Heinrich Mann: Auf einem Scheiterhaufen (1927)

Diesen Artikel, den insbesondere die Richter lesen sollten,
veröffentlicht der berühmte Schriftsteller im Berliner Tage-Buch.

Was sagen zu dem Brand des Wiener Justiz­palastes die Juristen? Einige Rechtsgelehrte Wiens sind vielleicht stutzig geworden, aber ihre Fachgenossen in andern Städten und Ländern, auch deutschen? Welche Schlüsse ziehen sie? Daß man in Wien hätte ausgiebiger schießen sollen? Dann wäre es zu dem Tatbestand der Brandlegung nicht erst gekommen? … Gewiß nicht. Nirgends kann es dazu kommen, nur gerade in Wien. Aber was beweist dies, wenn die Hindernisse ausschließlich technischer, also überwindbarer Art sind? Anderswo hat der Staat mehr Macht­mittel, das Volk muß mehr hinnehmen, es ist ge­bändigt. Fragt sich nur, wie viele andre JustizpaIäste in der Einbildung und in den Wünschen von MilIionen mitgebrannt haben, als in Wien einer brannte — und wie viele, wenn es zu machen wäre, wirklich brennen würden.

Warum das? Warum überhaupt der Justiz­palast? Den Juristen, nicht nur Österreichs, muß doch auffallen, daß von allen öffentlichen Gebäuden, die zur Wahl standen, gerade das ihre getroffen wurde. Augenscheinlich war es das verhaßteste. Früher hätte es so heftige Gefühle nie erregt. Hier äußert sich mit höchster Sichtbarkeit jene „Vertrauenskrise“, ein offenbar zu mattes Wort für Dinge, die sich so äußern.

Haben die Juristen — nicht die Richter nur, die Mehrzahl aller ihrer Fachgenossen, haben sie eigentlich nötig gehabt, es so weit kommen zu lassen?  Von ganzen Volksklassen, so großen, daß niemand weiß, wo sie enden, gehaßt zu werden, ist doch kein Spaß. Es gibt kaum Beispiele, daß es gut geendet hätte. Wer stellt sich leichtfertig hinaus für Interessen- die eigent­lich gar nicht die seinen sind? Die bei weitem meisten Juristen sind arm, sie leben außerhalb der Gesellschaft der Reichen oder sind an ihrem Tisch nur geduldet. Trotzdem begegnen sie nicht allein der Auflehnung der Armen, die schon längst keine Hand mehr erheben, nein, ihren Ansprüchen und selbst ihrer Sehnsucht mit einer Schroffheit, daß wahrscheinlich sogar die Reichen sich wundern.

Alles, was es an Opposition in dieser demütig gewordenen Welt noch gibt, soll gleich „Kommunis­mus“ sein, wenn die Organe der Reichen es be­haupten, ein Richter, ein Beamter oder Professor braucht es deshalb noch nicht glauben. Die Wiener Arbeiter, die den Justizpalast anzündeten, dachten dabei nicht an Kommunismus. Sie waren einfach schon zu lange gepeinigt und erbittert worden durch die ewige grundsätzliche Parteinahme des gesamten Justizbetriebes gegen sie, sogar, wenn ihre Gegner sie umbringen. Diese Gegner, ob sie sich völkisch oder anders nennen, mögen dabei die helden­haftesten Vorstellungen haben; im Reich der Tatsachen sind sie natürlich nichts weiter als Wachtposten vor allzu reich gedeckten Tischen. Wenn sie etwas ent­schuldigt, ist es ihre Unwissenheit. Aber die Juristen?

Die Juristen. Müssen doch sehen, daß in der Gesellschaft, wie sie jetzt abläuft, etwas nicht stimmt. Für soviel Armut tat sich der Reichtum etwas zu großartig; für soviel Arbeitslosigkeit handeln die herrschenden Parteien etwas zu arbeiterfeindlich; für so große besitzlose Volksmassen wirkt alles, was geschieht, zu wenig volkstümlich. Zweifellos läßt sich

jeder Zustand aufrechterhalten, wenn man immer den einen Teil der Besitzlosen gegen den andern ausspielt — aber doch nur eine Zeitlang. Juristen sollten immerhin wissen, daß auch die soziale Reaktion wie jede andre ihre Zeit hat. Eines Tages ist sie verbraucht.

Dann kommt nicht der Kommunismus, der könnte höchstens zu einer Stunde geworden und da sein, wenn schon niemand mehr von ihm spräche. Für Westeuropa ist er nur ein vorläufiges Kennwort gründlicher Unzufriedenheit. Aber dann beginnt ein Zeitalter der Umkehr und der Reformen. Das erwartet uns so sicher, wie heute der Mißbrauch ungerechter Vorteile herrscht. Haben die Juristen ein begründetes Interesse, den Anschein zu erwecken, als seien sie die zuverlässigsten Freunde sämtlicher Mißbräuche? Wenn sie wenigstens auch selbst die Vorteile hätten! Aber nur den Haß einzukassieren bei sonst leeren Kassen? Sie machen wirklich den Eindruck Hineingefallener. Gehen durch dick und dünn mit Nutznießern, zu denen sie selbst nicht gehören. Aber zuletzt werden sie bezahlen müssen, hauptsächlich sie.

Die noch rauchenden Trümmer eines Hauses, das ihres war, warnen sie.

In: Arbeiter-Zeitung, 26.7.1927, S. 3.

Anton Kuh: Von Salzburg bis Leningrad (1928)

Es ist also wieder alles vollzählig da: Max Reinhardts Pensionat der Berühmtheiten, Amerika und Ischl, Alexander Moissi — um­florten Auges dem Anblick des gleichnamigen Tragöden hingegeben, der ihm aus den wieder­erkennenden Blicken der Fremden und Ein­heimischen entgegenschaut —, ich — bis zur Autogrammumworbenheit mit ihm verwech­selt —, der ganze Rundreisekongreß berichterstattender Journalisten von Paul Stefan bis Mr. Lincoln Eyre („New York Times“), die Wiener Oper, das New Yorker Geld und der Salzburger Regen. Überschaut man das ganze Ensemble, so kommt es einem auf den ersten Blick etwas zu gesellig, ich möchte sagen: vereinsmäßig vor; als sei der Betrieb nur von seinen Produzenten beigestellt, nicht von den Konsumenten. Aber das mag von der Altgewohnheit des Bildes kommen. Die Hoteliers und der Landesverband für Fremdenverkehr sehen es rosiger; sie sind überzeugt, daß Salz­burg dank einer Menge vereinter Bestrebungen und neuer Errungenschaften (Gastspiele aus­ländischer Truppen, Unsepariertheit der Geschlechter im Leopoldskroner See, sprachen­kundiger Polizisten, fließendes Wasser) über kurz oder lang in Europa liegen werde…

*

… unter Wahrung der bodenständigen In­teressen, versteht sich.

Aber, Himmel, hier liegt ein schweres, fast unlösbares Problem. Nach allem, was ich in den Paar Tagen erlebte und hörte, haben die kunsteuropäischen Bemühungen des Festspiel­direktoriums etwa mit Stresemanns Stellung in Genf Ähnlichkeit: hinter ihrem Rücken die Schar der Einheimischen (sprich: Eingeborenen), die den zu erlangenden internationalen und repräsentativen Profit nicht mit der Preisgabe der sogenannten heimatlichen Belange bezahlen wollen — vor ihnen die Fremden, die keines­wegs damit zufrieden wären, in Salzburg bloß eine Abart von Bayreuth, Eger, Oberammergau zu erblicken —, zumal sich heute niemand mehr die Schätzung nationaler Eigenart Geld kosten läßt. Die einen empfindlich, schlecht ge­launt, ewig entrüstungsbereit — die andern verwöhnt, skeptisch, snobbisch. Was bleibt dem armen Festspieldiplomaten da zu tun?

Er muß jeden Fußbreit Boden, den er, nach vorn, dem europäischen Kunstrevier abgewinnt, nach rück­wärts als Fremdenattraktion und nationale Unverfänglichkeit rechtfertigen; er muß dem Salzburger Stadtkind Mut zusprechen. Nimm das Geld nur, du wirst nicht daran sterben! Und er muß ihm, zum Schluß, Entschädigun­gen bieten — das sind: Repertoirespenden für den heimischen Charakter. Jedermann von Hofmannsthal genügt da nicht; das dient nur den religiösen Erbauungsbedürfnissen des traveller chek. Hinabgetaucht in die Volkssage und die Landestradition!… Natürlich zahlt der ausgleichsbeflissene Festspieldiplomat ge­rade auf diese Konzessionen drauf. Denn merk­würdig, aber wahr: auch der kernigste Urkern-Salzburger sieht sich die Räuber unter Rein­hardt, ja sieht sich die Iphigenie unter Beer-Hofmann lieber an als das aus bäuerlichen Seelentiefen geschöpfte Perchtenspiel (des übrigens hochbegabten, unverdient zu solchem Beruhigungszweck erkorenen Richard Billinger).

Doch soll hier von einem absonderlichen Fall des „Draufzahlens“ die Rede sein — zugleich dem kuriosesten Abenteuer der Festspiel­diplomatie.

*

Das Direktorium hatte im Frühsommer mit Toscanini und der Mailänder Scala Unterhandlungen angebahnt. Sie verliefen — wunderbarerweise — erfolgverheißend: Toscanini, der, von seiner Amerikafahrt abge­sehen, seinen Fuß noch nicht außer Land gesetzt hat und bisher den unwahrscheinlichsten Geldverlockungen widerstand, schien bereit, nach Salzburg zu kommen. Die „nationalen Verbände“ erfuhren es — und protestierten. Der deutsche Charakter, die Knebelung Süd­tirols, das bodenständige Element— das marschierte alles konzentrisch gegen die Fest­spielgemeinde, und die Sensation, die Salz­burg den zehnfachen Zulauf verschafft hätte, fiel aus. Wo sollte jetzt der zugkräftige inter­nationale Ersatz dafür her? Das Neue, Unabgeleierte, Fremdenanziehende?

Zur richtigen Stunde kam das richtige An­gebot: das Leningrader Opernstudio erbot sich, für wenig Geld (die Spesen waren durch einen Propagandafonds gedeckt) in Salzburg seine Kunst vorzuführen. Nun, dachten die Festspieldiplomaten, haben wir euch Toscanini und die „Scala“ geopfert, so werdet ihr doch wenigstens gegen das Konträre nicht viel einzuwenden haben! Sie stimmten also dem Gastspiel zu. Da aber geschah das Uner­wartete (so etwas wie einem Dolchstoß der Deutschen Volkspartei in Stresemanns Rücken vergleichbar): nicht die Einheimischen — die Wiener liberale Presse, also jene Seite, der doch gerade wieder „Europa“ und „Kosmo­politismus“ konzediert werden sollte, schrie jetzt Zeter und Mordio; sie rief: Salzburg im Zeichen des Sowjetsystems! Totverlegen stand der Festspieldiplomat da: von rechts der Pro­vinzialangriff, von links der Sturm der eige­nen Anhänger — wie kommt man aus dieser Zwickmühle?

Durch neue Heimatskonzessionen. Die strammen Propagandisten aus Leningrad (wer hat etwas gegen die Propaganda der Leistung?) versprachen, mit Mozart den An­fang zu machen; und Numero zwei: ad hoc ein Opernwerk des Salzburger Mozarteum-Dirigenten Paumgartner einzustudieren, um es in neurussischer, Tairoffscher Aufmachung am ersten Abend zu präsentieren.

In diesem Zeichen der Versöhnung von Salzburg und Leningrad erfolgte der Start.

*

Das Haus war nicht übermäßig voll; das „Stadttheater“ spendete aus dem eigenen Be­trieb etliche Schikanen und Sabotagen (Beer-Hofmann hat mir einen Vormittag lang über gleiche Erlebnisse mit der Salzburger Stadt­bühne einen Klagebericht gegeben). Trotzdem wehte von der Bühne der Hauch des Außer­ordentlichen. Das war nicht das alte Opern-Lirumlarum mit gestellten Attitüden und eingeschlafenen Gebärden, sondern wunderbare maskenfrohe Besessenheit. Der treffliche Paum­gartner aus Salzburg erglühte da zu einem Strawinsky.

Und der Lohn? In der Loge neben mir stan­den mitten im Stock ein paar Salzburger Damen auf. Honoratiorengattinnen vermutlich, vom Schlage der gewissen Beethoven-Matronen. Hinter ihnen wallte als Schleppe altpatrizischer Entrüstung der Ausruf: Unverschämtheit!… Ich wollte ihnen auf die Treppe nacheilen, um ihnen zu sagen: Aber, meine Damen, es handelt sich hier doch nicht um Lenin, sondern um Ihren Paumgartner! Rußland effektuierte nur, was Salzburg wollte! — Es hätte mir nicht viel genützt.

Hernach, bei Bastien und Bastienne, wäre bei einem Haar, als der Regisseur ein übriges tat und einen gereimten Epilog aufsagte, schein­bar voll Lobpreisungen der „neuen Zeit“, in Wahrheit aber voll nachträglicher Bücklinge und Entschuldigungen vor dem Ortsnerv, der Sturm losgebrochen. Er erstickte erst und wan­delte sich in Applaus, als daraus das Wort aufflog: „Euer Mozart!“

Der Mozart der Salzburger — ich möchte nicht Wolfgang Amadeus darüber vernehmen, wie es ihm zu Lebzeiten ging.

*

Reinhardt stand in seiner Loge und applaudierte; der Epilog schien ja auch förmlich (als Angriff? als Huldigung? — ich weiß es nicht) zu ihm hinaufdeklamiert. Er stand ruhig, gefaßt, alles überblickend. Der Ober-Diplo­mat, dem hier keiner gewachsen ist.

Ich erfuhr noch am gleichen Abend, was er, in Anlehnung an Weimarer und Jenenser Vorbilder, für die Räuber-Inszenierung vor hat: die Salzburger Studentenschaft wird während der Zwischenakte im gedeckten Orchester Studentenlieder singen. Dadurch verkürzt sich die Zeit des szenischen Umbaues; außerdem ist das etwas für Salzburgs Jung­mannen. Sie reden seit Tagen von nichts anderem, freuen sich kindlich darauf und sind überzeugt, daß nicht Moissis Franz und nicht Hartmanns Karl, sondern ihr Rundgesang das große Ereignis sein wird.

Was keinem Diplomaten gelang — Rein­hardt ist es solcherart gelungen: die Versöhnung zwischen Salzburg und Europa. Der kleine Mann, den man seit langem als obersten Kirchenherrn des deutschen Theaters feiert, thront mit Recht so allgegenwärtig, einsam und erhaben auf seinem Schloß wie der Erzbischof. Er ist ein Schüler der Kirche, der fast schon ihr Lehrer sein könnte.

In: Der Tag, 10.8.1928, S. 3.

h.m.[enkes]: Lyrische Bekenntnisse. (1919)

(Danton [Robert Bodansky]: Wenn der Glorienschein verbleicht. – Hugo Sonnenschein: Slowakische Lieder. – Marek Scherlag: In der Fremde.)

In dieser Zeit aufgewühlten Denkens und Empfindens ist auch der in sich versponnene Lyriker zum Weltanschauen, Bekennen und zur leidenschaftlichen Stellungnahme gedrängt. So wurde auch das Gedicht zu einer Konfession, zu einem Dokument dieser Epoche. Bekenntnisbücher in diesem Sinne sind die drei Gedichtsammlungen, auf die die Aufmerksamkeit hier gelenkt werden soll. Aber sie sind es in ganz verschiedenartiger, individueller Weise.

Robert Bodanzky (Danton), der gewichtloserem, der UnterHaltung gewidmetem Schaffen bisher sich hingab, gibt ein von den edelsten Impulsen getragenes Bekenntnis zur Menschheit und deren Befreiung von ihrer bisherigen Versklavung durch Staat und Militarismus, während Hugo Sonnenschein und Marek Scherlag aus der Seele ihrer Nation ihre Dichtung schöpfen. Danton ist, wie sein berühmtes Vorbild, ganz von revolutionärem Geiste erfüllt. Seine Satire ist schonungslos, sein unfehlbar treffender Witz voller Bitternisse. Diese Gedichte und Epigramme waren schmerzliche Monologe während des Krieges, der großen Katastrophe aller Menschlichkeit. Danton, ein inbrünstiger Bekenner der Tolstojschen Weltreligion, hat im dumpfen Schweigen jener Jahre diese blutigen Satiren hingeschrieben, die hohnvolle Abrechnung mit der Grausamkeit wie mit der öffentlichen Lüge, mit den großen und kleinen Mächten der Gewalt, der Volksverführung durch die Phrase halten. Sein Wort wurde zu einem herunter­sausenden, feingeschliffenen Schwert. Die Gedichte sind das Dokument einer achtunggebietenden inneren Umwandlung zur großen und wahrhaften Humanität, Bodanzky rückt dem Dünkel, der Selbstsucht, dem in Grausamkeit ausgearteten Größenwahn zu Leibe. Er höhnt die falschen Menschheitserlöser, die in die Phrase versponnene Partei. Aber neben dem Haß schlägt in seinem Herzen auch eine innige erwärmende Liebe zu allen Bedrückten und Enterbten. Er ist ein Anarchist im edelsten Sinne, einer der sich gegen jede Art von Vergewaltigung wendet, gegen Krieg und Staat, für den er die große Menschheitsgemeinschaft setzen will. Von seinen kleinen, spitzen Epigrammen sagt er:

Wie derlei Epigramme entstellen,
Die Antwort kann leicht ich Euch geben.
Man braucht nur mit offenen Augen zu sehen
Und darf nicht vorbeigeh’n am Leben.
Dann muß man das Ganze in Reime fassen
Und Worte wählen, die Lügnern nicht passen.
Und Begeisterungsfunken schürt man zur Flamme,
Und so entstehen Epigramme.

Dem Wohltätigen ruft er zu:

Ich hör‘ Euch verworrene Worte stammeln,
Von Wohltätigkeit — von Geldersammeln
Für rekonvaleszente Soldaten,
Die ihre Pflicht türs Vaterland taten!
–  – Laßt sie krank sein, die armen Jungen,
Für einmal haben den Tod sie bezwungen.
Doch müßten sie nochmals ins Elend hinaus,
Dann läßt sie der grause Geselle nicht aus.
Und Ihr habt es dann allein verschuldet,
Wenn er zum zweitenmal Todesqual erduldet.
Sammelt nicht! — Macht nicht gesund diese Kranken,
Sammelt nur eines — Eure Gedanken!

Er spricht vom „großen Narren“:

Er schätzt nur eines — das eigene „Ich“
Und sagt er „wir“— dann meint er „sich“.
Doch spricht er vom Durchhalten und Entbehren,
Dann meint er „uns“ — das kann ich beschwören.
Der große Narr — den alle wir kennen,
Muß ich erst seinen Namen nennen?
Für seinen Wahnwitz, der toller als toll.
Da zahlt das Volk einen hohen Zoll,
Und schreit noch obendrein „Hurra“.
Ein ähnlicher Narr starb auf Helena.

Eine satirische Heerschau der Parteien gibt Danton-Bodanzky in seinem auch künstlerisch wertvollsten Gedicht: Der Zirkus ist geheizt. Auch die ironisch beleuchteten Prosaskizzen Held Jakob, König Kapita„, Leib Mendel wird man in diesem befreienden Büchlein. Wenn der Glorienschein verbleicht (Wien, Verlag „Bekenntnis und Befreiung“) genußvoll lesen.

Des jugendlichen Hugo Sonnenschein Slowakische Lieder (Genossenschaftsverlag, Wien, Bauermarkt 9) sind in ihrer Melodie und in ihrer Frische ganz auf volkstümlichen Ton gestimmt. Schmerzvoll verkündet der Dichter hier das Leid der Enterbten und Geduldigen.

Auf den Schultern meines Volkes
Liegt die Knechtschaft ein Jahrtausend.
Ein Jahrtausend scheuren Fesseln
Meiner Brüder Geist und Hände.

Diese Lieder haben eine vor Leidenschaft vibrierende Musik, eine Ursprünglichkeit, die ganz vom Atem der Natur durchweht, ist.

Dein Lied, du armer Mensch der Slowakei.
Ist ein Verzweiflungsschrei.
Ein Schrei der Seele, die in Banden ächzt
Und doch nach Freiheit lechzt.
Sie nehmen dir alles: dein Blut, dein Feld
Und dein Hirn, dein Geld.
Nur dein Herz und dein Lied, das können sie nicht.
Das klingt und zeigt der Sonne Licht.
Solang dir in der Brust ein Funke Leben glüht,
Solang hast du dein Herzenslied.
Dein Lied, du armer Mensch der Slowakei —
Deinen Verzweiflungsschrei.

Zugleich mit dem Brudervolke besingt Sonnenschein mit Tönen wehmütiger Erinnerung sein eigentlichstes, jüdisches. Diese empfindungsstarken, in Naturfarben glühenden Strophen, die oft zur kurzatmigen tragischen Ballade sich runden, prägen sich tief ins Herz ein.

Marek Scherlags ergreifende Weisen in seinem Buche In der Fremde. Neue Judenlieder (Berlin, Axel Juncker) er­klingen aus den stillen, sonnenarmen Gassen des Getto. Aus einer Flut von Erinnerungen strömen diese stillen, oft weh­mütigen Lieder, die eine Welt widerspiegeln, ihre feiertäg­lichen Freuden, ihre entsagungsvolle Tragik und ihr unscheinbares Heldentum. Der Dichter pflückt hier Blumen zwischen Ruinen, ist ein Schönheitssucher im glanzlosen jüdischen Alltag. Es ist nichts Starkes in diesen einfachen Gesängen, aber viel be­seeltes, leise atmendes Leben. Am schönsten, wenn dieses Leben dem Dichter von der bloßen Reflektion weg zum plastischen Bilde sich gestaltet wie in dem Gedicht Jankel:

Ein einsames Stämmchen am Wege im Wind,
So seh ich Jankel, das schwächliche Kind.
Gebleicht sein Gesichtchen vom Rauhfrost der Not.
Vater und Mutter sind lange tot.
Die Schule, ein feindlich geschlossener Kreis,
Und er so vereinsamt, verlassen, verwaist…
Wie Pfeilstich verletzt ihn das höhnische Wort:
„Du Judenjunge, du mache dich fort“.
Er bleibt und erfleht einen einzigen Strahl
Vom Licht ihrer Freundschaft, fürs Grau seiner Qual.
Schenkt ihnen sein Herz, sie lachen bloß,
Zertreten es spielend und ahnungslos.
Da schleicht er von dannen, verweint und zerquält.—
Ob Gott wohl die Tränen der Armen auch zählt?

In: Neues Wiener Journal, 5.7. 1919, S. 5 (16).

Paul Keri: Die revolutionäre Literatur Ungarns (1926)

Nirgends in der Welt, wo eine Revolution den Krieg ablöste, spielte die Literatur eine so tiefe, be­deutsame Rolle in der Bewegung, war die Revolution so stark mit der Literatur verwebt wie in Ungarn. Das ist leicht erklärlich. In Ungarn schlug man sich mit einem halbmittelalterlichen Feudalismus, der heute wieder, zäher denn je, auf dem ungarischen Trümmerfeld festsitzt. In dem Kampfe, der Jahrzehnte vor dem Kriege anfing, mußte der linke Flügel der Bourgeoisie, meistens Intellektuelle, mit der Arbeiterschaft in einer Front gegen die Machthaber stehen, denn die Bürgerlichen waren kaum weniger rechtlos und unterdrückt als die Arbeiter. In Ungarn war und ist noch ein sehr großer Teil der bürgerlichen Revolution auszukämpfen übrig. Diesen revolutionären Kampf führten die Intellektuellen, und überall, wo die intellektuelle Bourgeoisie in Aufruhr steht, spielen Kunst und Literatur eine besondere Rolle im Kampfe.

In Ungarn wühlte eine latente Revolution schon lange vor dem Kriege. Der Dichter und geistige Führer dieser Bewegung, Andreas Ady, schrieb in einem seiner Gedichte, unmittelbar nach dem Umsturz, schon nach dem Tode Tiszas, an diese Zeiten mahnend: „In Revolution lebte er — der Ungar —, da brachten über ihn den Krieg, das Ungeheuer, selbst in ihren Gräbern tief verfluchte Schurken!“ … Diese revolutionäre Bewegung, an der die unzufriedene Bourgeoisie teilnahm, führte eine Blütezeit der ungarischen Literatur herbei, die ihrer klassischen — übrigens ja auch revolutionären — Periode in nichts nachsteht.

Diese neue ungarische Literatur ist vor allem künstlerisch revolutionär. Außer Ady, an dessen Instrument auch die Saite des Umstürzlers hell klang, ist diese Literatur gar nicht politisch. Und doch ist sie revolutionär in jedem Hauche, aufwühlend im Gebiet der Sprachkunst. Diese Literatur hat die ungarische Sprache umgeformt und sich wiederum von den wunder­baren Möglichkeiten der ungarischen Sprache befruchten lassen.

Die bezeichnende Note der russischen Literatur ist eine visionär vertiefte Psychologie. Die bezeichnende Note dieser neuen ungarischen Literatur ist eine sprachlich-musikalische. Das liegt wohl im Wesen der ungarischen Sprache. In ihrem Urzustand aus türkisch-tatarischen und finnisch-mongoloiden Elementen bestehend, stark mit Slawischem, Ottomanisch-Türkischem, selbst mit Persi­schem durchsetzt, rauschte der ganze Orient in ihr. Ihre Grammatik kennt keine Beugung, ihr Satzbau steht in scharfem Gegensatz zu den indogermanischen Sprachen. Eine barbarische Sprache, aber eine von höchster Kultur! … Die neue literarische Bewegung hat die leisesten und verborgensten Regungen des heutigen Kulturmenschen aus dieser Sprache herausgeholt, und trotzdem ist diese Sprache urwüchsig, formbar geblieben. Die ungarische Sprache wird — das liegt in ihrem Wesen — nie zu fertigen Formen gefrieren wie die großen westlichen: ein jeder Dichter und Schriftsteller, der da kommt, wird zuerst zur Arbeit an der Sprache gedrängt und findet dadurch ganz neue Töne und Nuancen der Zeitgedanken.

Das hätte dann aber zur Folge, daß diese neuere, revolutionäre Literatur kaum übersetzbar ist. Wir konnten dem Ausland nicht einmal eine ungefähre Ahnung davon geben, was unser großer Dichter Ady eigentlich bedeutet. Die Übersetzungen, die erschienen sind, erscheinen fahl.[1] Einen Widerschein des Adyschen Wesens geben noch am ehesten Ludwig Hatvanys Übertragungen in rhythmischer Prosa, in seinem sonst sehr rhapsodischen, kulturpolitischen Buche Das ver­wundete Land.[2] Was Ady aber für Ausländer bedeutet, die ihn lesen können, das zeigt die neuere serbische und rumänische Literatur, die von dem Dichter der ungarischen Revolution stark befruchtet wurden.

Andre, die noch mehr im Sprachlichen wurzeln, wie Michael Babits[3], eine Zeitlang der Rivale Adys, der gelehrte Poet dieser Bewegung, lassen sich noch schwerer in fremde Sprachen übertragen. Gewisse feine Blüten dieser stolzen Zeit, wie der unbewußte Expressionist Desider Szomory und der die Sprache der Volkslieder und Volksmärchen in lebendigen Geistesblitzen sammelnde Ernst Szep, sind wieder gerade sprachlich so kühn und originell, daß nur sie selbst sich übersetzen könnten… Am ehesten ist noch der Erzähler dieser Richtung, der wuchtige Bauernschilderer Siegmund Moricz,[4] wiederzugeben.

Was war da für eine Kämpferschar um die Zeit­schrift Nyugat („Der Westen“) gesammelt! Ihr führender Publizist und Kritiker, selbst ein Dichter und Gestalter der neuen Sprache und des neuen Gedankens, war der jetzt in Wien in Verbannung lebende „Ignotus“.

Man fürchtete die Macht der Revolution im Schrift­tum so sehr, daß zuletzt, unmittelbar vor dem Kriege, Tisza eine Zeitschrift zur Bekämpfung dieser Richtung gründete und die Leitung persönlich übernahm… Zwanzig Jahre entwickelte sich, aus verlachten Anfängen, diese neue ungarische Literatur, unaufhaltsam, reich, mannigfaltig, bis zum Kriege. Das ganze Geistesleben, Zeitungswesen, der Buchverlag, das Theater nahmen einen Aufschwung, der fast unbegreiflich war bei einer zahlenmäßig so kleinen Nation. Das ist nun alles eine wehmütige Erinnerung… „Schwebe sacht und singe lange mir, sterbender Schwan, du, schöne Rückerinnerung“, sagt Petöfi.

Wenn man sich heute über den höllentiefen Unglücksschacht Ungarn beugt: Totenstille! Die Literatur ist mit anderem „revolutionären Schutt“ beseitigt worden. Kaum daß einige noch mit den alten Flügeln zu schlagen versuchen und wagen. Aber die alten Töne klingen nun anders, falsch… Die Ma-Richtung, Versuche einer kosmischen Erfassung der Welt, in der Technik des freien Verses, Nachahmung der dadaistischen Bestrebungen, der der Proletarierdichter Bela Revesz[5] schon lange vor­gearbeitet hat, hält sich in der Verbannung unter der Führung Ludwig Kassaks[6] hat aber kaum ein Hinterland. In der Muschel tönt das Meer nach! Die Literatur der Revolution gemahnt daran, daß eine Bewegung, die einmal einen solchen Überbau gehabt hat, nicht niederzukämpfen, daß sie eine eherne Notwendig­keit ist.

In: Arbeiter-Zeitung, 20.9.1926, S. 6.


[1] [Orig. FN]: Auf neuen Gewässern, deutsch von Franyo und Gerald (E. P. Tal-Verlag, Wien). Von der Ex zum Ozean, deutsch von H. Mahner (Moritz-Perles-Verlag, Wien).

[2] [Orig. FN]: E. P. Tal-Verlag

[3] [Orig.FN]: Der Storch-Kalif, deutsch von St. I. Klein. (S Fischer. Berlin).  

[4] [Orig.FN]: Gold im Kot (Ernst Rowo[h]lt-Berlag, Berlin).

[5] [Orig.FN]: Ringende Dörfer; Deutsch von St. J. Klein.

[6] [Orig.FN]: Ludwig Kassak: Ma-Buch, deutsch von Andreas Gaspar, mit einem Vorwort vom Übersetzer (Sturm-Verlag Berlin)

Eugen Hoeflich: Literatur (1918)

            Als ich sah, daß aus diesem Kriege doch nicht das das Schreiben hindernde Schamgefühl, das dem letzten Erkennen der eigenen Relativität entfließt, geboren wurde, zog ich mich gerne und leichten Herzens von den Kreisen der „Talentierten“ vollends zurück, ging weg, und nahm mir vor, nichts zu lesen und das Theater zu meiden. Ich versuchte zu übersehen, was ich nicht mit mir in Verbindung bringen wollte. Diese neuen Monate, die ich fern aller Literatur und ihrer Mache an der Grenze der Wüste verbracht habe, gaben meinem Entschlusse Recht, denn ich erkannte, dem Leben näher als je, daß nichts berechtigt ist, zu sein, das seine Existenz auf künstliche Affekte stellt, denen nie und nimmer Taten entbluten können. – Vielleicht bin ich zu unliterarisch, daß mir im Anfang nicht das Wort, sondern die Tat war, daß ich als Kind den Mond wollte oder den Tod des Hundes, der mich anbellte und mich weigerte, Surrogate für Mond und Tod entgegen zu nehmen. So kann ich es auch nicht über mich bringen das Hantieren mit Unsicherheiten, Gefühlchen und unklarer Sehnsucht als Literatur zu werten, wo verschlagene Erotik oder aller Grandiosität bare Ruhmsucht Hintergrund ist. Ich sah, daß die der Dichtung notwendige Ekstase nichts anderes ist als Hysterie im ekstatischen Gewande, Assimilationsfähigkeit und Werten der Konjunktur. Nun erkenne ich die ungeheure Distanz, die die Literatur dieser Tage von Kunst einnimmt, von dem gewissen Gesetzen unterworfenen Ausdrucke eines formenden Willens.

            Literatur darf nicht außerhalb des Lebens stehen, sie muß ein ehrliches inneres Parteinehmen sein, subjektiv bis ins Letzte – Objektivität ist ja unmenschlich –; Literatur muß Forderung sein, Wille, Ekstase und Weg.

            Als ich unten in der Wüste den Entschluß faßte, mich gegen die Götter meines Volkes zu stellen, um dem alten Gott der Wüste, dem Gott der Tat, den Tempel wieder zu bereiten, glomm in mir die Erkenntnis des Lebens auf und ich erfaßte was mir europäische Kultur zu erfassen verwehrt hatte: die Unbedingtheit des Lebens und aller seiner Äußerungen, die Bahn und die Forderung, das Ziel und die Tiefe, den Weg der lodernden Inbrunst, aktives Fordern im Wunsche der Tat, die aus dem Herzen quillt; der Konzentration der Gefühle zum heischenden Wunsche entschwand sich mir das Erkennen der steten Bewegung nach einem Ziele, die feind ist der Trägheit des Herzens und des Gehirns, und ich glaube nun, daß das nur lebenswert ist, was Fließen ist, aktives Fließen, aktiver Wille, Forderung, die zwingt und durch Innerliches erzwungen wird.

            Wenn ich mich auch nicht als Europäer fühle, sicher meines asiatischen Blutes, dem der große Geist Asiens stets Ziel des Suchens war, trotzdem ich auf dem Wege meines Volkes mein Absolutes gefunden habe, auf dem Wege, dem die endgültige Richtung nach dem Asien der Propheten und Juda makabis, dem Asien der wirklichen Liebe und des ehrlichen Hasses, der großen und konsequenten Gefühle zu geben mir Pflicht ist, trotzdem bin ich der deutschen Literatur zu dankbar, um es nicht als unerträglich zu empfinden, daß sie, trotz vieler Mätzchen im Hafen der stillen bürgerlichen Herzensträgheit vermodert. Mein Wunsch für sie ist: Schreie, Toben, menschliche Frohheit, die den Tod mit dem Leben überwindet, Entschlüsse, Leben, Leben und weniger Proklamationen des Wortes. Solche Dichter wünsche ich Deutschland.

            Dazu aber glaub ich müssen erst Menschen kommen, die nicht Begeisterung mit Ekstase und nicht Wünschen mit Wollen verwechseln.

In: Das Flugblatt. Hg. von Oskar M. Fontana und Alfons Wallis, H. 3/März 1918, S. 12

Paul Hatvani: Hermann Broch. Die Schlafwandler. (1932)

                Mehr als jede andere Kunstform ist der Roman geeignet, den … „Stil“ der Zeit zu enthüllen; das epische Weltbild wird nachgerade zum Schema, dem wir unsere Welt-„Anschauung“ zugrunde legen… Gewiß ist zum Beispiel das Œuvre Thomas Manns ein geistiges Bildarchiv der bürgerlichen Welt im Zeitalter des Spätkapitalismus, und die psychische Revolution der letzten zwei Jahrzehnte ist in den Romanen des Marcel Proust und James Jyoce festgelegt. Unsere Epoche der Umwertung hat auch formal an den Roman gerührt; nicht mehr die kunstvoll aufgebaute „Handlung“ ist wesentlich, sondern die geistig-orientierte Durchleuchtung der Situation, die ins Denken gesteigerte Darstellung einer Wirklichkeit, aus der sittliche und künstlerische Erkenntnis quillt. Im Fieber des Expressionismus zeigten sich Ansätze zu dieser Wandlung; es sei hier an Carl Einsteins heute schon vergessenen Roman Bebuquin erinnert und an Sternheims Novellenzyklen. Der neue Stil im Roman ist aber eigentlich noch nicht da; wir ahnen seine Formen, wissen seine Ideen und erkennen bereits seine menschliche Sendung: das Weltbild dieser Gegenwart in eine deutbare Ordnung zu bringen… Das ganz außerordentliche Werk des Österreichers Hermann Broch, das in diesem Zusammenhange als bedeutsam genannt sei, heißt mit tieferem Bedacht Die Schlafwandler (Die Schlafwandler, drei Bänder, davon zwei bereits erschienen: 1888, Pasenow oder die Romantik und 1903, Esch oder die Anarchie, beide im Rhein-Verlag, München). Es wird hier mit ganz ungewohnter Sachlichkeit versucht, die Tragik des deutschen Menschen zu schildern; nicht immer nur das äußere, also das politische Geschehen wiedergeben zu können –, sondern in einer erschreckend-überwirklichen Nachzeichnung der Gedanken und Gefühle. Hier ist nichts Symbol und alles Symptom. Hier geht es nicht gegen die „herrschenden Klassen“ und gegen die Köpfe; hier handelt es sich um Hirn und Herzen. Die Vorstellungswelt des deutschen Volkes seit 1888 ist wiedergegeben, mit einer Sachlichkeit, die jedes politisches Vorurteil endgültig ausschließt. Die Erkenntnis, daß nicht das Wirken der Sichtbaren, der „Prominenten“, das Schicksal der Nation bestimmt, ist gewiß banal genug, um unerwähnt zu bleiben; wo aber wird das alltägliche Leben, so wie hier, in den Kreis der Entwicklung eingeschlossen, um mit mathematischer Präzision den Weg der Geschichte zu weisen? Hermann Brochs Roman hat nur ganz wenige Figuren und es geschehen die große Dinge – Tod, Liebe, Verbrechen, Entsagung – nur ganz nebenbei. Wesentlich ist, was diese wenigen Menschen denken und fühlen und wie weit dieses Denken und Fühlen in die Realität zu wirken imstande ist. Oder eigentlich: wie es die Wirklichkeit verändert, verschiebt, verdrängt; was aus dieser höchst problematischen Wirklichkeit wird, wenn sie eben so (und nicht etwa mit der Unbeschwertheit romantischer Völker) erblickt und erlebt wird. Letzte, schwerste Konsequenz aus der volkstümlichen Verflachung, die Schopenhauers „Welt als Vorstellung“ im 19. Jahrhundert erleiden hatte müssen: in diesen Köpfen ist die Realität bereits ganz identisch mit dem eigenen Ich. Was geschieht, ist Fatum und der Verstand kann bestenfalls ordnen, erklären, warnen. So wird das Leben dieser überaus passiven Helden, Pasenow oder Esch, der pommersche Junker und der rheinländische Kleinbürger, den Gesetzen der Träume untertan; aber dieser Traum der Schlafwandler ist das Leben selbst. (Den halben Weg ging einst Alfred Kubin, der große Zeichner, in seinem Roman Die andere Seite!) Zu diesem Werk Hermann Brochs, der uns in das Jahr 1918 führen wird, [wird] noch manches zu sagen sein. Es steht aber schon heute fest, daß man es nicht wird übersehen können, wenn von der Art des neuen Romans die Rede ist: ich halte es für den entscheidenden Wendepunkt. Ein neues Ethos kündigt sich an; und vielleicht zum ersten Mal im deutschen Roman: die endgültige Überwindung jener Psychologie, die nicht aus der Seele, sondern von Dostojewsky stammt.

In: Moderne Welt. H 6/1932, S. 40.

Fanny Harlfinger: Die „Wiener Frauenkunst“ und ihre Ziele (1926)

Die im Herbst des vorigen Jahres im Künstlerhause veranstaltete Ausstellung Deutscher Frauenkunst hat als dauernde Frucht gemeinsamen Wirkens die freie Arbeitsgemeinschaft „Wiener Frauenkunst“ entstehen lassen.

Die Wiener Frauenkunst will nicht in den starren, überlieferten Formen einer Vereinigung arbeiten. Nur ein kleiner Kreis von Künstlerinnen aller Zweige wird als ständiger Arbeitsausschuß die Gelegenheiten zu künstlerischen Veranstaltungen ermitteln, diese vorbereiten und dann für jede der sich bietenden Aufgaben die geeignetsten Kräfte um sich versammeln. Dabei sollen nicht etwa nur Ausstellungen veranstaltet werden. Schon der Rückblick auf die freilich erst recht kurze Zeit unseres Bestandes läßt erkennen, daß uns das Feld für fruchtbare künstlerische Tätigkeit viel umfassender erscheint. Die Vorführungen historischer Frauenkleider in Gegenüberstellung mit modernen Gewändern im Künstlerhaus und in der Secession beweisen dies ebenso wie unsere Teilnahme an der Weihnachtsschau der Oesterreichischen Frauenorganisationen, in deren Rahmen wir die Abteilung. „Der gedeckte Tisch“ veranstalteten.

Wir wollen modern sein, in erster Linie in dem Sinne, daß wir darunter enge Verbundenheit mit dem Leben verstehen. Die Kunst unserer Tage steht dem Leben und seinen sichtbaren Äußerungen noch immer recht fremd gegenüber; sie durchdringt es nicht, wie es die Kunst früherer Zeiten tat. Hier die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen, dazu wollen wir helfen. Und dazu fühlen wir uns gerade als Frauen besonders berufen, Denn abgesehen von den beruflich hergestellten Dingen geht ja das Allermeiste dessen, was unserem Heim und darüber hinaus unseren äußeren Lebensformen das Gepräge aufdrückt, aus Frauenhänden hervor. Aber // wie geschickt und fleißig diese Hände auch sein mögen, wie wenige Früchte ihrer Tätigkeit stehen doch auf künstlerischer Höhe! Und daneben wieder lebt eine Fülle von Ideen in den Köpfen unserer Kunstgewerblerinnen, ohne sich entsprechend ausleben zu können. Hier die fehlende Verbindung herzustellen, soll mit eine der wichtigsten Aufgaben der Wiener Frauenkunst sein und gerade hierbei erhofft sie die wertvollste Unterstützung von Seite der Zeitschrift, deren erste Nummer hie[r]mit in die Welt hinausgeht.

In: Die Moderne Frau, H. 1/1926, S. 10-11.

M. E.[rmers]: Rhythmical art (1924)

Die letzte Ausstellung der Cizek-Schule

In Wien gibt es eine berühmte Kunstschule, die in hohem Maße die Anerkennung des Auslands gefunden hat. Sie zeigt gerade ihre Re­sultate in einer Ausstellung, die in allen Städten Nordamerikas zirkuliert und dort unter dem Schlagwort „Rhythmical art“ den Beifall der Pädagogen und Künstler findet. In Österreich hat sich diese Schule noch nicht durchsetzen können, obwohl die gesamte Reform des Zeichen- und Werkunterrichts in den Wiener Volks- und Bürgerschulen auf sie zurückzuführen ist. Dem Abbau der staatlichen Schulreform soll nun auch sic zum Opfer fallen, jene Schule, die unter den geistigen Gütern, die Österreich aufzuweisen hat, zu den aktivsten gehört. Innerhalb weniger Wochen der zweite krasse Fall des Mißverständnisses an der Kunstgewerbeschule. Erst ekelte man Hanak, unseren größten Bildhauer hinaus, nachher löste man die Schule Cizek auf und machte ihn selbst zum Lehrer an der Taferlklasse der Anfänger.

Gewiß Cizeks Wirksamkeit ist nicht ganz leicht zu begreifen, und es gehört schon ein gewisser Scharfblick dazu, pädagogische Arbeit des Unermüdlichen in allen Konsequenzen zu werten. Dem oberflächlichen Besucher und vielleicht auch dem mißverstehenden Direktor der Kunstgewerbeschule mag dies alles als ein Sammelsurium aus Abstraktionismus und russischem Konstruktivismus, aus italienischem Futurismus, Bela Uitz, Itten, Peche und Katharina Schäffer erscheinen. Ver­mehrt um gewisse Formelemente des Weimarer Bauhauses, vielleicht auch der Negerplastik. Aber eine solche Auffassung wäre mehr als einseitig. In Wirklichkeit ist es Cizek daran gelegen, die Kräfte und Formtalente, die nun einmal in der Jugend ausnahmslos stecken, durch Versenkung in die Eigenart der Schüler eigenartig zu ent­falten. Und da Cizek nun einmal ein ganz moder­ner Mensch ist — dessen Schüler auch Kinos und Bars und Tanzräume mit Separees entwerfen dürfen—, so versagt er ihnen nicht geistige Anleihen bei den kongenialen Maschinisten, Kinetikern und

ähnlichen Völkern des europäischen Kunstbereiches. Alle diese Schulen haben eben noch ihren Beitrag zur Entwicklung unserer neuen Formsprache ge­leistet, und wer in der Gegenwart und nächsten Zukunft lebt, kann sich ihren Einwirkungen nicht entziehen. Und der Erfolg spricht ganz dafür, daß Cizek am rechten Weg ist. Was er aus den //Schülern herauszuholen versteht, ist einfach un­erhört, und wenn sich auch manchmal der Most ein wenig allzu ungebärdig gebärdet, zum Schluß wird doch daraus ein klarer Wein. Und noch eines: nichts von diesen Dingen, die die Jahres­ausstellung der Schule zeigt (1. Bez., Fichtegasse 4), ist für die Ausstellung gedacht und berechnet; alles für lebendige Räume des täglichen oder festlichen Lebens, wo sie mehr als Dekorationen und Stimmungsauslöser denn als selbständige Kunst­werke wirken. Dies übersehen die Widersacher — und dies ist vielleicht Cizcks größtes Verdienst.

My Ullmann, eine der Begabtesten der Schule, ist eigentlich eine geborene Innendekorateurin. Eine, die es versucht, tiefinnere Erlebnisse in Farben und Formen abstrakt zu komponieren. Das kühle Blau der Abgeklärtheit, das Grün der Jugend und das heiße Rot der Sinnlichkeit domi­nieren in ihrem Fries, der mit seinen Kurven und Geraden und aufgesetzten Kartonnagen und Objektreminiszenzen die meisten sprachlos machen wird. Natürlich wird das Ganze — als Wanddekoration eines Festraumes, übertragen in glasierten Ton oder anderes solides Material — eine ganz andere Wirkung ausstrahlen. Der jungen Künstlerin selbst wäre solche klärende Anpassung an die Realität nur allzu sehr zu wünschen.

Otto Erich Wagner geht in seiner New Yorker Bar als Zentralbau, der von Bühne und Tanzboden an bis zu den Salons particuliers alles enthält, was des Lebemenschen Herz ergötzt, dem Problem nach, durch Architektur Stimmungen zu erzeugen. Seine Kollegin Erika Klien hat den Hauptraum mit kinetischen Studien nach Tän­zerinnen geschmückt, deren vielfach wiederholte, vibrierende Umrisse die Sensationen des erlebten Tanzes nachzittern läßt. An und in den Wänden bringt sie Metopen, Glasgemälde und Friese an, kaleidoskopartig in starken Farben, gegenstandslos zusammengewürfelt, nicht ohne Rausch- und Taumelwirkung. Grotesk, aber packend und auf­regend ihre Plakatsäulen. Originell ihre futuri­stisch tanzenden Reklameaufschriften. Weniger ein­leuchtend ihre Kompositionen aus Holz, Stanniol, Draht, Reißnägeln usw., stark nachempfunden und den Stempel des Nicht-so-gemußt-Seins allzu deutlich an der Stirne tragend. Walter Harnisch zeigt Bühnenbilder für Stücke von Karl Kraus und sonstige Theaterdekorationen, denen man phantastische Wirkung nicht absprechen kann. Ahuwa Jellin, eine Palästinenserin, wirkt unter den berauschten Jünglingen und Mädchen dieser Schule beinahe wie eine Klassikerin. Ihr großer Gobelin ganz gegenständlich — orientalische Städtearchitektur —, wenn auch in der Zeichnung außerordentlich vereinfacht. Elisabeth Kar­linskys Plastiken sind nicht ganz so abstrakt wie die Werke der anderen. Immer blickt noch der Ausgangspunkt der Natur durch die kinetische

Transfiguration. Ihre „Heiligung des Menschen“ ist nicht ohne Schönheit und Weihe. Gerta Hammerschmid und Schachner versuchen sich im Gipsschnitt, Foges in Wanddekorationen, Hans Domenik in plastischen Experimenten kinetisch-halbabstrakter Art.

Nicht alles natürlich ist gleichwertig in dieser Ausstellung der Zwanzigjährigen, die ohne Aus­nahme mehr den Kräften, den Bewegungen, den Gefühlsgehalten der Dinge nachgehen, denn ihren äußeren Formen. Eine außerordentliche Lebendig­keit dieser Kunstwerke, in denen es von Strahlen, Kreisen, Durchdringungen, Wirbeln usw. nur so wirbelt, ist die Folge. Und man fühlt, mit welch unendlicher Lust hier die Schüler am Werke waren.

Diese Ausstellung der Cizek-Schule wird aller menschlichen Voraussicht nach die letzte sein. Nach vierjähriger Tätigkeit— eben als die ersten Er­folge zutage traten — hat die Kunstgewerbeschule des Bundes diese hoffnungsvolle Blüte geknickt. Es darf mit Fug und Recht angenommen werden, daß sich die Gemeinde Wien, respektive ihr Stadtschulrat die Gelegenheit nicht entgehen lassen wird, die bedeutende Kraft Franz Cizeks nunmehr in ihre Dienste zu nehmen.

In: Der Tag, 2.7.1924, S. 6.

Paul Hatvani: Wir haben keine Zeit! (1918)

            Wir haben keine Zeit. Wir sind Jugend. Jugend dauert nur zehn oder bestenfalls zwanzig Jahre. Diese kurze, schmerzlich-vergängliche Zeit ist da: Wir dürfen sie nicht unnütz vergeuden!

            … Jugend ist Geist: Nachher bleibt allenfalls ein soziologisch-orientiertes Bewußtsein als Erinnerung. Jetzt aber sind wir im Stande, die beglückende Gleichung „Jugend = Zeit“ mit dem entscheidenden Gleichnis „Geist-Tat“ zu ergänzen. Dieses Ganze ist uns Welt und Weltanschauung, Sendung und Beruf.

                Wir haben keine Zeit. Daher ist jedes Ornament überflüssig. Nicht mehr vor Metaphern beugen wir uns, sondern vor den Erscheinungen und Ereignissen dieser Welt. Zwischen dem „Ich bin“ des wachen Bewußtseins und dem Echo „Nihil“ der Welterkenntnis suchen wir unsern Sinn in menschlicher Hast. Die Schuld, müde zu werden, bedrückt uns. Der Geist darf nicht ermüden; sein erstes Gebot heißt Pflichtbewußtsein!

            Das Pflichtbewußtsein des Geistes nimmt uns alle Zeit weg. Es erzwingt die eiserne Ökonomie der Form. Unsere Form ist die Forderung, die Formulierung, das Manifest! Der Inhalt sind wir selbst. Wir, die Jugend des Geistes; wir, der Geist in dieser Zeit unendlicher Bedrängnis.

            Wir sind die Besinnung. Wir fühlen, was wir denken. Wir denken, was wir fühlen. Das Gleichgewicht zwischen Gedanken und Gefühlen hält uns schwebend aufrecht über den Leichenfeldern dieser Zeit – – –, die wir nicht haben!

            Wir haben keine Zeit. Wir versuchen nur, uns eine neue zu verschaffen. Aus den Ruinen der Gegenwart den Geist zu erretten, ist unsere Aufgabe. – Wir wollen ihn in eine neue Zeit, in eine bessere Zeit hinüberretten!

In: Das Flugblatt. Wien, März 1918, S. 11

Oskar Maurus Fontana: Programmatisches (1918)

            Gedichte? Dichtung? Ja! Gedichte! Dichtung! Diese Hefte Bekenntnis zum Dichter. Und weil, was Dichtung ist, schon ganz fremd ist, ein verlogener Begriff wurde, bei dem sich kein wohlerzogener Mensch etwas denken kann, schütteln alle klugen Leute ihre studierten Köpfe: im Krieg Gedichte?! Aber diese Weitläufigkeit, die von allen Schüsseln gekostet und gegessen hat, ist nicht Maß, ist nicht Ziel. Ihr wurde zur Gewohnheit, Dichtung als Ornament zu sehen, als den Luxus des Geistes. Die Dichtung diente als geschmückter Paravent, hinter dem die Schieber der Zeit sich verbargen und ihre dunklen Ehrengeschäfte besorgten. Und solche, die Dichter genannt wurden und werden, machten willig die „Mauer“ dem Wandschirm. Das war, ist Kultur, ist aber nicht Dichtung. Dichtung ist das Wahrhaftigste der Welt und der Dichter ist der menschlichste Mensch. Sie schleichen sich nicht an die Dinge, sie sind in den Dingen, sie sind hinter den Dingen. Sie sind die wirklich Wirklichen. Jede andere Wirklichkeit wird vor der ihren Staub. In der Flucht der Zeit sind sie die Retter des Ewigen, in dem Gemetzel der Gewalten sind sie die Stimme der Gerechtigkeit. Kein Politiker, kein Feldherr, nicht einmal der Mystiker kommt ihnen gleich. Wo der und der vor der Forderung des Tages erliegt, wo dieser im Erkennen ertrinkt, ist der Dichter Führer zur Seligkeit, ist er der unbedingt Tätige. Ja, indem der Dichter die Landschaft anschaut, wird er schon revolutionär gegen diese Kultur, deren Gefräßigkeit Kriege bracht. Der Dichter ist das Auge, der Mund, der Geist einer Erdteile umspannenden Menschheit. Der Dichter tut, wie das russische Volkslied sagt:

                        Sang so schönen Sang der Greise,
                        So gewalt’ges Lied der Alte,
                        Daß anfing das Meer zu lauschen,
                        Daß die schäum’gen Wogen lauschten
                        Und die tiefen Ströme lauschten
                        Und auch lauschten selbst die Ufer;
                        Sang so schönen Sang der Greise,
                        So gewalt’ges Lied der Alte,
                        Daß die gelben Ufer neigten
                        Sich das eine zu dem anderen.
                        […]

Dieses Tun ist nicht Ornament, ist nicht Luxus, ist tiefste Notwendigkeit. Daß es mißkannt, verworfen, verraten werden konnte, ist kein Beweis gegen die Dichtung, nur einer gegen schwache Dichter und vor allem einer gegen das Sein heutiger Gemeinschaften, weil sich dadurch ihr Parasitäres herausstellt, ihr alles Wirkliche überwuchernde Schmarotzerhaftigkeit.

Gewiß, wir werden nach dem Krieg den Politiker brauchen, aber nicht minder in einer ganz veräußerlichten Zeit den Dichter, dessen Weg von Innen zur ganzen Welt führt.

Wieder das Gefühl für Dichtung, für den Dichter zu wecken, ihre verantwortungsvollste Gewissensnotwendigkeit zu zeigen – das ist Ziel des Flugblattes (mit sehr bescheidenen Mitteln.) Man zweifle die Qualität des Gebotenen an – schön, damit kann man sich auseinandersetzen – aber man sage nicht höhnisch: In dieser Zeit Gedichte?! Oder man sage es, aber bleibe dann hübsch bei seiner eigenen Schäbigkeit und spiele nicht weiter den Freund der Künste.

In: Das Flugblatt, Wien: III/März 1918, S. 11