Roda Roda: Zwei Planeten. 

Roda Roda: Zwei Planeten. (1923)

Die Interviewer kamen und gingen wieder. Jeder redete zu mir. Und ob ich nickte oder verneinte – ganz gleich – jeder schrieb, was er selbst gesagt hatte, als meine Meinung nieder. Nachdem der zwölfte Interviewer gegangen war, trat eine kleine Pause ein. Ich wartete unruhig auf den dreizehnten. Vergebens, er blieb aus. Da beschloß ich, mich selbst zu interviewen. Ich habe es nun schon so oft mitgemacht – ich weiß, wie man es anstellt.

Herr Roda, sind Sie schon lange in Amerika? 

Drei Monate, Mister… Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht verstanden; ich weiß nur, daß darin etliche lange – oa – vorkommen. 

Wollen Sie noch eine Zeitlang bleiben?

Bis ich mich unmöglich gemacht habe. Also etwa fünf Wochen, schätze ich. So lange hat man mich bisher noch überall geduldet.

Gefällt Ihnen Amerika? 

Wie originell Sie fragen! Es geht mir hier wie dem türkischen Eulenspiegel Naßreddin. Er lag zu Bett und schlief. Da träumte ihm, sein Nachbar zahle ihm neun Groschen auf die Hand. „Gib mit auch den zehnten,“ bat Naßreddin. Der Nachbar weigerte sich und sie stritten. In der Erregung des Streits erwachte Naßreddin und fand seine Hand leer. Rasch schloß er die Augen wieder: „Laß sein, Nachbar, ich begnüge mich schon mit neun Groschen.“ – Auch mir scheint Amerika wie ein schöner Traum. Ich fürchte zu erwachen und wieder in Europa zu sein. 

Demnach befinden Sie sich in Amerika sehr wohl? 

Es ist ein grundsätzlicher Irrtum der Geographie und eine Pedanterie unsrer europäischen Schulmeister, Amerika einen andern Erdteil zu nennen. Amerika ist ein anderer Planet. Eure Technik, euer Optimismus, eure Arbeitskraft – schön und großartig. Ich glaube auch wenn ihr Dummheiten macht, müssen es kapitale Dummheiten sein. 

Oh!

Widersprechen Sie nicht! Alles ist imposant. Schon die Einwohnerzahlt von New York: 20 Millionen. 

Wie kommen Sie zu dieser Ziffer? 

Durch Addition natürlich. Es war ein Italiener bei mir der sagte, es gäbe hier 20% Italiener, anderthalb Milliionen. Ein Jude gab anderthalb Millionen Juden an. Dann Deutsche, Russen, Skandinavier, Franzosen, Tschechen, Südslaven, Rumänen… von allen gibt es hier mir als in irgendeiner Stadt Europas. Wenn Sie alles zusammenrechnen, finden Sie, daß New York über 300 Prozent Einwohner hat, insgesamt 20 Millionen.

Einige New Yorker sind doch auch hier geboren. 

Die hatte ich vergessen. Dann geht die Rechnung noch höher. Hier reicht eben alles in den Himmel – nicht nur die Paläste. Es ist hier ein Schlaraffenland. Candys, Candys aller Ecken, und immer neue Läden entstehen; in längstens drei Jahren wird New York eine einzige Konditorei sein. – Dies Land verblüfft mich immer mehr. Ihr habt Elevators, die fahren; die Zentralheizung gibt Wärme – Wunder für einen Europäer. – Ich weiß mich hier gar nicht zu benehmen. Man gibt mir einen zugeschnürten Packen in die Hand; ich versuche die Schnur zu zerreißen, wie man das bei uns immer mit zwei Fingern macht; zu meinem Erstaunen aber reißt die Schnur nicht; da zücke ich mein Messer, und es zeigt sich, daß die amerikanische Schnur härter ist als das Messer. – Eurer Leder kommt aus der Gerberei; unseres aus der Papierfabrik. Eure Butter kommt vom Land. Eure Kartoffel sind nicht faul. Und ihr habt Fleisch, das man schneiden kann. Die Milch hier ist durchsichtig. Ihr habt Kaffee aus Bohnen. Wenn Schnee in New York fällt, ist er schwarz: nicht einmal der Schnee in Amerika ist wie bei uns. – Was ihr Verkehr nennt, hieße bei uns schon Panik. – So elegant wie bei euch die Tippmamsellen sind bei uns nur die aktiven Prinzessinnen – und Sie wissen, daß die meisten Prinzessinnen nicht mehr aktiv sind. – Es ist wahr, manches bei euch mutet uns sonderbar an. Ihr alle seid polizeilich gar nicht gemeldet, und eure Polizisten tragen keine Waffe; der Kirchturm ist das niedrigste Gebäude der Stadt; dafür treibt die Kirche Lichtreklame; man zündet Licht nicht an, um zu sehe, sondern um beachtet zu werden; der drahtlose Telegraph ist das Spielzeug eurer Kinder; die Kinder befehlen; der Vater kocht und putzt der Frau die Stiefel. – Amerika ist das Land, wo man liegend rasiert wird, stehend ißt und von der Tagesarbeit ausruht, indem man stundenlang einem kleinen Ball nachläuft. Man behält hier in der Eisenbahn den Hut auf und nimmt ihn im Fahrstuhl ab; elf Greise entblößen die Häupter, wenn ein zehnjähriges weibliches Rotznäschen in den Fahrstuhl tritt. Dafür gibt es hier auf der Straße keine Hunde, Sperlinge und Kinderwagen; bei uns genießen die Hunde öffentliche Freiheiten, die keinem Menschen zustehen. – Komisch ist euer Wetter: ihr habt von Jänner bis Juni April. Auch in Venedig ist es naß; dort gibt es aber Gondeln.

Sie sprachen von Dummheiten. Meinten Sie die Prohibition? 

Habt ihr Prohibition? Verzeihen Sie – ich bin erst drei Monate im Land – da hatte ich es noch nicht bemerkt.

In Deutschland trinkt man wohl immer noch viel? 

Meist Tee. Man macht Tee bei uns, indem man Heu in lauwarmem Wasser wäscht.

Demnach eine neue Industrie? 

Ja, manche Industrien in Deutschland blühen. Es erzeugt zum Beispiel unsre Reichsdruckerei mehr Banknoten als irgendeine Anstalt auf Erden. In der vorigen Woche entstanden soviel Banknoten, daß man nur ein Band aus ihnen zu bilden brauchte, und man konnte es um die ganze Erde wickeln. In dieser Woche ist der Rekord gebrochen wurden; die Banknotenerzeugung reichte dreimal um den Mond. Eine achtunggebietende Leistung. Da kommt ihr nicht mit. 

Sie haben darum auch die große Teuerung in Deutschland. 

In New York ist alles viel teurer. Ein Mantel kostet hier neunzig Dollar. Das sind zwölf 

Millionen Dollar…Dafür kaufe ich mir in Deutschland ein Landhaus, nehme eine Hypothek darauf und schaffe mir aus der Hypothek einen Mantel an. – Allerdings steigen bei uns die Preise von Tag zu Tag. Ich habe eine interessante Erfindung gemacht. Bisher mußte ein Kaufmann bei uns einen Mantel ins Schaufenster hängen und infolge des sinkenden Markkurses den Preis stündlich ändern. Wie viel Mühe macht das bei soviel Mänteln! Ich habe nun eine Uhr konstruiert, die den Preis angibt und selbständig jede Stunde um 10.000 Mark hinaufspringt. Ein Mantel, der heute 240 Tausend Mark kostet, kostet morgen das Doppelte. 

Schweres Leben in Deutschland. 

Verschieden schwer – je nach Ständen. Wer von seinen Kapitalzinsen zehren muß, hungert, // das ist klar – denn die Kaufkraft des Geldes sinkt ja so sehr. Anders die Arbeiter: sie hungern, weil ihre Löhne nicht Schritt halten mit der Markentwertung. Bei dieser Sachlage können die Intelligenzberufe unmöglich gedeihen. Die Dichter, zum Beispiel … es kostet das einfache Bespannen einer Leier mit fünf Saiten schon fünfzigtausend Mark; das kann sich ein Dichter nicht leisten. Darum gibt es auch keine weichen Gefühle mehr in Deutschland. – Am besten haben es noch die Ärzte. Zwar gehen sie müßig, weil niemand Zeit hat, krank zu sein – doch die Ärzte verkürzen sich das Warten auf Patienten sehr angenehm, indem sie einander telephonisch nach ihrem Befinden befragen – in der Hoffnung, eine Todesnachricht zu hören – wodurch sich der Konkurrenzkampf etwas mildern würde. 

Eure Staatsmänner?  

Wir sind bereit, euch 10 davon zu schicken, wenn ihr uns im Austausch dafür ihr Gewicht in Speck und weißen Bohnen gebt. Graf Lerchenfeld wiegt 160 Pfund.

Sind auch die Rechtsanwälte brotlos?

Sie haben alle Hände voll zu tun mit der Scheidung der Kriegsehen. Man plant jetzt ein Gesetz, das die erste Ehe jedes Menschen überhaupt für ungültig erklären soll. Es wäre eine große Zeitersparnis für die Gerichte. 

Und nach diesem Europa wollen Sie zurückkehren?

Gern – ich habe ja meine Familie dort. Ich bin achtzehn Jahre verheiratet – unsere Ehe ist die älteste Künstlerehe der Welt. Und ich beabsichtige, die Ehe fortzusetzen. Wie meine Frau im Augenblick darüber denkt, weiß ich allerdings nicht: ihr Kabel von gestern abend war noch sehr zärtlich. 

Sie leben in München?

Ganz richtig. Einstweilen sind die Franzosen noch nicht da. Die Franzosen wollen, wie man hört, aus dem Ruhrgebiet zunächst nach Berlin vorstoßen, um es zu besetzen, und hierauf nach Wladiwostok weitergehen. Dann kommt wohl ihr Amerikaner daran. Das kann noch Monate dauern. Marschall Foch soll sich mit dem Einmarsch in New York nicht beeilen – sonst kommt er mit seinen Truppen hier im Hochsommer an, wo alle besseren Menschen in den Seebädern sind. 

Der Interviewer sieht nach der Uhr. Ich merke, ich habe seine Geduld erschöpft und drücke ihm zum Abschied warm die Hand.

„Mein Herr“, sage ich ihm, „Sie können ruhig behaupten, eine Stunde mit dem größten Satiriker Deutschlands verplaudert zu haben. Meine Kollegen sind nämlich zur Zeit so beschäftigt mit Selbstanbetung, daß sie meine Überhebung gar nicht merken werden.“

In: Prager Tagblatt, 12.8. 1923, S. 3-4.