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Dr. Joseph Eberle (Wien): Ein vergötterter Pseudodichter.

(Zum Tode von Arthur Schnitzler.)

Der am 21. Oktober in Wien verstorbene Dramatiker Arthur Schnitzler wird von der Modepresse als Dichtergröße gefeiert. Er war berühmt und seine Bücher fanden Riesenverbreitung. Die Zahl seiner Theaterstücke ist groß, angefangen von Werken wie „Anatol“, „Märchen“, „Liebelei“, „Freiwild“, „Vermächtnis“, „Der grüne Kakadu“, „Paracelsus“, „Die Gefährtin“, „Reigen“, „Der Schleier der Beatrice“, „Der einsame Weg“, „Zwischenspiel“, „Der Ruf des Lebens“ bis „Der junge Medarus“, „Professor Bernhardi“, „Komödie der Verführung“, „Der Gang zum Weiher“. Außer den Dramen schrieb Schnitzler auch Novellen und einen Roman. Im Besitz der spezifisch jüdischen Intellektualität, verfügte Schnitzler zugleich über ausgesprochen poetisches Empfinden und eine hohe Kunst der Sprache. Aber für einen großen Dichter ist wichtig nicht nur das feine Auge und das warme Empfinden für den Zauber des Menschenantlitzes und der Natur, die Fähigkeit das Einfühlens in Geheimnisse des Seelenlebens, sondern vor allem auch die rechte Weltanschauung und damit der rechte Standpunkt der Betrachtung und die richtigen Maßstäbe der Wertung. In dieser Hinsicht fehlt Schnitzler sozusagen alles, weil das Entscheidende. Schnitzler war ein ausgesprochener Vertreter des Naturalismus und im Bereich des Naturalismus hat er sich wieder die Erotik zum Hauptthema gemacht. Er war eigentlich der Sigmund Freud der Literatur. Wie Felix Salten in einem Nachruf feststellt: „Professor Freud hat einst an Schnitzler geschrieben (oder gesagt, denn ich weiß in dieser Stunde der Trauer nicht so genau Bescheid), Schnitzler hat als Dichter all das gefunden, was Freud als Forscher entdeckt und wissenschaftlich besiegelt hat.“ So gilt, was von Freud, auch von ihm. Die Welt erklären wie Freud erklären, das heißt alles aus dem Sexus erklären, bzw. alles mit dem Sexus in Zusammenhang bringen, heißt sie denn doch viel zu primitiv erklären. Die Welt einengen auf das, was der Naturalismus und Materialismus sieht, das heißt um Himmel und Hölle, Gott, Engel und Dämonen, Heilige und Helden nicht wissen, heißt die Welt denn doch zu klein sehen. In den Menschen nur so etwas wie höhere Naturwesen mit leidlich viel Verstand und Empfindung, aber mit einem Minimum von Willensfreiheit sehen, heißt ihnen denn doch den Sinn und die Kraft für höhere Zielsetzungen und Arbeiten rauben. So fehlen denn bei Schnitzler die großen Ideen und Themata von Vaterland, Religion, Geschichte, Jenseits. Seine Menschen sind keine Kämpfer, die sich durch das Problematische des Lebens durchringen, die Triebe in der Herrschaft behalten, in Gelehrtenstube und Büro, in Schloß und Fabrik wertvolle Arbeit leisten, sondern es sind mehr Spieler und Genießer, Gestalten der Dekadenz und Morbidität, Verliebte und Verträumte, Hamlets ohne den Geist Hamlets; es sind Puppen-, Schmetterlings-, Mistkäfermenschen, in deren Dasein das meiste um Eros, Liebelei, um Untreue, Ehescheidung geht. Es sind Menschen, in denen viel Tändelei, Zärtlichkeit, Wehmut, Melancholie, Verliebtheit in schöne Naturbilder und dergleichen ist, aber nie ein großer Zug, eine große Idee, ein starker Wille. Weil Schnitzlers Menschen der Ausblick auf ein Jenseits und die Verpflichtung absoluter Sittengesetze fehlt, sind sie auch schon für dieses Leben untüchtig, immer ängstlich an den schwarzen Abgrund am Ende ihrer Tage denkend, deshalb infolge der begreiflichen Enttäuschungen und Bitternisse nicht selten ihrem Dasein auf unnatürliche Weise, d. h. mit einem Revolverschuß, mit Veronal, mit dem Gang ins Wasser ein Ende machend. Wie man gesagt hat, daß erst die Berührung mit dem Sacré Cœur des Erlösers die Menschenliebe rein, groß und stark mache, so kann man auch sagen, daß erst die Verbindung mit der Überwelt, der Ausblick aufs Jenseits die Menschen tüchtig und mutig für die Kämpfe auf dieser Erde macht. Wo der Gottesgedanke und Gottesglaube fehlt, fehlt auch das echte Menschentum. Schnitzler ist unberührt von den großen Fragen und Schicksalen des Volkes, von Weltkrieg, sozialer Revolution und Neubauaufgaben, genau so wie er unberührt ist von der Geschichte und den Kulturwerten seines Geburtslandes Österreich. Türkenkriege, Barockkultur, Stephansdom, Habsburg waren ihm letztlich unverständliche Dinge.

    Bedenkt man all das, dann kann man nicht genug protestieren gegen die Art und Weise, wie von der herrschenden jüdischen Presse Mitteleuropas und zumal Österreichs Arthur Schnitzler anläßlich seines Todes gefeiert wird. Er wird nicht nur als Jahrhundertgestalt hingestellt, sondern auch als der für Jahrzehnte repräsentative Künstler von Österreich. Hören wir etliche dieser Superlative: „Nicht Kunst und Literatur allein, ganz Österreich trauert um Arthur Schnitzler…  Wenn es einem Dichter vergönnt war, Inkarnation zu sein eines Zeitalters, gültiger Repräsentant einer Epoche, dann war es Arthur Schnitzler für das Ende des vergangenen Jahrhunderts und für den Beginn des neuen Österreich…  Schnitzlers Wort wird in uns widerhallen wie ein Urlaut unseres Landes, seine Erkenntnisse werden in besseren, reineren Zeiten wieder aufleuchten, der unermeßliche Schatz seines Wissens wird gehoben werden.“ („Neue Freie Presse“ vom 22. Okt. 31.) „Eine eisige Hand hat uns alle berührt; mit Schnitzlers schönem und lieben Antlitz verschwindet der letzte Schein unserer verstorbenen Heimat, der Abglanz des alten Österreich in tiefer Nacht…  Ein großes Zeitalter dieser Stadt sinkt mit Arthur Schnitzler ins Grab, um in seinem unsterblichen Werke weiterzuleben; wir aber sind verwaist.“ (Franz Werfel, ebendort.) Solche Werturteile sind in ihrer Übertriebenheit und Verallgemeinerung ein Unfug. Ein gewisses wurzelloses, ahasverisches Judentum mag den Juden Schnitzler für sich zum Halbgott erküren, aber mit dem echten Österreich und dem echten Österreichertum hat solcher Kult nichts gemein. So lasse man diese Werte aus dem Spiel. Wo man aus der Kenntnis echter österreichischer Kultur heraus um die Mission weiß, die einem begabten Schriftsteller gesetzt ist, wird Schnitzler nicht als Helfer und Führer, sondern als Zersetzer und Zerstörer abgelehnt. Wenn der Burgtheaterdirektor Wildgans anläßlich des Todes von Schnitzler die schwarze Fahne auf dem Burgtheater hissen ließ, so hat er damit weniger der Trauer des österreichischen Volkes um den Verlust einer angeblichen Kulturgröße Ausdruck gegeben, als seiner persönlichen Versklavung an seichten Liberalismus und dessen anmaßende Wortführer.

In: Schönere Zukunft. Nr. 6, 8.11.1931, S. 127f.

Otto Neurath: Absage an Spengler

Die Wirkung von Spenglers „Untergang des Abendlandes“ ist in Österreich nicht so verderblich wie in Deutschland. Der feuilletonistische Geist des Österreichers ist zwar natürlich auch durch die Theorie, die Spengler heute nicht mehr als pessimistisch gelten lassen will, angezogen worden, aber die Vorteile seiner Nachteile haben sich doch bewährt: der wienerische Skeptizismus leistete einer tieferen Einflußnahme Spenglers Widerstand. Nicht so in Deutschland. Dort hat Spengler wirklich ein im Innersten aufgewühltes Geschlecht noch mehr gelähmt, noch hoffnungsloser gemacht. In dieser Hinsicht ist das Buch Otto Neuraths „Anti-Spengler“ (bei Georg Callwey in München erschienen) eine Tat. Neurath entkleidet Spenglers Trivialität ihrer hieratischen Hoheit, er weist das Schwankende und Nebulose seiner vielgerühmten Methode auf, er geht den Unzulänglichkeiten seiner willkürlich aufgebauten Argumente nach. Mit der Erlaubnis des Autors geben wir im nachstehenden aus dem „Der Gestaltenden Jugend gewidmeten“ Buche einen Teil der Einleitung wieder.


            Dio von Prusa rief Wehe über sein Zeitalter und verglich Athen dem Scheiterhaufen des Patroklos, der nur auf die Flammen warte, die ihn entzünden; Wells malte bald im Stile bisheriger Erfahrung, bald ins Groteske gesteigert Bilder unserer Zukunft; Oswald Spengler dagegen beschwört lehrhaft deutelnd die überlieferte Wucht der Einsicht, statt als Dichter und Seher vor das Volk zu treten. Er will durch Methode und Beweis Zustimmung erzwingen, will Geschichte systematisch „vorausbestimmen“, die Zukunft des Abendlandes „berechnen“ und von vornherein feststellen, was man in Hinkunft an Kunst und Wissenschaft, Technik und Politik novj erfolgreich in Angriff nehmen dürfe. Drängende Notwendigkeit mag bewirken, daß wir uns für ein ungenügend begründetes Zukunftsbild als Grundlage unseres Tuns entscheiden. Vielleicht muß unsere Pädagogik, unsere Verfassung, unser Recht zum Ausdruck bringen, ob wir mit dem „Untergang“ oder mit einer anderen Stufe unserer Entwicklung rechnen. Aber darüber keine Täuschung: eine Entscheidung ist kein Beweis. Wer sich als Prophet oder Prophetenschüler für eine Prophezeiung beharrlich einsetzt, mag die Richtigkeit der Prophetie durch die Beeinflussung der Wirklichkeit erweisen. Die Prophetie wird zur Ursache ihrer eigenen Verwirklichung! Aber mit „Berechnen“ und „Beweisen“ hat das nichts zu tun. Spengler widerspricht durch sein Bestreben, alles zu berechnen, alles zu beweisen nicht nur dem Wesen des Prophetischen, sondern auch eigenen Anschauungen über die Aufgabe! „Natur soll man wissenschaftlich traktieren, über Geschichte soll man dichten. Alles andere sind unreine Lösungen.“ Ist sein Werk eine Dichtung? – Nein. Was denn? – Nach Spenglers eigenem Spruch: Eine unreine Lösung.

            Ein Werk über die Zukunft der Menschheit unterliegt von vornherein nicht dem Maßstab für Einzelforschungen. Bedenklichste Annahmen, kühne Lückenfüllungen, ja ungenügend begründete Abänderungen festgefügter wissenschaftlicher Lehren muß man fallweise zulassen, soll nicht das Gesamtgebäude verhindert werden. Wo mehrere Konstruktionen gleich möglich sind, vermag menschliche Enge oft nur eine auszuführen, man wird sie auch in dieser Vereinzelung dankbar begrüßen, ebenso eine bildhaft-bestrickende Schilderung als Ersatz strengen Beweises, froh, endlich ein umfassendes Bild an Stelle zerstreuter, unverknüpfbarer Einzelstücke zu besitzen. Wir fordern aber Schritt für Schritt einen klar erkennbaren Charakter solcher Darstellung; wir wollen wissen, wo Vermutungen, wo gründliche Beweise vorliegen, wollen wissen, ob die mitgeteilten Tatbestände als gesichert gelten, wollen wissen, was bloße Lückenfüllung, was wohlbegründetes Einzelergebnis reifer Forschung ist.

            Durch grundsätzliche Erörterungen über seine Methode sucht Spengler den oft unklaren Darlegungen, die überdies in sich widerspruchsvoll sind, höchste Beweiskraft beizulegen. Wo der Prophet, der Führer eine Zukunft, ein Ziel abschildern mag, müssen bei Spengler flüchtig gezimmerte Methoden dies Ergebnis liefern und den Leser in die Knie zwingen, auch wenn dabei das vielfältig verknüpfte Gewebe unserer gesamten Erkenntnis in Fetzen ginge. Wer nicht mitgeht, wird nach bewährten Mustern für verständnislos erklärt. Wie in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern wird mancher, wo nichts Greifbares ist, Prunkgewänder und heroische Gestalt zu sehen vorgeben.

            Nicht die falschen Einzelergebnisse, nicht die falschen Tatsachen, nicht die falschen Beweise machen Spenglers Buch so ungemein gefährlich, sondern vor allem seine Methode, Beweise zu führen, und seine Darlegungen über Beweisführungen überhaupt. Dagegen muß man sich zur Wehr setzen. Wer hoffend und strebend eine frohe Zukunft gestalten will, der soll wissen: keiner der Spenglerschen „Beweise“ reicht aus, ihn daran zu hindern; wer sich aber mit dem Gedanken an den „Untergang“ befreunden will, der soll wissen, daß er es auf Grund eines Entschlusses, nicht eines Beweises tut!

            Wenige Bücher stellen so hohe Anforderungen an das hingebende Vertrauen des Lesers. Wer kann auf allen Gebieten, die Spengler berührt, nachprüfen, zumal Hinweise auf Quellen fehlen? Und doch zahlreiche grobe Irrtümer, die aus Nachschlagewerken berichtigt werden können, Irrtümer, die Träger bedeutsamer Beweisketten sind. Derlei wird durch die Größe der Aufgabe nicht gerechtfertigt. Daß altbewährte Erkenntnisse und Fachleuten vertrautes Handwerkszeug als alles umwälzende Neuheiten Spenglerscher Prägung auftreten, beurteile jeder nach Geschmack! Auf welcher Höhe glaubt sich aber Spengler, daß er sich zu Sätzen vorwagt, wie: „Ich frage mich, wenn ich das Buch eines modernen Denkers zur Hand nehme, was er – außer professoralem oder windigem Parteigerede vom Niveau eines mittleren Journalisten, wie man es bei Guyau, Bergson, Spencer, Dühring, Eucken findet – vom Tatsächlichen der Weltpolitik, von den großen Problemen der Weltstädte, des Kapitalismus, der Zukunft des Staates, des Verhältnisses der Technik zur Zivilisation, des Russentums, der Wissenschaft überhaupt ahnt?“ Solchen Maßlosigkeiten ist auch der weniger Vorgebildete gewachsen, nicht aber andauernd verächtlichen Äußerungen über geschichtliche und sonstige gelehrte Forschung; es wird nicht jeden sofort klar, daß Spengler einen Denker gegen den anderen ausspielt, überspitzte Äußerungen noch überspitzend.

            All diese Bedenken dürfen uns aber darüber nicht täuschen, daß es Spengler gelungen ist, ein das gesamte Menschentum umfassendes Gebäude zu skizzieren, in dem verschiedensten Richtungen entstammende Erkenntnisse vereinigt werden – unzulänglich, widerspruchsvoll, vielfach in sinnloser Verzerrung, aber doch einigen Leitgedanken untergeordnet. Es ist denkbar, daß Gedanken dieses Buches wertvolle Anregungen geben werden – sie tun es sicher durch den ausfordern –; aber das darf nicht den Sinn für die unerhörte Vergewaltigung abstumpfen, die in diesem Buch dem Denken zugefügt wird. Vor den auflösenden Wirkungen auf das Denken muß sich auch der schützen, welcher gewissen Anschauungen zustimmen mag.

            Das Buch befriedigt ein heute stark vorhandenes Sehnen nach geschlossener Weltanschauung. Ist es nur Zufall, daß es in derart unzulänglicher, unkritischer, anmaßender, zersetzender Weise befriedigt wird? Auf die Dauer hilft da kein Tadeln, nur Bessermachen. Es wäre tragisch, wenn die, welche solch ein Gebäude fester fügen könnten, gerade durch ihre höhere Kritik und Besonnenheit gehemmt würden, ein Werk zu schaffen, das unbekümmertes Vorwärtsstreben, Hinnehmen notwendiger Unzulänglichkeiten voraussetzt.

            Immer häufiger rächt sich das übertriebene Spezialistentum der letzten Jahrzehnte, jene bewußte Abkehr vom Ganzen der Weltanschauung. Als ob nicht aus dem Ganzen allein alle Einzelforschung letztlich Anregung und Ziel erhielte! Die Einzelwissenschaften bedürfen eines Weltbildes, sonst sind sie der Skepsis oder dem Übermut ausgeliefert, welche Spenglers Schrift zu absonderlicher Gemeinschaft verknüpft.

            Viele fühlen sich durch Spengler befreit. Wir wollen von Spengler befreien, von jener Art Geist, die lockend und vergewaltigend Klarheit des Urteils und Schärfe des Schließens zur Selbstbesinnung führenden Widerspruch, welchen sie herzernichtet, Fühlen und Schauen verzerrt.

(Vollständiger Text des Buchessays in: O. Neurath: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften Bd. 1, Hg. von Rudolf Haller und Heiner Rutte, Wien: Höder-Pichler-Tempsky 1981, S. 139-196; der Auszug ist wortident, ausgenommen die unterschiedliche Schreibweise von herzernichtet in der Zs. Wage und zernichtet in der Werkausgabe)

In: Die Wage, 2.7.1921, S. 292-293.