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Oskar Maurus Fontana: Radio-Kulturbeirat und Schriftsteller

Daß den Schriftstellern für ihre Arbeit ein Honorar, auch beim Rundfunk, gebührt, darüber besteht kein Zweifel mehr. Auch die Ravag hat nach der Protestversammlung der Schriftsteller sich zu den Verhandlungen bereit erklärt. Damit aber, daß einige Honorare bewilligt werden, kann die Grundforderung der Schriftsteller nicht erledigt werden, denn diese Grundforderung, die aus dem Verantwortungsbewußtsein der Schriftsteller gegenüber dem Geist kommt, sie lautet: Dem bisherigen administrativ-technischen Beirat der Ravag muß ein Radio-Kulturbeirat ehestens angeschlossen werden und in ihm muß der Schriftsteller Sitz und Stimme haben.

Diese Forderung wird nicht zum erstenmal erhoben und auch nicht von den Schriftstellern allein. Daß sie trotzdem noch immer nicht gehört wird, das ist zumindest merkwürdig. Man begreift nicht, wieso eine Zeit, eine Gesellschaft auf ihr bestes Wissen verzichten, warum jede Mitwirkung des schöpferischen Geistes schon im Keim erstickt wird. „Alle unsere Würde besteht im Gedanken. Richtig zu denken, ist das Prinzip der Moral“, hat Pascal gesagt. Und das heißt, daß mit dem Maß des richtigen Denkens auch das Maß der Sittlichkeit erhöht würde. Sollte die höhere Sittlichkeit, die das bessere Denken verbürgt, nicht gewünscht werden? Stören am Ende die besten Köpfe? Freilich, dem Geschäft tut das Dunkel des Nichtwissens, des halben Wissens, gut.

Aber das Radio ist so wenig nur ein Geschäft, wie es bloß eine technische Angelegenheit ist. Es ist ein Mittel des Geistes oder (für Pessimisten gesagt) es könnte eines sein. Ein solches Mittel des Geistes bloß auf die Berufsinteressen einzuschränken und jede Mitarbeit der geistig Schöpferischen auszuschließen, ist eine Unmöglichkeit. Trotzdem geschah sie, geschieht sie.

Als die Verordnung, die den Ausbau eines der wichtigsten geistigen Hilfsmittel unserer Zeit regeln sollte, in Österreich geschaffen wurde, arbeitete ein Bundesministerium mit, die Parteien wurden gehört, die verschiedensten Kammern – zum Schluß hatten sich alle placiert, nur den Geist hatte man vergessen, den hatte man ausgeschlossen.

Dieses Unrecht, das bei der Schaffung des Radiobeirats passierte, muß wieder gutgemacht werden. Man kann den Geist nicht ausschließen, er ist stärker als eine jede Macht, die ohne ihn auszukommen glaubt. Im heutigen Radiobeirat sitzt kein Schriftsteller, kein Musiker, kein Wissenschaftler. Solche Ausschaltung des Geistes ist, falls man aus ihr ein Prinzip zu machen gesonnen ist, beschämend nicht bloß für den Schriftsteller, sondern für die Kultur unseres Landes.

Darum: Ohne jedes weitere Zögern muß der Radio-Kulturbeirat geschaffen werden. Das deutsche Beispiel muß befolgt werden. (Hätte man ihm schon früher gehorcht, solche unerquickliche Streitigkeiten über ein paar schäbige Honorare wären der Öffentlichkeit erspart geblieben!)

Dieser Radio Kulturbeirat soll keine Versammlung von Würdeträgern sein, sondern eine elastische Rückendeckung gegen das Leben, das sich immer ändert. Darum kann der Radio-Kulturbeirat keine Ernennungen auf Lebensdauer kennen, die Mandatsdauer der einzelnen Mitglieder muß begrenzt sein, sein äußeres Bild muß sich so ändern können, wie es dem Ablauf geistiger Bewegungen entspricht. Keine Erstarrung! Denn sie ist geistfeindlich. Kein Beamtentum! Denn das entfernt vom Leben.

Man sieht aus solchen Andeutungen, wie notwendig dem Rundfunk ein solcher Radio-Kulturbeirat sein müßte. Den Rundfunk nur auf die Arbeit seiner Angestellten beschränken, heißt, ihn zur Erstarrung, zur Lebensfremdheit verurteilen. Das Radio braucht die Mitarbeit des Geistes, wie das Ackerland Sonne und Regen.

In: Radiowelt, 1927, Nr. 49, S.8

Claire Bauroff: Die Arbeit der Tänzerin

                Wer am Abend das Spiel der Tänzerin an sich vorübergleiten sieht, lächelnd, heiter, in bunten Farben, der ahnt nicht, welche schwere Mühe und Arbeit, welche Kraft und Ausdauer erforderlich waren, ihm diesen gefälligen Anblick zu verschaffen. „Sie hat einen schönen Körper, sie ist anmutig und biegsam“ – der Laie spricht über diese Dinge, als handelte es sich um zufällig vorhandene Naturgaben, nicht bedenkend, daß „nur aus vollendeter Kraft die Anmut hervorblickt“. Vielleicht würde es ihn sogar stören, zu wissen, wieviel Entsagung und Energie immer wieder aufgewendet werden müssen als Preis für dieses „gute Material“. Man weiß zwar aus der Artistennovelle von Hermann Bang, daß kaum ein tägliches Leben enthaltsamer und spießbürgerlicher verläuft als das der Trapezakrobaten, aber von der Tänzerin will man es nicht wissen. Der duftige Hauch der Wirklichkeitsferne, die Illusion einer heitereren Welt, die hervorgerufen werden, wenn sie über die Bühne schwebt, würden getrübt, dächte man daran, daß auch dieser Erfolg nur im Schweiße – nicht bloß des Angesichts – errungen wird.

            Ein bekannter Bildhauer war aufs höchste überrascht, als ich ihn einmal zu meinem allmorgendlichen Training zuließ und er sah, wie ich an Ribstoel und schwedischer Bank, mit Medizinball und beschwerter Springschnur zwei Stunden lang arbeitete und von meinem Trainer „in Form“ gebracht wurde. Und das war kein „Potemkinsches Dorf“! Jahraus, jahrein, mit einer Regelmäßigkeit, deren sich kein Postbeamter zu schämen hätte, wird so jeden Morgen der ganzen Körper trainiert, in Schwüngen und Sprüngen gekräftigt und gelockert.

            Ribstoel und schwedische Bank sind Geräte, die von modernen Tänzerinnen und in Gymnastikschulen abgelehnt werden und zum Teil mit Recht, denn ihre Verwendung birgt die große Gefahr übertriebener und unharmonischer Muskelbildung. In der Hand erfahrener Sachverständiger aber sind sie das wirksamste Korrektiv besonders für sehnige, in unserer Fachsprache „trockene“ Körpertypen. Hänge- und Dehnungsübungen am Ribstoel strecken die Sehnen und Muskeln in einem Grade, den man kaum für möglich hielte. Oder Bodenübungen für Kräftigung der Rumpfmuskulatur, die wir zu allen Schwüngen des Oberkörpers im Tanz brauchen, sind, auf der schiefen Ebene der schwedischen Bank ausgeführt, von doppelter Schwierigkeit und Wirkung. Ein besonders reizvoller Behelf beim Training ist der drei Kilogramm schwere, mit Roßhaar prall gefüllte Medizinball, von fünfunddreißig Zentimeter Durchmesser, der bei allen Fang- und Wurfbewegungen die Brustmuskulatur stark in Anspruch nimmt und dessen Masse den Körper zum Beispiel bei hochgestreckten Armen so kräftig rückwärts in den Bogen zieht, daß die gleiche Bewegung nachher ohne Ball dann leicht fällt. Die beschwerte Springschnur wieder verhindert die sich sonst beim Sprung leicht einstellende Verkrampfung der Arme. Alle diese Übungen werden zweckmäßig kombiniert, um je nach Bedarf dem Körper richtige Proportionen bei größter Leistungsfähigkeit zu verleihen und zu erhalten.

            Wenn das tägliche Pensum absolviert ist, dann kommt noch eine halbe Stunde durchgreifendster Massage, die die Bildung athletischer Muskelformen zu verhindern hat. Wenn man nun erwägt, daß all dies nur Vorbereitung des Materials, technische Angelegenheit war, daß dann erst die eigentlich produktive Arbeit der Künstlerin beginnt: Komposition und Studium ihrer Schöpfungen, so kann man ohne Übertreibung sagen, daß wir, von unserer Kunst besessene Tänzerinnen, im Vergleich zur Dame der Gesellschaft Schwerarbeiterinnen sind. Kommen dazu noch Engagements, die allabendliches Auftreten erfordern, so wird jeder einsehen, wie wenig das oft gebrauchte Bild einer flatterhaften Libelle für uns zutrifft.

            Einem sterbenden Tanzstil war zwar die Technik alles, doch obwohl wir modernen Tänzerinnen nicht mehr auf Zehen trippeln, nie als Selbstzweck die Beine möglichst hoch werfen und unnatürliche Verrenkungen vollführen, darf man nicht glauben, daß wir an uns weniger hohe technische Anforderungen stellen. Nur das ist der Unterschied: während das alte Ballett in seelenloser Technik aufging, stellen wir unser Können ganz in den Dienst einer geschlossenen Ausdrucksform – sei diese nun ein Musikstück, dessen Gefühlsgehalt wir rhythmisch bewegt verkörpern, oder eine mimische Idee, die wir sichtbar gestalten.

            Diese Verinnerlichung des modernen Kunsttanzes hat zur Folge, daß wir auch die Kleidung in den Dienst der Idee stellen, sie also auf ein Mindestmaß beschränken, wenn es die künstlerische Einheit erfordert. Besonders das mimische Moment im Tanz verlangt, das sich der Ausdruck nicht auf Kopf und Hände beschränke: der ganze Körper hat in harmonischer Einheit mitzutun. Dadurch sind unserer Kunst Themen zugänglich geworden, die dem alten Stil, der nur konventionelle Gesten kannte, verschlossen bleiben mußten. Mit „Nackttanz“ hätte das natürlich selbst dann, wenn wir aus künstlerischen Gründen nackt tanzen müßten, nichts zu tun – denn dieser benützt den Tanz nur als Vorwand für die Schaustellung des unbekleideten Körpers. Aber wir leiden unter dem Unverständnis vieler für uns wichtiger Faktoren im Theaterleben, die den „schönen Körper“ herausstreichen, ohne zu wissen, daß auch der schönste Körper mit Kunst noch gar nichts zu tun hat, wenn dieses allerdings unentbehrliche Material ohne künstlerische Formung bleibt.

            Früher waren Tanz und mimische Kunst durchaus voneinander getrennt – heute ist jede echte Leistung eine Mischung der beiden. Vom rein musikalischem Tanz bis zum Mimus oder Tanzdrama, von der Tordis bis zur Wigman, führt eine ungebrochene Linie, und es kann sehr zweifelhaft sein, ob das, was ich zum Beispiel als „Erweckung der Statue“ in der Haller-Revue darstelle, überhaupt noch Tanz genannt werden kann oder schon reine Pantomime ist.

            Eine ganz irrige Meinung herrscht in Laienkreisen zumeist über die Art, wie ein Tanz entsteht. Es gibt dabei, je nachdem, welchem der beiden eben erwähnten Extreme die Tänzerin zuneigt, zwei ganz verschiedene Typen. Die eine, die rein musikalische Tänzerin, wird von einer Musik, die durchaus keine „Tanzmusik“ zu sein braucht, angeregt und übersetzt die Sprache der Töne in die Sprache rhythmischer Bewegung im Raum, die mit ihren eigenen Formmöglichkeiten ein ganz Neues schafft. Bei der anderen beginnt die Produktion mit einer Bewegungsidee, die einen typischen Gefühlsverlauf – Erweckung, Genesung, Vision, Flucht usw. – oder, an der Grenze von Tanz und Pantomime, einen Menschentypus – Geizhals, Narr, Paria usw. – darstellt und, soferne sie auf Begleitmusik nicht überhaupt verzichtet, diese erst wählt oder hinzukomponieren läßt, wenn die Tanzkomposition vollständig feststeht.

Mag man diesen neuen Stil in der Tanzkunst nun Expressionismus oder sonstwie benennen, so muß doch jedenfalls allgemein anerkannt werden, daß wir mit den seelenlosen Konventionen, die der Ausdruck einer leeren und zeremoniellen höfischen Kultur gewesen sind, radikal gebrochen und die Tanzkunst wieder zum Ausdruck lebendiger Kämpfe und Leidenschaften gemacht haben, die einst an ihrer Wiege gestanden sind. Im Dienste dieser Erneuerung nehmen wir gern alle entsagungsvolle Arbeit auf uns, ohne die die Tänzerin das Luxusgeschöpf geblieben wäre, als das die Primaballerina in der alten Gesellschaft galt.

In: Die Bühne (1926), H. 75, S. 10f.