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Béla Balázs: Die Filmkrise

Unsere Leser kennen Béla Balázs als geistvollen und erfahrenen

Dramaturgen und Filmdichter

Ich glaube nicht, daß man ohne weiteres annehmen kann, die deutschen Geschäftsleute verstünden durchwegs nichts von ihrem Geschäft und wollten aus ihren eigenen Erfahrungen nicht lernen. Sehen denn diese Verleiher ihre eigenen Bücher nicht an, oder wären sie wirklich außerstande, die richtigen Konsequenzen zu ziehen? Das ist sehr unwahrscheinlich.

Wenn aber beides zugleich aus den Büchern der Verleiher nachzuweisen ist:

  1. Der geschäftliche Erfolg des künstlerischen Niveaus bei den amerikanischen Filmen;
  2. der geschäftliche Mißerfolg des künstlerischen Niveaus bei den deutschen Filmen —

— wenn beides zugleich stimmt, dann allerdings muß das Problem etwas tiefer liegen. Dann scheint das „künstlerische Niveau“ nicht von derselben Art zu sein, hüben und drüben, Die amerikanische Sorte scheint gangbar zu sein. Die deutsche nicht. Und das nicht nur beim Film, sondern überhaupt.

Bei den Deutschen ist gute Kunst und volkstümliche Kunst ein notwendiger, unvereinbarer Widerspruch. Es lag im Wesen der deutschen Geistigkeit, daß jede Tiefe und jede Höhe mit der Entfernung vom Allgemeinverständlichen zu messen war. Popularität aber gilt bei uns noch immer mit Recht als sicheres Zeichen der Banalität und des Kitsches. Dieses Entweder-Oder lag im Wesen der deutschen Geistigkeit, die sich in der Richtung des Spekulativ-Begrifflichen entwickelt hat und zur Geheimsprache der Gebildeten wurde. Ist in der Literatur nicht das gleiche zu sehen? Wo gibt es bei uns den Dichtertypus von Kipling oder Jack London oder auch Maupassant? Dichter, die ganz einfach und naiv, für jedermann verständlich fabulieren und doch große Künstler sind? Diese Oberflächenkunst, die nicht oberflächlich ist, diese Feinheit ohne Finessen, diese unmittelbare, naive Vision, diese sinnliche Freude am Gegenständlichen, dieser Scharm der leichten Mitteilung, diese Magie des einfachen Geschichtenerzählens, die ohne intellektuelle Kompliziertheit bedeutsam und poetisch ist — das ist es, was die deutschen Erzähler nicht haben. Wenn sie gut sind, dann haben sie

andere Qualitäten. Aber was nicht gedanklich tief ist, das ist bei uns flach, und Einfachheit wird hier triviale Simplizität. Wenn deutsche Kunst höher fliegt, dann verläßt sie den Boden — auf dem die Filmproduzenten und Verleiher bleiben müssen. Das betrifft nicht nur das Filmmanuskript. Das Manuskript ist ja nur das Thema, das der Regisseur optisch erzählt. Er vor allem müßte sie in den Fingerspitzen haben, diese Zauberei des Fabulierens, diese Zauberei der kleinen Einzelheiten, mit denen der Zuschauer eingewickelt wird in das Weben einer lebendigen Atmosphäre, die weder mit Gedankentiefe, noch mit Wahrheit oder Wirklichkeit irgend etwas zu tun hat.

Das aber ist nicht deutsche Art. Noch nicht. Ich glaube nicht, daß es an der technischen Ungeschultheit der deutschen Filmleute liegt. (Die ganz gewissenlos hingeschmissenen Kontingentfilme sind natürlich auch technisch schlecht.) Wir haben erstklassige Operateure und viele Regisseure, die handwerklich ganz auf der Höhe sind. Aber sie sehen anders als die Amerikaner oder die Russen. Gerade wo sie ihr Bestes geben, werden sie interessant, originell, vielleicht bahnbrechend sein aber nicht einfach volkstümlich, verführend. Etwas Abstraktes, etwas Unnaives, Doktrinäres wird an ihnen haften. Das liegt einstweilen am Charakter der deutschen Geistigkeit. Für die Filmkunst ist es eine Lebensfrage. Aber sie wird kaum innerhalb der Branche zu lösen sein. Es hat seine sozialen, historischen Ursachen. Aber die können sich auch ändern. Es geht um mehr als um die deutsche Filmindustrie.

Wie bezeichnend ist es, daß sogar ernste Filmkritiker sagen, man müsse dem Publikum zuliebe Konzessionen (im Stofflichen) machen. Ja. Der deutsche Regisseur und Autor muß Konzessionen machen, um volkstümlich zu sein. Aber erkauft etwa Chaplin seine Popularität mit Konzessionen? Es gibt eine Kunst, es muß eine geben, die nicht erst auf ihrer niedersten Stufe, sondern auf ihrer höchsten Stufe einfach ist. Nicht daß wir Konzessionen machen, sondern daß wir sie machen müssen, darin liegt die Gefahr.

Wie bezeichnend ist die Reaktion der ernsten deutschen Kritik auf die schlechten deutschen Filme. Indem sie die unechte Süßlichkeit, die kitschige Romantik ablehnt, fordert sie Wirklichkeit und wieder nur Wirklichkeit. Es ist das Modeschlagwort der Sachlichkeits-Dogmatiker, die in dem Tatsachenrealismus das Heil des Films sehen. Und sie merken nicht, wie konstruiert, wie abstrakt, wie doktrinär diese Forderung ist. Wieder ein typisch intellektueller Bildungskomplex. Jemand schreibt, das Publikum habe sich für den Auslandsfilm entschieden und die „guten Auslandsfilme“ haben erwiesen, daß die filmisch scharf gesehene Wirklichkeit dem „Phantastischen“ überlegen ist. Stimmt denn das? Ist denn in jenen erfolgreichen, guten amerikanischen Filmen so sehr realistische Wirklichkeit gezeigt? So wie das Leben tatsächlich ist? Bleiben wir bei Chaplin. Zeigt er in „Goldrausch“ und in „Zirkus“ „scharf gesehene Wirklichkeit“? Verdankt Chaplin seinen Erfolg dem unerbittlichen Realismus? Wohl in einzelnen russischen Filmen . . . von denen aber nur jene große Erfolge hatten, in denen das ekstatische, große Pathos einer revolutionären, also keiner Alltags-, sondern einer sehr außergewöhnlichen und abenteuerlichen Wirklichkeit gezeigt worden ist.

Nein! Das Gegenteil von falsch ist nicht wirklich, sondern echt, das Gegenteil von verlogen ist nicht wirklich, sondern wahrhaftig, das Gegenteil von leblos und leer ist nicht wirklich, sondern lebendig, sinnfällig, gegenständlich. Aber echt, wahrhaftig, sinnfällig, gegenständlich kann sogar ein Märchen sein. So wie ein Chaplin Märchenfilm es ist. Hingegen eine Bilderreihe von Tatsachen, wie die hochgelobte Filmsymphonie „Berlin“, war, bei allen interessanten Qualitäten, weder Kunst, noch hat sie populären Erfolg gehabt, und sie brachte nicht einmal Wirklichkeit. Denn es gibt keine Wirklichkeit ohne den Menschen, ohne seine Gefühle, Stimmungen und Träume. Das ist eine konstruierte, deutsche Abstraktion.

Freilich kommt es dennoch auf die Wirklichkeit an, und der Realismus liegt freilich auch im Wesen der Filmkunst. Ich meinte bloß . . . tötet nicht Dichtung mit einem Begriff. Denn nicht dieser Realismus, nicht diese Tatsachen – Wirklichkeit ist es, die dem deutschen Film vor allem fehlt. Die Krisis ist akut. Aber ich glaube auch, daß die Aufhebung der Kontingentierung nur mehr nützen kann. Auch ich bin der Meinung, daß die deutschen Chancen nicht ungünstig sind. Obwohl es um mehr geht als um die deutsche Filmbranche. Ihre Krisis ist Krisis der deutschen Bildung überhaupt. Aber in der Geschichte sind die -geistigen Krisen immer die Symptome des aufkeimenden Neuen und Jungen.

In: Die Bühne, H. 185/1928, S. 22-24.

Grete Urbanitzky: Berichte aus der Wirklichkeit

             Reportage, eine in Frankreich und Amerika längst anerkannte Kunstgattung, beginnt nun auch bei uns, besonders seit den Bemühungen von Egon Erwin Kisch, ernst genommen zu werden. Man lernt die schwindelhaft aufgemachten Sensationsberichte gewisser Blätter von den Berichten aus der Wirklichkeit zu unterscheiden, die die Erzeugnisse verantwortungsbewußter Journalisten und Schriftsteller sind und dem denkenden Zeitgenossen das wirkliche Leben der Gegenwart in packenden Bildern nahebringen. Darum ist das neue Unternehmen des Verlags „Die Schmiede“, Berlin, sehr zu begrüßen, eine Reihe unter dem Titel „Berichte aus der Wirklichkeit“ herauszubringen. Selbstverständlich ist Egon Erwin Kisch in dieser Sammlung vertreten, der in seinem „Kriminalistischen Reisebuch“ eine Schilderung der Verbrechen aller Zeiten und Länder gibt, die von ihrem Verfasser an ihren Schauplätzen aufgesucht und aufgeklärt wurden. Der Leser erhält durch dieses Buch unmittelbaren Einblick in die romantische und doch sachliche Arbeit des Reporters großen Stils.

             Erschütternd wirkt die von Hans Siemsen herausgegebene Briefreihe „Verbotene Liebe“ – Briefe eines Homosexuellen. Das Wesentliche an diesem Buche, dem Hans Siemsen ein ausgezeichnetes Nachwort über das Problem an sich gibt, ist, daß es den Homosexuellen nicht als einen anderen Menschen zeichnet, sondern erkennen läßt, daß auch diese Liebe dieselben Verwicklungen, dieselbe Tragik und die gleiche Naivität kennt, wie die sogenannte normale. Wüßte man nicht, daß diese Briefe von einem Homosexuellen geschrieben sind, so könnte man das Schicksal dieses Knaben, der unter die Räder eines nur allzu gewöhnlichen Liebesschicksals gerät, als das eines jungen Mädchens ansehen. Leo Lania schildert in „Indeta“ – Die Fabrik der Nachrichten“ ein großes Korrespondenzbureau. Obwohl sich hinter der Indeta keine bestimmte Telegraphenagentur verbirgt, wirft das Buch dennoch scharfe Schlaglichter auf das Wesen und die Organisation des modernen Nachrichtendienstes überhaupt.

             Der französische Dichter Pierre Mac Orlan erzählt in dem Bändchen „Alkoholschmuggler“ von der großzügigen Organisation der Steuerhinterziehung um billigen, für Fabrikationszwecke freigegebenen Spiritus als teuren Alkohol in den Handel zu bringen. Das Buch gewährt einen Einblick in die sehr interessante Welt großzügiger Schiebungen. Als schwächstes Bändchen erscheint mir Eduard Trautners „Gott, Gegenwart und Kokain“, das eine Reihe von Menschen zeichnen will, die dem Giftgenuß verfallen sind und an ihm zugrundegehen. Die Darstellung dringt nicht zum Wesentlichen vor, sondern gibt lediglich Phantasien über das Thema. Wenn aber alle Bändchen der Reihe schwächer wären, so wäre die Berechtigung eines derartigen Versuches, Berichte aus der Wirklichkeit zu geben, allein durch eines aus der Sammlung erwiesen, durch das wundervolle Buch Joseph Roths „Juden auf Wanderschaft“. Wie der Verfasser ausdrücklich betont, wendet es sich nicht „an jene Westeuropäer, die aus der Tatsache, daß sie bei Lift und Wasserklosetts aufgewachsen sind, das Recht ableiten, über rumänische Läuse, galizische Wanzen, russische Flöhe schlechte Witze hervorbringen“. Der Verfasser wendet sich an jene Leser, „vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Achtung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet: Westeuropäer, die auf ihre sauberen Matratzen nicht stolz sind, die fühlen, daß sie vom Osten viel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen, daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große Menschen und große Ideen kommen“. Der Westeuropäer pflegt über Bericht über die Wesenheit der Ostjuden mit einem Achselzucken hinwegzugehen, der Ostjude ist für ihn „entdeckt“, und ahnt nicht, welche geheimnisvolle Welt in seiner Nähe ihm noch völlig unerschlossen ist. Was Joseph Roth von der Sehnsucht des Ostjuden nach dem Westen erzählt, von den jüdischen, kleinen Städtchen, von dem Leben der Ostjuden in ihrer Heimat, von den Chassidims, den orthodoxen Juden, die die praktische Idee des Zionismus nicht verstehen können, das rührt tief an unser Herz und enthüllt uns eine fast unbekannte, geheimnisvolle Welt. Besonders interessant ist, was Joseph Roth über die westlichen Ghettos zu erzählen hat, über das Schicksal der Juden in Berlin, Paris, Amsterdam, Marseilles, in Amerika, in Sowjetrußland. Ein bitteres Wort steht in diesem Buche, das Wien nicht zur Ehre gereicht: „Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein; es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien.“ Voll Hoffnung blickt der Verfasser nach Sowjetrußland, wo die Judenfrage gesetzlich gelöst wurde: „Jeder muß achtungsvoll zusehen, wie ein Volk befreit wird von der Schmach zu leiden, und ein anderes von der Schmach, zu mißhandeln“.

             Es sei noch bemerkt, daß der Verlag „Die Schmiede“ die Pappbändchen seiner Serie mit dem billigen Preis von 1.80 Mark in den Buchhandel bringt.

In: Der Tag, 8.7. 1927, S. 10.

Fritz Rosenfeld: Der visuelle Mensch

            Die Verbindung des Individuums mit der Umwelt, des einzelnen mit der Gesamtheit, stellen der Gehör- und der Gesichtssinn her, die an Bedeutung die anderen Sinne bei weitem überflügeln. Schon von Natur aus sind diese zwei Sinne nicht bei allen Menschen gleich stark ausgebildet; bei dem einen, dem visuellen Typus; ist der Gesichtssinn stärker, bei dem anderen, dem akustischen, der Gehörsinn. Aber das gegenseitige Verhältnis dieser Sinne unterliegt auch Verschiebungen, die in den geistigen und seelischen Eigenschaften der Menschen einer Epoche ihren Ursprung haben. Ob wir die Vorgänge in der Umwelt vorzugsweise durch das Auge oder vorzugsweise durch das Ohr aufnehmen, macht nicht nur einen Unterschied in der Aufnahmeart, sondern auch einen Unterschied im aufgenommenen Stoff aus. Je nach dem nun, ob der Mensch einer Zeit den Erlebnisstoff sucht, den ihm das Ohr mitteilt, oder den, den er durch das Auge empfängt, wird er den einen oder den anderen Sinn stärker ausbilden. Aus der Art, wie der Mensch die Umwelt in sich aufzunehmen trachtet, läßt sich also auf seine geistige und seelische Beschaffenheit schließen.

             Jeder Mensch kann es an sich selber erproben, daß der Weg vom Auge zum Gehirn kürzer ist, als der vom Gehör zum Gehirn. Gesehenes wird leichter begriffen als Gehörtes. Daher verwendet man zur Unterstützung des Gehöreindrucks bei Vorträgen und in Büchern Bilder (das Lesen ist eigentlich, obgleich äußerlich ein optischer, im Kern dich ein akustischer Vorgang; das gelesene Wort wird in Töne umgesetzt.) Diese Bilder sind Illustrationen, und illustrieren heißt nichts anderes als erleuchten, erhellen – ein Dunkel aufhellen, das das gesprochene oder gelesene Wort immer noch in der Vorstellungswelt des Hörers oder Lesers hinterlassen hat. Das Bild, der optische Eindruck wirkt unmittelbar, auf dem Umweg über den Vorstellungsapparat, der die Worte, die Töne erst in Vorstellungswerte, also in innerlich Sichtbares umwandelt. Um diesen Prozeß der Verwandlung zu erleichtern, unterstützt man den Gehörsinn durch den Gesichtssinn. Der wenig phantasiereiche Mensch wird vielleicht aus all den Beschreibungen und Charakterzügen, die er im Laufe eines langen Romans vom Helden oder der Heldin bekommt, sich diese noch nicht vorstellen können, das heißt, er wird sie noch nicht bildhaft-plastisch innerlich zu schauen vermögen. Da kommt ihm das Bild zu Hilfe. Es gibt ihm die Gestalt in ihren genauen körperlichen Umrissen. Nun muß er sie auf der Bühne seiner Phantasie nur die Bewegungen ausführen lassen, die die jeweilige Situation des Romans erfordert. Sieht er nun dramatisiert auf der Bühne oder verfilmt im Kino, so fällt die Vorstellungsarbeit fort. Sein Gehirn arbeitet viel weniger, es nimmt leichter auf und muß den aufgenommenen Stoff nicht erst umwandeln. Statt eines Vorstellungsinhalts, den ihm das Wort bot wie einen Extrakt, der erst aufgelöst werden muß, wird ihm das fertige Bild geboten. Wo das Gehör nur eine Anregung gab, die der eine besser, der andere schlechter zu verarbeiten vermochte, bietet das Gesicht bereits die Wirklichkeit (die scheinbare Wirklichkeit des Bühnengeschehens oder des Vorganges auf der Leinwand); wo das ungreifbare, abstrakte Wort stand, steht die greifbare Körperlichkeit. (In diesem Sinne ist auch die in die Fläche projizierte ehemalige Körperlichkeit des Filmbildes „greifbar“.)

             Daraus ergibt sich, daß eine Zeit, die phantasiereich ist, sich mit der Anregung der Vorstellung, mit dem bloßen Vorstellungsinhalt, im Wort komprimiert, wird begnügen können, eine phantasiearme aber das vollendete Bild fordern wird. Der visuelle Mensch, der Mensch des optischen Eindrucks, ist also der phantasieärmere. Die phantasiearme, die phantasietötende Zeit der großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen gebar die naturalistische Kunst; sie schuf Bilder, die die Wirklichkeit so genau kopieren, daß der Beschauer sie ohne Gedankenarbeit aufnehmen konnte; sie schuf Romane, die so wirklichkeitstreu waren, daß der Phantasie des Lesers kein Spielraum blieb; sie schuf auf dem Theater Situationen, die nicht mehr ergänzungsfähig sein wollten (denn alle Phantasie ist letzten Endes die Ergänzung eines kleineren oder größeren Teils zum Ganzen). Sie bot eben das fertige Bild; auch dort, wo die naturalistische Kunst zu dem phantasiearmen Menschen ihrer Zeit durch das Wort allein sprach, schilderte sie so breit, daß die Deutlichkeit ihrer Beschreibung den Mangel an ausgestaltender Phantasie wettmachte. Erst der Expressionismus, in einer Zeit entstanden, die Verinnerlichung erstrebte, wenn auch nicht erreichte, konnte sich wieder mit den Andeutungen, die der Ergänzung durch die Phantasie bedürfen, begnügen. Hier gab es Wortbrocken, die nur abrißartig und flüchtig Hauptpunkte skizzierten, Farbflecken, die nur anregten, Bildteilchen, die durch die Phantasie ausgestaltet werden mußten. Die Kunst setzte wieder Phantasie voraus. Weil diese Phantasie aber nicht mehr da war und die Menschheit einfach nicht mehr die Fähigkeit hatte, die Bruchstücke des expressionistischen Kunstwerks, das Ausdruck eines innerlichen, also sinnlich nicht wahrnehmbaren, visuell nicht erfaßbaren Erlebnisses sein wollte, mit Hilfe der Phantasie zu seinem Gebilde durchzugestalten, als das sie ursprünglich bestanden (bevor die „geballt“ wurden!), deshalb starb der Expressionismus so schnell ab und machte realistischeren Kunstbestrebungen Platz.

             Der optische Eindruck, der dem primitiven, visuellen Menschen das Abbild der Welt vermittelt, ist aber nicht nur klarer, sondern auch oberflächlicher. Dem Wort gilt die Fläche nicht, nur die Tiefe; es kennt keine Hindernisse des Raumes, es dringt in die verborgensten Fältchen des Dinges und macht sie dem Menschen durch das Medium der vorstellenden Phantasie sichtbar. Das Auge sieht aber nur die Oberfläche. Und auf dem Weg, der vom Ohr des akustischen Menschen zum Gehirn führt, entsteht jene höhere Wirkung des Eindrucks, die auf dem kürzeren Weg, der vom Auge des visuellen Menschen zum Gehirn zurückgelegt werden muß, viel seltener ist: der Gedanke. Phantasiearme Zeiten sind die Zeiten der großen Schaustellungen, der so oft als „roh“ verschrienen Schaulust; phantasiereiche, weniger realistisch eingestellte die der Musik und des literarischen Sprechtheaters. Und es ist nicht so falsch, wenn man das Ausarten des Theaters in bloße Schaudarbietungen als eine Verflachung bezeichnet. Sind sie doch die höchste Erfüllung des visuellen, also des phantasiearmen und weniger denkfreudigen Menschen, dessen Verbindung mit der Umwelt durch den Gesichtssinn hergestellt wird, durch den er nur das Abbild der Oberfläche, des in übertragenem Sinn „Flachen“ empfängt!

             Zwischen Oberflächlichkeit und Phantasielosigkeit besteht also eine unterirdische Verbindung, die ziemlich eng zu sein scheint. Wie sehr der visuelle Mensch oberflächlich und phantasielos ist, erweist der Vergleich zwischen Roman und Film. Im Roman kann zum Beispiel ein Kapitel mit dem Entschluß des Helden enden, nach Amerika zu fahren. Das nächste Kapitel zeigt ihn bereits in Amerika. Von der Ueberfahrt muß kein Wort berichtet werden. Die Phantasie des Lesers kann einen großen Sprung über den Ozean machen, oder sich die Ueberfahrt so breit ausmalen, als sie nur mag. Für den visuellen, phantasielosen Menschen des Films wäre dieser Sprung eine empfindliche Lücke. Der Film muß den Helden bei der Abfahrt im europäischen Ausgangshafen darstellen, muß zumindest ein Bild bringen, das den Helden während der Ueberfahrt zeigt, und eins, wie er in Amerika ans Land steigt. Die Phantasie arbeitet beim visuellen Menschen nicht. Er muß die Umwelt in fertigen Bildern empfangen. Diese Bilder aber sind meist äußerlich. Nur den allergrößten Künstlern und Regisseuren gelingt es, in einer stummen Geste dem visuellen Menschen das mitzuteilen, was dem akustischen das Wort mitteilt. Denn diese Erscheinung ist immer Gestalt, ist geformt, das Wort kann schleierhafte Andeutung, spukhafter Aufblitz, leiseste Anregung sein.

             Und der akustische Mensch ist der persönlichere. Wenn man in Worten vor hundert Menschen einen Vorgang beschreibt, so werden hundert Vorstellungen entstehen, die im Grundzug wohl gleich, in den Einzelheiten aber sehr verschiedenartig ausfallen werden. Wenn man aber hundert Menschen ein Bild zeigt, so werden sie allesamt denselben Eindruck haben. Dieser Eindruck kommt der Wirklichkeit viel näher als der durch das Ohr empfangene. Der unpersönliche visuelle Mensch ist eben der realistischere!

             Unsere Zeit, realistisch und phantastisch, mußte vorwiegend visuell eingestellt sein. Sie hat ihre Kunst im Kino, sie hat das Sprechtheater, das Theater des Gehörseindrucks und des Gedankens unterdrückt zugunsten der Schaubühne, der Revue und der Ausstattungsoperette. Das müde Gehirn des in der Hast des Alltags zermürbten Gegenwartsmenschen verlangt nach der leicht verdaulichen Kost des Auges und weist die schwerer verdauliche Kost des Ohrs meist zurück. Wo die Kunst der Revue und der Operette noch durchs Ohr wirkt, dort ist es durch den leichten Witz und die sehr leichte Musik, durch eine Musik, von der ja immer behauptet wird, daß sie „leicht ins Ohr geht“. Auge und Ohr sind wie zwei Schalen einer Wage. Wenn die eine in die Höhe steigt, muß die andere fallen. Wenn die visuelle Kunst die Ueberhand gewinnt, muß die akustische zurückweichen. Eine Zeit ohne Lyrik ist eine Zeit des Kinos; eine Zeit ohne Musik eine Zeit des Fußballs, eine Zeit ohne Drama eine Zeit des Automobilrennens. In der Not und Hast der Zeit sucht der Mensch die leichte (und auch schnellere) Aufnahmeart des Auges, die ihm die müheloseste Unterhaltung und Entspannung bringt. Ruhigeren und verinnerlichten Zeiten bleibt die Kunst der inneren Schau, der Phantasie vorbehalten, die nur der leisten Anregung durch den akustischen Eindruck bedarf.

             Kaum aber hat diese visuell eingestellte Zeit ihren Höhepunkt erreicht, ersteht ihr schon der große Gegner, der sie vernichten kann: das Radio. Das Radio kann vielleicht dem visuellen Menschen des Films, der Revue und des Sportschauspiels ein Gegengewicht bieten und die Wagschalen wieder auf die gleiche Höhe bringen. Das Radio gibt wieder nur die Anregungen durch das Gehör, die der Phantasie zur Ausgestaltung dargeboten werden. Am Radio wird es sich schließlich erweisen, ob der visuelle Mensch der Gegenwart noch ein Restchen Phantasie hat oder nicht. Wenn er sie hat, wird das Radio als Kunstdarbietungsmittel eine ungeheure Rolle spielen; hat es sie nicht, dann war es nur das letzte Aufzucken der Gegenkräfte, die sich noch einmal sammelten, bevor sie dem visuellen Menschen das Feld einräumten. Dem phantasie- und illusionslosen, dem realistischen, oberflächlichen und unpersönlichen, in einer komplizierten Welt der höchsten technischen Errungenschaften wieder primitiven visuellen Menschen.

In: Arbeiter-Zeitung, 16.5.1926, S. 21.

Fritz Rosenfeld: Hier wird Theater gespielt. Granowsky-Gastspiel im Carl-Theater

             Ausdruck der Zeit ist das Theater nicht nur, wenn es sich mit aktuellen Problemen auseinandersetzt und Tribüne wird, von der lebendiger Einfluß auf das Bewußtsein der Menschen ausgehen soll; Ausdruck der Zeit ist es auch, wenn es der andern Aufgabe der Kunst dient: den Menschen die Kümmernisse der Zeit überwinden zu helfen. Je düsterer eine Epoche ist, um so größer wird ihre Sehnsucht, der Wirklichkeit zu entfliehen. In satten und ruhigen Zeiten bejaht und verherrlicht darum die Kunst die Wirklichkeit, in zerrissenen und aufgewühlten strebt sich von der Wirklichkeit weg in die Vergangenheit oder in ein Phantasiereich. So kommt es, daß in den aufgeregtesten Jahren der russischen Revolution, mitten in Junger und Bürgerkrieg, neben dem Moskauer Proletkult und dem politisch-aktivistischen Theater Meyerholds, dem „Theater der Revolution“, auch andre Bühnen entstanden, die nur Theater der ästhetischen Revolution sein wollen. In strenger Abkehr vom Vorkriegsnaturalismus Stanislawskys schufen Tairow und die „Habima“ im konstruktivistisch gestalteten Bühnenraum eine neue Theaterkunst, die ganz auf den Rhythmus und den intensiven schauspielerischen Ausdruck gestellt ist und Musik und Tanz zu organischen Bestandteilen des Sprechstücks werden läßt. Tairow will wuchtige, tragische, symbolhafte oder grotesk-komische Wirkungen erzielen; die „Habima“ ist ekstatisches, religiöses Theater, bedeutet beinahe eine Rückkehr zum kultischen Ursprung der Tragödie. In manchen Ausdrucksformen diesen Theatern ähnlich, aber in Geist und Absicht von ihnen grundverschieden ist das Moskauer Jüdisch-akademische Theater Alexis Granowskys, das nach seinem Siegeszug durch ganz Europa nun auch in Wien im Carl-Theater gastiert.

             Das Theater Granowskys ist kein Theater der Probleme, der Symbole, der religiösen Besessenheit; es ist kein Theater der spielerischen, rein komödienhaften Wirkungen. Es geht wieder von einem Anfangsstadium aus, in dem die Bühne nicht das Reich des Dichters, sondern des Schauspielers war, es macht den Schauspieler auch wieder zum Tänzer und Sänger und läßt Wort, Musik und Bewegung zu einem, von einheitlichem Rhythmus gebundenen Ganzen zusammenklingen. Als Nurtheater hat es kein „literarisches“ Repertoire; seine Stücke sind meist Schauspielerstücke. Scholem Aleichems Lustspiel „Der Haupttreffer“, das Granowsky zu der musikalischen Komödie „200.000″ umformte, wurde vor einigen Jahren in seiner ursprünglichen Fassung vom Amerikanisch-Jiddischen Kunsttheater in Wien aufgeführt. Es ist eigentlich nur eine Anekdote, die der Dichter zu einem Milieu- und Charakterbild ausgestaltete. Ein armer Schneider gewinnt das große Los, wird protzig, fällt aber zwei Betrügern in die Hände, verarmt wieder und kehrt in seine enge Schneiderwerkstätte zurück. Wie die meisten Stücke der jiddischen Theaterliteratur hat auch der „Haupttreffer“ sozialen Einschlag; zeigt er doch die Bedeutung des lieben Geldes für die gegenseitige Stellung der Menschen. Scholem Aleichem war es aber hauptsächlich darum zu tun, im Rahmen dieser Fabel eine Reihe typischer Figuren aus dem russischen Getto auf die Bühne zu bringen. Diese typischen Gestalten behält Granowsky bei; aber er nimmt das Stück nicht als einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, sondern als unbeschwertes Spiel von Figuren, die aus der Realität in eine luftige und leichte Komödienwelt hinausgehoben werden. Sein Theater wird auch nicht von den Kulissen der realistischen Illusionsbühne abgegrenzt; die Szene soll keine Schneiderwerkstätte und keinen Tanzsaal darstellen, sondern nur gegliederter Raum für den Schauspieler sein. Daher begnügt er sich mit der Andeutung von Dekorationen und Möbelstücken. So weit entfernt sich Granowsky vom realistischen Theater, daß er ohne Requisiten spielt. Die Schneider nähen mit unsichtbaren Nadeln unsichtbaren Stoff, den Gästen wird unsichtbarer Wein in unsichtbaren Gläsern vorgesetzt, ein unsichtbarer Scheck wird mit einer unsichtbaren Feder unterschrieben. Es kommt dem Regisseur eben nur auf die Bewegung an, die die Menschen bei einer Tätigkeit ausführen, nicht aber auf diese Tätigkeit selbst.

             Bewegung ist das Hauptwirkungsmittel dieses ganz unsentimentalen, auf keinerlei „Stimmungseffekte“ ausgehenden Theaters. Kaum einen Augenblick lang stehen die Schauspieler still; sie laufen, tanzen, springen, werfen sich auf den Boden, bilden Gruppen, die sich schnell wieder lösen. Alle diese Bewegungen, mit unerschöpflicher Erfindungsgabe erdacht, ohne toten Punkt aneinandergereiht, sind mit Wort und Musik feinsinnig zu einer rhythmischen Einheit abgestimmt. Die Musik, die den Rhythmus angibt, hat Leo Pulver nach jüdischen Volksmelodien zusammengestellt.

             Auch das Wort dient bei Granowsky nicht nur dem Austausch der Gedanken, sondern wird Ausdrucksmittel des Theaters. Daher geht das gesprochene Wort in das gesungene über, das gesungene Wort wieder in den einzelnen Vokal oder den rhythmischen Zischlaut. Die Uebergänge zwischen den Sprech- und Singformen sind fast ganz abgeschliffen. Man muß nur an das oft peinliche Nebeneinander von gesprochenem und gesungenem Wort in Oper und Operette denken, um die Kunst abschätzen zu können, mit der Granowsky Dialog und Gesang zwingend auseinander entwickelt. Das ist das Wunderbare dieser leichtbeschwingten, nur aus dem Rhythmus geborenen Theaterkunst: sie beansprucht keine „Wahrscheinlichkeit“, sie verzichtet auf alle Mittel der Wirklichkeitsillusionen, und doch ergibt sich jede Einzelheit, auch die groteske und karikaturistische, als selbstverständlich und notwendig. Weil jede Geste und jeder Tonfall so sein müssen, wie das Temperament und der Theaterinstinkt Granowskys sie formten, weil kein Wechsel von Gang und Tanz, Sprechen und Singen willkürlich ist, wird die Inszenierung ein vollkommenes Bühnenkunstwerk, das durch Schwung und Witz den Zuschauer widerstandslos mitreißt.

             Dieses Theater des Schauspielers ist aber kein Theater der Schauspielerindividualität und schon gar kein Theater der Stars. Es beruht auf der darstellerisch-tänzerischen Wirkung eines präzis eingearbeiteten Ensembles. Das Ensemble bleibt nicht „Chor“ im Sinne der Oper oder Operette, es ist immer Hauptakteur, es ist Träger des Geschehens selbst dann, wenn ein einzelner es ausführt. Auch die nächtliche Entführung eines Mädchens ist bei Granowsky eine Ensembleszene. Um so höher muß man die Leistung des Hauptdarstellers Michaels werten, der sich auch inmitten dieser kollektivistischen Bühnenkunst, ohne ihren Prinzipien zu widersprechen, als großer Charakterspieler erweist. Die andern wichtigen Rollen in „200.000″ tragen die Damen Rottbaum und Romm, die Herren Gärtner, Guskin, Goldblatt, Rey und Finkelkraut.

             Das dichtbesetzte Haus stand vom ersten Aufgehen des Vorhangs an im Banne der Regiekunst Granowskys; der Beifall steigerte sich von Akt zu Akt und ging am Schluß in Ovationen für die Mitglieder der Truppe über. Das Theater Granowskys, auch ein „entfesseltes Theater“, entfesselt nämlich von Steifheit und Schablone und beherrscht von Geist und Tempo der Gegenwart, hat sich auch das Wiener Publikum erobert.

In: Arbeiter-Zeitung, 2. September 1928, S. 12.

Felix Salten: Motordefekt

            Neulich fuhr jemand, den ich kenne, in einer Autodroschke nach Hause und hatte dann mit dem Chauffeur ein kurzes, aber bezeichnendes Gespräch. Eigentlich darf sich dieser Jemand das Autofahren ja nicht erlauben. Allein er kann dem Leichtsinn nun einmal nicht lassen, er denkt zu oft: was soll das schlechte Leben nützen? er wohnt außerdem in einer entlegenen Gegend, und so erlaubt er sich trotzdem immer wieder, was ihm die ernste Ueberlegung, die er nicht hat, und die Einnahmen, die er gleichfalls nicht hat, verbieten müßten. Es war Nacht. Der Wagen vollführte seltsame Hopser, geriet etliche Male, wenn er um die Ecke biegen wollte, mit den Rädern auf den Bürgersteig, drohte jeden Augenblick stehen zu bleiben, ruckte und stieß wieder vorwärts; kurz, es war alles, was man will, nur kein Vergnügen.

            Am Ziel erkundigte sich mein Jemand, ob der Motor defekt sei. „Oh nein,“ kam die Antwort, „dem Motor fehlt einstweilen noch gar nichts. Defekt bin bloß ich. Wir werden ja sehen, wie lange der Motor mich aushält..“ Das klang anders als der hemdärmelige Dialekt, den man sonst bei solchen Gelegenheiten hört. Es war die Sprache eines gebildeten Menschen. Der Fahrgast stand verwirrt und sagte: „Komisch.“ Doch er wurde belehrt. „Was wollen Sie, mein Herr,“ sprach der Autolenker resigniert, „das ganze Leben ist komisch. Ich bin erst drei Wochen Chauffeur. Und diesen Wagen da habe ich heute nacht zum erstenmal. Da weiß ich noch nicht recht Bescheid damit. Tja,“ setzte er hinzu und hatte offenbar das Bedürfnis, sich mitzuteilen, „ich fahr‘ immer in der Nacht. Bei Tag schähm‘ ich mich. Denn ich bin akademischer Maler!“

            Was muß dieser Mann für Entbehrungen durchgemacht, wie viel Kummer, welche Fehlschläge mag er gehabt, wie viel teure Illusionen mag er bestattet haben, ehe er den tapferen Entschluß faßte, Chauffeur zu werden, um das tägliche Brot zu verdienen. Nicht alle Künstler sind so resolut, wie dieser Mann, der es vorzieht, sich des Nachts mit einem Motor herumzuschlagen, statt Leinwand um Leinwand zu bepinseln, die keiner kauft. Nicht alle Künstler, die hungern, geben so entschieden einen Beruf auf, den sie einst hoffnungsvoll, schaffensfreudig, begeistert und opfermutig erwählten. Nicht alle können das. Viele sind zu alt, viele sind zu zart, viele glauben zu fest an sich und ihre Erdensendung. Und viele sagen sich, daß die Konkurrenz in allen anderen Erwerbszweigen, die ihnen außerdem fremd sein müßten, ohnehin schwer auszuhalten wäre; daß die allgemeine Arbeitslosigkeit es aussichtslos scheinen lasse, irgendein Plätzchen, und sei es das bescheidenste, zu erobern. Aber allen Künstlern geht es furchtbar. Den berühmten wird es hart genug, sich zu halten. Die Namenlosen hungern. Sie hungern ohne Unterschied des Talents. Die Fähigen genau so wie die Nichtskönner. Die Hypermodernen ebenso wie die zu Kompromissen Erbötigen. Die Maler, die Zeichner, die Bildhauer, besonders die Bildhauer hungern. Es ist ein Jammer.

            Manchmal schreibt einer von ihnen dem Unterrichtsminister einen offenen Brief. Dann richtet ein anderer wieder ein offenes Sendschreiben an den Finanzminister. Dann wenden sie sich an die Stadt Wien. Oder sie erlassen einen Aufruf. Lauter Notschreie, lauter Hilferufe. Sie verhallen auch nicht ungehört. Jeder ist erschüttert. Aber die Not besteht fort, weil die Hilfe ungenügend ist. Sie kann wohl auch kaum ausreichen, diese Hilfe. Denn der österreichische Staat ist klein und arm. Außerdem wird es niemals ganz gelingen, Künstlern zu helfen, denen geholfen werden soll.

            Als während des Krieges die Kunstfürsorge gegründet wurde, flüsterten erfahrene Männer einander zu, dieses gutgemeinte Unternehmen werde mehr Schaden anrichten, als Nutzen schaffen. Flüsterten. Denn damals konnte man Wahrheiten nicht laut aussprechen. Auch heute noch ist es, wie übrigens immer, eine riskante Sache um solche Wahrheiten. Die Meinung, die damals im Flüstertone umging, war, man werde Unterstützung niemandem verweigern können, auch jenen nicht, die schon in Friedenstagen durch ihre Talentlosigkeit zum Darben verurteilt blieben. Die Unterstützung jedoch hindere die Unfähigen an der Selbsterkenntnis, halte sie auf immer fest in dem Künstlerberuf, der für sie doch verfehlt sei, legitimiere sie fälschlich darin. Zeitlebens würden sich diese Unzulänglichen als Vollwertige fühlen, würden sich und anderen zeitlebens beweisen, daß sie echte Künstler sind, denn sie haben ja doch den Beistand der Kunstfürsorge gefunden. Der beste, der unwiederbringlich geeignete Moment, so hieß es, eine Zwangsauslese unter den viel zu vielen Malern und Bildhauern herbeizuführen und den Beruf von hoffnungslosen Mitläufern zu entlasten, dieser erziehlich kostbare Moment werde durch die Kunstfürsorge versäumt und vereitelt. Mag sein, daß es mit diesen Bedenken soweit seine Richtigkeit hat. Möglicherweise hätte der oder jener den Pinsel, ein anderer das Modellierholz weggelegt, um zum eigenen Heil ein nützliches Gewerbe zu ergreifen. Ich glaube nicht daran.

            Diese Wahrheit existiert im Grunde doch nur als eine theoretische. In die Praxis wäre sie kaum umzusetzen gewesen. Nur vereinzelte Fälle, wenn sie sich ereigneten, könnten uns als Ausnahmen gelten, durch welche die Regel bestätigt wird. Denn niemand glaubt so fest, so eigensinnig, so unbelehrbar an sein Talent, wie der Talentlose. Kein Meister hat die ruhige Selbstsicherheit, die dem Dilettanten verliehen ist. Weit eher lässt sich ein Kaukasier einreden, er sei ein Kongoneger, als ein Nichtskönner zu überzeugen wäre, daß er nichts kann. Es ist leicht, ein Genie in seinem Selbstvertrauen zu erschüttern, ihm sein Schaffen zu verleiden, aber es bleibt ganz unmöglich einen Stümper in der Freude am eigenen Ich zu stören, ihm die Arbeitslust auch nur für eine Stunde zu trüben. Diese Euphorie hat die Natur ihren Stiefkindern des Geistes nun einmal geschenkt und man muß sich damit abfinden. Es handelt sich auch gar nicht um diese armen Teufel, so peinlich es sein mag, daß auch sie sich an die Schüssel drängen und mitzuessen begehren. Das Traurige, das Wichtige an diesen traurigen Zuständen: die Schüssel ist leer. Leer selbst für die Besten.

            Nicht bloß den heutigen Künstlern geht es schlecht. Der Kunst selber ergeht es heute so übel wie niemals vorher. Daß die Künstler jetzt so hart um das bißchen Dasein ringen müssen, liegt nur zum geringen Teil an den flauen wirtschaftlichen Verhältnissen. Niemand hat Geld. Das stimmt freilich. Aber es ist, andererseits und zum Donnerwetter, doch wieder nicht so ganz richtig. Die Leute haben Geld für alles, was sie erheitert, was sie aufregt, was ihnen gespanntes Interesse abgewinnt, was sie überrascht, verblüfft oder sie als ein Wunder erhebt. Die wirtschaftlichen Zustände sind niederträchtig. Die Geschäfte gehen erbärmlich. Die Verarmung steigt. Wahr! wahr! Dennoch bleibt es ebenso wahr, daß die Theater nie dagewesene Serienerfolge hatten, wenn sie nur das rechte Stück aufführten. Die Kinos werden gestürmt, wenn ein guter Film zu sehen ist. Ein Fußballmatch bringt an einem einzigen Nachmittag mehr Einnahmen als ein täglich ausverkauftes Theater in einer Woche. Und beim Derby gibt es am Totalisateur einen Milliardenumsatz. In dieser angeblich ruinierten Stadt wächst die Anzahl der Automobile binnen zwei kurzen Jahren um zehntausend, gar nicht zu reden von den fahrenden Kochtöpfen, den Motorrädern, die sich wie die Feldmäuse vermehren. Die Kunst aber geht vergebens nach Brot! Sie schreit, sie bittet, sie jammert nach Brot. Und niemand findet sich, der ihr ein Stückchen darreicht.

            So wenig Sinn für die Kunst wie heute scheint es noch nie zuvor gegeben zu haben. Es ist ja schon nicht viel Sinn für die Dichtung vorhanden und nicht übermäßig viel für Musik. Was der Dichtung an Aufmerksamkeit gewidmet war, haben die Sketches, die Revuen weggenommen. Und die Filme. Was der Musik geblieben ist, haben die Jazzorchester verschlungen. Selbst der Film muß sich zur Wehr setzen. Schon früher hat sich im Kino kein Mensch um den Autor eines Films gekümmert. Nur um die Filmstars, um die weiblichen und männlichen, ging der Wettlauf aller Huldigungen. Jetzt aber beginnen Filme zu erscheinen, in denen die Einzelpersönlichkeit ausgelöscht ist, wie der „Panzerkreuzer Potemkin“, und sie zeigen Meisterleistungen von einer neuen, atemraubenden Art. Es kommen Filme, in denen überhaupt kein Mensch mehr auftritt. Nur Tiere sieht man und ist hingerissen. „Das Blumenwunder“, das in der „Urania“ gezeigt wird, bringt nur Blumen, kein einziges Tier. Und die Menschen, die ab und zu darin auftauchen, stören bloß, gehören nicht dazu, verderben den ungeheueren Eindruck, indem sie ihn banalisieren und in Kitsch verwandeln. Eine neue, ungeahnte, an ergreifenden, spannenden, erhabenen Momenten überreichte Welt öffnet sich da unseren Blicken. Eine Welt, die ganz unverbraucht ist. Geheimnisse, die wir nur ahnten, bieten sich entschleiert dar. Wie mächtig ist die Wirkung, die ein Tier ausübt. Jeder Schmetterling, der aus der Puppe bricht und seine Flügel breitet, jede kleine Schlange, die aus dem Ei schlüpft, spielt Jannings und Henny Porten und Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin an die Wand. Mächtiger noch sind die Blumen, die wir nun blühen, ist das Gras, das wir jetzt wachsen sehen. Eine Schlingpflanze, die in der Luft nach Halt tastet, Fliederdolden, die sich prangend erschließen, Zyklamen, die ihre Knospen öffnen und ihre Blütenblätter zurückschlagen, Kakteen, die ihre blühenden Triebe emporjagen und welkend niedersinken lassen, Sonnenblumen, die sich strahlend auftun, dazu das rhythmische Atmen der Blätter, der Sträucher und Gräser,.. keine Tragödie kann diese Kraft des Eindrucks erreichen, kein Bildwerk dies Entzücken und diese Nachdenklichkeit geben. Der Photographie, der es ja schon gelungen ist, Hunderte von Aufnahmen in der Sekunde zu machen und die rasend schnellsten Begebnisse des Daseins in beschauliche Sichtbarkeit zu zerlegen, der Photographie glückte es hier, die Bewegung von vier, von acht Stunden in eine Sekunde der ### zu pressen. Damit hat sie das Leben, das Wachsen, das Werden, beinahe könnte man sagen, das Bewußtsein der ganzen Pflanzenwelt für unser Auge sichtbar, für unsere Seele begreiflich werden lassen.

            Die photographische Technik ist den bildenden Künsten nicht hold. Der Kampf begann, da vor mehr als dreißig Jahren die Kodak-Kamera über die ganze Welt verbreitet wurde. Damals mußten in den illustrierten Blättern die Spezialzeichner der Momentaufnahme weichen und sehr viele, sehr begabte Künstler wurden brotlos. Der Projektionsapparat wird manchen Maler aus den Theatern vertreiben. Und die neuen Errungenschaften der Photographie scheinen eine Epoche einzuleiten, in der die Malerei noch weniger Boden haben wird als bisher. Aber es ist ja nicht die Photographie allein, von der die bildenden Künstler verdrängt werden.

            Alle Kunst ist seit zehn Jahren durch die Wirklichkeit übertroffen, überholt, übertrumpft. Alle Kunst ist seit zehn Jahren von der Wirklichkeit glatt an die Wand gespielt worden. Die Wirklichkeit hat Ereignisse gebracht, Tragödien, Grotesken, Dramen zum Schluchzen und Lustspiele zum Wälzen,.. kein Künstler mag bessere ersinnen. Die Wirklichkeit hat Gestalten erschaffen, Helden und Dulder, Hanswurste und Schurken, wie sie niemals die Phantasie eines Dichters, Malers oder Bildhauers gebar. Während dieses selben Dezenniums hat die Technik Märchen in reales Leben verwandelt, hat nie Geträumtes plötzlich fertig vor die überwältigte Menschheit hingepflanzt. Was man vor drei Tagen noch nicht zu denken wagte, was man ehegestern für unmöglich hielt, gestern noch verlachte, ist heute wirklich und wahrhaft geworden und gehört morgen schon zum selbstverständlichen Alltag. Der Rekord ist das Zeichen und die Parole dieser Gegenwart. Die Höchstleistung allein gilt im orkanartigen Vorwärtsstürzen dieser Welt. Wenn in den Zeiten so vieler Wunder der Ereignisse, der Technik, der Wissenschaft die bildende Kunst zurückstehen muß, ist das eine natürliche Folge und kann nicht wundernehmen.

            Die bildenden Künste sind nicht bloß an die Wand gespielt wie die Dichtung und die Musik, sie sind nicht bloß zurückgedrängt wie alle Kunst überhaupt, vom Sturm der Ereignisse und vom Sturmschritt der Technik. Wie jede höchste Betätigung der menschlichen Seele, sind die bildenden Künste, inmitten dieser zertrümmerten, dieser jung erstehenden Welt zertrümmert und werden langsam wie die junge Welt neu entstehen. Keine Kunst, also auch keine bildende, hat die Geschehnisse der letzten Dezenniums bewältigt, verarbeitet, gemeistert und ein Werk geschaffen, das etwas Endgültiges, etwas Gipfelhaftes bedeuten und darin diese Fülle an Geschehen über sich selbst hinaus erhoben würde.

            Doch die Künstler wollen leben. Und es ist wichtig, daß sie leben, daß sie arbeiten, daß sie hoffen können, streben, wirken. Es ist eine Schande, daß sie hungern! Und es ist ein furchtbarer Schaden. Nicht nur für sie, für die unmittelbar Betroffenen. Für die ganze ethische und kulturelle Verfassung eines Volkes. Man kann unmöglich mit allen Organen des Volkes, mit allen Berufen, die es gibt, in der Gegenwart und in der Zukunft leben, indessen gerade diejenigen, die das Herz er Nation darstellen, die Künstler, verelenden, verhungern und absterben. Eines Tages wird man verstehen und erkennen, daß man nur Fußballer hat, die ein Jahr lang berühmt waren, nur Schnelläufer, Skifahrer oder Wettschwimmer, denen die Popularität einer Saison zuteil wurde, daß man aber ganz arm, bettelarm an geistiger Leistung geworden ist. Unsere Bauten von heute verlangen nicht mehr den Schmuck gemeißelter oder in Bronze gegossenen Figuren. Aber Parks und Plätze, Gärten und Zimmer können Brunnen gebrauchen, Denksäulen, Statuen und Büsten. Man könnte die Freskomalerei wieder beleben, nicht in fürstlicher Großartigkeit, doch in bescheidenen, erschwinglichen Dimensionen. Geschäftsbilder wären zu malen, Sportplatzbilder. Unendlich viel ließe sich tun. Man soll wenigstens etwas beginnen, ehe die zahlreichen Talente, die in unserer Mitte leben, kaput gehen. Vielleicht könnte die Regierung so etwas wie die Initiative ergreifen. Sie hat neben manchen weniger begabten noch viele tüchtige Beamte. Sie kann Künstlerhilfstage veranstalten. Es ist keine Schande, wenn an einem Tag im Jahr in allen Städten, auf allen Straßen für die Kunst gesammelt wird. Schlimmer, wenn jeden Tag die Künstler Hunger leiden. Sie kann die Fußballer veranlassen, ein Match im Jahr für die Künstler zu spielen. Das wäre eine ausgiebige Hilfe. Alles muß geschehen, um zu verhüten, daß die Zukunft eines als Anklägerin dieser Gegenwart sich erhebt.

In: Neue Freie Presse, 13.6.1926, S. 1-3.