport keine Angelegenheit der Sporttreibenden mehr. Als das moderne Fußballwesen aufkam, mögen vielleicht die besten Fußballer vor schlechteren gespielt haben, die alle Sportsgenossen der großen Heroen waren, wenn auch bescheidene. Heute spielen die großen, berühmten Professionalmannschaften vor fünfzig- oder sechzigtausend leidenschaftlich interessierten Zuschauern, von denen nicht der zehnte Teil jemals eine Schuhspitze mit einem Ball in Berührung gebracht hat. Wieviele von diesen Zuschauern träumen denn davon, später einmal so gut kicken zu können, wie der Uridil? Die Mehrzahl wünscht so wenig zu kicken, wie auf den Händen gehen zu können. Wenn die Jeritza singt, gibt es vielleicht ein paar angehende Sängerinnen im Parkett, aber nicht sie führen dann das große Beifallsgetöse aus. Wer sind in unseren Großstädten die leidenschaftlichsten Fußballenthusiasten? Industriearbeiter, die ihr Leben den Maschinen opfern müssen, und ferner die unentwegten Schimmytänzer, das Flaneur-Publikum der Bars und Five o‘Clocks.

Die Tatsache aber steht fest, daß in meiner Heimatstadt Wien heute die Theater leer sind und die Fußballplätze voll, daß es festliche Massenfreude überhaupt nur noch auf dem Fußballplatz gibt – und in den Tanzhallen. Es ist, als ob der große Dionysos die Köpfe nicht mehr zu beseelen wüßte, sondern nur noch die Füße. Es gab in der Weltgeschichte Kopfperioden, und Handperioden und auch Bauchperioden. Wir leben in dem Zeitalter der Füße.

*

Merkt auf: die bürgerlichen Fußballenthusiasten, das sind die gleichen Leute, die an anderen Nachmittagen die modernen Tänze tanzen oder diesen Tänzen zusehen: den eigenen oder fremden Füßen mit totenernsten [!] und gierigen Blicken folgen, während sie sich in schwierige und wenig heitere Stellungen verschieben. Die Menschen, die dies begeistert, sind die gleichen, die nur mehr mit Hilfe des Typewriters schreiben und die mit Hilfe des Autos wandern. Bürgerliche Herren der Maschinen und proletarische Sklaven der Maschinen, das ist das Fußballpublikum. Das Fußballspiel ist aber der große dramatische Protest gegen die Maschine. Hier agiert der menschliche Körper. Das Fußballspiel, das eben ein Fußball ist, ein Tanz verhält sich zu den anderen Tänzen so, wie sich in anderen Epochen die Kampftänze zu ihnen verhalten haben, jene Waffentänze, Schwerttänze, die es immer gegeben hat und wahrscheinlich immer geben wird. Aus dem Tanz hat sich einst das Drama entwickelt. Welche noch ungeahnte neue Kunstform wird einmal aus dem Ballspiel hervorgehen?

*

Ein Kampfspiel. Symbol des Krieges. Wir fechten auf den Fußballplätzen Klassen-, Rassen- und Völkerkonflikte spielerisch aus. Der vergötterte Fußballheros, der in einem Länderspiel gegen die Mannschaft des Nachbarlandes kämpft, ist nur der Nachfahr des Häuptlings, der einst mit einigen Gefolgsleuten, sagen wir: zehn Mann, einen großen Sonderkampf gegen den feindlichen Häuptling bestand, vor dem beide Herren, die erregt zusahen und „Hoppauf!“ schrien oder „Hipp, hipp!“ oder „Heilo!“ Matches dieser Art, zwischen den ernsteren Massenschlachten, hat die Geschichte immer wieder geschaut.

Der Krieg, der Haß ist, grenzt hier an den Tanz, der Liebe ist. Daher die Häufung von Leidenschaften. Daher diese unerklärliche Faszination, die von solchen Kampfspielen ausgeht. Sie packen den Menschen dort, wo er am empfindlichsten ist, als Einzelwesen, das sich jung und stark träumt, und als Kollektivwesen, das seine Rasse, Klasse oder Nation siegreich wissen möchte. Es ist im Grunde der gleiche Traum, auf zwei verschiedene Ebenen projiziert. Ein Traum von der Mannheit, den auch das Weib träumt, gerade das Weib.

*

Die Kulturgeschichte hat immer wieder solche Kollektivtänze geschaffen. Die Schwerttänze der Wilden, die Turniere der Ritter waren nichts anderes. Immer wieder aber kehrt mit bemerkenswerter Zähigkeit die Entwicklung zu einer primitiven und bedeutsamen Form des Wettspieles zurück, zum Balltreiben. Die Freude daran steckt ganz tief im Menschen, nein, in der lebenden Kreatur überhaupt. Wer lehrt junge Katzen mit rollenden Bällen spielen? Das Menschenjunge kugelt den Ball, ehe er [!] sicher auf seinen Beinen steht. Ist das der uralte Instinkt einem flinken kleinen Tier nachzulaufen, der entzückenden Maus, die so lieb ist, mit sich spielen zu lassen, ehe man sie frißt, oder steckt auch hier ein anderer Urgedanke dahinter?

Ist dieser Ball, den alle Menschen im Innersten lieben, vielleicht ein Symbol des größeren Balles, mit dem die unsterblichen Götter spielen, der runden Erde? Ist sie selbst nicht ein Fußball, den ungeheure Füße durch den Äther kicken und durch die geheimnisvollen Tore der Unendlichkeit?

*

Wo immer auf der Welt man viele Tausende von Menschen ein Ding lieben sieht, einen Brauch, gar ein Spiel, wird man ruhig annehmen dürfen, daß diese Sache dieser Brauch, dieses Spiel eben an die zwei oder drei richtunggebenden Urinstinkte der Menschenseele rührt: Nahrungstrieb, Sexualtrieb, Religion. Das Fußballspiel macht keine Ausnahme von dieser ehernen Regel. Es ist leicht, aber dumm, diese Leidenschaft der Massen mit einem snobistischen Nasenrümpfen abzutun. Wo so viel Rauch ist, muß wohl Feuer sein, ein großes mystisches Opferfeuer. Das Fußballspiel, wie jedes Massenfest, muß letzten Endes eine religiöse Angelegenheit sein. In diesem Kulttanz der modernen Zeit vereinigen sich gewißlich die großen drei Motive; niemand weiß es und jeder ahnt es. Der gejagte Ball versinnbildlicht zugleich das gehetzte Beutetier, den halbrunden Kosmos, und noch etwas anderes. Fragt die Psychoanalytiker, wie sie etwa einen Traum vom Fußballspiel deuten würden, vom Eindringen der Kugel in das verteidigte Tor!

Ein Spiel, das solche Elemente darstellt, hat man nun noch den nationalen Instinkten dienstbar zu machen gewußt, die wieder nichts sind als eine andere Erscheinungsform der einfachsten menschlichen Ur-Regungen. Wen wundert es noch, daß die Fußballwettspiele so zahllose Massen mit einer unklaren, aber erklärlichen Begeisterung erfüllen?

*

Die agonale Periode des Hellenentums hat den Sport geboren, aber auch seine Schwester, die Tragödie. Aus irgendwelchen Gründen hat, soviel wir wissen, der altgriechische Sport Wettspiele von größeren Mannschaften kaum gekannt, sondern um [!] Einzelwettkämpfe, Schwer- und Leichtathletik. Die großen Matches rivalisierender Truppen gab es auch, aber sie wurden nicht ausgefochten von kleinen Ballspieler-Banden, sondern von Schauspielertruppen, deren Captains Euripides und Sophokles hießen. Es gab ein Match Antigone kontra Iphigenie. Es waren, wie wir wissen, richtige Wettspiele mit Unparteiischen, Meisterschaften und leidenschaftlich begeisterten Parteigängern auf beiden Seiten. Diese dramatischen Wettspiele des antiken Theaters, das gar nicht viel anders aussah als ein moderner Fußballplatz, waren hervorgegangen aus den Wetttänzen und Wettgesängen rivalisierender Mannschaften, aus ursprünglichen Kampftänzen, wie sie auch dem Fußballspiel zugrunde liegen. Aus den Evoë-Chören bacchantischer Tänzer ist einmal die edelste Form menschlicher Kunst entstanden; wer weiß, was in einem oder zwei Jahrtausenden noch aus den Hurrahs werden könnte, mit dem auf den Fußballplätzen die Mannschaften einander begrüßen!

*

Eine moderne Großstadt ist nicht anders als ein Menschenhaufen zu jeder beliebigen Zeit. Viele, viele Menschen manchmal beieinander zu sehen, ist uns allen ein starkes Bedürfnis, und jede Epoche schafft festliche Vorwände für seine Erfüllung. Die gedeckten und komplizierten Theater des Epigonenzeitalters, ärmliche Nachahmungen der alten Massen-Kulturstätten, genügen dieser Menschheitssehnsucht und ungeheuren Versammlungen nicht mehr; der Verfall der Demokratie hat jene andere Form des Dramas, die bewegte Volksversammlung, uninteressant gemacht, aber der Mensch braucht immer wieder riesige, von Massenleidenschaft rhythmisch durchwühlte, in einem Einheitsgedanken zusammengeschweißte, besser noch, von zwei rivalisierenden Liebes- und Hassesgemeinschaften dramatisch belebte Kultversammlungen. Die aber gewährt dem Volk unserer heutigen Städte der Fußballsport. Er gewährt einer konfessionslos gewordenen Menge jene elementaren Schauspiele des Kultus, die nichts sind als die tänzerischen Bewegungen priesterlicher Leiber; Jünglinge mit prachtvollen Muskeln, die hier springen, dort rennen, hier die Arme heben, dort ein Symbol der Weltkugel zum Himmel schleudern, sind sie nicht die Mystagogen, die Priester, die jede Menge braucht? Sind sie nicht, was der Priester sein soll, das irdische Abbild jener Götter, die die großen rotierenden Bälle durch den Raum wirbeln lassen, nach geheimnisvollen, aber strengen Regeln, zwischen den erhabenen Toren der Unendlichkeit?

In: Der Morgen, 11.5.1925, S. 5f.

Franz Blei: Das Geheimnis der Liebe

Erotisierung der Mode

Jemand hat bei der heutigen Frauenmode an eine, was die Verkleinerung der erotischen Oberfläche betrifft, ganz ähnliche Mode erinnert, die Sansculotte und das Directoire, die unmittelbar auf eine Mode folgten, die sich in der Vergrößerung der erotischen Oberfläche nicht genug tun konnte. Und er brachte diese verringerte Reizwirkung des weiblichen Körpers, von dem viele Partien als erotisch nicht mehr wirksam freigegeben werden, da und dort mit den Kriegen in Zusammenhang. Der Mann verliere im Kriege, also in bloßer Männergesellschaft, die Geduld, sich bei Kleiderbarrieren aufzuhalten, ebenso sehr wie die Sensibilität, die das Vorher verlange. Er werde stürmischer, brutaler, sexueller. Und die Frau folge dem Wink solcher andern männlichen Einstellung, gebe alle Außenposten wie Fuß, Fußknöchel, Wade, Arme, Nacken, Busen durch Unbedeckung als nicht mehr erotisch wirkend preis. Auch das Haar, das sie sich kurz schneide wie in der Directoirezeit. Es bleibt als das Bedeckte, weil allein noch Anziehende, nur mehr das Geschlecht und seine nächste vordere und hintere Umgebung übrig.

Vielleicht ist das so. Vielleicht ist die Krinoline, also ein Maximum an erotischer Oberfläche der Frau, friedlichen Zeiten eigentümlich, die Zeit haben, sich einer Erotisierung hinzugeben, wie es das Ancien régime tat und das zweite Kaiserreich. Gewiß ist der heutige Mann von zwanzig bis dreißig weit weniger mit der Frau und seiner erotischen Beziehung zu ihr beschäftigt, als er es zu irgendeiner Zeit war. Und umgekehrt, was aber nicht Rückschlag bedeuten muß. Es könnte die Frau aus Ermüdung an dieser etwas steril gewordenen Rolle ganz von sich aus das alte Kostüm abgeworfen haben, nicht weil sie Sport treibt oder einen Beruf ausübt oder aus sonst so praktischen pragmatischen Anlässen, sondern weil sie es einfach müde ist, oder weil sich nicht lohnt, oder aus Mangel an Phantasie, oder weil sie den raschen Wechsel des Genusses einer Dauer vorzieht, die einige Anstrengungen verlangt. Oder weil dieser merkwürdige Männerfall eines vierjährigen Krieges die Akten dieser ganzen Angelegenheit so in Unordnung gebracht hat, daß man besser die Geschichte so adamitisch von vorne anfängt, als es die Polizei erlaubt. Denn daß heute die Frau, setzte es die Mode gegen die Polizei durch, auch splitternackt gehen könnte, daran ist nicht zu zweifeln.

Wenn die Pfarrer aller Konfessionen genau wüßten, wofür sie da sind und was in ihren Theologien steht, müßten sie diese Enterotisierung des weiblichen Körpers, wie sie kürzester Rock und kurzes Haar ausdrücken, mit allen Sympathien begleiten. Wie es jeder saubere Mann und jede saubere Frau tut. Daß die Pfarrer das Gegenteil tun, verrät nur eine etwas trübe Sinnlichkeit, die immer in einer schwülen Wolke wandelt. Oder eine so große berufsmäßige Fremdheit, daß schon das bestrumpfte Knie einer Frau genügt, ihnen das Blut in den Kopf zu treiben. Aber schließlich sind nicht die meisten Menschen Pfarrer und leben in einem natürlicheren Ablauf ihres funktionellen und emotionalen Lebens. Schon die durchaus fehlende Kompetenz sollte jene, die aus Gelöbnis nie eine Frau berührt haben, noch berühren werden, davon abhalten, hier ein Urteil zu haben, außer ein ästhetisches. Aber man könnte auch sagen, es liege den Kirchen sehr viel an diesen erotischen Reizmitteln und sei nur ihr Wort falsch, wenn sie einem jungen Mädchen predigen, es sei sittlich, sich das Haar zu Zöpfen wachsen zu lassen. Und sei, was sie in Wahrheit meinen, dieses, daß die Frau keines ihrer Reizmittel aufgeben dürfe, um den Mann zum Geschlechtsakt zu bringen, mit Kinderfolge natürlich. Aber es dürfte eine vergebliche Predigt sein wie immer. Nach Vorstellungen, und seien sie auch von Händeringen begleitet und der Bedrohung mit Höllenstrafen, hat sich das Leben noch nie gerichtet. Weil es dann rational wäre, also nicht wäre.

Die Phantasie der Umarmung

Es ist in der sich verhüllenden und oft auch noch verhüllten Materie jener Affekte, welche man insgesamt die Liebe nennt, nicht zum Nachteil dieser Affekte, wenn sie in eine mentale Kohärenz mit den andern Äußerungen des Lebens gestellt werden oder mindestens der Versuch dazu immer wieder gemacht wird und von jedem. So verschieden sich auch ein jeder das Erlebnis der Liebe nach der Art seines geistigen Habitus integrieren wird, bleibt die Bedeutung dieses Erlebnisses, an dem immer zwei beteiligt sind, auch dann bestehen, wenn der Betroffene nachher nur dieses davon hat, daß er sagt: „Das ist alles?“

Wer mit diesem Sprung sich auf die Klippe seiner Geistigkeit rettet, der hat, ganz unsentimental geboren, keinerlei Anstrengungen gemacht, jenen lyrisch-pathetischen Mythus der Liebe zu schaffen, der rechtfertigt, daß sich das Fleisch in Nehmen und Geben ohne jede Scham gebärdet oder doch ohne jene soziale Scham, welche die falsche ist. Denn die echte Scham ist eine ganz geistige Qualität und unbesiegbar.

Die Schöpfung dieses rechtfertigenden Mythus der Liebe ist immer jedes Betroffenen eigenstes Werk. Die eigene Liebesangelegenheit wird man immer so logisch finden wie idiotisch die andere, die man mit kühlem Auge ansieht. Die Menschen wissen das und vermeiden es, sich vor aller Augen zu lieben. Auch alle Institutionen, die sich in Staat und Gesellschaft gegeben haben, sind wenig freundlich dem menschlichen Vergnügen gegenüber, außer in dem einen Falle, wo die Gesellschaft die Liebe anerkennt und mit den heute etwas komischen Formalien als Zeichen dieser Approbation begleitet. Welche Approbation die Liebespaare dennoch immer wieder suchen, weil sie, wie es scheint, erfreut und erschüttert sind, das ihnen nun die ganze große Gesellschaft alles erlaubt und sie dazu anfeuert, wo sie sonst verbietet. Aber selbst hier wird für den dritten das „junge Ehepaar“ immer etwas komische Vorstellungen auslösen. Und auch das Paar selber kommt sich etwas geniert und lächerlich vor, mitten auf dem ausgeräumten Platze zu stehen, den in weitem Kreise die Zuschauer umgürten. Aber ist ehrend zugleich.

Es gibt keine menschliche Umarmung, die ohne Phantasie zustande käme. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß die Ehelichkeit des Pares solche Phantasie-Bestandteile enthält und daß daraus ihre Dauer als Institut kommt, trotzdem die mißglückten Ehen oder was man die unglücklichen nennt, an Zahl die andern übertreffen dürften. Unter den vielen Gründen mißglückter Ehen ist nur ein einziger in Hinsicht auf die wesentlichen Konsituentien bemerkenswert: wenn sie aus sinnlichem Appetit, aber mit schwachen Sinnen geschlossen sind. Denn schwache Sinne werden diese nötige Phantasmagorie des Geistes nicht erzeugen, ohne welche der Mythus der Liebe nicht zustande kommt. Solche Liebesleute hätten richtiger getan, ganz auf ihre Sinne zu verzichten und aus nichts als praktisch-sozialen Gründen zu heiraten. Was sie da in ihrem dunklen Schlafzimmer treiben, ist so erbärmlich, wie das Kind, das sich solchem Schoß entwindet und auch bei geraden Gliedern eine Mißgeburt ist. Pastorsfrauen, die von der Vorstellung, daß ihre Sinne brennen sollen, schockiert sind, seien erinnert, daß sie sich doch mit dem Gebären und Aufziehen ihrer Kinder eine leidenschaftliche Arbeit machen – warum nicht mit dem Erzeugen?

Die kurzen Werke des Fleisches über das Geistige zu setzen – man hält das für antikisch und damit für das rechte und schöne Leben. Natürlich hat man in keiner Antike und in keinem Heidentum je so gelebt oder solches Leben als das rechte und schöne auch nur gedacht. Das sind so Rokoko-Vorstellungen. Wie in der Revolution der Brutus für das Sinnbild einer republikanischer Würde stand. Es gibt keinen Liebhaber, den nach getanem fleischlichen Werke die Küsse seiner Geliebten auch nur um eine Stunde länger zurückhalten könnten als er mag. Frauen, die sich das anders einreden lassen, werden um ein hysterisches Schmachten und Augenverdrehen jene Luzidität verlieren, die auch der Akt der Liebe bewahren muß, um effektiv zu werden. Diese trüben Spasmen der Bacchantin widersprechen der Eurhythmie eines schönen Leibes, und dem vollendeten Musikwerk des Aktes hat nicht das Geseufze und Gekratze der Instrumente zu folgen, – Noten, im Spiel vergessen und jetzt nachgeholt.

In: Die Bühne (1928), H. 206, S. 23f.