Neulich fuhr jemand, den ich kenne,
in einer Autodroschke nach Hause und hatte dann mit dem Chauffeur ein kurzes,
aber bezeichnendes Gespräch. Eigentlich darf sich dieser Jemand das Autofahren
ja nicht erlauben. Allein er kann dem Leichtsinn nun einmal nicht lassen, er
denkt zu oft: was soll das schlechte Leben nützen? er wohnt außerdem in einer
entlegenen Gegend, und so erlaubt er sich trotzdem immer wieder, was ihm die
ernste Ueberlegung, die er nicht hat, und die Einnahmen, die er gleichfalls
nicht hat, verbieten müßten. Es war Nacht. Der Wagen vollführte seltsame
Hopser, geriet etliche Male, wenn er um die Ecke biegen wollte, mit den Rädern
auf den Bürgersteig, drohte jeden Augenblick stehen zu bleiben, ruckte und
stieß wieder vorwärts; kurz, es war alles, was man will, nur kein Vergnügen.
Am Ziel erkundigte sich mein Jemand,
ob der Motor defekt sei. „Oh nein,“ kam die Antwort, „dem Motor fehlt
einstweilen noch gar nichts. Defekt bin bloß ich. Wir werden ja sehen, wie
lange der Motor mich aushält..“ Das klang anders als der hemdärmelige Dialekt,
den man sonst bei solchen Gelegenheiten hört. Es war die Sprache eines
gebildeten Menschen. Der Fahrgast stand verwirrt und sagte: „Komisch.“ Doch er
wurde belehrt. „Was wollen Sie, mein Herr,“ sprach der Autolenker resigniert,
„das ganze Leben ist komisch. Ich bin erst drei Wochen Chauffeur. Und diesen
Wagen da habe ich heute nacht zum erstenmal. Da weiß ich noch nicht recht
Bescheid damit. Tja,“ setzte er hinzu und hatte offenbar das Bedürfnis, sich
mitzuteilen, „ich fahr‘ immer in der Nacht. Bei Tag schähm‘ ich mich. Denn ich
bin akademischer Maler!“
Was muß dieser Mann für Entbehrungen
durchgemacht, wie viel Kummer, welche Fehlschläge mag er gehabt, wie viel teure
Illusionen mag er bestattet haben, ehe er den tapferen Entschluß faßte,
Chauffeur zu werden, um das tägliche Brot zu verdienen. Nicht alle Künstler
sind so resolut, wie dieser Mann, der es vorzieht, sich des Nachts mit einem
Motor herumzuschlagen, statt Leinwand um Leinwand zu bepinseln, die keiner kauft.
Nicht alle Künstler, die hungern, geben so entschieden einen Beruf auf, den sie
einst hoffnungsvoll, schaffensfreudig, begeistert und opfermutig erwählten.
Nicht alle können das. Viele sind zu alt, viele sind zu zart, viele glauben zu
fest an sich und ihre Erdensendung. Und viele sagen sich, daß die Konkurrenz in
allen anderen Erwerbszweigen, die ihnen außerdem fremd sein müßten, ohnehin
schwer auszuhalten wäre; daß die allgemeine Arbeitslosigkeit es aussichtslos
scheinen lasse, irgendein Plätzchen, und sei es das bescheidenste, zu erobern.
Aber allen Künstlern geht es furchtbar. Den berühmten wird es hart genug, sich
zu halten. Die Namenlosen hungern. Sie hungern ohne Unterschied des Talents.
Die Fähigen genau so wie die Nichtskönner. Die Hypermodernen ebenso wie die zu
Kompromissen Erbötigen. Die Maler, die Zeichner, die Bildhauer, besonders die
Bildhauer hungern. Es ist ein Jammer.
Manchmal schreibt einer von ihnen
dem Unterrichtsminister einen offenen Brief. Dann richtet ein anderer wieder
ein offenes Sendschreiben an den Finanzminister. Dann wenden sie sich an die
Stadt Wien. Oder sie erlassen einen Aufruf. Lauter Notschreie, lauter
Hilferufe. Sie verhallen auch nicht ungehört. Jeder ist erschüttert. Aber die
Not besteht fort, weil die Hilfe ungenügend ist. Sie kann wohl auch kaum
ausreichen, diese Hilfe. Denn der österreichische Staat ist klein und arm.
Außerdem wird es niemals ganz gelingen, Künstlern zu helfen, denen geholfen
werden soll.
Als während des Krieges die
Kunstfürsorge gegründet wurde, flüsterten erfahrene Männer einander zu, dieses
gutgemeinte Unternehmen werde mehr Schaden anrichten, als Nutzen schaffen.
Flüsterten. Denn damals konnte man Wahrheiten nicht laut aussprechen. Auch
heute noch ist es, wie übrigens immer, eine riskante Sache um solche
Wahrheiten. Die Meinung, die damals im Flüstertone umging, war, man werde
Unterstützung niemandem verweigern können, auch jenen nicht, die schon in
Friedenstagen durch ihre Talentlosigkeit zum Darben verurteilt blieben. Die
Unterstützung jedoch hindere die Unfähigen an der Selbsterkenntnis, halte sie
auf immer fest in dem Künstlerberuf, der für sie doch verfehlt sei, legitimiere
sie fälschlich darin. Zeitlebens würden sich diese Unzulänglichen als
Vollwertige fühlen, würden sich und anderen zeitlebens beweisen, daß sie echte
Künstler sind, denn sie haben ja doch den Beistand der Kunstfürsorge gefunden.
Der beste, der unwiederbringlich geeignete Moment, so hieß es, eine
Zwangsauslese unter den viel zu vielen Malern und Bildhauern herbeizuführen und
den Beruf von hoffnungslosen Mitläufern zu entlasten, dieser erziehlich
kostbare Moment werde durch die Kunstfürsorge versäumt und vereitelt. Mag sein,
daß es mit diesen Bedenken soweit seine Richtigkeit hat. Möglicherweise hätte
der oder jener den Pinsel, ein anderer das Modellierholz weggelegt, um zum
eigenen Heil ein nützliches Gewerbe zu ergreifen. Ich glaube nicht daran.
Diese Wahrheit existiert im Grunde
doch nur als eine theoretische. In die Praxis wäre sie kaum umzusetzen gewesen.
Nur vereinzelte Fälle, wenn sie sich ereigneten, könnten uns als Ausnahmen
gelten, durch welche die Regel bestätigt wird. Denn niemand glaubt so fest, so
eigensinnig, so unbelehrbar an sein Talent, wie der Talentlose. Kein Meister
hat die ruhige Selbstsicherheit, die dem Dilettanten verliehen ist. Weit eher
lässt sich ein Kaukasier einreden, er sei ein Kongoneger, als ein Nichtskönner
zu überzeugen wäre, daß er nichts kann. Es ist leicht, ein Genie in seinem
Selbstvertrauen zu erschüttern, ihm sein Schaffen zu verleiden, aber es bleibt
ganz unmöglich einen Stümper in der Freude am eigenen Ich zu stören, ihm die
Arbeitslust auch nur für eine Stunde zu trüben. Diese Euphorie hat die Natur
ihren Stiefkindern des Geistes nun einmal geschenkt und man muß sich damit
abfinden. Es handelt sich auch gar nicht um diese armen Teufel, so peinlich es
sein mag, daß auch sie sich an die Schüssel drängen und mitzuessen begehren.
Das Traurige, das Wichtige an diesen traurigen Zuständen: die Schüssel ist
leer. Leer selbst für die Besten.
Nicht bloß den heutigen Künstlern
geht es schlecht. Der Kunst selber ergeht es heute so übel wie niemals vorher.
Daß die Künstler jetzt so hart um das bißchen Dasein ringen müssen, liegt nur
zum geringen Teil an den flauen wirtschaftlichen Verhältnissen. Niemand hat
Geld. Das stimmt freilich. Aber es ist, andererseits und zum Donnerwetter, doch
wieder nicht so ganz richtig. Die Leute haben Geld für alles, was sie
erheitert, was sie aufregt, was ihnen gespanntes Interesse abgewinnt, was sie
überrascht, verblüfft oder sie als ein Wunder erhebt. Die wirtschaftlichen
Zustände sind niederträchtig. Die Geschäfte gehen erbärmlich. Die Verarmung
steigt. Wahr! wahr! Dennoch bleibt es ebenso wahr, daß die Theater nie
dagewesene Serienerfolge hatten, wenn sie nur das rechte Stück aufführten. Die
Kinos werden gestürmt, wenn ein guter Film zu sehen ist. Ein Fußballmatch
bringt an einem einzigen Nachmittag mehr Einnahmen als ein täglich
ausverkauftes Theater in einer Woche. Und beim Derby gibt es am Totalisateur
einen Milliardenumsatz. In dieser angeblich ruinierten Stadt wächst die Anzahl
der Automobile binnen zwei kurzen Jahren um zehntausend, gar nicht zu reden von
den fahrenden Kochtöpfen, den Motorrädern, die sich wie die Feldmäuse
vermehren. Die Kunst aber geht vergebens nach Brot! Sie schreit, sie bittet,
sie jammert nach Brot. Und niemand findet sich, der ihr ein Stückchen
darreicht.
So wenig Sinn für die Kunst wie
heute scheint es noch nie zuvor gegeben zu haben. Es ist ja schon nicht viel
Sinn für die Dichtung vorhanden und nicht übermäßig viel für Musik. Was der
Dichtung an Aufmerksamkeit gewidmet war, haben die Sketches, die Revuen
weggenommen. Und die Filme. Was der Musik geblieben ist, haben die
Jazzorchester verschlungen. Selbst der Film muß sich zur Wehr setzen. Schon
früher hat sich im Kino kein Mensch um den Autor eines Films gekümmert. Nur um
die Filmstars, um die weiblichen und männlichen, ging der Wettlauf aller
Huldigungen. Jetzt aber beginnen Filme zu erscheinen, in denen die
Einzelpersönlichkeit ausgelöscht ist, wie der „Panzerkreuzer Potemkin“, und sie
zeigen Meisterleistungen von einer neuen, atemraubenden Art. Es kommen Filme,
in denen überhaupt kein Mensch mehr auftritt. Nur Tiere sieht man und ist
hingerissen. „Das Blumenwunder“, das in der „Urania“ gezeigt wird, bringt nur
Blumen, kein einziges Tier. Und die Menschen, die ab und zu darin auftauchen,
stören bloß, gehören nicht dazu, verderben den ungeheueren Eindruck, indem sie
ihn banalisieren und in Kitsch verwandeln. Eine neue, ungeahnte, an ergreifenden,
spannenden, erhabenen Momenten überreichte Welt öffnet sich da unseren Blicken.
Eine Welt, die ganz unverbraucht ist. Geheimnisse, die wir nur ahnten, bieten
sich entschleiert dar. Wie mächtig ist die Wirkung, die ein Tier ausübt. Jeder
Schmetterling, der aus der Puppe bricht und seine Flügel breitet, jede kleine
Schlange, die aus dem Ei schlüpft, spielt Jannings und Henny Porten und Douglas
Fairbanks und Charlie Chaplin an die Wand. Mächtiger noch sind die Blumen, die
wir nun blühen, ist das Gras, das wir jetzt wachsen sehen. Eine Schlingpflanze,
die in der Luft nach Halt tastet, Fliederdolden, die sich prangend erschließen,
Zyklamen, die ihre Knospen öffnen und ihre Blütenblätter zurückschlagen,
Kakteen, die ihre blühenden Triebe emporjagen und welkend niedersinken lassen,
Sonnenblumen, die sich strahlend auftun, dazu das rhythmische Atmen der
Blätter, der Sträucher und Gräser,.. keine Tragödie kann diese Kraft des
Eindrucks erreichen, kein Bildwerk dies Entzücken und diese Nachdenklichkeit
geben. Der Photographie, der es ja schon gelungen ist, Hunderte von Aufnahmen
in der Sekunde zu machen und die rasend schnellsten Begebnisse des Daseins in
beschauliche Sichtbarkeit zu zerlegen, der Photographie glückte es hier, die
Bewegung von vier, von acht Stunden in eine Sekunde der ### zu pressen. Damit
hat sie das Leben, das Wachsen, das Werden, beinahe könnte man sagen, das
Bewußtsein der ganzen Pflanzenwelt für unser Auge sichtbar, für unsere Seele
begreiflich werden lassen.
Die photographische Technik ist den
bildenden Künsten nicht hold. Der Kampf begann, da vor mehr als dreißig Jahren
die Kodak-Kamera über die ganze Welt verbreitet wurde. Damals mußten in den
illustrierten Blättern die Spezialzeichner der Momentaufnahme weichen und sehr
viele, sehr begabte Künstler wurden brotlos. Der Projektionsapparat wird
manchen Maler aus den Theatern vertreiben. Und die neuen Errungenschaften der
Photographie scheinen eine Epoche einzuleiten, in der die Malerei noch weniger
Boden haben wird als bisher. Aber es ist ja nicht die Photographie allein, von
der die bildenden Künstler verdrängt werden.
Alle Kunst ist seit zehn Jahren
durch die Wirklichkeit übertroffen, überholt, übertrumpft. Alle Kunst ist seit
zehn Jahren von der Wirklichkeit glatt an die Wand gespielt worden. Die
Wirklichkeit hat Ereignisse gebracht, Tragödien, Grotesken, Dramen zum
Schluchzen und Lustspiele zum Wälzen,.. kein Künstler mag bessere ersinnen. Die
Wirklichkeit hat Gestalten erschaffen, Helden und Dulder, Hanswurste und
Schurken, wie sie niemals die Phantasie eines Dichters, Malers oder Bildhauers
gebar. Während dieses selben Dezenniums hat die Technik Märchen in reales Leben
verwandelt, hat nie Geträumtes plötzlich fertig vor die überwältigte Menschheit
hingepflanzt. Was man vor drei Tagen noch nicht zu denken wagte, was man
ehegestern für unmöglich hielt, gestern noch verlachte, ist heute wirklich und
wahrhaft geworden und gehört morgen schon zum selbstverständlichen Alltag. Der
Rekord ist das Zeichen und die Parole dieser Gegenwart. Die Höchstleistung
allein gilt im orkanartigen Vorwärtsstürzen dieser Welt. Wenn in den Zeiten so
vieler Wunder der Ereignisse, der Technik, der Wissenschaft die bildende Kunst
zurückstehen muß, ist das eine natürliche Folge und kann nicht wundernehmen.
Die bildenden Künste sind nicht bloß
an die Wand gespielt wie die Dichtung und die Musik, sie sind nicht bloß
zurückgedrängt wie alle Kunst überhaupt, vom Sturm der Ereignisse und vom
Sturmschritt der Technik. Wie jede höchste Betätigung der menschlichen Seele,
sind die bildenden Künste, inmitten dieser zertrümmerten, dieser jung
erstehenden Welt zertrümmert und werden langsam wie die junge Welt neu
entstehen. Keine Kunst, also auch keine bildende, hat die Geschehnisse der
letzten Dezenniums bewältigt, verarbeitet, gemeistert und ein Werk geschaffen,
das etwas Endgültiges, etwas Gipfelhaftes bedeuten und darin diese Fülle an
Geschehen über sich selbst hinaus erhoben würde.
Doch die Künstler wollen leben. Und
es ist wichtig, daß sie leben, daß sie arbeiten, daß sie hoffen können,
streben, wirken. Es ist eine Schande, daß sie hungern! Und es ist ein
furchtbarer Schaden. Nicht nur für sie, für die unmittelbar Betroffenen. Für
die ganze ethische und kulturelle Verfassung eines Volkes. Man kann unmöglich
mit allen Organen des Volkes, mit allen Berufen, die es gibt, in der Gegenwart
und in der Zukunft leben, indessen gerade diejenigen, die das Herz er Nation
darstellen, die Künstler, verelenden, verhungern und absterben. Eines Tages
wird man verstehen und erkennen, daß man nur Fußballer hat, die ein Jahr lang
berühmt waren, nur Schnelläufer, Skifahrer oder Wettschwimmer, denen die
Popularität einer Saison zuteil wurde, daß man aber ganz arm, bettelarm an
geistiger Leistung geworden ist. Unsere Bauten von heute verlangen nicht mehr
den Schmuck gemeißelter oder in Bronze gegossenen Figuren. Aber Parks und
Plätze, Gärten und Zimmer können Brunnen gebrauchen, Denksäulen, Statuen und
Büsten. Man könnte die Freskomalerei wieder beleben, nicht in fürstlicher
Großartigkeit, doch in bescheidenen, erschwinglichen Dimensionen.
Geschäftsbilder wären zu malen, Sportplatzbilder. Unendlich viel ließe sich
tun. Man soll wenigstens etwas beginnen, ehe die zahlreichen Talente, die in
unserer Mitte leben, kaput gehen. Vielleicht könnte die Regierung so etwas wie
die Initiative ergreifen. Sie hat neben manchen weniger begabten noch viele
tüchtige Beamte. Sie kann Künstlerhilfstage veranstalten. Es ist keine Schande,
wenn an einem Tag im Jahr in allen Städten, auf allen Straßen für die Kunst
gesammelt wird. Schlimmer, wenn jeden Tag die Künstler Hunger leiden. Sie kann
die Fußballer veranlassen, ein Match im Jahr für die Künstler zu spielen. Das
wäre eine ausgiebige Hilfe. Alles muß geschehen, um zu verhüten, daß die
Zukunft eines als Anklägerin dieser Gegenwart sich erhebt.
In: Neue
Freie Presse, 13.6.1926, S. 1-3.