Fritz Rosenfeld: Die Stadt wartet. Tanzdrama von Gertrud Kraus
Fritz Rosenfeld: Die Stadt wartet. Tanzdrama von Gertrud Kraus. (1933)
UA im Volksbildungshaus.
In den Märchen der Wirklichkeit von Maxim Gorkij steht die Skizze „Musik der Großstadt“, die Märchenvision einer Stadt, die „vom quälenden Wunsch beseelt ist, zur Sonne emporgehoben zu werden“. Die Stadt träumt, und „alle ihr vielgestaltigen Wünsche schreien nach Glück“. Ein Knabe schreitet auf die wartende Stadt zu. Sie empfängt ihn als den Erlöser. Wird er sie erlösen? Das Märchen endet mit einem Fragezeichen: „Was erwartet ihn dort?“ Bei Maxim Gorkij will ein junger Musiker die brennende Sehnsucht dieser Stadt in Tönen ausdrücken. Marcel Rubin hat die Idee Gorkijs aufgegriffen und zu einem Tanzdrama gestaltet, das unter der Leitung von Gertrud Kraus Sonntag im Volksbildungshaus zum erstenmal aufgeführt wurde.
In der Tanzdichtung von Gertrud KrausHebr.: גרטרוד קראוס, geb. am 5.5.1901 in Wien - gest. am 23.11.1973 in Tel Aviv; Choreographin, Tänzerin Aus... ersteht eine geträumte Stadt, eine Stadt, die nicht körperhaft ist, eine Vision aus Rhythmus und Gebärde. Die Menschen, die diese Stadt bewohnen, die die Seele dieser Stadt bilden, sind voll Sehnsucht, voll Glücksverlangen, voll Freiheitshunger; es ist eine Stadt gequälter, in die Tretmühle des Alltags gespannter Arbeitsmenschen, die ihren Erlöser erwartet. Der Knabe schreitet durch die Häuser, durch die Menschen der wartenden Stadt. Er vermag sie nicht zu erlösen; er vermag nur ihre Sehnsucht zu steigern, den Glanz ihres Glückstraums zu erhöhen. Der Schluß des Tanzdramas ist nicht Erfüllung, sondern wieder Erwartung: aus ihrer eigenen Kraft werden die Menschen der wartenden Stadt sich erlösen.
Marcel Rubins Musik strebt mit einfachen Mitteln wuchtige Wirkungen an. Gertrud Kraus hat das Tanzdrama mit einfachsten Mitteln wuchtig inszeniert. Sie schweißt ihre Tanzgruppe und einen Bewegungschor zu einem einzigen großen Tanzkörper zusammen, den sie mit ihrem gestalterischen Willen souverän beherrscht. Ein paar Gesten, ein paar Schritte, deren Rhythmus sich aus der Musik von selbst ergibt, drücken Trauer, Sehnsucht, Freude, Verzweiflung, Erwartung der Menschen in dieser geträumten Stadt aus. Am reifsten durchkomponiert ist die Szene im Tanzlokal: der Rhythmus eleganter Tänzerpaare überträgt sich auf einen blinden Bettler, der Rhythmus eines Lebens, an dem der Bettler nicht teil hat, ergreift ihn, wie der Wellenschlag des Ozeans eine ferne Küste erreicht. Die hochgestreckten Hände der Menschen bilden die Umrisse gotischer Fenster; gotisch überhöht sind die Gebärden in diesem Tanzspiel, es gibt keine Schnörkel, keine Pirouetten; ein paar Bewegungen deuten das mechanische Einerlei des Alltags, ein paar Gesten den Rhythmus eines Schwungrades an. Die Grundmotive der Tanzdichtung sind nicht dramatisch, sondern lyrisch; auch das Märchen von Gorkij hat keine Handlung, es ist ein seelisches Zustandsgemälde. Als Gesamtleistung reißt die Tanzvision der wartenden Stadt menschlicher Sehnsucht trotz einiger Längen unwiderstehlich mit; sie ist die Frucht ernster und strenger künstlerischer Arbeit, sie beweist nicht nur das große Können, sondern auch den hohen Ehrgeiz und die Energie der Regisseurin. Gertrud Kraus, die selbst den Knaben tanzte, ihre Schülerinnen, der Komponist und der Dirigent Kassowitz wurden vom Publikum bejubelt.
Vorher zeigte Gerti Tenger eine Tanzsuite nach der „Kleinen Dreigroschenoper Musik“ von Kurt Weill. Es war keine sehr glückliche Idee, nach dieser modernen Musik eine Pantomime alten Stils zu tanzen, die den falschen Eindruck erwecken könnte, daß die Dreigroschenoper ein Bordellstück ist. Immerhin waren die Kuppelmutter Gisa Geerts und die Dirne Maru Kosjeras lebensvoll-drastische Gestalten. Den Abschluß des Abends bildete die bereits bekannte Tanzgroteske Changez les têtes oder Haltet den DiGisa Geertgeb. am 7.6.1900 in Wien – gest. am 2.4.1991 in Madrid; Tänzerin, Choreographin, Schauspielerin und Fernsehmoderator...n Gisa Geert. Das witzige, schmissige Tanzspiel, das den Geist der Rene-Claidie BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei...f die Bühne überträgt, gefiel wieder sehr gut und fand reichen Beifall.