Max Ermers: Monarchische und republikanische Kunstpolitik (1925)
„Ja, aber was die Kunstpflege und das Kunstverständnis anlangt, da muß wohl auch jeder Republikaner zugeben, daß die Monarchie uns weit voraus war.“ So hört man nicht selten Menschen sprechen, die zwar schon im Herzen vollwertige Republikaner geworden, immer aber noch vom Glanz der höfischen Feste, vom Reichtum der kaiserlichen Sammlungen, von der Pracht der Spanischen Reitschule, von den Galavorstellungen in Oper und Burgtheater, von den reichen Dotierungen durch die kaiserliche Schatulle träumen. Sie sprechen dann vom Mäzenatentum der alten Aristokratie, von den Sammlungen des Fürsten Liechtenstein, von den Galerien Lanckoronski, Czernin, Harrach, Schönborn, von Wleceks Prachtburg Kreuzentein, von der Miniaturensammlung der Bourgoings, von der Albertina und von den mehr oder weniger reichen Sammlungen des Bürgertum, das, wie überall, auch im Aufspeichern von Bildern, Skulpturen, Miniaturen, Waffen, Keramiken mit einem hohen Adel wetteiferte. Gewiß, und das kann niemand leugnen, auch das 19. Jahrhundert und das Zeitalter Kaiser Franz Josefs I., an das die sehnsüchtig zurückblickenden Lobredner zumeist denken, hat seine Kunstgeschichte gehabt, hat seine Talente hervorgebracht. Gewiß, Monarchie und Aristokratie wußten sich ihrer manchmal zu bedienen. Quantitativ vielleicht sogar ausgiebiger, denn irgendwann. Aber die Kunst dieser Zeit, soweit sie in höfische Dienste treten kann, war von jener tiefinnerlichen Funktion, die sie Jahrtausende ausüben durfte, zu einer ganz äußerlichen dekorativen Angelegenheit herabgesunken, gerade gut genug, um der alternden Monarchie und der absterbenden Klasse der Feudalität die Blößen zu decken und den Abstand zum aufsteigenden Bürgertum noch einigermaßen zu wahren.
In Wirklichkeit aber fehlte den oberen Hundert und Tausend jene Sicherheit des Spürsinns in der Wahl der Künstler, die der Epoche äußeren Glanz verleihen durften, und das unterscheidet sie gründlich von ihren Vorläufern in den vorigen Jahrhunderten. An die Stelle von Versailles und Schönbrunn, die noch voll des echten Glanzes, treten die romantischen Kitschburgen von Neuschwanstein und Laxenburg. An Stelle der Hofmaler Raffael, Holbei, Dürer und Rubens treten die Hof- und Fürstenmaler Anton v. Werner, Winterhalter, Blaas und Angeli, Gerade bei uns in Österreich hat dieser äußere Kunstprunk die größten Verwüstungen angerichtet und es ist interessant, wie sich, auch ohne den Niedergang der Monarchie, d.h., vor ihr und innerhalb ihrer Anhängerschaft, das Urteil über jene Kunstpolitik geändert hat, die noch zu Lebzeiten ihre begeisterten Soldschreiber hatte. Von der Ringstraße, seinerzeit als Glanzstück der franziscojosefinischen Kunstpolitik angesehen, schweigt man gern still. Die Städtebauer wissen, daß sie eine verfehlte Prunk- und Auffahrtstraße war, die Architekten betrachten sie mit Recht als ein kunsthistorisches Raritätenkabinett, in dem sich die vier „Baubarone“, wie jene Zeit bezeichnenderweise Ferstel, Schmidt, Hansen und Hasenauer nennt, griechisch-gotisch-renaissancisch austoben durften. Dabei hat diese Epoche, trotz ungeheurer Geldmittel aus dem Stadterweiterungsfonds, nicht einmal die moralische Kraft gehabt, ihre Projekte auszuführen. Votivplatz, Museumsplatz, Heldenplatz sind als Plätze Torsi geblieben.
An Stelle wirklicher Museen, die die Schätze der Vergangenheit bergen und sichtbar machen konnten, hat man uns Prunkpaläste hingestellt, bei denen die monumentalen Treppenhäuser die Hauptsache waren. Für diese Treppenpracht riß man den Canovaschen Theseus aus dem Tempel, mobilisierte Makart und Munkacsy für Deckenmalereien, die ihnen nicht zur Ehre gereichen. Ob die Museumsräume brauchbar seien, diese Frage stand an dritter Stelle— mit welcher Konsequenz. das weiß man. Gerade über dieses Kapitel monarchischer Kunstpolitik sollte man einmal die jüngste Schrift des Grafen Lanckoronski vornehmen, um zu wissen, wie selbst ergebene Anhänger des monarchischen Regimes über dessen Kunstpolitik denken. Das Maria- Theresien- Denkmal zwischen den Museen setzte dieser Kunstpflege die Krone auf. Fast noch schlimmer ist dann alles, was im neuen Burgtrakt geleistet wurde, vor dessen Vollendung uns ein glückliches Schicksal bewahrt hat. Aber die Riesensummen des Stadterweiterungsfonds wurden für diesen Riesenkitsch vertan, ohne daß auch nur ein Berufener die Stimme zu erheben gewagt hätte. Den würdigen Schlußstein dieser Bautätigkeit bildete dann das Kriegsministerium. «Nicht anders erging es der Malerei. Von der gestrichenen Pension des Realisten Waldmüller bis. zur von Franz Ferdinand gestrichenen Professur Egger-Lienz („weil nach Anblick solcher Bilder niemand mehr einrücken würde“) führt ein direkter Weg. Nur die Schlachtenmaler hatten ihre gute Zeit.
Und was Franz Josef selbst, dieser ansonsten so liebenswürdige Ausstellungseröffner, von
seinen Bilderjagden heimbrachte, war niemals geeignet, die Kunst zu fordern. Unvergeßlich seine entrüstete Abwendung von Segantinis Bild: Zwei Mütter. Der unglückliche Maler hatte es gewagt, die Kuh, die gekalbt hatte, und die arme Häuslerin als Mütter nebeneinander zu stellen. Und nun gar erst die Bildhauerei.
Von den großen österreichischen Plastikern wurde keiner herangezogen. Von Metzner bis
Mestrovic— blieben sie ohne Aufträge. An allen Denkmälern darf sich nur die Mittelmäßigkeit und Untermittelmäßigkeit breit machen. Und das Kunstgewerbe? Einmal kam einer an der Jahrhundertwende, der die Gesundung versuchte. Der Hofrat Scala. Ein
Erzherzog hat ihn hinausintrigiert und unser Kunsthandwerk krankt noch heute an seiner
Hinausintrigierung.
Nein und nochmals nein. Es war keine Heldenepoche höfischer Kunstpflege, die Habsburgerzeit des 19. Jahrhunderts. Die großen Sammlungen des Adels, Erbgut aus früherer Zeit, blieben für das große Publikum ohne Zugänglichkeit und ohne Bedeutung, das
Bürgertum kopierte schlecht und recht die Sammelpolitik der Aristokraten, indem es kaufte und verkaufte, im übrigen aber den leeren Prunkwahn der Monarchie nachzuahmen suchte. Das Wiener Rathaus und der berühmte Makartsche Festzug sind die ungewollte bürgerliche Parodie der großen Vorbilder. Das große Volk ging leer aus. An keinem einzigen Punkte setzte die Monarchie die breiten Massen mit der lebendigen, taufrisch sprudelnden Kunst ihrer Zeit in lebendigen Kontakt. Diese existierte für den Monarchen nicht, er wußte nichts von ihr, und wenn ja, dann war sie für ihn „Rinnsteinkunst“.
Soweit die Kunstpflege oder — wie man eigentlich sagen müßte — der Kunstbetrieb und die Kunstausnützung in der Monarchie. Und nun zur Republik.
„Was würden Sie für dis Kunst tun, wenn Sie in Ihrem Lande Minister der schönen Künste wären?“ fragte man einmal Ferruccio Busoni. „Ich würde die Wasserkräfte ausbauen“ war die lakonische Antwort. Diese Einstellung zum Kunst- und Massenerziehungsproblem ist für eine ganze Reihe von Pädagogen und Künstlern charakteristisch. Alles, was einer künstlichen Überfütterung des großen Publikums mit billigen Symphoniekonzerten, mit Musteroperettenaufführungen, mit Museumsführungen, Verpflanzung moderner Kunstwerke in proletarische Elendswohnungen, kunstgeschichtliche Vorträge und dergleichen ähnlich sieht, erscheint ihnen verfehlt und gefährlich. Die Gesundung des Ge-//
samtzustandes eines Volkes und insbesondre seiner Wirtschaftsverhältnisse erscheint ihnen
als der einzig mögliche Weg, um an Stelle eines künstlerischen Firnisses zu einer wahrhaft künstlerischen Durchdringung der Volksmassen zu kommen. Kein Zweifel, der Weg, der gleichzeitig der Weg zur sozialen Republik ist, ist ein guter, und irgend einmal wird er schon zum Ziele führen. Aber wer hat genügend Geduld, ihn zu gehen? Wer genügend Gemütsruhe, die Häßlichkeiten, die teils als Verfallserscheinungen des alternden Europa, teils als Amerikanisierungserscheinungen unseres Kontinents täglich auf uns einströmen, zu ertragen? Schließlich: der.Kunstminister kann nicht alleSorge dem Volkswirtschaftsminister überlassen.
Gewiß: eine große republikanische Kunstepoche, die das ganze Leben der Gemeinschaft und der einzelnen bis ins tägliche Leben künstlerisch verklärt, kann nicht mit Rezepten irgend welcher Art verwirklicht werden. Dazu bedarf es jener großen künstlerischen Individualitäten, die wie in einem Brennpunkt das ganze Leid und die ganze Sehnsucht ihrer Zeit in sich konzentrieren und durch die Fülle hinreißender Werke die Gefolgschaft der Nation erzwingen. Ein Zeitalter Phidias oder Michelangelos kann nicht aus dem Boden gestampft werden.
Was aber geschaffen werden kann, das sind die äußeren Vorbedingungen. Solange die Menschen in schmutzigen Städten, in elender Luft und an trüben Flüssen leben, meinte einmal Englands großer Kunstreformator, John Ruskin, solange sind alle Bestrebungen, ihr ästhetisches Niveau zu heben, illusorisch. Er hätte noch weitergehen können in seiner
prophetischen Verkündigung. Solange die Menschen in ihren sonnenlosen, überfüllten,
schlecht gereinigten mit Urvätergerümpel angestopften Wohnungen leben werden, ist jede
Kunsterziehung unmöglich. Solange unsere Kinder in den monotonen Zwangsgefängnissen unserer Schulräume ihre disziplinierten und bewegungslosen Jahre absitzen müssen,
Arbeitslosigkeit und Daseinssorge um die Familie ihr Gleichgewicht erschüttert, solange sie sich einem ungewissen Alter der Verarmung entgegenschreiten sehen, solange sind
sie für Kunstgenüsse unzugänglich… es sei denn, das Kunstwerk spiegle ihre eigene Not,
ihre Probleme, ihre Leiden, ihre Hoffnungen wider… In diesem Falle stürzen sie dann
meistens von der Skylla in die Charybdis, erleben statt Kunst und Dichtung politische
Karikatur und gereimte Leitartikel.
Wie gering der erzieherische Wert der Kunst ganz allgemein veranschlagt wird, in
Europa und Amerika, das zeigt sich am besten daran, daß eigentlich kein einziges Land, mit
der halben Ausnahme von Rußland, systematische Kunstpolitik treibt, ja an sie kaum denkt.
Kunststellen aller Parteien und Kunstwarte der Gebietskörperschaften tauchen zwar allerorten auf, ober von keinem hat man schon ein systematisches Programm erblickt.
Man verhütet das Allerschlimmste und wurschtelt im Traditionellen fort. Alle Städte
des alten und des neuen Kontinents wachsen mit rasender Schnelligkeit. Aber hat man davon gehört, daß ihr Wachstum durch irgend welche künstlerischen Prinzipien planvoll nach bestimmten kunsterzieherischen Zielen dirigiert werde? Ohne Übertreibung darf man
sagen, daß man das kunsterzieherische Wollen einer Stadt von ihrem Generalregulierungsplan mit seinen Straßenführungen, Platzgestaltungen, lichten, schmutzlosen Gartenvororten, Grünflächen, Sonnenbädern, Strandbädern, Kindersiedlungen usw. ablesen könne. Aber welche Stadt hat sich schon zu solchem planvollen Zukunftswollen aufgerafft? Wohnreform ist der zweite Pfeiler einer vorbereitenden Kunsterziehung, die heute schon einsetzen kann. Aber welche Stadt, welches Land hat seine Wohnungspolitik auf äußere Schönheit der Architektur, auf innere Schönheit der Bequemlichkeit, der guten Brauchbarkeit, der Gesundheit, des sinnvollen, erzieherischen Mobiliars, der zwangsläufigen Sauberkeit abgestellt? Welche Stadt ergänzt ihre Wohnungspolitik durch schön gebaute, geschmackvolle Erholungsheime und Klubhäuser, die die Kraft-, Zeit- und Geldvergeudung der Wirtsstuben völlig paralysieren? In Letchworth und Welwyn, die aus dem jungfräulichen Ackerboden gestampft wurden, kann man solche Heime finden, aber sonst…? Die sinnvolle Schule ist der dritte Pfeiler der Kunstvorbereitung. Die neue Methode, die die Kinder Hand anlegen läßt an alles, was lernbar ist, die in Ton und Buntpapier und Pastell arbeiten läßt, ist gewiß ein guter Anfang. Aber so lange nicht die gesamte Jugend durch die gewaltigen Revolutionen der sinnerwecken den, aktivierenden Montessori-Schulen und freien Schulgemeinden hindurchgegangen ist, ist sie für künstlerische Erlebnisse nur höchst primitiv vorbereitet. Mit der Jugend muß begonnen werden, wenn das Alter schon nicht mehr zu retten ist, diese tiefste Erkenntnis aller Kunsterziehungspolitik müßte an der Spitze jedes Kunsterziehungsprogramms zu lesen sein.
Körperliche Entfaltung— der vierte Grundpfeiler: Hier haben die Franzosen, die Schweizer und Amerikaner schon alles vorbereitet, was geeignet ist, durch harmonische
Entfaltung zu neuer Werteinschätzung des sich fühlenden menschlichen Körpers zu kommen. Unsere Körper sind durch Schulbank, Bureau und Werkstätte verkümmert und nur
mehr aus Antikensammlung und Gipsmuseum ersehen wir ahnend entschwundene
Möglichkeiten. In der harmonischen Körperkultur bereitet sich eine neue künstlerische
Revolution der Menschheit vor, die der Malerei, der Plastik, dem Drama, dem Tanz und dem öffentlichen Fest unerhörte Entwicklungen sichert. Wir aber drillen noch an tausend Orten die Weisheiten des Turnvaters Jahn. Für Schulreform und Kinderfreunde eröffnen sich hier außerordentlich« Perspektiven der Kunsterziehung, denen wir mit unseren wenigen Arbeiterstrand- und Sonnenbädern nur sparsam vorgetastet haben. Soweit die Vorbereitung unserer Sinne, unserer Körper, unserer Seelen, deren wir heute schon fähig sind.
Und vollends muß man sich darüber ins Klare kommen, daß unsere heutigen Scheidungen im Kunstschulwesen völlig veraltet sind. Eine Künstlergeneration wächst auf der Akademie heran, die dem Kunstleben unserer Generation völlig entfremdet ist, und Rettung ist
hier nur durch einen Zusammenschluß der niedrigen und hohen Kunstschulen, des Kunstgewerbes und der reinen Künste in eine einheitliche Erziehungsanstalt möglich. Dem
Museumsbetrieb, der gewöhnlich mit Führungen, Umhängungen, Sonderausstellungen ins
Zentrum der Kunsterziehung der Republik gestellt wird, gebührt lange nicht diese Aufmerk-
ämkeit. Gewiß, was vorhanden ist, soll konserviert und zugänglich sein, auch erweitert
werden. Ein Museum für Antiken, für Plastiken, für Naturvölkerkunst, für die städtischen
Sammlungen und vor allem für die schaffende Gegenwart werden wir auf die Länge der Zeit
nicht entbehren wollen. Aber, immer müssen wir uns vor Augen halten, daß Museumsbetrieb Wissenschaft ist und das musealisierte Kunstobjekt sich niemals an Wirksamkeit mit den Werken vergleichen kann, die an lebendigen Orten zeitgemäßen Seins und Erlebens ausgenommen werden. Hier klaffen Welten.
Wie Dichtung und Theater, Musik und Kino helfen können, das Leben der Massen künstlerisch zu durchdringen, mögen Berufenere sagen. Das meiste, was auf diesem Gebiete
unternommen wurde, erscheint als tastender Versuch, der fehlschlug. Republikanische Kunstpolitik großen Stils, die diese gewaltigen Kräfte nicht als bloßen dekorativen Aufputz
eines Volkes gelten lassen will, sondern als Mittel der Erhöhung des individuellen und
gemeinschaftlichen Lebens, ja als Mittel, die fehlende innere Gemeinschaft von Mensch zu
Mensch, von Volk zu Volk erst zu schaffen, republikanische Kunstpolitik, wird diesen großen
soziologischen Funktionen ihren rechten Platz anweisen. Alles, was heute auf diesem Gebiete versucht wird, ist gutgemeinter Dilettantismus und Mißverständnis.
Unsere Sehnsucht aber geht dahin, daß es gerade unserer Stadt mit ihrer alten Kultur und ihrem politischen Fortschritt vergönnt sein möge, auch für das neue Verständnis, das
einer republikanischen Kunstpolitik gegenüber überall in Europa wird einsetzen müssen, die
Vorbedingungen zu schaffen.
In: Der Tag, 25.12.1925, S. 28-29.
Dr. Max Ermers: Jungrussische Kunstausstellung
Dr. Max Ermers: Jungrussische Kunstausstellung. (1924)
Seit einigen Tagen gibt es bei uns eine russische Kunstwoche. Ein Ereignis, das uns zwingen sollte, aufzuhorchen. Und während um die de jure-Anerkennung der Sowjetregierung bei uns noch lebhaft gefeilscht wurde, hielt die neue Kunst Rußlands bereits ihren Einzug: ein jungrussischer Autorenabend, ein russischer Musikabend, eine russische Kunstausstellung. Ein Vortrag Fannina Halles, einer der Wortführerinnen der nachrevolutionären Moskauer Kunst. Heute werden wir sogar Wassilji Kandinsky, derzeit Professor am Weimarer Bauhaus, sehen und sprechen hören (im Österreichischen Museum). Soweit es sich also um die Niederreißung geistiger Blockademauern handelt und um die Möglichkeit, den Horizont nach Osten zu erweitern, haben wir alle Ursache, der Initiatorin, der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst in Österreich, zu danken.
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Wir betreten die Säle der Ausstellung (1. Bez., Grünangergasse 1). Hochgespannt und voll Erwartung. Manifeste rauschen uns entgegen. Gemalte, gegossene, gezeichnete, gedruckte Manifeste. Jedes erzählt uns vom Tod der alten Kunst, der Barschui-Kunst. Die Sowjetkunst beginnt. In Kandinsky hat sie eigentlich vor dem Kriege schon begonnen. Die Welt der Gegenstände war eine bürgerliche Angelegenheit. Menschen, Bäume, Tiere, Berge und atmosphäre Objekte der absterbenden Bourgeoiskunst. Nur Farbflecke, einfach geformte oder sonderbar gestaltete, oder Linien, steife und geschwungene, haben Daseinswert im Bilde. Alles natürlich in Proportion, Relation und sogenannte Harmonie gebracht. Voll von Rapports, die man bei Cézanne bezog. Ideenassoziationen, die an Farben und Formen anknüpfen, halfen mit, eine neue Gefühlsatmosphäre im Beschauer zu schaffen, zu ermöglichen, zumindest vorzubereitcn. Kandinsky schrieb damals sein berühmtes Buch vom Geistigen in der Kunst.
Neben mir steht vor einer Komposition Nr. X Kandinskys ein junger Maler und meint: „Ja, so fühle ich es selbst manchmal, wenn ich am Diwan liege und in die Physiologie meines Leibes hineinschaue. Man braucht dann nur die Hand auf der Leinwand laufen zu lassen und die Bilder entstehen von selbst. Physiologische Explosionen.“ — „Ich kann es nicht so sehen.“ Meint ein anderer, „ich sehe ganz deutlich Reminiszenzen von Feldern aus dem Gemälde, den gelben Mond und Bruchstücke grüner Bäume. Es ist eine Landschaft“ — „Sie können es auch so betrachten,“ meint eine hochgewachsene Dame, die eben aus Rußland zurückgekehrt ist, „ich aber sehe in dem Bild — jenseits von allen Bruchstücken und Resten der Gegenständlichkeit— die Stimmung eines Winternachmittags bei Twer, knapp nach Sonnenuntergang. Man ahnt beinahe schon den jungen Frühling. Aber darauf kommt es eigentlich nicht an; das Schöne in diesen Bildern ist, daß jeder dabei denken oder fühlen kann, was er will.“ Worauf ich prompt an die alten, verwitterten, zerklüfteten Mauern Lionardos denke, deren Betrachtung er um der Anregungen der Phantasie willen seinen Schülern so angelegentlichst empfohlen hatte. Unmöglich natürlich, hier sämtliche Meinungen und Auffassungen der Adepten zu notieren, die bei den häufigen Kontroversen vor Kandinskys Bildern auftauchen. Schwärmt der eine von einer neuen Musik auf der Leinwand, so vergleicht der nächste sie mit der maurischen Ornamentik, die ja auch geometrisch — gegenstandslos ist… Die meisten Besucher aber sind so ehrlich einzugestehen, daß sie zu diesem abstrakten Chaos keinen Zugang finden.
In alledem, was dir Augen der Gläubigen in diesen zum Teil wirklich fesselnden, aber nicht mit überzeugender Kraft aufgebauten Bildern Kandinskys herauslesen, steckt natürlich ein gewisses Wahrheitsgehalt. Zu überschwenglichem Bekenntnis ist aber keinerlei Ursache vorhanden. Um höchst individuelle Angelegenheiten handelt es sich hier, halb aus dumpfen Trieben, halb aus stammelnder Wissenschaft geboren. Verwandt organisierten Geistern mag wohl das eine oder andere der vieldeutigen Werke zur Quelle eines leichten Rausches werden. Für uns sind dies Experimente, nur verständlich aus der Kampfessituation der jungen Kunst aller Länder, aus dem Ringen um eine neue, stärkere, ausdrucksvolle Sprache. Experimente, die noch nicht sehr weit geführt haben.
El Lissitzky. Wie anders mutet uns dies Zeichen an. Ein Ingenieur, kein Maler. Er zeigt zehn Szenenbilder für eine futuristische Oper von Krutschonjch, die 1913 in Petersburg aufgeführt wurde. Damals mit Musik von Matjuschin, mit Dekorationen von Malewitsch. Lissitzky wälzt den Inhalt der Oper, die Sieg über die Sonne heißt, um; macht daraus ein physikalisch-mechanisches Schautheater. Unter Ausschaltung der Menschen, an deren Stelle Figurinen und plastische Schaukörper aus blankem Kupfer, stumpffarbigem Eisen, Glas usw. treten. Ein riesiges Gerüst von Schienen, Rippen, Traversen. Ständern, allseitig sichtbar, bildet die BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei...; eine Art Scenic Railway. Verschiebbar, dehnbar, drehbar, erhöhbar. Aus dem Gerüste laufen, rollen, kriechen, gleiten, fliegen die Schaukörper, gefolgt von Lichtstrahlenkegeln, Kometen gleich. Im Mittelpunkt des Gerüstes, an der Schalterzentrale, sitzt der Schaugestalter. Dirigiert mit Tastern die mechanischen und geistigen Kräfte der Erde, d. h. ihre Realisationen in den Schaukörpern. Er drückt auf die Taster und alle Beleuchtungseffekte der Welt stehen ihm zur Verfügung. Er drückt und es brüllt der Niagarafall, es tosen die Lawinen, es dröhnen die Hammerwerke, es gellen die Bahnhofsgeräusche von ganz Europa. Zu seiner Rechten steht das Radiomegaphon, zu seiner Linken sind die Apparate, die seine Stimme in die der Figurinen wandeln. Elektrische Riesensätze zittern in die Luft und verschwinden. „Eine andere Gegebenheit soll zustande gebracht werden“, schreibt der Künstler. „Die großartigen Schauspiele der Städte, die niemand beachtet, weil jedermann selbst am Spiele ist, müssen zur Schau gebracht werden, die elementaren Vorgänge der Welt zur höchsten Steigerung. Alle Energien müssen zur Einheit organisiert, kristallisiert werden. Die Sonne als Ausdruck der alten Weltenergie wird vom Himmel herabgerissen durch den modernen Menschen, der kraft seines technischen Herrentums sich eine eigene Energiequelle schafft.“
Liest man dieses Manifest, das in seiner Sonnenemanzipation des pathologischen Einschlages nicht entbehrt, so fühlt man die Sehnsucht einer neuen Ideologie: Rußland, ein neues Zentrum der Welt. Die thaumaturgische Maschine Grundlage einer neuen Religion. Sowjetgott-Vater, der Göttlichkeit beraubt, aber mit höchster Zentralgewalt bekleidet, sitzt als Schaugestalter am Zentraltaster der Welt. Enthüllt die unerhörten Erdkräfte, die Rußland für die Menschheit freigemacht hat (freimachen möchte). Rührender und gigantischer Fiebertraum des armen Rußlands, dem Kapitalmangel bei Entfaltung seiner großen Naturkräfte so völlig die Hände bindet. Lissitzky ahnt die neue Welt der Elektrozentralen, des Broadcasting, der Allernherrschaft der Kinos und der mechanischen Schautheater… Seine Visionen sind groß und man hätte Lust, dem ungeheuren Spektakel des „Sieges über die Sonne“ beizuwohnen. Aber seine Kunstwerke sind ärmlich und schwach, wie die Kräfte des erdenschweren Muschiks, der mit dem primitiven Pflug den Boden aufreißt. Seine Szenenbilder sind Stillleben aus Maschinenteilen und geometrischen Figuren, mit fragwürdigen Fragmenten aus dem Tagesleben gespickt: Sowjetsternen. Särgen, Schachteln, Ruderleibchen. Nur hie und da blinkt ein Funke von Genialität, nein bloß von Witz und Geist durch die intellektuelle Konstruktion Ganz abstrakt, quälerisch und voll Privatallüren erscheinen seine übrigen Arbeiten. Kreise, Quadrate, Rhomben und Rechtecke suchen sich in Relation zu setzen. Proportionsstudien. Farbstudien. Experimente.
Chagall, der Elegiker des russischen Dorfes; // durch die jüdische Brille gesehen. Ganz gegenständlich, zertrümmert er wieder seine Welt der Objekte, spielt Fangball mit den Bruchstücken. Wenn Chagall einen alten Handeljuden über die Dorfkirche fliegen läßt — mit viel Erdenschwere allerdings — so fühlen wir: so heimatlos flogen die Juden vor dem Kriege in Rußland herum. Viel Urgesundes, Russisches, Derbbäuerliches steckt in seiner Farbengebung. Aber vieles mutet uns nur als Spaß an; indessen es dem Maler sicherlich sehr zu Herzen geht. Zu seinem schwermütigen, russischen Maler-, Bauern- und Judenherzen. Auf der Ausstellung kommt Chagall leider nicht voll zur Geltung. Sein graphischer Zyklus Mein Leben gibt uns schwache Ahnungen seiner Kunst.
Von Archipenko ein paar Aktskizzen und Kleinplastiken. Die Zeichnungen könnten ganz gut von irgend einem Klassiker der Genelli-Zeit stammen. Seine eigentlichen Bewegungsstudien, geistreiche kinetische Abstraktionen, fehlen. Ein weibliches Torso-Figürchen, in der Tiefenachse zusammengedrückt und abgeflacht, zeigt ein paar interessante Linien, aber nichts vom eigentlichen Wollen des Künstlers. Das Übrige repräsentiert nur gutes Mittelmaß.
Resümieren wir: Viel Experimente, die für die Entwicklung der Kunst ihre kleinen Beiträge leisten werden. Besonders in der Richtung der Musikalität und der Architektur der Bildwerke. Aber keine irgendwie überwältigend großen Resultate. Maschinenromantik und Apotheose der Technik, Überwindung aller rückwärts gewandten Romantik. Opposition gegen die Welt der Gegenstände. Viel Wollen, hinter dem das Können weit zurückbleibt. Viel Sektierergeist. Elemente einer absterbenden, individualistischen und Elemente einer neuen, sozial eingestellten Kunstatmosphäre durchdringen sich. Europäisches und Russisches. Nicht unwichtig, zu erwähnen, daß alle diese Künstler eher in Paris, Berlin und Weimar anzutreffen sind, wie in Moskau.
In: Der Tag, 4.3.1924, S. 4-5.
N.N.: Der Heimwehrtag in Baden
N.N.: Der Heimwehrtag in Baden (1927)
Eine machtvolle Kundgebung. – Fortschritte des Selbstschutzes in Niederösterreich. – Nunmehr einheitliche Führung der Heimwehren.
Baden hatte gestern einen großen Tag. Die niederösterreichischen Heimwehren (Selbstschutzverband) hatten unter der Leitung des Majors Karz in dieser Stadt ihre erste große Kudgebung veranstaltet, an der Abordnungen der wehrhaften Organisationen aus allen Teilen des Landes teilnahmen. Die Veranstaltung stand unter dem Zeichen des gewaltigen Aufschwunges der niederösterreichischen Heimwehren. In der bodenständigen Bevölkerung, vor allem in der niederösterreichischen Bauernschaft, hat der Gedanke der Heimwehr feste Wurzel geschlagen. Das Bekennen der Bevölkerung zu den Heimwehren hat auch die Hindernisse beseitigt, die der Organisation des Selbstschutzverbandes entgegenstanden. Seit dem 15. Juli ruft die niederösterreichische Landbevölkerung nach den Heimwehren. Von welchem Schwung die Heimwehrbewegung getragen wird, zeigte die machtvolle Kundgebung in Baden.
Der Heimwehrtagung kommt besondere Bedeutung zu. Bisher litt die Bewegung darunter, daß ein Zuviel an Organisationen bestand, die zwar das gleiche Ziel anstrebten, aber nebeneinander arbeiteten und derart die Aktion schwächten. Dieser Übelstand hat aufgehört. Sämtliche Organisationen haben sich für den Fall, daß die Heimwehren aufgerufen werden, der Führung des Bundesrates Dr. Steidle unterstellt. Der bisherige alpenländische Selbstschutzverband hat sich zu dem österreichischen Selbstschutzverband erweitert, dem nun auch der Wiener, der niederösterreichische und der burgenländische Selbstschutzverband angehören. Die einzelnen Organisationen des Landes haben sich, sobald sie mit den Heimwehren gemeinsam operieren, dem Selbstschutzverband des betreffenden Landes untergeordnet. Diese Einigung wurde nun von Bundesrat Dr. Steidle in Baden verkündet.
Die BotschaftUntertitel: Neue Gedichte aus Österreich. Gesammelt und eingeleitet von E. A. Rheinhardt. Verlag Ed. Strache, Wien-Prag... wurde von allen, denen die Heimwehrbewegung am Herzen liegt, mit Jubel aufgenommen. Nun ist auch Gewißheit gegeben, daß die Heimwehren für alle Fälle gerüstet seien und eine Richtung einschlagen werden, die von der christlich-deutschen Bevölkerung gutgeheißen wird. Nun steht vor allem der Teilnahme der katholischen Männer und Jugend an der Heimwehrbewegung nichts mehr. im Wege. Im Gegenteil ist es Pflicht der Katholiken, der Aufforderung ihrer Organisationen Folge zu leisten.
Bei der Kundgebung waren von den Heimwehren erschienen Abordnungen aus den einzelnen Vierteln des Landes, aus Steiermark und Tirol. In stattlicher Zahl waren vertreten die christlich-deutschen Turner aus dem Viertel unter dem Wiener Wald (Führung Prof. Doktor Dinkhauser), der deutsche Turnerbund von Steinfeld, die Heimwehren von Baden, Mödling, Hinterbrühl, Liesing, Perchtoldsdorf, Schwechat, Wiener-Neustadt, Gloggnitz, Vöslau, Wolkersdorf, Mistelbach, Laa u. v. a., der Verband Deutsche WehrDeutschvölkischer, antisemitisch ausgerichteter Geheimbund, der z.T. von geflüchteten Angehörigen deutscher Freikorps..., der Verband Oberland, zahlreiche Burschenvereine, Schützen- und Kameradschaftsvereine und außerdem eine starke Gruppe von Frontkämpfern.
Unter den Festgästen sah man u. a.: die früheren Minister Kollmann, Dr. Rintelen, Dr. Mataja, die Abgeordneten Klieber, Kraus, Dr. Mittermann, Bierbaumer, Pichula, Dr. Reich, Zippe, die Organisationsvertreter Feldmarschalleutnant Weiß, General Lustig-Prean, Major Papst, General Kasamas, Ingenieur Wenzl, Obmannstellvertreter Scheffel, Hofrat Kupka, Präsident Kattinger.
Neben 2500 Mitgliedern der wehrhaften Organisationen stand Kopf an Kopf eine nach Tausenden zählende Menschenmenge auf dem großen Platz vor dem Kurhaus, wo Prälat Frim unter Assistenz eine Feldmesse las, bei der dle vereinigten Badner Männergesangvereine die Deutsche Messe von Schubert sangen. Nach erfolgter Einweihung von drei Standarten der Bezirksheimwehrverbände Wolkersdorf, Laa a. d. Thaya und Mistelbach begrüßte Minister a. D. Bürgermeister Kollmann in einer zündenden Ansprache die Tagung namens der Stadtgemeinde Baden. Er sagte:
Ein freies Volk kann nur bestehen, wenn es von fremdem Einfluß frei ist. Freie Männer vertragen nicht die Gewalt Fremder über sich. Uns in Österreich droht eine solche fremde Gewalt, die nicht Sinn hat für unser Volk und eine Knechtschaft aufrichten will über unser Volk, das Jahrtausende frei war. Ein Ruf hat Sie hiehergebracht, um Zeuge zu sein, daß nicht allein die anderen, sondern auch wir marschieren. (Lebhafter Beifall.) Ich begrüße Sie im Namen der rotumbrandeten Stadt Baden, die sie gerne haben möchten, die sie aber nie bekommen werden. (Neuerlicher Beifall.) Ich begrüße Sie und heiße Sie alle aus vollem Herzen willkommen.
Wiederholt von großem Beifall unterbrochen, führte Abg. Klieber aus:
Nicht reine Abwehr allein bilden das Ziel unserer Bewegung. Vor allem gilt es, unsere Jugend in positivem, vaterländischem Geiste zu erziehen und die Wehrhaftigkeit des deutschen Bürgers zu heben. Das ist kein müßiges Soldatenspiel. Unsere Bewegung richtet sich nicht gegen den Arbeiter, dem wir als Bruder die Hand reichen und dem wir aus den Fesseln einer wesenfremden Gedankenwelt, aus der Zwangsjacke einer angeblich freien Organisation befreien wollen. Welch unermeßlichen Schaden die hemmungslose Betätigung gewisser Elemente anrichten kann, in welchen Abgrund unsere Heimat stürzt, wenn nicht eine rettende Hand eingreift, das hat uns allen der 15. Juli klar und deutlich gezeigt. Wem die brennende Fackel des Justizpalastes noch immer kein Licht angezündet hat, dem ist nicht zu helfen. Nie wieder Umsturz! Nie wieder Zustände, wo ein Telegramm eines Unverantwortlichen genügt, das ganze Wirtschaftsleben Österreichs stillzulegen; nie wieder dulden wir, daß all jene, die nicht rot gestempelt sind, in ihrer Arbeit und in ihrer Bewegungsfreiheit gestört werden. Die Zeit, da man unser armes Österreich als zweites Bolschewikenland bezeichnen konnte, muß vorüber sein.
Auf legalem Wege, in voller Öffentlichkeit, im Rahmen unserer Gesetze spielt sich unser Handeln ab.
Heute ist es das erstemal, daß wir uns zu einer größeren Feier vereinigen, das erstemal, daß wir Gäste aus den Heimwehren der übrigen Bundesländer, die mit uns Schulter an Schulter standen, begrüßen können. Ich begrüße insbesondere den Bundesführer Dr. Steidle und Minister Doktor Rintelen. Unser Gruß gilt aber auch unseren gefallenen Kameraden, die im Krieg, unsere Heimat gegen eine Welt von Feinden verteidigt und in Ausübung dieser höchsten Vaterländischen Pflicht ihr Leben gelassen haben. Ihnen gilt unser Dank, den wir nicht besser erweisen können, als daß wir unseren toten Helden nachstreben in Treue, Tapferkeit und Vaterlandsliebe.
Abg. Dr. Mittermann erklärte, die Zeit des Schweigens ist vorbei, die Zeit der Tat hat begonnen. Er pries den großen Wahlerfolg im Bundesheer, das nun wieder anknüpfen will an die große Vergangenheit der alten Armee. Abg. Zippe begrüßte die Tagung im Namen des deutschen Turnerbundes.
Bundesführer Dr. Steidle, mit lautem Beifall begrüßt, führte aus:
Revolutionäre Bewegungen, die sozialen Umschichtungen entspringen, haben immer einen Druck oder soziale Versäumnisse der gerade herrschenden Kreise zur Voraussetzung gehabt. Auch in Österreich hat die fortschreitende Industrialisierung Bevölkerungsschichten geschaffen, die sich ihr gutes Recht auf angemessene Lebensbedingungen häufig genug erst im politischen und gewerkschaftlichen Kampfe holen mußten, weil große Teile des sogenannten Bürgertums nicht die Einsicht aufbrachten, den Notwendigkeiten einer neuen Zeitepoche aus freien Stücken Rechnung zu tragen. Mit den unerfreulichen Erscheinungen der heutigen Zeit büßen wir zum größten Teile die Sünden unserer Väter. Derartige sozialrevolutionäre Bewegungen haben aber das Gemeinsame, daß sie im Falle des Erfolges gewöhnlich über das Ziel schießen. Aus den Freiheitskämpfern werden selbst Tyrannen, die dann wieder denselben Fehler begehen, den sie ihren Gegnern vorgeworfen haben und die sie wegen der Tyrannei und Unterdrückung bekämpften. Sie rufen damit selbst wieder naturnotwendig eine Gegenbewegung hervor, die, wenn sie richtig geleitet ist, ein gesellschaftliches Gleichgewicht schafft, oder, wenn sie von unsozialen Leidenschaften beherrscht ist, ebenso ihre Bahn überschreiten und einen neuen Kreislauf von Verwicklungen hervorrufen wird.
Auch bei uns haben die führenden Kreise der Marxisten aus den geschichtlichen Erfahrungen nichts gelernt und Uebergriff auf Uebergriff gehäuft. Sie machten das, was sie an dem bekämpften „Bourgois“ bitter verdammten, in vergrößertem Stile nach, sie schickten sich an, die Herrschaft im Staate mit Hilfe der von ihnen geführten Masten zu ergreifen und die Diktatur einer Klasse mit allen Mitteln, auch denen der Gewalt, die sie in anderen Händen mit glühenden Worten verurteilten, allen anderen Gesellschaftskreisen aufzuzwingen. Aus den Freiheitskämpfern entwickelten sich ausgewachsene Tyrannen kleineren oder größeren Formats, je nach Charakter, Herkunft und Fähigkeit. Der Appetit wuchs täglich mit dem Essen. Und es hatte den Anschein, als ob gerade die österreichische Bevölkerung das geeignete Versuchskaninchen für solche Diktaturgelüste abgeben würde. Aber der immer mehr steigende Ueber-[ ] mit der unersättlichen roten Führerschaft erweckte den Unabhängigkeitssinn, das natürliche Freiheitsgefühl und die gesunden demokratischen Instinkte weiter Bevölkerungsschichten. Und als die unentwegte sozialistische Verhetzung am 15. Juli die lodernde Brandfackel in die Bundeshauptstadt schleuderte, ging ein vollständiges Erwachen durch die gesund gebliebenen Teile Österreichs. Die Abwehr der marxistischen Übergriffe durch Männer, die in der persönlichen und geistigen Freiheit das höchste aller irdischen Güter sehen, ist im Wachsen begriffen.
Angesichts der Hemmungen der verfassungsmäßigen Körperschaften mußten private Organisationen das Befreiungswerk in die Hand nehmen. Das waren und sind unsere Selbstschutzverbände, unsere Heimatwehren, die täglich wachsen und sich über alle Gaue des Vaterlandes ausbreiten.
Der auf Gewalt und Terror aufgebauten Herrschgier der roten Diktatoren muß ein Ende gemacht werden. Die Mittel der Abwehr richten sich ganz nach den Methoden des Gegners. An die Stelle der Klassenherrschaft einer einzelnen Bevölkerungsgruppe muß das soziale, das gesellschaftliche Gleichgewicht gesetzt werden, die Volksgemeinschaft. Der Weg dazu geht einerseits über die Abwehr und Beseitigung der roten Gewaltmethoden, anderseits über die Annäherung und Zusammenführung der sich haßerfüllt gegenüberstehenden Volksgenossen, über die Befreiung und Loslösung der verführten Arbeitermassen von ihren Vögten und über die Besinnung auf soziale Gerechtigkeit zum sozialen Interessenausgleich. Wir müssen um unsere Freiheit, wenn es sein muß, mit der Faust, mit Nägeln, und Zähnen kämpfen. Von Frieden und Versöhnung wollen wir reden, wenn der Gegner den ehrlichen Willen, von der Gewaltherrschaft abzulassen, nicht nur mit
gleißnerischen Worten, sondern durch die Tat bezeugt.
In: Reichspost, 17.10.1927, S. 5.
Arthur Drews: Ein Jahrbuch des Expressionismus
N.N. [Arthur Drews][1]: Ein Jahrbuch des Expressionismus (1919)
Das vorliegende Werk ist eine Art urkundlicher Beleg für die Stimmung gewisser Kreise in unserem Schrifttum nach der plötzlichen Beendigung des Weltkrieges, für die
Hoffnungen und Erwartungen, wie das heutige Geschlecht sie an die staatliche Umwälzung geknüpft, für die berauschende Wirkung, die die Schlagworte von 1789 »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« trotz allem noch immer auf jugendliche Gemüter auszuüben vermögen, und die gedankliche Unklarheit und Verworrenheit in politischen, sozialen und künstlerischen Fragen, die in unserer durch den Krieg und die Revolution aus Rand und Band geratenen Gegenwart wie in einem Hexenkessel durcheinander brodeln. Darüber hinaus ist es eine völlige Missgeburt. Schon das Vorwort aus der Feder des Herausgebers läßt in dieser Beziehung das Schlimmste erwarten. Es handelt von dem „Neuen“, das jetzt in die Menschheit kommen soll „als Beweis und Zeichen vom Sein einer unsichtbaren Sphäre, in der die WahrheitBereits 1895 vom Kantor der sephardischen Gemeinde in Wien, Jakob Bauer, vor dem Hintergrund des anwachsenden Antisemiti... auf ihre ewige Wiedergeburt wartet“. Sein Preis ist die Revolutionierung des Menschen selbst: das Bewegende soll selbst zur Eigenschaft des Menschen werden; über das Zeitliche hinaus soll das Revolutionäre sich in ihm verewigen! Revolution um der Revolution willen! In der neuen Kunst kündigt sich diese „neue Lebendigkeit“ an, einer Kunst „des menschenbrüderlichen Wesens der Welt“, deren Sinn ist, „die Erhebung des Menschen zum Weltbringer“. Man kann nicht mit mehr Worten sich in mehr Schwulst und Phrasen ergehen und fragt sich nur, ob der Verfasser sich wohl selbst bei seinem hochtönenden Redeschwall etwas Vernünftiges gedacht hat. Die nachfolgenden Gedichte eines Schürer, Heynicke, Ehrenstein, Loerke, Diaz und wie sie alle heißen, fahren nur in demselben überschwenglichen, gedankenarmen, aber phrasenhaft aufgeputzten Stile fort und erwecken nur zu oft den Anschein, als ob ihre Verfasser sich einen Spaß mit dem Leser machten, so völlig sinnlos, — verrückt, geschraubt und gekünstelt sind die meisten von ihnen. Man hat den Eindruck aus den Fugen geratener Gehirne und eines völlig entarteten Empfindens. Wenn dies Expressionismus sein soll, so ist es jedenfalls vorzüglich geeignet, diese neue Kunstart aufs schlimmste bloßzustellen und sie dem allgemeinen Gelächter aller Nichtsnobs preiszugeben.
Selbst so unanfechtbare Künstler wie Rilke und Werfel wissen nichts als ein ungereimtes Gestammel vorzubringen! Worte, Worte, in denen man sich vergeblich bemüht. Einen Sinn zu finden. Auch der unselige Toller hat zwei „Gedichte“ beigesteuert, in deren einem er die verzweifelte Stimmung zusammengepferchter Soldaten in den Transportzügen, in deren anderem er eine grausliche Unterhaltung von Skeletten zwischen den Drahtverhauen schildert. Man begreift ja wohl, daß die nervenzerrüttenden, schrecklichen Erlebnisse des Krieges die Phantasie de Menschen in solcher Weise beeinflussen konnten, wie es hier der Fall ist, aber von Kunst ist in diesen Ausbrüchen seelischer Verzweiflung doch keine Spur zu finden, und von „Erhebung“ kann solchen Erzeugnissen kranker Gehirne gegenüber doch wohl kaum gesprochen werden, in denen der Geist der Zersetzung und Verneinung herrscht und die allem normalen Empfinden geradezu absichtlich ins Gesicht schlagen Das „dramatische Gedicht“ Ikaros von Johannes Becher ist weder dramatisch noch ein Gedicht, während Paul Zechs Empor durch v. Unruhs Neuem Geschlecht angeregt zu sein scheint und einen ebenso niederschmetternden Eindruck macht wie dieses.
Paul Kornfelds fünfaktige Tragödie Himmel und Hölle habe ich, offen gestanden, nicht zu Ende lesen können: es ist ein Gemisch von tollen Einfällen, kindischer Unbeholfenheit und Langerweile. Was aber die novellistischen Skizzen und kurzen Erzählungen anbetrifft, die den dritten Teil des Bandes ausfüllen so sind sie leider nicht geeignet, das Urteil über das Vorangegangene in günstigerem Sinne zu beeinflussen. Für den „Tiefsinn“ von Meissners Mondsichelgesang oder Däublers Blauer Blume fehlt mir das Organ, und Steffens Traumehe, Jesa D’Oucks Fest, Brauns Feuersbrunst usw. sind ausgesuchte Probestücke einer sich selbst in der Sucht nach Neuem und Unerhörtem, noch nie Dagewesenem zermarternden Phantasie, die nur lächerliche Albernheiten zu Tage fördert. Einzig Martin Bubers Geschichten vom Berdeczewer und vom Apter sind lesbare nachdenkliche Sächelchen, während Kölwels Herz und Der Arzt von Ernst Weiß wenigstens nicht gänzlich sinnlos sind, wenn sie auch keineswegs auf irgendwelche literarische Bedeutung Anspruch erheben können, und v. Unruhs Stücke Einzelvorfälle aus dem Kriege uns lebendig vor die Seele rücken.
So bleibt nur noch der vierte und letzte Teil des Sammelwerkes zu erwähnen übrig. Er enthält „Ausrufe und Wertungen“. Was darunter, nämlich unter den Wertungen, eigentlich zu verstehen ist, ist mir nicht klar geworden. Diejenigen Beiträge, die man in diesem Sinne auffassen könnte, scheinen nur viel eher die Verneinung alter Worte überhaupt zu enthalten. Vaterland, Ordnung, Sittlichkeit, Religion, alles, was bisher für wertvoll angesehen wurde, wird hier von einigen Gernegroßen, die sich als „Umwerter aller Werte“ fühlen, in den Staub getreten, verhöhnt und zum alten Eisen geworfen. Otto Flake beginnt seinen Aufsatz Souveränität mit den großen Worten: „Kunst kann ich mir nur noch denken, indem ich sie in Frage stelle“, was übrigens die meisten der hier vereinigten Verfasser ihren Beiträgen nach zu urteilen, ganz ebenso gut von sich sagen könnten, und dann legt er los mit einem Ausfall gegen den Naturalismus in der Kunst, überhaupt gegen jede Abschilderung der gegebenen Wirtlichkeit, jedes „Thema“, jede Objektivität in der künstlerischen Darstellungsweise um an deren Stelle die absolute Souveränität des schaffenden Künstlers zu proklamieren. Das wäre dann also wohl die Thronerhebung des Expressionismus ? O nein. Der Expressionismus ist nach Flake nur eine „Annäherung“ an den von ihm gewünschten Zustand der „Ueberführung der Erregungen in Willen“, nur eine Annäherung, aber nicht mehr, „als erste Heroisierung des Illusionistisch-Bürgerlichen“. Flake aber verkündigt die „Umsetzung der Kunst in Wertung“. Er hält es für nötig, zunächst einmal alles überhaupt zu leugnen, um alsdann daran gehen zu können, Werte zu schaffen. Was er sich darunter vorstellt, sagt er leider nicht. Vermutlich ist das nur einfach ein aus Nietzsche entnommenes Schlagwort, bei dem sich diese Herren im übrigen gar nichts denken. Was er und seinesgleichen verkünden, ist im Grunde die Freiheit oder Frechheit des schriftstellerischen Zigeunertums, das sich hier als neue schöpferische Macht empfindet und mit großen Worten um sich wirft, und dazu stimmt die den Romantitern entlehnte Abneigung gegen den „Bürger“, die sich nur hier sozialistisch oder vielmehr anarchistisch aufputzt mit dem Bolschewismus kokettiert und sich dabei sehr erhaben und modern vorkommt. Über den Expressionismus handelt auch Max Picard. Aus dem mystischen Wortgetöse ist soviel zu entnehmen, daß der Expressionismus nicht psychologisch sondern psychoanalytisch sei. Wenn der Verfasser gesagt hätte: pathologisch, so würde es stimmen. In jedem Falle machen die Proben expressionistischer „Kunst“ sowie deren theoretische Verfechter in dem vorliegenden Sammelwerke einen durch und durch pathologischen Eindruck.
Es lohnt sich nicht und ist zu unerfreulich, auf die übrigen ästhetischen, moralischen und sonstigen Aufsätze dieses Jahrbuches für neue Dichtung näher einzugehen. Als einen der schlimmsten Schönredner und Phrasenmacher gibt sich der Herausgeber des Werkes selbst, Alfred Wolkenstein [!], indem er in einem Der menschliche Kämpfer überschriebenen Aufsatz, der mit einem völlig sinnlosen Gedicht beginnt, sich in einer Weise über die neue Dichtung ausläßt, daß dem Leser — übel wird. Nicht viel besser ist Holitschers demütiger Kniefall vor dem „großen, allumfassenden Geist des Sozialismus, dem göttlichen Geist der Erdenmenschheit“. Gustav Landauer, einst eine vielversprechende Kraft, zeigt in seiner Ansprache an die Dichter, daß auch ihm die Revolution völlig den Kopf verdreht hat. Er warnt in bewegten Worten vor dem „Patentsozialismus“, der in festgesetzten Einrichtungen und Methoden alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten ein für alle Mal abzuschaffen und „verunmöglichen“ soll, um alsdann auch seinerseits für die Dichtung den Gedanken der Revolution um der Revolution willen zu entflammen Der Kunstschriftsteller Hausenstein schreibt über Zweidimensionalität in der Malerei und tritt für seine Lieblinge Cezanne und Marées ein, ohne daß es einem klar wird, woran er mit seinen Ausführungen eigentlich hinaus will. Ganz schlimm ist Kurt Hillers Aufsatz über die Ortsbestimmung des AktivismusBewegung im Umfeld des literarischen Expressionismus, die auf eine Aktivierung bzw. Involvierung der Geistigen in die Po.... Hier erfährt man, was der Aktivist nicht ist und was er ist, nämlich vor allem Pazifist und „Welterlöser“, wobei einem nur die Frage aufstößt, wer denn eigentlich nach dem Aktivisten gefragt hat und was den letzteren dazu berechtigt, sich selbst eine so erhabene Bedeutung beizulegen.
Was an allen diesen Beiträgen auffällt und den besonnenen Leser erschrecken muß, ist der vollkommene Mangel an Sachlichkeit und logisch klarer Darlegung der // Gedanken, die das Schlimmste für die Zukunft unseres Schrifttums befürchten lassen. Schrifttums befürchten lassen. Hier scheint Nietzsche geradezu verheerend auf die Gehirne unserer jüngeren Schriftsteller gewirkt zu haben. Keiner vermag sich, wie es scheint, mehr einfach auszudrücken, keiner den Stoff mehr logisch zu gliedern und einfach zu sagen, was er meint. Alles gärt hier chaotisch durcheinander. Ein zügelloser Subjektivismus des Stils und der Gedankenbildung vergewaltigt in rücksichtsloser Weise unsere deutsche Sprache und gefällt sich in stürmischer Entladung der unausgegorensten Gefühle. Man will offenbar gar nicht mehr verstanden werden, man liebt es, den Leser durch angeblichen Tiefsinn zu verblüffen, und hält es für „bedeutend“, verworren zu sein. Und über allem thront die Phrase und läßt die Schreiber selbst vor der gänzlichen Sinnlosigkeit nicht zurückschrecken, wenn sie nur einen „großen“ Anstrich hat und sich tönend dem inneren Ohr des Lesers einschmeichelt.
Dies erste „Jahrbuch der Erneuerung“, so verkündigt uns der Umschlag des Buches, soll das neue künstlerische, geistige Schaffen zur umfassenden Wirkung bringen. „Eine geistige Welt will die Wirklichkeit ihre erneuenden Kräfte spüren lassen und indem sie die Gestalt eines unbegrenzten brüderlichen und kämpfenden Menschen erschafft, führt sie in Umwälzung und Aufbau das Chaos zu einer guten Welt empor. Einstweilen bekommt man
leider nur das „Chaos“ zu spüren und blickt beim Lesen dieser Auslassungen vergeblich nach einem Zeichen aus, das auch nur einen Schimmer von Hoffnung auf eine zukünftige Blüte unserer Kunst erwecken könnte. In jedem Falle ist der künstlerische Eindruck dieses Jahrbuches schlimmer als trostlos. Hoffen wir, daß nach der seelischen Verwindung der Kriegsereignisse und dem Wiedereintritt ruhigerer Zustände in unserem persönlichen und öffentlichen Leben auch die Kunft sich wieder erholen und man uns damit verschonen wird, das unverständliche Gestammel übergeschnappter und unreifer Dichterlinge und die wüsten Ausgeburten einer zerrütteten Phantasie als« künstlerische Großtaten anstaunen zu sollen.
In: Neue Freie Presse, 16.8. 1919, S. 1-3.
[1] Orig. Untertitel: Professor der deutschen Literatur an der technischen Hochschule in Karlsruhe.
Bundeskanzler Dr. Seipel über die Tage der Revolte
Bundeskanzler Dr. Seipel über die Tage der Revolte. (1927)
Die Erörterung der Vorgänge im Nationalrat.
Bundeskanzler Dr. Seipel hielt heute im Nationalrat sofort nach der Eröffnung der Sitzung durch Präsident Miklas folgende Rede:
Gestern in der ersten Sitzung des Nationalrates nach den traurigen Ereignissen, die in den Tagen vom 15. Bis 18. d. vorgefallen sind, hat uns die Trauer den Mund geschlossen. Wir sind, nachdem unser Präsident die Trauer unseres ganzen Landes über die erwähnten Vorkommnisse und ihre Opfer zum Ausdruck gebracht hatte, schweigend in dieser Trauer auseinandergegangen.
Heute müssen wir uns aber erinnern, daß unter den Verwundeten— Gott sei Dank, nicht unter den Toten— auch die österreichische Republik ist.
Mit dieser Verwundeten müssen wir uns heute beschäftigen, ihr zuliebe müssen wir auf die traurigen Ereignisse zurückkommen, untersuchen, wie es zu ihnen gekommen ist, wie sie verlaufen sind, und vor allem, was wir in Zukunft tun können, damit sie nicht wiederkehren und damit die österreichische Republik von der Wunde, die ihr geschlagen worden ist, gesunde. In dieser Absicht habe ich mich heute zum Worte gemeldet, um Ihrer aller Aufmerksamkeit auf diese eine eine hohe Verwundete hinzulenken.
Wohl kaum ist je ein Land und eine Regierung unschuldiger in blutige Wirren hineingestoßen worden als diesmal wir. Nicht irgendeine Regierungsverfügung, nicht irgend ein Streitfall, der das Parlament beschäftigt hätte, hat eine blutig ausgehende Volksbewegung ausgelöst, sondern ein Schwurgerichtsurteil ist es gewesen, auch nicht das Urteil von Berufsrichtern. Das Schwurgericht war in diesem Fall gewiß kein Klassengericht; die Hälfte der Geschwornen gehörte dem Arbeiterstande an. Es ist allerdings diesem Schwurgericht vorgearbeitet worden, wie ihm hätte nicht vorgearbeitet werden dürfen.
Die Ereignisse, über die dieses Schwurgericht, dieses Volksgericht zu urteilen hatte, sind vorher in der Öffentlichkeit erörtert worden— was an sich selbstverständlich ist — aber sie sind in einer Weise erörtert worden, daß man daraus schon gesehen hat: hier werden
Leidenschaften aufgepeitscht. Ein Teil der Presse hat, bevor das Schwurgericht ein Urteil fällen konnte, schon das Urteil gesprochen und immer wieder das harte Wort „Mörder“ gebraucht. Auf der anderen Seite wurde dagegen Einspruch erhoben, wurde die Tat, über die das Schwurgericht urteilen sollte, anders dargestellt. Ich wundere mich gar nicht, daß die schlichten Männer aus dem Volke, die Geschwornen, bei ihrer Verhandlung das Wort „Mörder“ im Gedächtnis hatten und sich nun die Angeklagten nur daraufhin anschauten, ob sie denn Mörder seien. Und weil sie gefunden haben, sie sind es nicht, so haben sie ihr Urteil gesprochen. Es ist nicht meine Aufgabe, an dem Urteil eines Gerichtes Kritik zu üben. Aber da nach diesem Urteil in einer Weise, wie es noch nie dagewesen ist, gegen die Volksrichter vorgegangen wurde — einer oder der andere von ihnen mußte sogar flüchten; es wird sich kaum mehr jemand trauen, bei einem großen Prozeß das Amt des Geschwornen oder auch nur des Schöffen zu übernehmen — so muß ich doch ein Wort über die Art sagen, wie dieser
Prozeß zu einem solchen gemacht wurde, daß auf ihn ein leidenschaftlicher Volksausbruch folgen konnte. Von einem der sozialdemokratischen Partei angehörenden Anwalt wurde verlangt, daß ein Teil der Geschwornen als befangen abgelehnt werde, und der Staatsanwalt hat diesem Verlangen Rechnung getragen. Die Geschwornen, die übrig geblieben sind, konnten daher gar nicht anders denken als: Hier handelt es sich um eine politische Sache.
Wenn die Ablehnung eines Teiles der Geschwornen aus politischen Gründen nicht erfolgt wäre, das Urteil hätte auch nicht anders ausfallen können als es ausgefallen ist.
Ich hätte mir wohl vorstellen können, daß man nach einem solchen Schwurgerichtsurteil, das übrigens gar nicht vereinzelt dasteht — seit langem beobachten wir sehr merkwürdige Freisprüche vor den Geschwornengerichten —, daß man sofort ins Parlament gegangen wäre und den Antrag gestellt hätte, die Schwurgerichte abzuschaffen oder sie umzugestalten oder einzuschränken oder sie für irgend eine Zeit, bis man wieder
mehr Vertrauen zu dieser Art von Gerichtsbarkeit haben kann, zu suspendieren.
Ich sage Ihnen im Namen der Regierung, wir würden einem solchen Verlangen keinen Widerstand entgegensetzen. Ich bringe heute nicht etwa eine Regierungsvorlage ein, die sich in der angegebenen Art mit den Schwurgerichten beschäftigt, aus dem einfachen Grunde, weil ich glaube, eine so wichtige und große Angelegenheit soll nicht durch eine Gelegenheitsgesetzgebung geregelt werden; man soll nicht im Augenblick der Leidenschaft, der Erbitterung eine Institution abschaffen wollen, an der viele von uns, wenigstens in der Vergangenheit, sehr stark festgehalten haben. Ich rechne mich zu diesen. Aber wenn man aus der Initiative des hohen Hauses heraus oder vielleicht gar, was ich am liebsten hätte, durch ein Zusammenwirken aller dazukommt, der Regierung einen Vorschlag zu machen, wie sie das Gerichtswesen in Zukunft ordnen soll, damit es der Leidenschaft mehr entrückt werde, als es leider in der Gegenwart der Fall ist, so verspreche ich jetzt schon jede Beihilfe der Regierung.
In diesen Tagen hat man auch sehr über die Tätigkeit der Presse, in diesem Fall der Parteipresse, geklagt. Ich bringe heute auch keinen Preßgesetzreformentwurf ein, aus denselben Gedanken heraus, die ich soeben geäußert habe. Aber ich mache das hohe Haus aufmerksam, daß ein Preßgesetzreformvorschlag, das frühere Parlament beschäftigt hat, ein Initiativantrag der Abgeordneten Seipel, Dinghofek usw., die damals noch nicht durch Regierungsämter gehindert waren, in diesem hohen Hause Anträge einzubringen, ein Preßgesetzreformentwurf, der gewiß nicht alles das betrifft, was wir im Augenblick von einer solchen Reform erwarten möchten, der aber doch viele Sympathien auf beiden Seiten dieses Hauses gefunden hatte, aber dennoch nicht erledigt werden konnte,
weil eben das Parlament — nicht erst das gegenwärtige, sondern auch das vergangene — schon an der schleichenden Krankheit litt, unter der das Parlament am allermeisten in den letzten Monaten gelitten hat und der es das Parlament verdankt, daß es in Zeiten einer wirklichen Krise der Republik nicht jenes Ansehen besitzen konnte, das es im Interesse der Staatsautorität besitzen müßte.
Aber man ging nicht ins Parlament, dafür brachen am Freitag der vorigen Woche in der Frühe die Unruhen aus. Es sind teilweise — nicht in allen Wiener Betrieben — Arbeitsniederlegungen vorgekommen und aufgeregte Arbeiter, die in ihrem Urteile im Innern dem Schwurgerichte vorgegriffen hatten und in den Freigesprochenen trotz dem Gerichte „Mörder“ sahen, sind durch die Straßen der Stadt gezogen; wie wir alle glaubten, um zu demonstrieren. Wir hofften, in kurzer Zeit diese Demonstration vorübergehen zu sehen. Aber in wenigen Stunden schon mußten wir es merken, daß aus dieser Bewegung mehr als eine bloße Demonstration wurde. Es kam zu Angriffen auf die Sicherheitswache, die damals nicht mit Gewehren bewaffnet war und daher auch nicht aus ihnen schießen konnte.
Durch zwei Stunden sind, wie uns die Vorsteher unserer Kliniken sagen, nur verwundete Polizeiorgane eingeliefert worden und noch keine verwundeten Demonstranten.
Es sind Privatgebäude, die der Sitz von vielgenannten, in der Zeit vor und während des Prozesses vielgenannten Zeitungsunternehmungen sind, gestürmt worden, es ist eine Wachstube gestürmt und ausgebrannt worden; man ist in den Justizpalast eingedrungen, der wahrlich nur eben durch den Namen „Justiz“ zum Objekt dieser Stürme gemacht wurde, denn er hat mit den Geschwornengerichten nichts oder fast nichts zu tun.
Unsere Polizei war während dieser ganzen Zeit auf dem Platze auf sich allein gestellt. Als man noch in den Vormittagstunden des Freitag gesehen hatte, welche Dimensionen diese Bewegung annahm, da hat der Polizeipräsident in Erfüllung seiner Pflicht vom Landeshauptmann von Wien verlangt, daß er Militärassistenz in Anspruch nehme. Der Landeshauptmann und Bürgermeister von Wien hat dies abge-//lehnt. Er wird es natürlich von seinem Standpunkt aus nicht als einen Vorwurf empfinden, wenn ich sage, nach meiner,
nach unserer Überzeugung wären viele Opfer nicht gefallen (lebhafte Zustimmung), wäre viel Blut nicht geflossen (sehr richtig!), wenn der Landeshauptmann von Wien die Militärassistenz angesprochen hätte.
Es vergingen Stunden, während dieser Stunden sind die Ausschreitungen immer ärger geworden, sind Todesopfer gefallen. Da mußte nun der Polizeipräsident in seinem eigenen Wirkungskreise vorgehen; er hat bestimmte Abteilungen der Polizei mit Gewehren bewaffnet. Erst seitdem ist ein Umschwung eingetreten; jetzt war der Zeitpunkt, in dem die Ordnungsgewalt wieder Herr werden konnte über die nicht nur demonstrierenden, sondern plündernden, brandstiftenden und gegen die Wache tätlich vorgehenden Massen. Es ist dann die Militärassistenz durch den Polizeipräsidenten auf seine eigene Verantwortung zu einem bestimmten Zweck herangezogen worden, um nämlich den Hauptkampfplatz, die Gegend um das Parlament und den Justizpalast, abzusperren.
Die Befürchtung, die wahrscheinlich den Herrn Landeshauptmann von Wien geleitet hat, als er die Anforderung der Militärassistenz abgelehnt hat, daß durch das Aufziehen des Militärs die Erregung noch mehr wachsen könnte und daß die Soldaten allzu früh schießen könnten, hat sich Gott sei Dank gar nicht bewahrheitet.
Seitdem das Militär den Hauptkampfplatz besetzt hatte, haben hier die Exzesse aufgehört; das Militär brauchte nicht einen einzigen Schuß abzugeben Gerade aus dieser Beobachtung heraus haben wir die Überzeugung geschöpft, daß vielleicht die Hälfte der Blutopfer vermieden worden wäre, wenn das Militär rechtzeitig zum Schutz der Polizei herangezogen worden wäre.
Es hätte nicht zu schießen brauchen, es hätte nur durch die Straßen marschieren müssen. (Zustimmung. — Zwischenrufe.— Seitz: Überlassen Sie das uns Wienern, wir verstehen das besser! — Ruf: Sie haben nichts verstanden! — Dr. Waber: Sie sind der Schuldige! — Abg. Dr. Bauer: Die eigentliche Schießpartei, die Großdeutschen!) Die Maschinengewehre wirken besser als die Waffen, die die Polizei hatte; die Maschinengewehre wirken, ohne daß ein Schutz aus ihnen abgegeben werden muß, durch ihren bloßen Anblick und die Polizei hätte dann nicht mit Gewehren bewaffnet werden müssen und hätte nicht von diesen Gewehren Gebrauch machen müssen.
Dieser erste Fehler hat sich beim Landeshauptmann von Wien später auch noch in einer anderen Weise gerächt. Er wurde weiter gedrängt. Als am zweiten Tage, nicht mehr im Zentrum der Stadt, aber draußen in den äußeren Bezirken, lebhafte Unruhen waren, Stürme auf Polizeikommissariate und Wachstuben unternommen, als Wachebeamte durch Schüsse niedergestreckt wurden in einem Augenblick, da sie selbst gar nicht zur Waffe griffen— da hat der Landeshauptmann und Bürgermeister von Wien gespürt, was ihm abgeht, weil er die Militärassistenz nicht requiriert hat. Sonst, in anderen Zeiten, konnte die Polizei, ohne Gewehre tragen zu müssen, vor dem bewaffneten Militär einhergehen, warnen, die Demonstranten auf die Gefahr aufmerksam machen, in der sie sind, jene, die zufällig aus den Straßen sind, wegschicken und bergen. Jetzt, da die Polizei selbst aus den Gewehren schießen mußte, war niemand da, der so vor ihr hergehen konnte.
(Unruhe.)
Es wäre noch immer die Militärassistenz zu haben gewesen, von der man bereits gewußt hat, daß sie zur Ordnung hält und für Exzesse nicht zu haben ist. Aber der Bürgermeister von Wien ist einen anderen Weg gegangen, um dieser Gemeindeschutzwache die Funktionen der Polizei zu geben.
Ich bin der letzte, der etwa dem Bürgermeister von Wien daraus einen Vorwurf macht, daß er, ohne zu fragen, ob er von den zuständigen Körperschaften eine Bewilligung hat, in einem solchen Falle vorgegangen ist und das getan hat, was er für gut befunden hat. Ich würde es in einem solchen Falle auch so machen, in einem Falle, in dem man nicht lange fragen und sich nicht lange Deckungen holen kann. […]
In: Reichspost, 27.7.1927, S. 1-2.
Max Ermers: Das Licht ruft.
[Max] Ermers: Das Licht ruft. (1924)
Zur heutigen Uraufführung im Josefstädter Theater.
Man sollte eigentlich nachdenklich, vielleicht sogar bedenklich werden, wenn man vom Arbeitsraum dieser großen Tänzerin in das rauschende Leben einer Stadt hinabsteigt. Man hat temperamentvolle Worte gehört, Kostüme gesehen und ein Paar ausdrucksvolle Bewegungen. Und eine lange und schöne Geschichte, deren Poetin die Bauroff ist, gehört, die ununterbrochen den Gedanken aufblitzen läßt: hier wird Ethik getanzt. Die Bauroff ahnt natürlich diesen Gedankenblitz und wehrt sich. Welcher moderne Mensch, de dato 1924, sollte den Vorwurf auf sich sitzen lassen, Ethik zu tanzen, nota bene wenn er mit einem so überschlank-schönen, praxitelischen Körper gesegnet ist und mit einer überfülle starker, ungedanklicher Gefühle, die ununterbrochen ans Licht der Muskeln und Epidermis ringen.
Das Licht ruft. Kein beliebiges Licht: Teil des Teils, der sich die Welt gebar. Die Welt der Seelen. Die Welt der Göttlichkeit, die Welt des Edlen, die Welt der höheren Sphäre.
Jenes Licht, das die Gemeinheit der Zeit und der Ewigkeit in den Abgrund des Dunkels schmettert. Hymnus an das befreiende, beseeligende, gute Licht… will die Ouvertüre sagen; nicht sagen: tanzen. Dann trifft sieben Menschen der Strahl des Lichts. Sieben Menschen hintereinander. Sieben Typen. Sieben Bilder.
„Sammelt nicht Schätze auf der Erde.“ Diesen Erd- und Sachgierigen, der beinah‘ schon ein Geizhals ist, trifft das Licht. Er hört sein Rufen und er möchte folgen, denn es ist ein Schatz über allen Schätzen. Auf die irdischen Schätze aber will und kann er dabei nicht verzichten. Man kann nicht dem Licht dienen und der Materie der Erde zugleich. So wendet sich das Licht von ihm.
Das Geschlecht der Nacht, der Lüge und der Niedertracht ist es, dem sich das Licht dann zuwendet, um es — zumindest vorübergehend — zu zerbrechen.
„So ihr nicht werdet wie die Kinder…“ heißt das dritte Bild. Hier ist nicht Sehnsucht nach dem Licht und nicht Verneinung. Nicht Kampf und nicht Konflikt. Das Kind lebt einfach im Licht, natürlich, selbstverständlich, unbefangen. Licht ist seine Daseinsatmosphäre.
Paria. Der ganz Verelendete. Keiner hätte so wie er das Licht gebraucht, keiner seinen wärmenden Strahl so ersehnt. Es kommt zu spät. Ihm kann nicht mehr geholfen werden.
„Es geht leichter ein Kamel…“ Ein goldener Fettwanst stampft auf die BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei....
Halb Metzger, halb Mammon. „Überall ist das Kapital bluttriefend auf die Welt gekommen“
meint einmal Karl Marx. Man riecht das Blut der Zerstampften. Auch ihn ruft der Strahl. Der Goldene droht und hebt die Faust… und fällt als Opfer seines goldenen Machtwahns.
Närrische Weisheit. Einer der aus Weisheit seine Narretei nicht aufgibt. Diogenes im Faß. Der Bohemien in der Dachstube. Er zittert, wenn es für ihn irgendwo aufleuchtet und schämt sich seines sentimentalen Zitterns. Er ahnt und folgt ins Licht… in seinem dunklen Drange.
Selige Sehnsucht. Einer, der sein ganzes Leben aufs Licht gewartet hat; kämpfend gewartet hat aufs Licht und nur aufs Licht. Bis er schließlich selbst Licht wird.
***
Was Claire Bauroffgeb. als Klara Amanda Anna Baur am 26.2.1895 in Weißenhorn (D) – gest. am 7.2.1984 in Bayern; Tänzerin, Tanzcho... geben will, ist hier in rohen Worten angedeutet. Eigentlich nur der Rahmen, innerhalb dessen die Tänzerin Visionen in sich erlebt und Verwirklichungen. Kaum irgend etwas vom Alltag wird in diese sieben Visionen Hereinplatzen. Verdichtungen aus tausend Erlebnissen an diesen Typen der Menschheit — sie ließen sich vermehren — werden in der Künstlerin gefühlsmäßig Gewalt ergreifen, im Taumel der Glieder sich spannen und lösen. Nirgends aber Theorie, nirgends Symbol, nirgends Allegorie. Daneben, vorher, nachher, darüber läuft die Musik Franz Salmhofers, keine Begleitung der Gefühle, eher eine Transfiguration über Urtiefen. Mehr dem Publikum zugedacht, als der Bauroff.
„Es ist aber doch getanzte Ethik,“ sagt mir der hartnäckige Jüngling, mit dem ich die Stufen vom Atelier beim Weggehen herunterschreite.
Mag sein; wir wollen das „Licht“ der Bauroff abwarten. Vielleicht wird sie uns lehren, daß man auch Ethik tanzen darf, wenn man es kann.
In: Der Tag, 26.10.1924, S. 18.
Iwan Goll: Moderne europäische Literatur
Iwan Goll: Moderne europäische Literatur (1925)
Das Wort „Europa“ beginnt nun endlich langsam in der Literatur die hochtrabende Bedeutung, die es vor zehn Jahren ungefähr noch hatte, zu verlieren und ganz natürlich zu wirken. Es war an der Zeit. In allen Ländern bevorzugen neugegründete Zeitschriften dieses Wort in ihrem Titel, und die alten, wie die „Neue Rundschau“ zum Beispiel, führen „europäische“ Rubriken ein. Der Krieg hatte die Länder in mittelalterliche Festungen verwandelt. Als langsam, sehr langsam die Barrieren fielen, ergriff jeden eine unersättliche Neugier, zu wissen, was der andere in der Zwischenzeit geschaffen hat. Und in diesem Stadium befinden wir uns noch heule. Mit einem schier unauslöschlichen Durst verschlingt man die Werke fremder Literaturen und vergißt oft dabei seine eigene. Das ist namentlich bei Deutschland verständlich, das jahrelang ganz allein auf sich angewiesen war.
Seine Nachbarn zu kennen und sein europäisches Wissen zu heben, ist gewiß die erste Forderung. Sie ist aber nicht die einzige. Als zweite kommt hinzu das europäische Gefühl. Und davon ist im deutschen Schrifttum noch wenig spürbar. So wenig, daß es trotz der sehr großen Dichter, die es besitzt, nicht viel Werke von europäischer Tragweite hat. Im Anfang des Expressionismus, als auch Becher einen Lyrikband An Europa betitelte, und in den Ziel-Jahrbüchern war die Tendenz viel spürbarer als nachher. Die Revolution, statt sie zu öffnen, stutzte die Schwingen begeisterter Dichter, und die nahen Sorgen umnebelten die weiten Ideale. Heute? Der Expressionismus hat sich nicht hinausentwickelt. wie man es von ihm hätte erwarten müssen. Sein großer Fehler, ein sehr deutscher Fehler, war, sich im Abstrakten zu verirren und nicht den Mut gehabt zu haben, aus den großartigen Freiheits- und Extremitätsformeln sich in rein literarische abzukühlen, eine Kriegsindustrie in eine friedenswirtschaftliche umzuwandeln. Heute hat sich der Expressionismus totgelaufen und neben ihm, nicht einmal hinter ihm, marschiert eine (faute de mieux en couche sa famme) halbklassizistische Jugend. Das aber kommtdaher, daß niemand vom Ausland hat lernen wollen. Was die deutsche Wirtschaft so gut versteht, die Kunst und die Literatur hat es noch nie fertiggebracht, sich zu assimilieren. Die Sachverständigen in der Malerei wissen es, daß ein Pariser Bad einen Maler gründlich stärkt. Und seit mehr als fünfzig Jahren gibt man den großen französischen Roman allen zum Vorbild und keiner oder ganz wenige profilieren davon. Es ist ja sehr schön, seine eigenen großen Rasseeigenschaften zu behalten, aber so eben sprechen wir erstens vom Roman, zu dem keine deutsche Eigenschaft befähigt, und zweitens von europäischer Literatur.
So weiß man auch noch viel zu wenig von den starken und bemerkenswerten Dichtungen, die in letzter Zeit in kleinen Nebenländern, in Jugoslawien, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Rumänien und Spanien hervorsprießen und die alle nach einem europäischen Ideal tendieren. Dort überall sind ganze Sekten neuer junger Dichter erstanden, die ihre avantgardistischen Zeitschriften und Theorien haben und dabei sind, ein paar hohe Stockwerke am europäischen Turm mitzubauen. Sie stehen natürlich unter dem Einfluß der großen Zentralen. Paris, Rom. Berlin, Moskau, und manch ein Dichter, der Menschheitsdämmerung würde sich wundern, wie bekannt und wie kopiert er in Bukarest ist. Aber die wichtigste Beobachtung bei der Sache ist, daß der Expressionismus gegenüber den anderen Ismen den geringsten Einfluß ausgeübt hat. Europäisches Gefühl holt man sich, ganz natürlicherweise für alle Welt: in Paris. Die Ismen von Paris, die Schulen von Paris geben den geistigen Kurs an. Und wenn irgendein Ausländer irgendeine neue Idee oder Theorie, einen Ismus, zu propagieren hat, so trägt er ihn nach Paris, wie es Marinetti mit dem Futurismus, wie es die Spanier mit dem Kreationismus usw. getan haben. Man braucht absolut nicht die Achseln über diese Ismen zu zucken. Sie werden die Exponenten der heutigen Literatur bleiben, was man auch sage. Wer möchte heute die Größe des Impressionismus bezweifeln. Der Kubismus hat dieselbe Geltung.
Man lese doch lieber diese erste Literaturgeschichte der europäischen modernen Literatur nach: Litteraturas Europeas de Vanguardia, von Guillermo de Torre (Madrid, Caro Raggio, 1925). Ja so, sie ist auf spanisch geschrieben. Ja, heutzutage weilen die grundlegenden Dokumente und Studien in nebenstehenden Ländern geschrieben, die einen viel weiteren und objektiveren Überblicke über das, was in einer Hauptstadt geschieht, geben, als die Akteure selbst.
Gerade in Prag oder in Madrid ist es leichter möglich, daß einer den Geist von Paris und von Berlin amalgamiere und etwas Europäisches daraus mache, als in diesen Städten selbst, wo der Kämpfende geblendet ist. Gerade und nur in Madrid war es möglich, daß de Torre eine große Freske des heutigen dichterischen Schaffens in der Welt zusammenstellte. Er hat viele Zeitschriften gelesen, viele Ansichten gesammelt, deren Wert und Wirkung in seinem neutralen Schiedsturm auf den richtigen Generalnenner gebracht werden konnten. In Madrid braucht ein Literat keine Feinde zu haben, denn dort kann er dem nutzen und keinem in die Quere kommen. In Paris oder Berlin wird — auch mit Ismen — um das tägliche Brot und den ewigen Ruhm gekämpft. Da setzt es Haue. Da bleiben Rankünen. Und in Zukunft wird man sich mehr und mehr neutrale Kritikergerichte anschauen müssen.
Die Hauptkapitel des Torreschen Buches beschäftigen sich also mit der allerneuesten, der avantgardistischen Dichtung. Und er findet, daß unsere Zeit sich eine neue Ästhetik geschaffen hat, die man weder in eine romantische noch in eine rein klastische klassifizieren darf. Ihr Grundcharakter ist, vor allem für die romanischen Länder, die bisher den weitaus größten Stoff geliefert haben und sich in stetigem vulkanischen Ausbruch befinden: Kubismus, DadaismusÜber den Dadaismus und seine Rezeption durch bzw. Bedeutung für den zeitgenössischen österreichischen Literatur- und..., Surrealismus lösten sich binnen zehn Jahren ab, eine sehr verfeinerte Sensibilität, ein starker Subjektivismus, ein Versuch, die neuen Werte der Zeit in die allgemein gültigen Formeln des Kosmos einzureihen und zu unserer Natur umzubiegen, und vor allem, diese „inquiétude“ der modernen Jugend, die manchen der jungen französischen Dichter dazu gebracht hat, von einem neuen „mal du siècle“, einem neuen Weltschmerz zu sprechen. Dies zwar mutet sehr romantisch an. Aber auf der anderen Seite stehen die objektiven, materiellen Theorien der Sprechkunst, die sich auf das rein Handwerkliche, das Gesunde in der Kunst beziehen. Hier verlangt die Lyrik nach einer extremen Reinheit, und zwar handelt es sich da nicht um die alte klassische grammatikalische Reinheit, im Gegenteil: fort von der Grammatik und zurück zum ureigenen Wort! ist die Parole. Le mots en liberté, ist die beliebte Formel vieler Dichter gewesen, von Apollinaire über Marinetti bis zu Majakowski. Reinheit ferner in dem Sinn, daß alles Gedankliche wie Unkraut aus der Lyrik gejätet werde und nur reine, bis aufs Urwort reduzierte Gefühle und Bilder gestaltet werden.
Auf 390 Seiten analysiert Guillermo de Torre (der selber einer der besten Dichter Jungspaniens ist, mit seinem Band: Helices) jede einzelne Bewegung und jede einzelne Persönlichkeit, sammelt dann aber alles in allgemeine Formeln und legt selbst die Grundsteine der neuen Ästhetik. Einige Kapitelüberschriften werden hier am besten einen Begriff von den behandelten Themen geben: „Die Religion der Schnelligkeit“, „Geistige oder gefühlhafte Realität“, „Entmenschlichung der Kunst“, „Theorie der geistigen Ermüdung des modernen Menschen“, „Der Sieg der Metapher“, „Lob des Kosmopolitismus“, „Einfluß des Films auf die neue Literatur“ usw.
Dies Buch greift tief und weit. Es ist wirklich europäisch gedacht. Es sucht aus den Dichtungen so grundverschiedener Länder den einen bedeutsamen Sinn für unsere Zeit herauszudestillieren. Um so gewagteres Unterfangen, da die sogenannte europäische Literatur heute erst in ihren allerersten Anfängen steht und eine Reihe nichtromanischer Länder noch gar nicht genügend Zeit gehabt haben, ihr ganzes Gewicht mit in die Wagschale zu legen.
In: Neues Wiener Journal, 15.9.1925, S. 3.
R.A.Bermann: „Ein Geschlecht.“ (1919)
R.A.B[ermann]: „Ein Geschlecht.“
(Fritz v. Unruhs Tragödie im Burgtheater)
Ein Geschlecht von jungen Menschen tritt aus dem Krieg hervor, das mit einer neuen Stimme große Worte der Empörung ruft. An den Gräbern der toten Brüder hat es sie gelernt.
An eines Bruders Kriegsgrab beginnt das Drama. Fritz v. Unruh, der Junker und Offizier, der Rebell und Pazifist geworden ist, widmet das Buch, das seine Tragödie Ein Geschlecht umfängt, dem Andenken eines im Kriege gefallenen Bruders. Das Stück beginnt; man sieht eine Mutter an einem Grab, die Schwester davor, nahe die Brüder, die noch in das
Entsetzliche des Krieges verstrickt sind. An diesem Brudergrabe beginnt nun die Empörung, das Rasen; kein Wunder, wenn alle Maße gesprengt sind. Das Geschlecht, das den Bruder sterben sah, das gegen andere Brüder selbst die Mordwaffe heben mußte, weiß sich von irdischer Rücksicht frei.
Nacht; ein Friedhof in den Bergen, eine Mutter am Grabe. Bewaffnete schleppen zwei von den Brüdern des Toten gefesselt heran. Ein „Soldatenführer“ (man nennt in diesem Stück die Leute und ein wenig auch die Dinge nicht, bei ihrem Namen) spricht das Urteil:
„Der du geschändet, Kerl, sei festgebunden,
daß deine Gier nicht weiter Unheil stifte
und unsern Sieg entehre. Sterbe hier
bei deinem Bruder, der Gehorsam weigert
und sich der Feigheit Ekel aufgeladen“
Die Männer im Stahlhelm binden den einen rechts vom Friedhofstor an einen Stein, den andren links. Da stehen sie (und bemühen sich, auszusehen wie Akte von Rodin, mindestens wie Holzschnitte vom Titelblatt der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion).
Ein anderer Bruder des Toten und der beiden Verurteilten, er, noch im Banne des
Soldatentums, einer von denen, die
„- – kniegebeugt
zum Machtgeist unsres mächt’gen Volkes
beten,“
soll den Feigen, soll den Frauenschänder erschlagen (mit einer Axt). Er hebt sie, und
der expressionistische Holzschnitt ist fertig, voll von handgreiflicher Symbolik, von naivem Raffinement. Aber der jüngste Sohn wird ohnmächtig, ehe er zuschlagen kann; man trägt ihn fort, während der Befehl ertönt:
„Er werde in der Schlacht
zum würd‘gen Glied des großen Volks.
gehämmert!“
Die beiden sollen am Morgen sterben. Bis dahin bleiben sie mit Mutter und Schwester allein. Der eine, den der Schrecken der Zeit zum armen Feigling machte, bleibt die ganze Zeit angebunden (unterdessen bestrebt, nach Kokoschka auszusehen); nur manchmal gellt sein tierischer Angstschrei über die BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei..., er spricht nicht. Den anderen, den empörten Satyr, löst das junge Weib von seinen Fesseln, die seine Schwester ist, von seinem Geschlecht, mitschuldig seiner himmelschreienden Rebellion. Die Mutter tritt dazwischen; und nun beginnt zwischen ihr und den Kindern der rasende Kampf, so wie heute überall auf
deutscher Erde die Kinder mit den Eltern ringen, mit allem Elterlichen, Sitte, Vaterland. Dieses Toben des halbnackten Knaben gegen die majestätische Mutter vollendet nun die Tragödie. Die geheimsten Stimmen des Blutes schreien, kreischen. Der Dialog kennt solche Stellen:
„Tochter (zur Mutter):
Wie ein Stück Fleisch am Markttag liegst
du feil,
das ich beäugen muß in allen Fasern!“
Man sagt: beäugen. Seltsame Worte, verdreht, verrenkt, füllen das Ohr. Dann aber kommt manchmal ein ganz reiner und ganz tiefer Laut; einmal lächelt die Mutter aus ihrem Entsetzen die ungebärdigen Kinder an:
„Ich lass‘ euch plappern, wie vorm Nachgebet,
da euch mein „Amen“ schließlich doch umschlang.“ //
Ein Delirium von Worten und Argumenten zerwühlt die Szene. Da die Mutter sich von den lebenden Söhnen zu dem heldischen Toten flüchten will, tobt der Schänder gegen das Grab, reißt das Kreuz aus, reicht es triumphierend der Mutter hin, damit sie rieche, wie es stinkt! Diese Menschen heulen, kriechen auf dem Boden; furchtbar krampft sich in diesem jungen Geschlecht die tieft Empörung gegen die Mutter, gegen eine Welt, die ihnen dieses
Leben gab. Umsonst spricht die Mutter von Undank, von allem Schönen, das die Erde hat, von der Sonne, von dem ernteheißen gelben Kornfeld. „Viel lieber tot sein!“ schreit die Tochter. Der Jammer des Feiglings peitscht ihre Wut auf. Taumelnd sagt der Älteste:
„So schreit das Schwein, vom Metzger abgestochen!
Wir haben die Schollen nicht besudelt!
Euch klag‘ ich an, die ihr uns morden heißt!
Hem fette Bäuche hinterm grünen Tisch,
Ihr habt es leicht. die Leuchter anzuzünden
Und aus vergilbtem Recht den Tod zu rufen!“
Und dann kommt mit der Morgensonne auch für den verwegenen Rebellen der Tod. Schon dröhnen die Stimmen der Soldaten aus dem Tal. Da stürzt der Knabe sich vom Fels hinab.
Und nun, da eisenbehelmt die Bewaffneten kommen, ist es die Mutter, die die Worte der Empörung weiterspricht. Aus den Händen des Soldatenführers reißt sie „den Stab der Macht“. (Wirklich einen Stab, der schlicht so heißt) Sie wirft das allegorische Requisit, das aus der Zauberposse ´zu stammen scheint, wieder hin, einem neuen Geschlecht entgegen, das herrlicher den Stab gebrauchen soll; die Eisen bohren sich in ihren Mutterleib, zu dem
sie sprach:
„ – o Leib, so wild, verflucht
und alter Greuel tiefster Anlaß erst,
du sollst das Herz im Bau des Weltalls
werden.“
Und da steht der jüngste Sohn auf, er, der bis dahin der eisernen Macht gehorchte. Schon horchen murrende Kameraden auf seine rächenden Worte; sie heben ihn auf, den Führer nicht achtend, tragen ihn zu Tal. Er spricht:
„O Mutterhauch,
von dir geschmolzen rollte die Lawine
auf die Kasernen der Gewalt hinab,
und was sich je zu frech ins Blau gebaut,
fall‘ hin!“
Das hat, im Herbst 1916 schon, der preußische Leutnant Fritz v. Unruh gedichtet, sicherlich als Sprecher seiner Generation, die bald darauf die rote FahneDas Zeitschriftenmodul von Martin Erian finden Sie hier. Bereits im Mai 1918 erschien als Der Weckruf ein Organ der komm... der Revolution auf dem Königsschloß der Hohenzollern hissen sollte und auch die rote Fahne des Expressionismus auf den Giebeln der deutschen Kunst. Jetzt weht sie — o tempora! — sogar im Burgtheater.
Fritz v. Unruhs Stuck ist gänzlich ein Spiegel der deutschen Revolution, wie sie maßlos und doch wieder im entscheidenden Augenblick impotent, großartig oft und immer chaotisch, gestaltlos, zukunftsschwanger (Abortus nicht ausgeschlossen). Es stinkt nach Leichen und duftet wieder nach Jugend. Manchmal scheint der Lavafluß seltsam zu erkalten, und kühle, vereinfachte Töne wie aus der antiken Tragödie klingen an das ermüdete Ohr, dann wieder wüstes und — banges Gekreisch. Oft versagt die Kraft, die sich titanisch zum Schlage zu recken schien, oft jongliert sie mit Felsblocken, die offenbar aus Pappendeckel sind. Bald preziöse Kompliziertheit der Worte und Gefühle, bald, wie unter einer Schuttschicht, wirkliche Schlichtheit. Selten ergreift das Geschehen auf der Bühne den Zuschauer; dann machtvoll.
*
Und das brave Burgtheater? Es strengt sich an, daß man den Schweiß plätschern hört.
Es hat keinen Regisseur für ein so außerordentliches Stück. Es hat in Alfred Roller einen Ausstatter, dem geschmackvoller Prunk liegt, nichts aber weniger als die strenge, unkörperliche Stilisierung, deren ein solches Drama unbedingt bedarf. Alles ist leiblich, wirklich; in diesem Rahmen können die Schauspieler gar nicht umhin, dem Stück zu widersprechen. Im Drama tragen sie keine Namen, haben sie kaum Gestalten; auf der Bühne sehen sie aus, als hatten sie soeben Kochsalat zum Nachtmahl gegessen. Selbst Frau Bleibtreu, die die Mutter gibt, verliert ihre Körperlichkeit keinen Augenblick. Natürlich hat die herrliche Künstlerin große und reine Augenblicke; aber ganz weiß sie sich dem neueren Stil des Dichters auch nicht zu assimilieren. Sie strebt danach, und jedermann; aber es geht nicht. Am wenigsten kann es — das ist charakteristisch — der Regisseur des Abends Herr Paulsen, der den Soldatenführer, unsicher, teils ins Biedermeierische, teils ins Intrigante entstellt; wenig auch Fräulein Mayer, die Tochter, deren holde Bürgerlichkeit gänzlich unverletzt aus dem expressionistischen Vitriolbad hervorgeht. Die jüngeren Männer, eher von der Zeit ergriffen, passen besser zum Dichter. Schott ist vortrefflich, so lange er die Lebensgier des Schänders gestalten kann; Herr Edlitz, der immer nur gefesselt dazustehen hat und auszusehen hat, tut es zweckentsprechend; der junge Thimig als der jüngste Sohn ist wirklich halbwegs jung im Wesen, versteht also und formt die formlose Zeit. Halbwegs.
*
Im Publikum gab es zwei Parteien: Leute, die das Stück nicht verstanden hatten, und solche, die so taten, als hätten sie es verstanden. Diese applaudierten den Dichter ein Dutzendmal vor den Vorhang; jene suchten ihn immer wieder wegzuzischen; als sie mit dem Zischen nicht durchdrangen, riefen sie stürmisch nach Frau Bleibtreu, damit sie gegen den Dichter demonstrieren.
In: Der neue Tag, 21.9.1919, S. 9-10.
Leo Lania: Das Kapital und die Wissenschaft.
Leo Lania: Das Kapital und die Wissenschaft. (1924)
(Zum neuesten Werk Upton Sinclairs: Parademarsch)
Im Jahre 1901 verließ ein einundzwanzigjähriger Jüngling die Universität Kolumbia in den Vereinigten Staaten. Es war das ein junger Mann aus „guter bürgerlicher Familie“, sein Vater und Großvater hatten hohe Stellen in der amerikanischen Beamtenschaft bekleidet und wenn die Familie auch keineswegs mit Glücksgütern gesegnet war, so hatte doch der Junge Elend und Not, Hunger und Armut nicht kennengelernt. Nach Absolvierung der Volksschule und der städtischcn Hochschule (eine Art Gymnasium) bezog der Jüngling eine
der vornehmen Universitäten des Landes, um sich literarischen und philosophischen Studien zu widmen. Von einem glühenden Ehrgeiz beseelt, durch eine rasche Auffassungsgabe und gute Lernfähigkeiten ausgezeichnet, stürzte sich der Jüngling mit Eifer und Idealismus ins
Studium — eine furchtbare Enttäuschung riß ihn schon nach wenigen Wochen aus allen Träumen und Illusionen. Den wahren Quell der Bildung hatte er hier zu finden gehofft— eine gähnende Leere und eine öde Langweile fand er in Wirklichkeit. Die ganze große Institution war eine hohle Nuß, ein seelenloser Körper, eine Masse aus Stein und Ziegel, zusammengehalten vom Bureaukratismus … Die Vorlesungen nichts anderes als ein schlechtes Resümee irgendeines trostlos trockenen Lehrbuches, die Professoren ehrgeizige Streber, die Studenten eitle Hohlköpfe, die im Sport, im Flirt, im Saufen und „Kot…leben“ völlig aufgingen. Und das Seltsamste: jeder, der wirklich etwas zu lernen hatte, wurde auf irgendeine Art von der Universität Kolumbia verbannt. Nur die Stumpfen oder die Schlauen blieben übrig, die Guten mußten gehen.
Angewidert von dieser kalten, seelenlosen Mechanik des Universitätsbetriebes, verließ der Jünglig nach einigen Monaten die Universität und zog in die Welt hinaus. Er hatte insgesamt neun Jahre dem Studium geopfert und glaubte daher, „ein vollkommen gebildeter
Mensch“ zu sein. Doch nach kurzer Zeit mußte er die schmerzliche Entdeckung machen, daß er die langen Jahre völlig nutzlos vertan hatte. „Ich wußte nichts über Hygiene und Gesundheit,“ so erzählt uns der junge Mann, „ich wußte nichts von Frauen, kannte außer
meiner Mutter noch drei oder vier weibliche Wesen, ahnte nicht, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Von geschlechtlichen Dingen wußte ich ebensoviel, wie die alten religiösen Asketen, aber nichts über die modernen Entdeckungen und Theorien auf diesem Gebiet. Ich wußte auch nichts von der modernen Literatur der verschiedenen Sprachen. Was die Weltgeschichte anlangt, so endete sie für mich mit dem Deutsch-Französischen Kriege vom Jahre 1870; seither schien sich überhaupt nichts ereignet zu haben. Freilich gab es Tageszeitungen, doch wußte ich nicht, was diese Zeitungen waren, wer sie beherrschte, in welchem Verhältnis sie zu mir standen. Ich wußte, daß unsere Politik korrupt sei, doch kannte ich nicht die Ursache der Korruption, noch aber wußte ich, was gegen sie unternommen werden konnte, vom Geld. dem Lebensblut der Gesellschaft, und von der Rolle, die es im Leben des modernen Menschen spielt, ahnte ich nichts. Und was das Proletariat betrifft, so hatte ich mich mit einigen aus Zeitungen geholten Vorurteilen begnügen müssen. Was aber für mich das Allerbedeutsamste war: ich ahnte gar nicht, daß eine moderne revolutionäre Bewegung existiere. Die Namen Marx und Lassalle hatte ich gehört, stellte sie mir als unheimliche Menschen vor, die in Hinterzimmern von Bierkneipen zusammen kamen, Verschwörungen anstifteten und Bomben verfertigten, sich außerdem der freien Liebe hingaben. Daß sie irgendwie auch mit meinem Leben in Verbindung standen, mich etwas lehren konnten, daß sie eine Bewegung begründet hatten, die die ganze Zukunft umfaßt — darüber wußte ich ebensowenig wie über die Zivilisation des Negerstaates Dabome oder die Topographie des Mondes.“
Der junge Mann hatte schon frühzeitig Proben ausgesprochener literarischer Begabung abgelegt — keiner seiner Lehrer und Professoren hatte sie einer Förderung für wert befunden; niemand es als seine Aufgabe angesehen, die in dem Jungen schlummernden Kräfte und Fähigkeiten zu wecken. Und mit bebender Angst hatte dieser den Zeitpunkt herannahen sehen, da auch ihn wie die meisten seiner Kameraden „die Walze des Schulapparats endgültig zermalmen“ würde. Da war er von der Universität geflohen.
***
Der junge Mann ging nach Chikago. Und da er ein Jüngling war, dessen Augen scharf und klar in die Welt blickten und dessen Ohren zu hören verstanden und dessen Herz am rechten Fleck saß, so sah er in Chikago nicht nur die Marmorpaläste der Konservenkönige, sondern auch die Hinterhöfe der Fabriken, er hörte nicht nur die tönenden Reden er Direktoren, sondern auch das Weh- und Jammergeschrei der Frauen, Mütter und Kinder, deren Söhne und Ernährer zu Tausenden von dem gräßlichen Vielfraß Kapital zu Krüppeln geschlagen, verstümmelt, getötet wurden, bloß weil die Unternehmer das Geld zur Anlage von Schutzvorrichtungen sparen wollten und ihren Arbeitern den letzten Blutstropfen aus den Adern preßten. Der junge Mann hatte in die grausigste Schlachtkammer des Kapitals geblickt, er hatte voll Schauder gesehen, wie die Konservenkönige, die Herren von Chikago, trichinöses, giftiges Fleisch in die Konserven verarbeiteten, um mehr und noch mehr Profit herauszuschlagen, und wie sie dadurch Leben und Gesundheit von Millionen Menschen diesseits und jenseits des Ozeans aufs Spiel setzten. Und das Furchtbarste: da war niemand, der den Mut hatte, aufzustehen und diese Schandtaten an die Öffentlichkeit zu bringen, niemand, der den Mut hatte, den Kampf gegen die Mächtigen von Chikago aufzunehmen. Unser Freund war jung genug, um den Kampf zu wagen; er konnte, er wollte nicht schweigen. Er legte alle seine Beobachtungen in einem Buch nieder, verarbeitete sie zu einem Roman, den er The jungle (Der Sumpf) nannte. Sein Erscheinen wirkte wie eine Bombe. Der junge Mann war in wenigen Monaten eine amerikanische, eine europäische Berühmtheit. Aber noch mehr: er war in Chikago Revolutionär, er war Sozialist geworden. Den Königen und Fürsten der amerikanischen Börse, den Herren von Stahl und Eisen, den Beherrschern des Weizens und Petroleums war ein erbitterter und unversöhnlicher Feind erstanden: Sein Name ist Upton Sinclair.
***
Es sind nun mehr als zwanzig Jahre her, daß Sinclair jenen berühmten Roman erscheinen lieh. Eine ganze Bibliothek von Romanen, Novellen, Studien und Theaterstücken hat er seither veröffentlicht:[1]) ein nie ermüdender Kämpfer für Freiheit und Recht der Unterdrückten und Geknechteten. Die Mächtigen der Vereinigten Staaten kennen und hassen ihn — doch sie sind ihm widerstandslos ausgeliefert. Denn in diesen langen zwanzig Jahren hat Sinclair jeden Trick, jeden Winkel des Gehirns der Fürsten und Herzoge Amerikas bloßgelegt und da ist niemand, der so die Maschinerie des industriellen und finanziellen Lebens, den „Geldtrust“ kennt wie er. Da tritt er jetzt mit einem neuen Werk // auf den Plan: Der Parademarsch (ebenfalls im Malik-VerlagDurch den Erwerb einer Schülerzeitschrift gelang Wieland Herzfelde und seinem Bruder John Heartfield (d.i. Helmut Herzf... erschienen). Kein Roman— „Eine Studie über amerikanische Erziehung“ nennt er das Buch. Es gibt nur ganz wenige Romane, die so spannend zu lesen sind, wie diese „Studie“, wenige Werke überhaupt, deren Kenntnis für alle Werktätigen dieser Erde, insbesondere für die jungen Kämpfer in den Reihen des Proletariats von solcher Wichtigkeit ist.
Sinclair erläutert den Zweck seines jüngsten Buches, das in den nächsten Wochen in deutscher Übersetzung gedruckt vorliegen wird, wie folgt: „Unser Schulsystem ist nicht dem Dienst der Allgemeinheit geweiht, sondern das Spezialwerkzeug des Privilegs: es bezweckt nicht die Förderung des Allgemeinwohls, sondern die Erhaltung des amerikanischen Kapitalismus. Diese Tatsache zu beweisen ist der Zweck meines Buches …“ Und warum er diesen Titel gewählt? „Wir verausgabten etwa dreißig Milliarden Dollar, vernichteten Hunderttausende von jungen Leben, um die deutsche Autokratie zu zerstören, glaubten allen Ernstes, dadurch von der Erde jenes Uebel zu verbannen, das den Namen „deutsche Kultur“ trägt. Diese „Kultur“ war nicht nur etwas Körperliches, war nicht nur der Drill eines ganzen Volkes, der die Macht der Militärkaste vergrößern sollte, sondern auch eine geistige Sache: das Regime des autokratischen Dogmatismus… und nun sollt ihr selbst sehen, ob ich mit meiner Behauptung recht habe, daß wir, indem wir den Parademarsch aus der Welt zu schaffen glaubten, weiter nichts taten, als ihn in unser eigenes Land zu verpflanzen und uns unter seine Herrschaft zu bringen… ihm unsere Gedanken und, was noch weit ärger ist, die Erziehung unserer jungen Generation zu unterwerfen.“
Und Sinclair führt lückenlos den Beweis, den er erbringen will. Und führt ihn so, daß wir in atemloser Spannung lauschen, während er von unseren Augen den Schleier hebt, mit dem der amerikanische Kapitalismus seine Knechtungsmethoden und die Seelenvergiftung, die er so großzügig betreibt, kunstvoll zu maskieren versteht. Sinclair „will nicht in diesem Buche seine Ansichten über Erziehung unterbreiten, will nicht erläutern, wie das System sein könnte oder sollte“ — er gibt Tatsachen, er erzählt uns schlicht, ohne Pathos, aber mit Ingrimm und kaltem Spott, was auf den Universitäten vor sich geht. Über ein Jahr lang hat er das amerikanische Erziehungssystem studiert, hat zu diesem Zwecke das ganze Land bereist, hat Tausende von Menschen – Lehrer, Rektoren, Studenten — ausgefragt, Bücher und Statistiken verarbeitet, um uns enthüllen, zu können, wie die amerikanischen Hochschulen, die 600.000 jungen Menschen Bildung und Wissen vermitteln sollen, jene „Festungen der Plutokratie“, die Munitionsfabriken der herrschenden Klassen geworden sind, die die geistigen Bomben und Giftgase für den Klassenkampf gegen das Proletariat herstellen.
Die zehn bis zwanzig Könige der amerikanischen Hochfinanz und Industrie sind die Kuratoren der amerikanischen Universitäten, die Rektoren und Professoren sind ihre Angestellten. Die Universitäten besitzen Vermögen, Aktien von Unternehmungen, die jenen gehören, die im Kuratorium der Hochschulen entscheidenden Sitz und Stimme haben. Da gibt es also eine Universität des Bauholztrustes, des Petroleums, des Weizens, des Kupfers, der Gas- und der Elektrizitätsgesellschaft. Ein dichtmaschiges, riesiges Netz ist über ganz Amerika ausgebreitet, dem niemand entrinnen kann. Fällt es einem Professor, einem Rektor ein, gegen den Willen der Kuratoren die Studenten zum selbständigen Denken, zum Erkennen der Wahrheit zu erziehen — er verliert unfehlbar seinen Posten. So blüht die „reine Wissenschaft“: „Ihr Sklaven des großen Bostoner Warenhauses, von dem die Harvarder Universität fünfundzwanzighundert Aktien besitzt, findet euch ab mit der langen Arbeitszeit, den niederen Löhnen und der Tuberkulose, zu der ihr verdammt seid, denn für den von euch erzeugten Reichtum hat ein gelehrter Mann die Menschheit über „die Anwendung der starken Konjugation bei Chaucer“ aufgeklärt! Ihr Polizisten, deren Streik durch die Harvarder Studenten abgewürgt wurde, findet euch ab mit eurem Hungerlohn, hat doch einer dieser Studenten die Menschheit über die „Syntax des Infinitivs bei Shakespeare“ aufgeklärt! Ihr Mädchen, die ihr in den Textilfabriken schuftet, die ihr in den „Weiberstädten“ Neuenglands auf den Strich geht und euren Leib für ein belegtes Brot verkauft, frohlockt, denn ihr habt es ermöglicht, daß die Menschheit etwas über den „Konjunktiv in Layamons Brut“ weiß! Ihr Männer, die ihr zwölf Stunden täglich vor den glühenden Hochöfen Bethlehems, Midvales und Illinois Steel front, seid fröhlich, packt die Schaufeln fester an, denn eure Arbeit ermöglicht der Menschheit, sich genau über den „Ursprung des Romans in Briefform“ zu unterrichten. Ihr Bergleute, die ihr, jeden Augenblick von Tod und Verstümmelung bedroht, in den Eingeweiden der Erde schuftet, findet euch damit ab, daß die große Universität keine Schutzvorrichtungen anbringen konnte, die euer Leben zu retten vermöchten, hat sie doch das dazu bestimmte Geld ausgegeben, um die „während Sir Robert Walpoles Regierungszeit geschriebenen politischen Balladen“ zu sammeln und zu veröffentlichen!“
Sinclair erzählt uns die Geschichte der zwanzig Hochschulen in den Vereinigten Staaten von ihrer Gründung bis auf den heutigen Tag. Eine Geschichte, die sich wie eine Verbrecherchronik liest, die sich in phantastischen Steigerungen überbietet — eine Geschichte des gigantischen Siegeszugs des amerikanischen Kapitalismus —, Verbrechen, Korruption, Mord und Totschlag bezeichnen ihren Weg. „Das sind doch typisch amerikanische Zustände!“ ist vielleicht mancher im ersten Augenblick auszurufen versucht. „Bei uns in Europa…“
Nun, die Perspektiven, die Sinclair für die nächsten zehn Jahre aufzeigt: „Die Universität wird auch eine Abteilung für Streikbrecher, für das Handhaben des Gummiknüppels und die Anwendung des „dritten Grades“ besitzen. Beredte Artikel werden schildern, daß die Geschäftsleute ihre Zeit dazu verwenden, Agitatoren von ihren Betrieben fernzuhalten, wobei der Geheimdienst der großen Körperschaften eine gewaltige Rolle spiele, und deshalb sei die Universität im Begriff, eine Fakultät für Spitzel zu gründen.“
Amerika, du hast es besser! In zehn Jahren? Europa hat bewiesen, daß es mit der Zeit zu gehen versteht: Streikbrechergarden, „Technische Nothilfe“, Geheimbünde, Korruption, Juden- und „Marxisten“- verfolgungen… Sinclairs Prophezeiungen für das Jahr 1933 sind in Europa im Jahr 1923 schreckliche Wirklichkeit geworden.
Und dennoch: Selbst in Harvard gab es im Krieg einen Studenten, dem es gelang, sich aus der Gletscherwelt der kultivierten Vorurteile einen Ausweg zu bahnen. Er ging nach Rußland und gab sein Leben für die Revolution, seine großmütige Persönlichkeit wird in der russischen Geschichte alle von den Kapitalisten der amerikanischen Regierung gegen Rußland begangenen Verbrechen auslöschen… John Reed!“
In memoriam John Reeds und aller jener, die drüben in Amerika den schweren, ungleichen Kampf gegen die Könige des Geldsacks gewagt haben, ist diese Schrift Sinclairs entstanden. Kein blutloses, erklügeltes „Kunstwerk“ — eine Kampf-, eine Tendenzschrift im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Pamphlet? Ja, aber eines, das uns alle angeht, wo immer wir wohnen, welche Sprache wir auch sprechen: denn diese „Studie über amerikanische Erziehung“ ist in ihrer Allgemeingültigkeit in Wahrheit eine Studie über den Kapitalismus, über die bürgerliche Erziehung überhaupt.
In: Arbeiter-Zeitung, 24.1.1924, S. 9-10.
[1] [Orig.FN] Der Malik-Verlag, Berlin, gibt jetzt die Werke Sinclairs gesammelt heraus.
Max Ermers: Monarchische und republikanische Kunstpolitik
„Ja, aber was die Kunstpflege und das Kunstverständnis anlangt, da muß wohl auch jeder Republikaner zugeben, daß die Monarchie uns weit voraus war.“ So hört man nicht selten Menschen sprechen, die zwar schon im Herzen vollwertige Republikaner geworden, immer aber noch vom Glanz der höfischen Feste, vom Reichtum der kaiserlichen Sammlungen, von der Pracht der Spanischen Reitschule, von den Galavorstellungen in Oper und Burgtheater, von den reichen Dotierungen durch die kaiserliche Schatulle träumen. Sie sprechen dann vom Mäzenatentum der alten Aristokratie, von den Sammlungen des Fürsten Liechtenstein, von den Galerien Lanckoronski, Czernin, Harrach, Schönborn, von Wleceks Prachtburg Kreuzentein, von der Miniaturensammlung der Bourgoings, von der Albertina und von den mehr oder weniger reichen Sammlungen des Bürgertum, das, wie überall, auch im Aufspeichern von Bildern, Skulpturen, Miniaturen, Waffen, Keramiken mit einem hohen Adel wetteiferte. Gewiß, und das kann niemand leugnen, auch das 19. Jahrhundert und das Zeitalter Kaiser Franz Josefs I., an das die sehnsüchtig zurückblickenden Lobredner zumeist denken, hat seine Kunstgeschichte gehabt, hat seine Talente hervorgebracht. Gewiß, Monarchie und Aristokratie wußten sich ihrer manchmal zu bedienen. Quantitativ vielleicht sogar ausgiebiger, denn irgendwann. Aber die Kunst dieser Zeit, soweit sie in höfische Dienste treten kann, war von jener tiefinnerlichen Funktion, die sie Jahrtausende ausüben durfte, zu einer ganz äußerlichen dekorativen Angelegenheit herabgesunken, gerade gut genug, um der alternden Monarchie und der absterbenden Klasse der Feudalität die Blößen zu decken und den Abstand zum aufsteigenden Bürgertum noch einigermaßen zu wahren.
In Wirklichkeit aber fehlte den oberen Hundert und Tausend jene Sicherheit des Spürsinns in der Wahl der Künstler, die der Epoche äußeren Glanz verleihen durften, und das unterscheidet sie gründlich von ihren Vorläufern in den vorigen Jahrhunderten. An die Stelle von Versailles und Schönbrunn, die noch voll des echten Glanzes, treten die romantischen Kitschburgen von Neuschwanstein und Laxenburg. An Stelle der Hofmaler Raffael, Holbei, Dürer und Rubens treten die Hof- und Fürstenmaler Anton v. Werner, Winterhalter, Blaas und Angeli, Gerade bei uns in Österreich hat dieser äußere Kunstprunk die größten Verwüstungen angerichtet und es ist interessant, wie sich, auch ohne den Niedergang der Monarchie, d.h., vor ihr und innerhalb ihrer Anhängerschaft, das Urteil über jene Kunstpolitik geändert hat, die noch zu Lebzeiten ihre begeisterten Soldschreiber hatte. Von der Ringstraße, seinerzeit als Glanzstück der franziscojosefinischen Kunstpolitik angesehen, schweigt man gern still. Die Städtebauer wissen, daß sie eine verfehlte Prunk- und Auffahrtstraße war, die Architekten betrachten sie mit Recht als ein kunsthistorisches Raritätenkabinett, in dem sich die vier „Baubarone“, wie jene Zeit bezeichnenderweise Ferstel, Schmidt, Hansen und Hasenauer nennt, griechisch-gotisch-renaissancisch austoben durften. Dabei hat diese Epoche, trotz ungeheurer Geldmittel aus dem Stadterweiterungsfonds, nicht einmal die moralische Kraft gehabt, ihre Projekte auszuführen. Votivplatz, Museumsplatz, Heldenplatz sind als Plätze Torsi geblieben.
An Stelle wirklicher Museen, die die Schätze der Vergangenheit bergen und sichtbar machen konnten, hat man uns Prunkpaläste hingestellt, bei denen die monumentalen Treppenhäuser die Hauptsache waren. Für diese Treppenpracht riß man den Canovaschen Theseus aus dem Tempel, mobilisierte Makart und Munkacsy für Deckenmalereien, die ihnen nicht zur Ehre gereichen. Ob die Museumsräume brauchbar seien, diese Frage stand an dritter Stelle— mit welcher Konsequenz. das weiß man. Gerade über dieses Kapitel monarchischer Kunstpolitik sollte man einmal die jüngste Schrift des Grafen Lanckoronski vornehmen, um zu wissen, wie selbst ergebene Anhänger des monarchischen Regimes über dessen Kunstpolitik denken. Das Maria- Theresien- Denkmal zwischen den Museen setzte dieser Kunstpflege die Krone auf. Fast noch schlimmer ist dann alles, was im neuen Burgtrakt geleistet wurde, vor dessen Vollendung uns ein glückliches Schicksal bewahrt hat. Aber die Riesensummen des Stadterweiterungsfonds wurden für diesen Riesenkitsch vertan, ohne daß auch nur ein Berufener die Stimme zu erheben gewagt hätte. Den würdigen Schlußstein dieser Bautätigkeit bildete dann das Kriegsministerium. «Nicht anders erging es der Malerei. Von der gestrichenen Pension des Realisten Waldmüller bis. zur von Franz Ferdinand gestrichenen Professur Egger-Lienz („weil nach Anblick solcher Bilder niemand mehr einrücken würde“) führt ein direkter Weg. Nur die Schlachtenmaler hatten ihre gute Zeit.
Und was Franz Josef selbst, dieser ansonsten so liebenswürdige Ausstellungseröffner, von
seinen Bilderjagden heimbrachte, war niemals geeignet, die Kunst zu fordern. Unvergeßlich seine entrüstete Abwendung von Segantinis Bild: Zwei Mütter. Der unglückliche Maler hatte es gewagt, die Kuh, die gekalbt hatte, und die arme Häuslerin als Mütter nebeneinander zu stellen. Und nun gar erst die Bildhauerei.
Von den großen österreichischen Plastikern wurde keiner herangezogen. Von Metzner bis
Mestrovic— blieben sie ohne Aufträge. An allen Denkmälern darf sich nur die Mittelmäßigkeit und Untermittelmäßigkeit breit machen. Und das Kunstgewerbe? Einmal kam einer an der Jahrhundertwende, der die Gesundung versuchte. Der Hofrat Scala. Ein
Erzherzog hat ihn hinausintrigiert und unser Kunsthandwerk krankt noch heute an seiner
Hinausintrigierung.
Nein und nochmals nein. Es war keine Heldenepoche höfischer Kunstpflege, die Habsburgerzeit des 19. Jahrhunderts. Die großen Sammlungen des Adels, Erbgut aus früherer Zeit, blieben für das große Publikum ohne Zugänglichkeit und ohne Bedeutung, das
Bürgertum kopierte schlecht und recht die Sammelpolitik der Aristokraten, indem es kaufte und verkaufte, im übrigen aber den leeren Prunkwahn der Monarchie nachzuahmen suchte. Das Wiener Rathaus und der berühmte Makartsche Festzug sind die ungewollte bürgerliche Parodie der großen Vorbilder. Das große Volk ging leer aus. An keinem einzigen Punkte setzte die Monarchie die breiten Massen mit der lebendigen, taufrisch sprudelnden Kunst ihrer Zeit in lebendigen Kontakt. Diese existierte für den Monarchen nicht, er wußte nichts von ihr, und wenn ja, dann war sie für ihn „Rinnsteinkunst“.
Soweit die Kunstpflege oder — wie man eigentlich sagen müßte — der Kunstbetrieb und die Kunstausnützung in der Monarchie. Und nun zur Republik.
„Was würden Sie für dis Kunst tun, wenn Sie in Ihrem Lande Minister der schönen Künste wären?“ fragte man einmal Ferruccio Busoni. „Ich würde die Wasserkräfte ausbauen“ war die lakonische Antwort. Diese Einstellung zum Kunst- und Massenerziehungsproblem ist für eine ganze Reihe von Pädagogen und Künstlern charakteristisch. Alles, was einer künstlichen Überfütterung des großen Publikums mit billigen Symphoniekonzerten, mit Musteroperettenaufführungen, mit Museumsführungen, Verpflanzung moderner Kunstwerke in proletarische Elendswohnungen, kunstgeschichtliche Vorträge und dergleichen ähnlich sieht, erscheint ihnen verfehlt und gefährlich. Die Gesundung des Ge-//
samtzustandes eines Volkes und insbesondre seiner Wirtschaftsverhältnisse erscheint ihnen
als der einzig mögliche Weg, um an Stelle eines künstlerischen Firnisses zu einer wahrhaft künstlerischen Durchdringung der Volksmassen zu kommen. Kein Zweifel, der Weg, der gleichzeitig der Weg zur sozialen Republik ist, ist ein guter, und irgend einmal wird er schon zum Ziele führen. Aber wer hat genügend Geduld, ihn zu gehen? Wer genügend Gemütsruhe, die Häßlichkeiten, die teils als Verfallserscheinungen des alternden Europa, teils als Amerikanisierungserscheinungen unseres Kontinents täglich auf uns einströmen, zu ertragen? Schließlich: der.Kunstminister kann nicht alleSorge dem Volkswirtschaftsminister überlassen.
Gewiß: eine große republikanische Kunstepoche, die das ganze Leben der Gemeinschaft und der einzelnen bis ins tägliche Leben künstlerisch verklärt, kann nicht mit Rezepten irgend welcher Art verwirklicht werden. Dazu bedarf es jener großen künstlerischen Individualitäten, die wie in einem Brennpunkt das ganze Leid und die ganze Sehnsucht ihrer Zeit in sich konzentrieren und durch die Fülle hinreißender Werke die Gefolgschaft der Nation erzwingen. Ein Zeitalter Phidias oder Michelangelos kann nicht aus dem Boden gestampft werden.
Was aber geschaffen werden kann, das sind die äußeren Vorbedingungen. Solange die Menschen in schmutzigen Städten, in elender Luft und an trüben Flüssen leben, meinte einmal Englands großer Kunstreformator, John Ruskin, solange sind alle Bestrebungen, ihr ästhetisches Niveau zu heben, illusorisch. Er hätte noch weitergehen können in seiner
prophetischen Verkündigung. Solange die Menschen in ihren sonnenlosen, überfüllten,
schlecht gereinigten mit Urvätergerümpel angestopften Wohnungen leben werden, ist jede
Kunsterziehung unmöglich. Solange unsere Kinder in den monotonen Zwangsgefängnissen unserer Schulräume ihre disziplinierten und bewegungslosen Jahre absitzen müssen,
Arbeitslosigkeit und Daseinssorge um die Familie ihr Gleichgewicht erschüttert, solange sie sich einem ungewissen Alter der Verarmung entgegenschreiten sehen, solange sind
sie für Kunstgenüsse unzugänglich… es sei denn, das Kunstwerk spiegle ihre eigene Not,
ihre Probleme, ihre Leiden, ihre Hoffnungen wider… In diesem Falle stürzen sie dann
meistens von der Skylla in die Charybdis, erleben statt Kunst und Dichtung politische
Karikatur und gereimte Leitartikel.
Wie gering der erzieherische Wert der Kunst ganz allgemein veranschlagt wird, in
Europa und Amerika, das zeigt sich am besten daran, daß eigentlich kein einziges Land, mit
der halben Ausnahme von Rußland, systematische Kunstpolitik treibt, ja an sie kaum denkt.
Kunststellen aller Parteien und Kunstwarte der Gebietskörperschaften tauchen zwar allerorten auf, ober von keinem hat man schon ein systematisches Programm erblickt.
Man verhütet das Allerschlimmste und wurschtelt im Traditionellen fort. Alle Städte
des alten und des neuen Kontinents wachsen mit rasender Schnelligkeit. Aber hat man davon gehört, daß ihr Wachstum durch irgend welche künstlerischen Prinzipien planvoll nach bestimmten kunsterzieherischen Zielen dirigiert werde? Ohne Übertreibung darf man
sagen, daß man das kunsterzieherische Wollen einer Stadt von ihrem Generalregulierungsplan mit seinen Straßenführungen, Platzgestaltungen, lichten, schmutzlosen Gartenvororten, Grünflächen, Sonnenbädern, Strandbädern, Kindersiedlungen usw. ablesen könne. Aber welche Stadt hat sich schon zu solchem planvollen Zukunftswollen aufgerafft? Wohnreform ist der zweite Pfeiler einer vorbereitenden Kunsterziehung, die heute schon einsetzen kann. Aber welche Stadt, welches Land hat seine Wohnungspolitik auf äußere Schönheit der Architektur, auf innere Schönheit der Bequemlichkeit, der guten Brauchbarkeit, der Gesundheit, des sinnvollen, erzieherischen Mobiliars, der zwangsläufigen Sauberkeit abgestellt? Welche Stadt ergänzt ihre Wohnungspolitik durch schön gebaute, geschmackvolle Erholungsheime und Klubhäuser, die die Kraft-, Zeit- und Geldvergeudung der Wirtsstuben völlig paralysieren? In Letchworth und Welwyn, die aus dem jungfräulichen Ackerboden gestampft wurden, kann man solche Heime finden, aber sonst…? Die sinnvolle Schule ist der dritte Pfeiler der Kunstvorbereitung. Die neue Methode, die die Kinder Hand anlegen läßt an alles, was lernbar ist, die in Ton und Buntpapier und Pastell arbeiten läßt, ist gewiß ein guter Anfang. Aber so lange nicht die gesamte Jugend durch die gewaltigen Revolutionen der sinnerwecken den, aktivierenden Montessori-Schulen und freien Schulgemeinden hindurchgegangen ist, ist sie für künstlerische Erlebnisse nur höchst primitiv vorbereitet. Mit der Jugend muß begonnen werden, wenn das Alter schon nicht mehr zu retten ist, diese tiefste Erkenntnis aller Kunsterziehungspolitik müßte an der Spitze jedes Kunsterziehungsprogramms zu lesen sein.
Körperliche Entfaltung— der vierte Grundpfeiler: Hier haben die Franzosen, die Schweizer und Amerikaner schon alles vorbereitet, was geeignet ist, durch harmonische
Entfaltung zu neuer Werteinschätzung des sich fühlenden menschlichen Körpers zu kommen. Unsere Körper sind durch Schulbank, Bureau und Werkstätte verkümmert und nur
mehr aus Antikensammlung und Gipsmuseum ersehen wir ahnend entschwundene
Möglichkeiten. In der harmonischen Körperkultur bereitet sich eine neue künstlerische
Revolution der Menschheit vor, die der Malerei, der Plastik, dem Drama, dem Tanz und dem öffentlichen Fest unerhörte Entwicklungen sichert. Wir aber drillen noch an tausend Orten die Weisheiten des Turnvaters Jahn. Für Schulreform und Kinderfreunde eröffnen sich hier außerordentlich« Perspektiven der Kunsterziehung, denen wir mit unseren wenigen Arbeiterstrand- und Sonnenbädern nur sparsam vorgetastet haben. Soweit die Vorbereitung unserer Sinne, unserer Körper, unserer Seelen, deren wir heute schon fähig sind.
Und vollends muß man sich darüber ins Klare kommen, daß unsere heutigen Scheidungen im Kunstschulwesen völlig veraltet sind. Eine Künstlergeneration wächst auf der Akademie heran, die dem Kunstleben unserer Generation völlig entfremdet ist, und Rettung ist
hier nur durch einen Zusammenschluß der niedrigen und hohen Kunstschulen, des Kunstgewerbes und der reinen Künste in eine einheitliche Erziehungsanstalt möglich. Dem
Museumsbetrieb, der gewöhnlich mit Führungen, Umhängungen, Sonderausstellungen ins
Zentrum der Kunsterziehung der Republik gestellt wird, gebührt lange nicht diese Aufmerk-
ämkeit. Gewiß, was vorhanden ist, soll konserviert und zugänglich sein, auch erweitert
werden. Ein Museum für Antiken, für Plastiken, für Naturvölkerkunst, für die städtischen
Sammlungen und vor allem für die schaffende Gegenwart werden wir auf die Länge der Zeit
nicht entbehren wollen. Aber, immer müssen wir uns vor Augen halten, daß Museumsbetrieb Wissenschaft ist und das musealisierte Kunstobjekt sich niemals an Wirksamkeit mit den Werken vergleichen kann, die an lebendigen Orten zeitgemäßen Seins und Erlebens ausgenommen werden. Hier klaffen Welten.
Wie Dichtung und Theater, Musik und Kino helfen können, das Leben der Massen künstlerisch zu durchdringen, mögen Berufenere sagen. Das meiste, was auf diesem Gebiete
unternommen wurde, erscheint als tastender Versuch, der fehlschlug. Republikanische Kunstpolitik großen Stils, die diese gewaltigen Kräfte nicht als bloßen dekorativen Aufputz
eines Volkes gelten lassen will, sondern als Mittel der Erhöhung des individuellen und
gemeinschaftlichen Lebens, ja als Mittel, die fehlende innere Gemeinschaft von Mensch zu
Mensch, von Volk zu Volk erst zu schaffen, republikanische Kunstpolitik, wird diesen großen
soziologischen Funktionen ihren rechten Platz anweisen. Alles, was heute auf diesem Gebiete versucht wird, ist gutgemeinter Dilettantismus und Mißverständnis.
Unsere Sehnsucht aber geht dahin, daß es gerade unserer Stadt mit ihrer alten Kultur und ihrem politischen Fortschritt vergönnt sein möge, auch für das neue Verständnis, das
einer republikanischen Kunstpolitik gegenüber überall in Europa wird einsetzen müssen, die
Vorbedingungen zu schaffen.
In: Der Tag, 25.12.1925, S. 28-29.
Hermann Menkes: Das junge Geschlecht.
Hermann Menkes: Das junge Geschlecht (1918)
Die Aktivisten
Die Bezeichnung wird einem Mißverständnis begegnen. Der AktivismusBewegung im Umfeld des literarischen Expressionismus, die auf eine Aktivierung bzw. Involvierung der Geistigen in die Po... bedeutet nicht eine Organisation zu irgendeiner manuellen Tat, sondern die Auferstehung des Geistes, eine Revolte lahmgelegter Menschheitsgedanken. Das ist das Schlagwort des Geschlechts von 1914, der Zwanzigjährigen, denen der Krieg zum ersten und schmerzlichsten Erlebnis wurde. Das wieder erwachte Menschheitsgewissen will sich durch diese jungen Leute aussprechen, ein allumfassendes Gefühl mitten in einemCancan der Leidenschaften und der materiellen Begierden.
Aktivismus heißt das Leben mit dem Geist wieder verbinden, Politik mit der Kunst, eine weitausschauende Besonnenheit. Sie stehen in einem Kontrast zur Generation, die ihr voranging, und sie sind entschlossen, sie zu bekämpfen. Mehr als ein Jahrzehnt war das Geistige nur das Spiel, das alle Zusammenhänge mit dem Leben verlor, die Kunst das Geschäft von ichsüchtigen Individualisten. Geist und Leben waren gesonderte Gebiete, Kunst eine Zufluchtsstätte für Lebensentfremdung. Man schuf Schönheitsvasen in einer Umgebung von Barbarei und erschöpfte sich in einem unfruchtbaren Artistentum. Formen wurden geschliffen ohne Inhalt. Das waren die Sünden gegen den heiligen Geist, der zu einem okkulten Dienst mißbraucht wurde. Man war indifferent oder verbrüderte sich mit einer Gesellschaft träger Herzen, die jede Verkommenheit und Verelendung ermöglichte. So geht gegen die Vorangegangenen die bittere Anklage, die Rechenschaft verlangt für das, was ohne Abwehr geschehen konnte und nicht mehr möglich sein soll.
Dr. Kurt Hiller hat zuerst die Ausrufe zum tätigen Geist erlassen. Das Ziel betitelte sich sein Manifest. Dr. Franz Pfemfert gab diesem Geist ein Organ in seiner Zeitschrift Die Aktion und in seinen Flugblättern Der rote Hahn. Diese Schriften sind schon jetzt von hoher kulturgeschichtlicher Bedeutung. Am eindruckvollsten sind die Mahnworte Heinrich Manns, in dessen Schaffen und Denken sich ein inhaltsschwerer Umschwung vollzogen hat. Mann ist der Fürsprecher des jungen Geschlechts, dem er seine eigene Generation preisgibt: „Von Jahr zu Jahr vollständiger bis zum Krieg erschöpfte sich die literarische Denkarbeit Deutschlands im Rechtfertigen des Falschen und im Auftrumpfen mit Paradoxen. Persönlichkeit und Auszeichnung statt des überall sich vollziehenden Ausgleichs. Der Staat und seine Größe statt des Menschen und seines Glücks. Die Verachtung der Vernunft — und damit die Verachtung des Menschen statt des europäischen Glaubens an seine höhere Bestimmung.“ (Einleitung zum Almanach Die neue Dichtung.) Man nennt eine derartige Haltung Selbstaufgabe und Bankerott. Er sieht in der deutschen Öffentlichkeit das Erscheinen einer neuen Partei des Geistes, eine Auflehnung gegen den in „Riesenverbänden organisierten Widergeist, unter dessen Schreckensherrschaft wir gelebt haben. Es geht jetzt um keine anderen Begriffe als um die vom Glück und Dasein des Menschen. Der Staat soll zu einer Heimat der Seele werden. Ihn zu verwirklichen, soll zur Sorge des jungen Geschlechts werden. Eure Pflicht, Zwanzigjährige, wird das Glück sein“.
Das mag als Ideologie bezeichnet werden, aber hinter dieser steht die Entschlossenheit zum Wirken. Die jungen Leute wollen keine Ästheten mehr sein, keine Erzeuger von Kostbarkeiten. Sie versuchen dies auch künstlerisch auszudrücken, in Dramen, Erzählungen und Gedichten. Wir vernehmen die Stimmen von tief Erschütterten. Stimmen, unrein im Klang noch, ringend um neuen Ausdruck. Wir sehen Irrtümer der Form, Verwirrung im Gefühl, viel Chaos. Der Ästhetiker hat hier ein Recht zu Tadel und Ablehnung. aber wenn noch nicht das Werk, so ist es der neue Geist, der unsere Aufmerksamkeit erzwingt. Charakteristisch dafür ist wie diese Jüngsten Stellung zum Krieg nahmen. Sie kennen keine Apotheosen des Siegers, sondern nur die tiefen Leiden innerhalb dieser Menschheitskatastrophe. Im. Innersten ganz erschüttert, stehen sie da. Sie erheben Proteste, erlassen, Ermahnungen, schildern mit stärksten Worten die Tragödien des Einzelnen. Sie sind Skeptiker und pflanzen doch einen neuen Glauben an die Zukunft auf. Eine blutige Gloriole ist um die Märtyrer ausgebreitet. Die ganze Menschheit wird zu einer neuen Brüderschaft angerufen. Der Mensch schreit, Der Weltfreund, An Europa, Rufe der Jüngsten, Das gelobte Land, das sind die Titel der lyrischen Manifeste. Es sind Attitüden, die von lächerlicher Verstiegenheit wären, wenn dahinter nicht das so furchtbare Erlebnis dieser Jugend stehen würde. Die Kunst soll wieder der Wirklichkeit eingefügt werden, das ist eine ernste Forderung, über die man von 1871 an hinwegging. Der Naturalismus brachte das Elend als dichterisches Motiv. Die Jüngsten von heute identifizieren sich mit diesem Elend. Es ist ein Sturmlauf gegen überlebte Begrifft. Zum Höchsten wird nicht irgendeine Institution erhoben, sondern der Mensch. Der gepeinigte, entwürdigte und entwertete Mensch. Kurt Pinthus, einer der Wortführer, ruft den jungen Dichtern zu: Sie mußten zugleich, als Sie Neues (das doch Uraltes war) begannen, den allgemeinen Konventionalismus vernichten, der sich mit der erstickenden Gewalt verwesender Epochen über uns gewälzt hatte. Dieser Kampf nach rückwärts bringt Ihnen zum Leid Ihrer zerstörten Jugend neues Leid; manches, was Herz und Sinne noch liebten, zwingt der Geist, zu verlassen und zu verwüsten — und schon höre ich Märtyrerpfeile gegen Ihre Herzen schwirren.
Am stärksten und reinsten unter den jungen Dichten hat Iwan Goll diesem Empfinden künstlerischen Ausdruck verliehen. Er singt das Lied vom „Neuen Orpheus“ (Berlin, Verlag der Aktion), der in die menschliche Unterwelt hinuntersteigt:
„Orpheus war der ewige Dichter der Welt. In seinem Geist lag die Landschaft Doris. Olivenwälder rauschten im Wind seiner Liebe.“
Die Menschen aber kannten Orpheus so wenig wie er sie: „Ihr dunkles Rinnsal quoll durch die grauen Städte… der Menschen Erde war ein Schacht. Der Menschen Himmel ewige Nacht.“ Orpheus geht mit seinem Lied von der einfach lächelnden Güte durch die Boulevards, die Absinthschenken durch die Cafés und Spelunken. Niemand horcht ihm als nur da und dort ein Kind. Er wird verhöhnt, mit Roheiten vertrieben. Wir machen diesen Leidensweg mit dem Sänger des Heils mit. Seine Schuld war, daß er der Menschen Leid nicht verstand: er hatte sich zu sehr nach ihrer Liebe umgeblickt. Er hatte ihr schwarzes Antlitz gesehen und nicht ihr rotes Herz… Im dritten Jahrtausend kehrte Orpheus wieder. Er wurde ein anderer, litt mit an der Schuld der Menschen, aber auch diese hatten sich im Leid gewandelt. Wieder stimmte er sein Lied an:
Da ging ein Ton über die Welt.
Aus der Asche der Menschenbrust stieg ein Phönix durch die Kathedrale.
Dieser Ton: ein tiefgoldenes Schluchzen: Ein Gewölbe tut sich auf. Eine Geige setzt sich auf die Schultern des Bettlers. Eine Hand lächelt dem Kranken. Eine weiße Taube zeigt sich dem Blinden…
Dieser Ton war der Atem der Erde.
Orpheus der Befreier sang. Er führte die Menschheit hinaus zur Absolution ….
Iwan Goll hat in seinem Gedicht ein Symbol der tragischen Mission des Dichters geschaffen. Hier ist das neue Pathos, wie es Verhaeren schon besaß, eine neue Schönheit, die wir bewundern.
In: Neues Wiener Journal, 31.3.1918, S. 9.