Berta Zuckerkandl: Eine Bittfahrt um Brot (1923)

Am 12. November 1918 präsentierte die Weltgeschichte den Habsburgern ihre Rechnung. Die Kosten mußte aber auch das alleingebliebene deutschösterreichische Volk zahlen. Als die sozial­demokratische Regierung die laufenden Geschäfte übernahm, fand sie eine Situation vor, die an Elend, Verzweiflung, Hoffnungs­losigkeit kaum ihresgleichen in den Annalen zugrundegerichteter Länder finden dürfte. Stand bereits im Sommer der Hunger grinsend neben seinem damals geschäftigsten Freund, dem Tod, so trat durch den Umstand, daß die Auflösung der Monarchie mit einem Schlag Kornkammern und Kohlenschächte jenseits der neuen Grenzen ließ, eine absolute Absperrung jeder Zufuhrmöglichkeit ein. Wien besonders glich einer von einem zornigen Weltmeer umbrandeten verlassenen Insel. Und der Leiter des Auswärtigen Amtes, Dr. Otto Bauer, mußte tatsächlich als moderner Robinson die Aufgabe zu lösen versuchen, diese verwüstete Insel lebensfähig zu machen.

So trat gleich in den ersten acht Tagen der deutschösterreichischen Republik als brennendes Problem das Problem der Verproviantierung hervor. Damit war aber auch die Aufrollung der neu zu schaffenden internationalen Anlehnung gegeben. Daß diese vor allem in — Entlehnungen bestehen mußte, war die bittere Erkenntnis, aus der die deutschösterreichische Regierung bestimmende Entschlüsse zog. Der Weg über die Schweiz, von der Schweiz, durch die Schweiz allein stand offen. Aber auch dieser konnte dem sterbenden Österreich nur Nahrung zuführen, wenn das uns ethnographisch ferne Amerika, wenn das uns menschlich noch fernere Europa die Schweiz zum Transitlager einer organisierten Welthilfe erwählen würden.

Daß nun die ersten Rufe nach einer solchen Organisation nach Paris dringen, wo seit dem Endsieg der Entente die Versailler Diktatur an dem neuen Modell „Europa“ stümperte, dazu war es vor allem notwendig, sich den entscheidenden Fürsprecher zu sichern, der eben erwählt worden war, das niedergebrochene Europa durch neue Ernährungsquellen zu speisen. Hoover mußten von Österreichs Lage authentische Daten mitgeteilt und Wege gefunden werden. Aber! Wo diesen Unauffindbaren erreichen? Niemand, selbst in den neutralen Ländern wußte, wo er gerade weilte. Da aber Bern, mehr noch als während des Krieges unmittelbar nach dem Krieg der Brennpunkt aller internationalen Annäherungen geworden war und sozusagen diplomatisch als der Vorhof zum Versailler Allerheiligsten gelten konnte, so beschloß die deutschösterreichische Regierung: erstens eine neue, die eben gegründete Republik vertretende Gesandtschaft für die Schweiz zu ernennen und zweitens eine vollständig unabhängige Kommission für die einzuleitende Ernährungsaktion nach Bern zu entsenden. Als Leiter dieser Kommission wurde Baron Leopold Hennet (der nachmalige Ackerbauminister und provisorische Leiter des Staatsamtes für Äußeres) ausersehen. Hennet hatte neun Jahre hindurch in Bern die wirtschaftlichen Interessen der Monarchie in mustergültiger Weise vertreten, war in der Schweiz Persona gratissima und verfügte auch sonst über weitreichende Verbindungen. Ihm wurde ein Stab von industriellen Finanziers und Fachmännern beigegeben. Auch der ausgezeichnete Organisator Dr. Schwarz-Hiller und der in England und Amerika so populäre Slatin-Pascha, ein Freund Hoovers, waren Mitglieder der Kommission. Zu meinem Erstaunen erhielt auch ich vom Staatsamte des Äußern die Anfrage, ob ich geneigt wäre, in einer sowohl von der neuen Gesandtschaft als auch von der Kommission vollkommen unabhängigen Mission die Mitreise nach Bern anzutreten. Ich hatte diesbezüglich am 22. November im Staatsamt des Aeußern eine Unterredung mit Dr. Otto Bauer.

Was von mir verlangt wurde, war: die Lebensmittelfrage und die Kohlenfrage als Menschlichkeitsfrage vor allen jenen Faktoren ins Gewissen zu senken, die — wie man am Ballplatz zu wissen glaubte — sich vorläufig absolut jeder Hilfsaktion für Deutschösterreich verschließen wollten. Dr. Otto Bauer sagte mir: „Was von Frankreich zu erbitten ist, wäre dies: Es soll keinen Einspruch erheben gegen Amerika, das uns rasch helfen will. Im Dezember jedoch kommt diese Hilfe vielleicht schon zu spät. Das beste Volk der Welt ist auf das äußerste erschöpft — es hält es nicht mehr aus. Der Bürgerkrieg ist unaufhaltsam, wenn nicht rasch, wenn nicht von der Entente vereint, Hilfe kommt. Frankreich nun hat in Österreich große wirtschaftliche Interessen. Hat hier sehr bedeutendes Kapital. Es kann deshalb schon unmöglich im Interesse Frankreichs liegen, einen chaotischen Zustand bei uns herbeizuführen. Dieser aber muß unabwendbar kommen, wenn die Entente noch vor allem Menschlichkeit übt und das deutschösterreichische Volk von Verzweiflung erlöst.“

Welche Frau hätte in diesem Augenblick sich einer solchen Aufgabe entzogen? Ich unterschätze wohl keinen Augenblick die Schwierigkeiten, die gerade ich zu überwinden haben würde. Denn: wer Georges Clemenceau, den damals Allmächtigen, genau kannte, der mußte wissen, daß gerade ein verwandtschaftliches Verhältnis das größte Hindernis zu irgendeiner zu erlangenden Begünstigung bilden mußte. Lieber würde er als grausam gelten wollen, denn als parteiisch. Nicht also durch Georges Clemenceau die französische Hilfe unserem Lande zu sichern, sondern trotz Clemenceau sie in die Wege zu leiten – war der Versuch, den ich zu wagen unternahm.

Unsere Fahrt, ins Graue — die Abreise des neuernannten  Gesandten Dr. Haupt und aller Mitglieder der Gesandtschaft sowie der unter Führung des Baron Hennet stehenden Ernährungskommission, welcher ich mich anschloß, fand an einem düsteren Morgen des 26. November 1918 statt. Ein Schlafwagen war für uns dem einzigen nach Feldkirch verkehrenden Bummelzug angehängt worden. Unbeschreibliche Szenen spielten sich auf dem Bahnhof ab, da der Zug von Tausenden Personen bestürmt wurde. Erst bis der Gesandte Haupt in einer Anrede den Zweck unserer Reise erklärte und erzählte, welche traurige und lange Bittfahrt um Brot alle in diesem Schlafwagen Reisenden anzutreten im Begriffe seien, trat ein Umschwung ein. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte die Reise. Sie verging mit Pläneschmieden. In Bern angelangt, fanden wir jedoch eine Situation vor, die niemand als so ernst vorausgesehen hatte.

Der neuen Gesandtschaft verweigerte vorerst die Schweizer Regierung  das Agreement. Was soviel hieß: daß eine nicht an-//erkannte Gesandtschaft an keiner offiziellen Stelle des Landes sowie auch des Auslandes Zutritt erhielt. Was aber das Schicksal unserer Ernährungskommission betraf, so schien es sich noch düsterer zu gestalten. Der Plan, den Baron Hennet mit Unterstützung seiner Mitarbeiter ins Auge gefaßt hatte, war folgender: Durch Hoovers Vermittlung sollte die Entente eine interalliierte Kommission nach Bern entsenden, die die Informationen, Daten, Vorschläge unserer Delegierten entgegenzunehmen hätte, um dann auf Grund eines solchen von Fachmännern ausgearbeiteten Materials wieder an Hoover Bericht zu erstatten. Drei Punkte waren von unserer Kommission als Verhandlungsbasis festgelegt worden: 1. Lebensmittelvorschüsse der Entente. 2. Selbstlieferungskonsens von der Entente an die Schweiz zu erteilen. 3. Zuschübe der Lebensmittelvorschüsse nach Wien, ohne daß Österreich dafür sofort Geld zu erlegen hätte.

Wir aber fanden hermetisch verschlossene Türen.

(Ein zweiter Artikel folgt.)

In: Neues Wiener Journal, 17.2.1923, S. 4-5.

Leo Lania: Das junge Amerika (1923)

Was an literarischen Werken in den letzten Jahrzehnten aus Amerika den Weg nach Europa gefunden hat, konnte gewiß nicht die Behauptung rechtfertigen, es gäbe so etwas wie eine nationale amerikanische Literatur. Andererseits ist es jedoch ganz klar: dieser einzigartige Assimilationsprozeß, der aus jedem in die glühende Effe des amerikanischen Lebens geratenen Engländer, Deutsche, Tschechen in wenigen Jahren den Amerikaner schweißte und hämmerte, mußte auch in der Literatur sein Abbild finden. Und so bezeichnet auch der allen modernen amerikanischen Schriftstellern eigene Wesenszug – ihre innige Verwachsenheit mit der journalistischen Reportage – mehr als etwas formales, äußerliches; er drückt sich in der Technik dieser Literatur ebenso aus wie in ihrem Stil und – nicht zuletzt – in der Problemstellung und den künstlerischen Absichten der Autoren.

Mit dieser Feststellung soll gewiß kein Werturteil abgegeben werden. Für den deutschen Bürger, der von jeher aus der Not seiner politischen Unreife eine künstlerische Tugend gemacht hat, muß das ausdrücklich betont werden. In anderen Landen aber, wo die breiten Schichten des Volksganzen die künstlerischen Leistungen weniger genau zu registrieren und katalogisieren verstehen, sie dafür aber um so intensiver, zumindest unmittelbarer und innerlich freier empfinden, weist man den schaffenden Künstler keineswegs aus dem Kampfgetümmel der Parteien und sieht durchaus nicht seine Aufgabe darin, den Sorgen und Nöten seines Volkes entrückt, auf einem erhabenen Piedestal zu stehen, allwo er als Zierde der Nation dekorativ zu wirken berufen ist.

So ist denn auch – nicht trotz seiner starken, einseitigen Tendenz, sondern über sie hinaus – der und Europäern bisher noch nicht bekanntgewordene Amerikaner John dos Passos ein Dichter. Sicher, daß die Bedeutung seines vor kurzem in deutscher Übersetzung erschienenen Romans („Die drei Soldaten“, Malik-Verlag, Berlin-Halensee) nicht in der politisch-erzieherischen Tendenz des Buches allein liegt. Gerade in seiner Unausgeglichenheit, dadurch, daß es technisch nicht jene vollendete Geschlossenheit der Sinclairschen Romane aufweist, vermittelt dies Werk sehr interessante Einblicke in die geistigen Strömungen der modernen amerikanischen Literatur und die Psyche des amerikanischen Menschen.

„Die drei Soldaten“ ist ein Kriegsbuch. Unwillkürlich denkt man an Barbusses „Feuer“, mit dem es in der Gesinnung und in Aufbau sehr vieles gemeinsam hat. Aber der Vergleich zeigt auch ganz scharf die Grenze, die diese beiden Kriegsbücher scheidet und die in Wahrheit die Trennungslinie zwischen dem Empfinden, der Sinnesart des alten Europäers und des jungen Amerikaners ist. Sonderbar: der Krieg erscheint in diesem amerikanischen Kriegsbuch nicht als das Wesentliche. Nicht der Schützengraben, nicht die Schlacht, nicht das Töten und Getötetwerden gibt dos Passos den Vorwurf zu seinen unerhört plastischen Bildern und aufwühlenden Schilderungen – der Kasernendrill, der militärische Zwang, die Unterjochung der Persönlichkeit durch Leutnantsregiment und Kadavergehorsam, das erscheint dem Amerikaner als das wahre Problem. Oder wie es Passos einen jungen Soldaten ausdrücken läßt: „Der Krieg wäre vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es nicht wegen des Militärs wäre!“ In der ganzen Primitivität dieses Ausrufes spiegelt sich der Geist und das Empfinden einer jungen unverbrauchten Rasse, die nicht die sein verästelten seelischen Hemmungen des Europäers kennt, deren Persönlichkeitsgefühl aber ebensowenig durch Generationen unterdrückt, verkümmert wurde. Und offenbar wird – für viele gewiß nicht überraschend –, daß auch dies eines jener aus dem Dünkel des Europäers abgeleiteten Märchen ist: je älter die Rasse, desto stärker und seiner ihre Sensibilität. Zumindest fehlt der Zusatz: desto stärker auch die Widerstandsfähigkeit, der seelische Panzer.

Die Fabel des Buches: mager und eigentlich auch nebensächlich. Ausbildungslager in Amerika – Einschiffung – Truppentransport nach Frankreich – Etappendienst hinter der Front. – Auf dem Vormarsch zur Stellung wird der eine der drei Soldaten, ein junger Musiker, verwundet, leicht verwundet, er kommt ins Spital – sein Anteil am Kriege ist eigentlich erschöpft, er wird nach Paris auf Studienurlaub entlassen – da ist auch schon der Waffenstillstand unterzeichnet. Nun wahrlich, glimpflicher hätte nicht bald einer davonkommen können, denkt man unwillkürlich. Aber auch die anderen Helden des Buches haben ein glückliches Los gezogen – stets reichliche Verpflegung, immer in der Etappe, immer unter Dach und Fach… aber just da setzt für Passos den Amerikaner das tragische Motiv ein: der Zwang. Gibt es, kann es etwas Unmenschlichere, Widernatürlicheres, Furchtbares geben als diesen? Daß der junge Musiker verhaftet wird, weil er von einer Patrouille ohne Paß betroffen wird, daß man ihn ohne Verhör strafweise in eine Arbeitskompagnie einreiht – daß so etwas möglich ist, erschein Passos als Höhepunkt der Tragik. Der Musiker desertiert – er könne um Entlassung einreichen, würde sie ohneweiters nach kurzer Zeit erhalten – er tut das nicht. Wieder eine Uniform anziehen? Wieder stramm stehen vor jedem Vorgesetzten? Wieder Soldat, Automat werden? Nein, nicht einmal für Stunden. So geht er zugrunde.

Wir Europäer, Deutsche, Franzosen, Italiener, Russen, wir haben in den letzten Jahren so unerhört vieles, so schreckliches – nein, nicht erlebt – über uns hinwegbrausen lassen, daß es wahrlich kein Wunder ist, wenn wir heute einfach nicht fähig sind, das zu empfinden, was Maeterlinck einst „ die Tragik des Alltags“ genannt hat. Hätten wir es im Kriege gekonnt, das Erleben hätte uns das Leben gekostet. Das Buch von dos Passos zeigt und Europäern, wie viel wir auszuhalten vermochten und – vermögen. 

Der deutsche Militarismus ist auf den weiten blutgedünkten Schlachtfeldern Frankreichs zusammengebrochen – sein Geist aber hat in einem nie geahnten Triumphzug Frankreich und die Tschechoslovakei, zwei Drittel von Europa und den wahren Sieger im Völkergemetzel, Amerika, erobert. Daß dieser junger amerikanische Militarismus nicht nur in seinem inneren Wesen, sondern in allen seinen Formen und Äußerlichkeiten nur ein Abklatsch des kontinentalen Leutnantsregiments mit allen seinen Brutalitäten, Scheußlichkeiten, Borniertheiten ist, das hat uns und vor allem den Amerikanern zuerst Sinclair gezeigt. Dos Passos ist – ich möchte beinahe sagen – nicht so jung, so unbekümmert, so absolut wie Sinclair – das macht, daß wir uns ihm verwandter fühlen als jenem. Und um so stärker beim Lesen dieses Buches von dem Entsetzen gepackt werden: „Tua res agitur“ (Es geht um dich!).  Auch wir sind dieser Hölle noch nicht entronnen.

In: Arbeiter-Zeitung, 30.8.1923, S. 5,

Hermann Bahr: Amerika, du hast es besser! (1921)

Gern wird der Goethespruch zitiert: 

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte, 
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit. 
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Aber klingts nicht eigentlich höchst seltsam und befremdend in Goethes Mund gerade, des allem Vulkanischen abgesinnten, nur ‚ruhiger Bildung‘ vertrauenden, im Grunde stets bedächtig konservativen Mannes, der nicht aufhört, allem ‚Sansculottischen‘ ingrimmig zu widerstreben und der Überhebung spottet, die so gern, ‚ganz original‘ und ‚Autochtone‘ wäre, nicht ahnend, daß jeder, wer es auch sei, doch immer, wie er sich auch wehren mag, selber auch schon ‚Überlieferung‘ ist? Der alte Herr, sonst so feierlich, sich den Forderungen „lebendiger Zeit“ leidenschaftlich unwirsch verschließend, selber „unnützes Erinnern“ mit zur Vergangenheit abgewendeter Andacht ehrfürchtig hegend, wie kommt er auf einmal zu so jugendlich dreist auf die Gegenwart dringender Vermessenheit, wenn er sie freilich gleich selber, wie vor den eigenen Worten, bevor sie noch ganz ausgesprochen, erschreckend, schon halb wieder zurücknimmt, indem er sie, sich zu den „Kindern“ wendend, bloß auf das „Dichten“ einzuschränken scheint?

Er kam dazu durch Nachsinnen über „wunderbare Verhältnis des inneren produktiven Sinns zu dem praktisch äußeren Tun“: der Dichter, der sich, nach unmittelbarem Ausdruck seiner Erinnerung ringend, dabei fortwährend durch „unnützes Erinnern“ an Überlieferung gestört fühlt, indem ihm Überlieferung Fremdes in sein Eigenes mischt, der Dichter ist es, der in dieser Qual aufschreit, und mit den „Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten“, vor denen er die Kinder beim Dichten durch ein gut Geschick bewahrt wissen möchte, meint er, was wir höflicher die „literarische Tradition“ zu nennen gewohnt sind. 

Zwar als Einfall, als erster Gedanke, taucht der Neid auf, Amerika, das es so viel besser hat als das abendliche Geschlecht von Erben, schon acht Jahre vor dem Gedicht auf. Im Nachlasse Goethes ist ein Foliobogen gefunden worden, überschrieben „Aufblühender Vulkanismus“, datiert vom September 1819, da hat er notiert: „Eines verjährten Neptunisten Schlußbekenntnis.  Abschied von der Geologie….Nordamerikaner glücklich, keine Basalte zu haben, keine Ahnen und keinen klassischen Boden“; er hätte das eigentlich auch nennen können: Eines verjährten Klassizisten Schlußbekenntnis! Aber zunächst blieb das noch jahrelang ein bloßes Aperçu, zum Gedicht ward’s ihm erst 1827, da fälltes im Briefwechsel mit Zelter auf einmal gereift vom Baume seiner künstlerischen Erkenntnis. Dieser Briefwechsel ist ja überhaupt ein einziges langes Zwiegespräch von der Kunst, in das nur immer wieder Tageswünsche, Tagessorgen wunderlich hineinrufen. Um jene Zeit ist eben Georg Zelter der letzte Sohn des tapferen Musikanten, gestorben, und den Vater bohrt der Schmerz noch tiefer ins Studium der griechischen Tragiker, er liest hintereinander die beiden Ödipus des Äschylos Sieben vor Theben und Antigone, die Schutzflehenden und den Agamemnon, liest dazu noch auch den Aristoteles wieder und, vielleicht selber im Stillen verwundert über die nie versagende tröstende Kraft der Alten, ruft er dann aus: In Summa (wenn ich dich und mich selber verstehe), aller Zweck der Kunst ist die Kunst selber, so auch das Kunstwerk.“ Und als Kommentar zu diesem so bedenklich artistisch klingenden Satz gibt ihm nun Goethe die Antwort: „Ich sagte neulich: Il faut croire à la simplicité, zu deutsch: Man muß an die Einfalt, an das Einfache, an das urständig Produktive glauben, wenn man den rechten Weg gewinnen will. Dieses ist aber nicht jedem gegeben: Wir werden in einem künstlichen Zustande geboren und es ist durchaus leichter, diesen immer mehr zu bekünsteln, als zu dem Einfachen zurückzukehren.“ Das faßt Zelter hinwieder sogleich in der vollen Bedeutung auf und erläutert, was Goethe allgemein aussprach, nun an einem besonderen Fall, an // seinem geliebten Johann Sebastian Bach, dessen „Originalität“, so bewundernswert in ihrer unerforschlichen Fülle, dennoch habe „dem Einflusse der Franzosen, namentlich des Couperin, nicht entgehen können“. Das Thema des „unnützen Erinnerns“ ist damit angeschlagen […]

Hat es denn nun aber Amerika wirklich besser?

Was Goethe damals an Amerika besang, davon hat es damals selbst noch lange keinen Gebrauch gemacht: denn Walt Whitman war ja damals erst ein Bub von acht Jahren und bis zu seinen Leaves of grass, die 1855 erschienen, hat Amerika ganz einfach unserem Kontinent, dem alten, nur immer schön brav nachgedichtet und seine Kinder blieben keineswegs durch ein gut Geschick bewahrt vor Ritter-, Räuber und Gespenstergeschichten, denn bis zu en Leaves of grass war alle Dichtung Amerikas nichts als aufgewärmtes Englisch, von ergreifender Schönheit zuweilen, doch ohne jeden Hauch des „urständig Produktiven“, im Grunde durchaus nur aufgeschwappte Diktion Englands und überhaupt bloß englischer Schaum ohne jeden eigenen Gehalt, ohne Spur eines amerikanischen Grundelements. Dieses fuhr erst aus jenem gewaltigen

One’s Self I sing – a single separate Person
Yet utter the word Democratic, the word En masse,

mit dem die Leaves of grass anheben, aus jenem zu den Sternen aufjauchzenden Ausbruch: 

Of Life immens in passion, pulse and power, 
Cheerful – for freest action form’d, under the laws divine,
The Modern Man I sing

mit einem solchen Donnerschlag in die Welt, daß man meinen möchte, Goethe selbst in seinem merlinisch leuchtenden Grab müsse noch freudig erschreckter erstaunend aufgehorcht haben, denn einen Urlaut des urständig Produktiven von solcher Urgewalt hatte ja das Abendland seit den Zeiten des Volksepos nicht mehr vernommen. Welchen Gebrauch aber hat Amerika selber von Walt Whiteman gemacht? 

Zunächst eigentlich gar keinen. Emerson, der freilich dieses „Ungetüm, ein Ungetüm von nie gesehener Art,mit schrecklichen Augen und Büffelkraft, aber unleugbar ameri-// kanisch“ sogleich in seiner ungeheuren Schönheit erkannte, wurde daheim kaum gehört, und nur unter dem Druck der wachsenden Bewunderung in England entschloß sich Amerika, seinem ersten Dichter schließlich wenigstens ein grandioses Leichenbegängnis zu bereiten. Dann aber blieb es lange drüben wieder still, während in England, Frankreich und Deutschland Macht und Ruhm der »Grashalme« mit jedem Jahre mehr verlauteten. In England warben so mächtige Fürsprecher wie Rosetti, Swinburne und Buchanan für ihn, den Deutschen ward er 1868 durch einen schallenden Ruf Freiligraths in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ bekannt, die erste deutsche Übersetzung der Grashalme erschien freilich erst 1889 bei dem guten alten Schabelitz in  Zürich, der Hebamme jeder literarischen Verwegenheit um jene Zeit, und ebenso seit den achtziger Jahren wirkt Whitman auch auf Frankreich, ein Franzose ists, Léon Bazalgette, dem wir das tiefste Buch über Whitman verdanken: der erste Teil, Walt Whitman, L’homme et soin Œuvre, ist schon 1908, der zweite, ,Le Poème Evangile de Walt Whitman, eben jetzt erschienen, beide im Verlag des Mercure de France.  War aber in Amerika selbst keine Wirkung Walts vernehmlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß, als ich vor bald zwanzig Jahren in einer rheinischen Stadt über Whitman sprach, nach meinem Vortrag eine junge Amerikanerin von rauschender Schönheit und heute noch in meiner Erinnerung fortleuchtenden Augen auf mich los stürzte, stürmisch begeistert, mir enthusiastisch dankend, dann aber auf einmal zutraulich treuherzig fragend, ob es denn. eigentlich diesen Dichter auch ,,wirklich« gegeben, ob er nicht bloß von mir erfunden, denn sie habe daheim den Namen noch nie gehört, und es könnte ja sein, daß ich mir nur einen Spaß gemacht und ein lustiger »Swindler«, oh, ein sehr angenehmer!, wäre.

Von Whitman vernahm die Welt zum erstenmal den Urlaut Amerikas (denn Edgar Poe war von einer Höhe der Einsamkeit, in der jede Spur der eigenen Zeit wie des eigenen Stammes verlischt, sozusagen das absolute Nichtsalsgenie, fast unheimlich in seiner völligen Isoliertheit von allen zeitlichen wie persönlichen Zügen), von Whitman empfing Amerika sich selbst, mit den Leaves of grass ward die Dichtung Amerikas geboren, es konnte jetzt eine Kunst ohne jeden „Schaum“, von allen Einwirkungen fremder „Diktion“ frei, nirgends  „bekünstelt“, in unschuldiger Selbstherrlichkeit erwachsen. Ist sie’s? Aus unserer Ferne läßt sich jedenfalls keine gewahren. Die sichtlichen Dichter der Völker sind allerdings ja nicht immer die wahrhaftigen; diese kommen oft erst lange nach ihrer Zeit zum Vorschein, sie sind ihr zu weit voraus: wieviel wissen denn heute, ob in fünfzig Jahren Brezina der größte Dichter unserer Zeit sein wird? Unter den sichtlichen Dichtern Amerikas von heute, die Claire Goll uns jetzt in ihrer Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik Die neue Welt (S. Fischer Verlag, Berlin, 1921) bringt, fand ich keinen, der bewiese, daß es Amerika wirklich besser hat. Man spürt freilich die Wirkung Whitmans sehr, aber so sehr, daß nun auch aus ihr wieder nur ein „Schaum“, eine bald jedermann geläufige „Diktion“ wird, und wenn sie sich mit Whitman „bekünsteln“, ist das Natur?, wenn man ihnen den Zwang, den sein gewaltiges Vorbild ausübt, anmerkt, ist das Freiheit? Und man wird sehr nachdenklich, wenn man bemerkt, daß die schönsten Stücke dieser Sammlung Volkslieder von Indianern sind: sie schlagen an Unmittelbarkeit der Eingebung und an Gewalt des Ausdrucks alle Künste der „gebildeten“ Dichter, und wo von diesen einer einmal einen bezwingenden Ton hat, stellt sich heraus, daß es im Grunde der Ton Whitmans oder von Indianern ist. „Die heiligen Lieder,“ erzählt Claire Goll von den Indianern „darf nur der singen, dem sie von Geistern mitgeteilt wurden.“ Ja das wär’s eben offenbar! Aber in Ländern mit Literaturen, scheint’s, teilen die Geister nichts mehr mit, die Geister verstummen und darin hat es jetzt auch Amerika nicht mehr besser!

In: Neue Freie Presse, 4.12.1921, S. 1-3.

Roda Roda: Zwei Planeten. (1923)

Die Interviewer kamen und gingen wieder. Jeder redete zu mir. Und ob ich nickte oder verneinte – ganz gleich – jeder schrieb, was er selbst gesagt hatte, als meine Meinung nieder. Nachdem der zwölfte Interviewer gegangen war, trat eine kleine Pause ein. Ich wartete unruhig auf den dreizehnten. Vergebens, er blieb aus. Da beschloß ich, mich selbst zu interviewen. Ich habe es nun schon so oft mitgemacht – ich weiß, wie man es anstellt.

Herr Roda, sind Sie schon lange in Amerika? 

Drei Monate, Mister… Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht verstanden; ich weiß nur, daß darin etliche lange – oa – vorkommen. 

Wollen Sie noch eine Zeitlang bleiben?

Bis ich mich unmöglich gemacht habe. Also etwa fünf Wochen, schätze ich. So lange hat man mich bisher noch überall geduldet.

Gefällt Ihnen Amerika? 

Wie originell Sie fragen! Es geht mir hier wie dem türkischen Eulenspiegel Naßreddin. Er lag zu Bett und schlief. Da träumte ihm, sein Nachbar zahle ihm neun Groschen auf die Hand. „Gib mit auch den zehnten,“ bat Naßreddin. Der Nachbar weigerte sich und sie stritten. In der Erregung des Streits erwachte Naßreddin und fand seine Hand leer. Rasch schloß er die Augen wieder: „Laß sein, Nachbar, ich begnüge mich schon mit neun Groschen.“ – Auch mir scheint Amerika wie ein schöner Traum. Ich fürchte zu erwachen und wieder in Europa zu sein. 

Demnach befinden Sie sich in Amerika sehr wohl? 

Es ist ein grundsätzlicher Irrtum der Geographie und eine Pedanterie unsrer europäischen Schulmeister, Amerika einen andern Erdteil zu nennen. Amerika ist ein anderer Planet. Eure Technik, euer Optimismus, eure Arbeitskraft – schön und großartig. Ich glaube auch wenn ihr Dummheiten macht, müssen es kapitale Dummheiten sein. 

Oh!

Widersprechen Sie nicht! Alles ist imposant. Schon die Einwohnerzahlt von New York: 20 Millionen. 

Wie kommen Sie zu dieser Ziffer? 

Durch Addition natürlich. Es war ein Italiener bei mir der sagte, es gäbe hier 20% Italiener, anderthalb Milliionen. Ein Jude gab anderthalb Millionen Juden an. Dann Deutsche, Russen, Skandinavier, Franzosen, Tschechen, Südslaven, Rumänen… von allen gibt es hier mir als in irgendeiner Stadt Europas. Wenn Sie alles zusammenrechnen, finden Sie, daß New York über 300 Prozent Einwohner hat, insgesamt 20 Millionen.

Einige New Yorker sind doch auch hier geboren. 

Die hatte ich vergessen. Dann geht die Rechnung noch höher. Hier reicht eben alles in den Himmel – nicht nur die Paläste. Es ist hier ein Schlaraffenland. Candys, Candys aller Ecken, und immer neue Läden entstehen; in längstens drei Jahren wird New York eine einzige Konditorei sein. – Dies Land verblüfft mich immer mehr. Ihr habt Elevators, die fahren; die Zentralheizung gibt Wärme – Wunder für einen Europäer. – Ich weiß mich hier gar nicht zu benehmen. Man gibt mir einen zugeschnürten Packen in die Hand; ich versuche die Schnur zu zerreißen, wie man das bei uns immer mit zwei Fingern macht; zu meinem Erstaunen aber reißt die Schnur nicht; da zücke ich mein Messer, und es zeigt sich, daß die amerikanische Schnur härter ist als das Messer. – Eurer Leder kommt aus der Gerberei; unseres aus der Papierfabrik. Eure Butter kommt vom Land. Eure Kartoffel sind nicht faul. Und ihr habt Fleisch, das man schneiden kann. Die Milch hier ist durchsichtig. Ihr habt Kaffee aus Bohnen. Wenn Schnee in New York fällt, ist er schwarz: nicht einmal der Schnee in Amerika ist wie bei uns. – Was ihr Verkehr nennt, hieße bei uns schon Panik. – So elegant wie bei euch die Tippmamsellen sind bei uns nur die aktiven Prinzessinnen – und Sie wissen, daß die meisten Prinzessinnen nicht mehr aktiv sind. – Es ist wahr, manches bei euch mutet uns sonderbar an. Ihr alle seid polizeilich gar nicht gemeldet, und eure Polizisten tragen keine Waffe; der Kirchturm ist das niedrigste Gebäude der Stadt; dafür treibt die Kirche Lichtreklame; man zündet Licht nicht an, um zu sehe, sondern um beachtet zu werden; der drahtlose Telegraph ist das Spielzeug eurer Kinder; die Kinder befehlen; der Vater kocht und putzt der Frau die Stiefel. – Amerika ist das Land, wo man liegend rasiert wird, stehend ißt und von der Tagesarbeit ausruht, indem man stundenlang einem kleinen Ball nachläuft. Man behält hier in der Eisenbahn den Hut auf und nimmt ihn im Fahrstuhl ab; elf Greise entblößen die Häupter, wenn ein zehnjähriges weibliches Rotznäschen in den Fahrstuhl tritt. Dafür gibt es hier auf der Straße keine Hunde, Sperlinge und Kinderwagen; bei uns genießen die Hunde öffentliche Freiheiten, die keinem Menschen zustehen. – Komisch ist euer Wetter: ihr habt von Jänner bis Juni April. Auch in Venedig ist es naß; dort gibt es aber Gondeln.

Sie sprachen von Dummheiten. Meinten Sie die Prohibition? 

Habt ihr Prohibition? Verzeihen Sie – ich bin erst drei Monate im Land – da hatte ich es noch nicht bemerkt.

In Deutschland trinkt man wohl immer noch viel? 

Meist Tee. Man macht Tee bei uns, indem man Heu in lauwarmem Wasser wäscht.

Demnach eine neue Industrie? 

Ja, manche Industrien in Deutschland blühen. Es erzeugt zum Beispiel unsre Reichsdruckerei mehr Banknoten als irgendeine Anstalt auf Erden. In der vorigen Woche entstanden soviel Banknoten, daß man nur ein Band aus ihnen zu bilden brauchte, und man konnte es um die ganze Erde wickeln. In dieser Woche ist der Rekord gebrochen wurden; die Banknotenerzeugung reichte dreimal um den Mond. Eine achtunggebietende Leistung. Da kommt ihr nicht mit. 

Sie haben darum auch die große Teuerung in Deutschland. 

In New York ist alles viel teurer. Ein Mantel kostet hier neunzig Dollar. Das sind zwölf 

Millionen Dollar…Dafür kaufe ich mir in Deutschland ein Landhaus, nehme eine Hypothek darauf und schaffe mir aus der Hypothek einen Mantel an. – Allerdings steigen bei uns die Preise von Tag zu Tag. Ich habe eine interessante Erfindung gemacht. Bisher mußte ein Kaufmann bei uns einen Mantel ins Schaufenster hängen und infolge des sinkenden Markkurses den Preis stündlich ändern. Wie viel Mühe macht das bei soviel Mänteln! Ich habe nun eine Uhr konstruiert, die den Preis angibt und selbständig jede Stunde um 10.000 Mark hinaufspringt. Ein Mantel, der heute 240 Tausend Mark kostet, kostet morgen das Doppelte. 

Schweres Leben in Deutschland. 

Verschieden schwer – je nach Ständen. Wer von seinen Kapitalzinsen zehren muß, hungert, // das ist klar – denn die Kaufkraft des Geldes sinkt ja so sehr. Anders die Arbeiter: sie hungern, weil ihre Löhne nicht Schritt halten mit der Markentwertung. Bei dieser Sachlage können die Intelligenzberufe unmöglich gedeihen. Die Dichter, zum Beispiel … es kostet das einfache Bespannen einer Leier mit fünf Saiten schon fünfzigtausend Mark; das kann sich ein Dichter nicht leisten. Darum gibt es auch keine weichen Gefühle mehr in Deutschland. – Am besten haben es noch die Ärzte. Zwar gehen sie müßig, weil niemand Zeit hat, krank zu sein – doch die Ärzte verkürzen sich das Warten auf Patienten sehr angenehm, indem sie einander telephonisch nach ihrem Befinden befragen – in der Hoffnung, eine Todesnachricht zu hören – wodurch sich der Konkurrenzkampf etwas mildern würde. 

Eure Staatsmänner?  

Wir sind bereit, euch 10 davon zu schicken, wenn ihr uns im Austausch dafür ihr Gewicht in Speck und weißen Bohnen gebt. Graf Lerchenfeld wiegt 160 Pfund.

Sind auch die Rechtsanwälte brotlos?

Sie haben alle Hände voll zu tun mit der Scheidung der Kriegsehen. Man plant jetzt ein Gesetz, das die erste Ehe jedes Menschen überhaupt für ungültig erklären soll. Es wäre eine große Zeitersparnis für die Gerichte. 

Und nach diesem Europa wollen Sie zurückkehren?

Gern – ich habe ja meine Familie dort. Ich bin achtzehn Jahre verheiratet – unsere Ehe ist die älteste Künstlerehe der Welt. Und ich beabsichtige, die Ehe fortzusetzen. Wie meine Frau im Augenblick darüber denkt, weiß ich allerdings nicht: ihr Kabel von gestern abend war noch sehr zärtlich. 

Sie leben in München?

Ganz richtig. Einstweilen sind die Franzosen noch nicht da. Die Franzosen wollen, wie man hört, aus dem Ruhrgebiet zunächst nach Berlin vorstoßen, um es zu besetzen, und hierauf nach Wladiwostok weitergehen. Dann kommt wohl ihr Amerikaner daran. Das kann noch Monate dauern. Marschall Foch soll sich mit dem Einmarsch in New York nicht beeilen – sonst kommt er mit seinen Truppen hier im Hochsommer an, wo alle besseren Menschen in den Seebädern sind. 

Der Interviewer sieht nach der Uhr. Ich merke, ich habe seine Geduld erschöpft und drücke ihm zum Abschied warm die Hand.

„Mein Herr“, sage ich ihm, „Sie können ruhig behaupten, eine Stunde mit dem größten Satiriker Deutschlands verplaudert zu haben. Meine Kollegen sind nämlich zur Zeit so beschäftigt mit Selbstanbetung, daß sie meine Überhebung gar nicht merken werden.“

In: Prager Tagblatt, 12.8. 1923, S. 3-4.

Ann Tizia Leitich: Der neue Mann in Amerika

             Durch die Bureaux aller literarischen Agenturen Newyorks rannte neulich, seine Haare raufend, ein Manager: die Vehemenz, mit der er Türen zuschlug und aufriß, wehte die Manuskripte von den Tischen, so daß sie den Boden wie Januarschnee bedeckten. Die Verstörtheit seines Blickes raubte selbst den hartgesottenen Stenographinnen Broadways die gewohnte Geistesgegenwart und ihre Hand blieb auf dem Wege zur Puderbüchse erschrocken stecken.

Was war los?

             Der Unglückliche suchte ein Stück, einen Roman, eine Erzählung, eine Short story – in seiner Verzweiflung kam es ihm schon gar nicht mehr darauf an, was es war. Nur sollte das Gesuchte sich mit einem Mann befassen, den ›Mann‹ und seine Probleme in den Mittelpunkt stellen. Und er fand nichts; deshalb die Aufregung. Schäumend vor Wut sagte er schließlich zu den versammelten zitternden Weiblichkeiten – Preßchefessen, Kinodramenschreiberinnen, Journalistinnen usw.: „Broadway für die, so mir ein Stück über den Mann und sein Problem schreibt!“

Notabene: Er sagte „die“, nicht „der“…

Es ist wahr: der Mann wird grausam und ungerecht vernachlässigt. Es gehört wahrer Pioniermut dazu, über ihn zu schreiben. Der neue Mann – mein Gott, was läßt sich über ihn schon Interessantes sagen! Immer nur heißt es: Die neue Frau! Ohne Ende gehen die Reden über sie. „Die Frau und ihr Problem“, „Die Frau und ihre Sphäre“, „Der Tag der Frau“, „Die Frau als Verdienerin und Mutter“, „Die Frau als Liebhaberin“, „Die Frau als Erhalterin“. Mit dem Stimmrecht fing es an und dann ging es weiter: Berufe für die Frauen, Bildung für die Frauen, Babies für die Frauen, freie Liebe für die Frauen, Liebhaber für die Frauen… Theaterstücke, Romane, Abhandlungen, Bände werden über sie geschrieben. Eine Menge Gehirne sind beschäftigt, sie zu analysieren, zu sezieren, zu klassifizieren. Die Frau okkupiert die ganze Bühne, früh, mittags und abends.

Die Frau hat dem Mann erst den „Saloon“ genommen, die Branntwein-Bierstube, dann hat sie ihn beim Barbier in eine Ecke gedrängt. In sein allerheiligstes Reservat, Business, ist sie eingefallen und hat sich ihm dort von der kleinsten Typistin angefangen bis zur hochbezahlten (aber immer schlechter als ein Mann bezahlten) divahaften Sekretärin unentbehrlich gemacht: hat natürlich damit all den mystischen Schimmer unerhörter Taten, den er ihr gegenüber um „Business“ zu verbreiten bemüht gewesen, wie eine Seifenblase zerplatzen gemacht, denn sie weiß jetzt genau wie es gehandhabt wird. Ohne viel Wesens daraus zu machen, ist sie ihm auf alle seine Aufschneidereien daraufgekommen. Sie ist ihm in die unzugänglichsten Berufe nachgestiegen. Eine Pastorin – keine von Gottes Gnaden, aber eine von ihrer eigenen und ihrer Zuhörer Gnaden – eine sogenannte „Evangelist“, das ist eine religiöse Predigerin, hat die ganze Nation kürzlich monatelang mit ihren Liebesaffären beschäftigt. Aimée Mac Pherson ist nicht nur gescheit und schlau, sondern auch anziehend als Frau. Sie hat in Los Angeles einen prachtvollen Tempel erbaut und nun, da dank der Zeitungen auch die Leute außerhalb Los Angeles von ihr genügend erfahren haben, rüstet sie sich zu einer großen Vortragstournee. Ja, die Frau mit dem doppelten Recht ihres erwachten Intellekts und ihres weiblichen Charmes ist heute überall. Warum auch nicht? Hat sie nicht absolut gleiche Rechte wie der Mann? Oder vielleicht nicht? Wer wagt zu widersprechen?

Der Mann gewiß nicht. Nicht in diesem Land. Er schweigt und weicht. Und dieses schweigende Zurückweichen kommt mir fast verdächtig vor. So, als ob er sich denken würde; Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Vielleicht schmunzelt er bei sich: „All right, let them run the world. – Laßt sie mal die Welt regieren; das gäbe uns dann endlich eine Gelegenheit, auf einen großen, schönen Urlaub zu gehen, zu fischen, Golf zu spielen und Witze zu erzählen soviel wir wollen und so lang wir wollen; einmal ordentlich und ausgiebig nichts zu tun“

Wir haben den Mann in die Defensive gedrängt. Und was immer nun aus ihm wird, es ist unsere Schuld oder unser Werk. Daß sich aber etwas vorbereitet, darüber bin ich mir, meine Damen, nicht im Zweifel. Die Phrase, „der neue Mann“ ist heute eine kleine Notiz auf der vorletzten Seite der Zeitung. Aber morgen, möglicherweise, steht sie schon fettgedruckt auf der Frontseite. Es sind Anzeichen vorhanden, Anzeichen, die darauf hindeuten, daß wir einen neuen Luxusmann bekommen. – Sehen Sie, meine Damen, so bin ich endlich, auf der dritten Seite meines Briefes, mit einer Überraschung vor Sie hingetreten. Denn diesmal sind wir, wir in Amerika, Ihnen voran.

Betrachten Sie einige der Anzeichen: In England haben die weltberühmten, tyrannischen Schneider aus Savile Row neulich zum erstenmal männliche Mannequins, zu 5 Dollar das Stück, für eine Modenschau engagiert, die in einem Lokal der ebenso historischen Regent Street arrangiert wurde und ein ausgesprochener Erfolg war, das heißt, das männliche Auditorium sah die Sache nicht hochnäsig über die Achsel an, sondern interessierte sich dafür. Weiter: Flo Ziegfeld, der amerikanische Revuekönig, der bis jetzt berühmt gewesen ist als der Verherrlicher des American Girl, wählte neulich die „zehn schönsten Männer aus Broadway“. Bald werden seine Himmelslichter allabendlich zur „Glorifizierung“ des amerikanischen Mannes erstrahlen. Drittens: Neulich, in einer Week-end-Gesellschaft, das ist die einzige Gelegenheit, bei der man, außer im Nachtklub, hier die Gesellschaft des anderen Geschlechtes genießen kann, setzten sich einige Herren zusammen. Sie planten die Gründung eines Vereines, der sich allen Ernstes mit der Einführung einer phantasiereicheren männlichen Kleidung befassen wird. Den unmittelbaren Anlaß dazu hatte Monsieur Sascha Guitry aus Paris in seiner hiesigen Rokokorolle gegeben, in der er, dem neidvollen Urteil einiger Herren gemäß, selbstverständlich leichte Siege über Marquisen der Geburt und des Herzens davontragen könne, da er so entzückende Kostüme und der Stunde und der Liebeserklärung angepaßte Farben tragen dürfe. Urteilen Sie selbst, meine Damen: Sind dies nicht Zeichen eines Umschwunges?

Der elegante, in allen Nuancen der Anmut des Daseins erfahrene Kavalier, der Lebens- und Liebeskünstler, der Gentleman par excellence, der seine Hände mit dem mühsamen Erwerb von Geld nie beschmutzt hatte, der Arbeiter elegantiarum, der Meister der Muse – er ist nicht mehr. Die Zeit hat ihn über Nacht hinweggeweht. Vielleicht gibt es noch ein Paar Exemplare in England. Wollen wir hoffen, daß man sie, bevor sie absterben, für ein Museum der großen Vorkriegszeit erhält. Hier in Newyork fristet einer ein zwischen Luncheons und Dinners hin und her pendelndes Dasein. In dem für diese Spezies höchst ungünstigen Klima ist er allerdings schon etwas degeneriert, aber nicht in dem Maße, daß er sich durch Geldverdienen entwürdigen würde. Er lebt von seinen schönen dunklen Augen, seiner edlen, schweigsamen Pose und dem Nimbus seiner Abstammung von den Stuarts. Alle Schottländer stammen bekanntlich von dem einen oder dem anderen Königsgeschlecht ab. Er ist aristokratisch und schön schön, aber dumm. Und so bildet er einen Uebergang von dem Kavalier vieux jeu, der aristokratisch, wenn auch nicht immer Aristokrat war, der aber immer Geist besitzen mußte, Zu dem von mir eben prognostizierten Luxusmann, der den klaftertief Begrabenen einer absolut erledigten Epoche ersetzen soll, der seine Karriere ohne Geist und Adel, aber mit einer absolut geraden Nase und einer tadellosen Garderobe beginnt und in Anbetracht solcher Vorzüge auf die Abstammung von Königen und die Traditionen Casanovas, Beau Brummels oder Pückler-Muskaus nicht den geringsten Wert legt.

Dieser neue Mannestyp befaßt sich gleich seinem Vorgänger nicht mit Gelderwerb, außer es läßt sich dieses aus dem Handgelenk, etwa durch Spiel oder Spekulation bewerkstelligen. Er ist bis jetzt, wie gesagt, intellektuell vollständig// unbeschwert, was nicht heißen soll, daß er es immer so bleiben wird, liegt doch eine ganze lange und womöglich glanzvolle Laufbahn vor ihm, deren Ziel wir heute gar nicht bezeichnen können; wir vermögen nur zu konstatieren, daß die begonnen hat. Vielleicht interessieren Sie sich in Europa viel weniger dafür. Sie, meine Damen, haben sich ihrer Kavaliere erfreut, solange sie zu Ihrer Verfügung standen und als sie dann plötzlich eines Tages vom Erdboden verschlungen waren, haben Sie Ihr Interesse mit der dem weiblichen Geschlecht eigenen Anpassungsfähigkeit der neuen, von der eisern-harten Zeit geschaffenen Spezies Mann zugewendet, dem Verdienertyp, dem Selfmademan. Ihr Interesse für diesen war – wir sind ja unter uns, meine Damen – natürlich rein utilitaristisch, denn von ihm war Geld noch am ehesten zu erwarten. Und ihm, sowie dem, der sich gemäß diesem Modell umarbeiten konnte, fiel daher die schönste Beute aus Ihren Reihen zu. Panikartig verließen und vergaßen Sie die anderen, die einst Ihre Lieblinge gewesen, jene Kavaliere, die den Brutalitäten der neuen Zeit ratlos, wenn auch nicht würdelos, gegenüberstanden, und mag es auch dies, daß Sie ihnen Ihre holde Gegenwart entzogen, mit ein Grund für ihr rasches Absterben gewesen sein.

Sie haben aber nun, glaube ich, bereits gesehen, daß Sie mit dem Typ Erwerbermann nicht viel anfangen können, außer großmütig sein Geld auszugeben und seine Kinder aufzuziehen – tout comme chez nous. Im übrigen hat er teils keine Zeit und teils kein Talent, Ihre Tage mit seiner männlichen Grazie auszufüllen, aus dem einfachen Grund, weil diese nicht vorhanden ist. Wieder: Tout comme chez nous. Enttäuscht und ruhelos sehen Sie sich nach Abhilfe um.

Wir hier hätten Ihnen dies voraussagen können, wenn wir nicht wüßten, daß jeder durch eigenen Schaden klug werden muß. Denn wir haben seit langen Jahren genügende Erfahrung mit dem Typ Erwerbermann. Wir schätzen ihn. Er gibt einen ausgezeichneten Ehemann, den wir um nichts in der Welt mit Ihrem in Europa vertauschen wollten. Und wir geben ihn auch nicht her. Wir sind im allgemeinen nicht gut auf die verschiedentlichen barönlichen, freiherrlichen und gräflichen – sobald es ins Prinzliche geht, werden wir vielleicht etwas weicher, sogar heute noch – Attacken auf unsere heimische Girlwelt zu sprechen – the American man for the American girl! Aber: wir waren uns natürlich immer eines gähnenden Vakuums bewußt, was den Liebhaber, den Hofmacher, den Cicisbeo, den Troubadour (dessen Funktionen, wie Sie ja wissen, meine Damen, rein platonische waren), den verläßlichen Fünfuhrteegast, den geistreichen Plauderer beim Dinner betrifft. Er war nicht vorhanden. Wir haben Sie immer Ihrer bevorzugten Position wegen in dieser Hinsicht beneidet und wir sahen mit Erstaunen und heimlichem Ergrimmen zu, als die die Kavaliere hungern und sterben ließen oder es duldeten, daß sie Chauffeure und Exporteure wurden und der Schmelz ihres Alte-Welt-Savoir-Vivre im Gasolingestank und im Staub der Geschäftsbriefe unterging. Und während Sie Ihre Erfahrungen mit den unvollkommenen Vertretern einer neuen Mannesgattung machten – ich meine Gigolos, Tanz- und Sportjünglinge – haben wir, die wir uns mit dem Problem des Liebhaberersatzes wie gesagt schon länger befaßten, eine bereits etwas besser entwickelte Spezies hervorgebracht, nämlich den Scheik, geschrieben Sheik, gesprochen Schiek. 

Es wird Sie nicht verwundern, zu hören daß die Wiege des Original-Schiek nicht in Amerika, sondern in Europa und zwar in Italien stand. Hier aber war sein Weg in den Herzen, den Erwartungen und Sehnsüchten der Frauen schon vorbereitet. Und der Schiek, der seine Karriere höchst bezeichnend und zeitgemäß als Tangotänzer begann, brauchte nur zu lächeln, und das weibliche Amerika wußte, was ihm fehlte. Sie werden indes erraten haben, daß ich Rodolpho Valentino, den kürzlich Verstorbenen meine, der hier der Schiek genannt wurde, nach seiner ersten und erfolgreichen Rolle. Obwohl viele auf seinem Pfade wandeln, hat Rodolpho noch keinen ebenbürtigen Nachfolger gefunden, denn wie um alle Vollkommenen ist es einsam um ihn. Und in seiner Art war er vollkommen: eine vollendete, hohe und geschmeidige Gestalt, ein langer, schmaler Schädel, peinlich regelmäßige Gesichtszüge, die unfähig waren, irgendetwas anderes auszudrücken als das sanft erregte Entzücken über die Schönheit einer Frau; dieses aber mit einer unendlichen, und desto kostbareren, weil unbewußten Anmut. Also ein vollendeter Spiegel für unsere Schönheit und für den in unseren Augen ausgedrückten Traum von Liebe – und das ist es, was wir brauchen. Aber nicht bloß ein Spiegel, der uns unser und der Liebe Bild zeigt wie es ist, sondern einer, der es wie ein Prisma in strahlende Farben zerlegt. Wir denken nicht daran, unsere Männer zu betrügen, wir haben sie gern. Aber wir sind zu sehr Geschöpfe der Phantasie, als daß uns Hausmannskost allein behagen könnte. Wir brauchen ein wenig Schaukeln, ein wenig Spielen und immer – den Spiegel. Wir brauchen den Troubadour…

Ja, meine Damen, zum Unterschied von Ihnen verlangen wir von unserem Schiek vor allem, daß er – wie die altmodische, drüben bei Ihnen gänzlich abgekommene Phrase lautet – den Hof machen kann. Wir sind noch immer romantisch. Unsere Ehe ist seit jeher auf dem romantischen Kriterium des Gefühls aufgebaut gewesen. Die Romantik der Brautzeit verpuffte wohl bald, weil sie gewöhnlich auf nichts als auf Jugend gestellt war, und eine geruhsame, bequeme Kameradschaft folgte darauf. Diese Ehe genügte uns bis jetzt, denn wir waren sehr beschäftigt. Aber mit der Vermehrung unserer Mußezeit und der Verfeinerung unserer Nerven entwickeln auch unserer Gefühle Luxusbedürfnisse. Daher das Erscheinen des Luxusmannes.

Schon strebt dieser kavaliersmäßige Grazie an. Außerdem redet man hier jetzt soviel von Liebe, spricht, schreibt, liest soviel darüber, daß er wohl oder übel darin noch Experte werden wird. Heute ist seine Stirn wohl noch niedrig und sein Vokabolarium nicht allzu reich. Aber er wird bald lernen, daß es nicht nur die Möglichkeiten, seine Persönlichkeit auszudrücken, vergrößert, wenn er seine Bildung erweitert, sondern auch unser Entzücken. Er wird lernen. Er braucht nur eines dazu: Muße. Und, meine Damen, die sind wir ja im Begriffe, ihm zu geben. Nicht wahr?

In: Neue Freie Presse, 13.2.1927, S. 34-35.

Leopold W. Rochowanski: Amerikanische Bühnenkunst

             Seit ungefähr zehn Jahren ist die Bühnenkunst Amerikas in einem fortwährenden starken Umwandlungsprozeß und der Künstler im heftigsten Kampf mit dem fürchterlichen, alles Schöpferische vernichtenden Großbetrieb. Der Erfolg eines Schaffenden, eines, der Neues will, wird drüben geradezu als etwas Wunderbares angesehen, weil die Kenner der Verhältnisse die großen Schwierigkeiten  abzuschätzen wissen, die in den Verhalten der Direktoren und dem  Nichtvorhandensein von stets in sich geschlossenen Schauspielergruppen liegen.

             Es ist bemerkenswert, daß der erste Sieger auf amerikanischem Boden ein Österreicher war. Der Wiener Architekt Josef Urban malte gemeinsam mit Heinrich Leffler die Dekorationen zu „Tristan und Isolde“ für das Opernhaus in Boston und schuf damit die erste Inszenierung in modernem Sinn. Bald darauf wurde er von Eben Jordan nach Boston berufen und seit vielen Jahren ist er an der Metropolitanoper in New York tätig. Ein wichtiger Wegbereiter auf dem Gebiete der Beleuchtungstechnik war David Belasco . Große Impulse gaben auch Reinhardts Sumuru-Inszenierung im Jahre 1912 –, die Arbeiten Golowins und Leon Baksts. Am ausschlaggebendsten aber blieb lange Zeit die Tätigkeit Urbans in Boston und ab 1914 in Broadway. Durch seine Verbindung mit Florenz Ziegfeld jun. hatte er Gelegenheit, seine Absichten in ganz Amerika zu demonstrieren.

             Sehr entscheidend machte sich bald der Einfluß der kleineren Theater geltend. Viele Künstler, die heute zu den bedeutendsten gezählt werden müssen, kamen von dort. So kam Normann Bel Geddes vom Kleinen Theater in Los Angeles. Von den Square Players in Washington kam Lee Simonson und Rollo Peters. Von den anderen seien nur noch Ernest de Weerth – der voriges Jahr auch in Salzburg und Wien bei Reinhardt tätig war – Maurice Brown, Raymond Johnson, Sam Hume, Rudolf Schaeffer, Norman Edwards, Livington Platt, Watson Barratt, Sheldon K. Viele, Munroe Hewlett, Mordecal Gorelik, und Robert Locher hervorgehoben. Von Künstlern, die aus Europa kamen, müssen noch Nikolaus Roerich, Willy Pogany, Boris Anisfeld, John Wenger und Herman Rosse genannt werden. Letzterer hat bedeutende Bauideen für das Theater ausgesprochen.

             Zu den markantesten Künstlern gehört Robert Edmond Jones. Er arbeitete zuerst ein Jahr bei Reinhardt in Berlin und kam vor Kriegsbeginn nach Amerika, wo er vor allem durch seine Inszenierungen des „Macbeth“ von Arthur Hopkins und des „Richard III.“  Aufsehen erregte. Er schuf für dieses Stück als permanenten Hintergrund die grauen Mauern des Towers, stellte auf die Bühne nur einfache Gegenstände, die die Szene andeuteten. Ein eiserner Käfig war das Gefängnis „Heinrichs VI.“, ein hoher Lehnstuhl akzentuierte die Krönung, ein Galgen die Schlußepisode. Seine Shakespeare- und Maeterlink-Inszenierungen zeigen ihn durchweg als eigenartigen schöpferischen Künstler.

              Eine phantasiestarke Persönlichkeit ist Norman bel Geddes. Sein bedeutendstes Werk ist die dramatische Darstellung von Dantes „Göttlicher Komödie“. Geddes schrieb auch das Stück, und zwar aus Anlaß von Dantes dreihundertstem Todestag. Sheldon Cheney hat von der szenischen Wirkung eine ausführliche Schilderung gegeben. Es war höchste Kristallisierung einer visionären Phantasie, restlose Beherrschung von Licht und Farbe, ein ungeheures Schauspiel von Licht, Klang und Bewegung. Die Bühne stellt eine Hügelkurve dar, die, vom Zuschauerraum ausgehend, eine tiefe Grube umschließt. Eine Kaskade von Stufen führt hinab in den Krater, mit Plattformen in abgewogenen Intervallen. Zwei gigantische Sockel erheben sich im Hintergrund, ohne erkennbare Form zuerst, aber eindrucksvoll sich verändernd mit dem Fortschreiten der Handlung durch Erde, Hölle, Fegefeuer und Paradies. Alle Szenenveränderungen werden durch nichts anderes als durch Beleuchtungswechsel und Veränderung der Massengestalt vollbracht. Selten war das Licht berufen, einen so großen Teil der dramatischen Bürde zu tragen. Um die drei Hauptteile des Stückes kenntlich zu machen, kommt in der Höllenszene alles Licht von unten, aus dem Innern des Kraters. In der Fegefeuerszene scheint es von der Bühne zu kommen und während der Paradiesszene strahlt es von oben.

             Die Spielermasse ist mit dem Spiel bedeutungsvoller Einzelfiguren so geordnet, daß es den Eindruck von Szenenwechsel gibt. Die Handlung scheint mehrere Schauplätze zu umfassen, während es eigentlich ein einziger ist. Die Bewegung beginnt mit dem Schreiten der einsamen, emporklimmenden Gestalt, dann kommen Gestalten, die einander begegnen, aus Ecken und Winkeln, endlich drängen geballte Massen über die Szene, sprechen das einemal für sich, sind ein andermal Meereswellen. Sie formen und gestalten auch die großen Säulensockel, zwischen denen der Karren zu Dante hinunterfährt. In dem Wachsen der Bewegung, von dem Schreiten der einsamen Gestalt am Anfang bis zu der menscherfüllten Bühne am Ende, ist das gleiche Sichentfalten wie in dem Wachsen des Lichtes.

             Die beiden Sockel, turmartige, gestaltlose Körper, sind während der größten Zeit des Spieles halb verloren im Dunkel. Doch hie und da tauchen sie empor, nehmen Gestalt an, wirken als Teufelsflügel, als Engelsschwingen und dergleichen. Diese Wirkungen werden hervorgebracht durch Spielermassen, die auf den Plattformen in verschiedenen Höhen erscheinen und Gegenstände in den erforderten Umrissen halten und heben.

              Eine ähnliche Lösung zeigt die Art der Kostümierung. Individuelles ist bei den Massepielern selbstverständlich ausgeschlossen, die Note des Unpersönlichen, Abstrakten wird noch verstärkt, wenn sich im Szenenwechsel die Masse als Gestalt verändert. Die persönliche Gestalt wurde vom Künstler genial negiert, besser, als es Griechen und Orientalen durch Entpersönlichung der Gesichter erreichen.

             In der Schlußszene des Stückes ist das Aufflattern von zwanzig unermeßlich großen Schleiern von einer der obersten zwanzig Stufen jenseits der Sockel. Sie werden langsam aufgezogen, um die Handlung zum Gipfel des Lichtes zu führen.

             Das dritte Element – der Klang – folgt dem gleichen Gesetz allmählicher Steigerung wie Licht und Bewegung. Aus dem ersten Schweigen steigt die Stimme Dantes, das Wort der Dichtung wächst empor. In gleicher Weise beginnt die Musik als ein Ton. Von diesem Beginn geht es in stetem Steigen bis zu dem vollen himmlischen Chor am Ende. Ein Orchester von 150 Mann ist vorgesehen, mit Schlaginstrumenten, Pauken und Trompeten im Vordergrund, die Geigen als Orchesterchor hinter der Bühne. Es gibt auch einen unsichtbaren Chor von mehreren hundert Sängern, die in ein verborgenes Riesenmegaphon singen, dem eine ungeheure Tonsäule entsteigt. Auch Dampfsirenen werden verwendet, um die Chorschreie der Verdammten ausdrücken, und große Pfeifen, um die Luft erbeben zu machen, ohne einen Laut zu geben.

             Normen bel Geddes hat auch im vorigen Jahr für Max Reinhardt die Inszenierung des „Mirakels“ im Century Theatre in New York geschaffen, eine Leistung, die einer eigenen Betrachtung wert wäre.  Ebenso müßten noch seine Theaterbauten besprochen werden.

In: Die Bühne (1927), H 113, S. 24f.

N. N.: Der Jazz in Gegenwart und Zukunft.

             Schon einmal hat sich die „Bühne“ mit dem Jazz beschäftigt. Es war vor wenigen Monaten, als sie an der Hand von Notenbeispielen zeigte, wie bekannte Opernmelodien und Konzertstücke mit Absicht als Themen für Jazz-Musik verwendet werden: „Flavoring a selection with borrowed themes“, sagt dann der Arrangeur des berühmten, berühmtesten Jazz-Orchesters von Amerika, der „Jazzband Paul Whiteman“, „ein Potpourri mit geborgen Themen aufputzen“ … Die exotischen Melodien Amerikas allein tun es nicht, die meist dem Schatz der Negermusik entnommen sind.

             Nun äußern sich, fast gleichzeitig, allerhand junge Musiker der verschiedensten Nationen, äußert sich vor allem Paul Whiteman selbst zu dem Thema „Jazz in Gegenwart und Zukunft“. Fassen wir abermals einiges darüber zusammen!

             Der Jazz kam 1918 nach Europa, nach Paris. Er wurde im Casino de Paris zum ersten Male von einer richtigen Jazzband gespielt und die gesamte jüngere Generation der französischen Musiker war davon begeistert. Sie setzten sich selbst an die Jazz-Instrumente, um sie in ihrer eigentümlichen Anwendung, ihrer besonderen rhythmischen Präzision zu erlernen. Einer ihrer Wortführer, Darius Milhaud, preist die Jazz-Musik und das Jazz-Orchester mit seinen neuen Klangfarben als wunderbare Anregung. Er will natürlich genau unterscheiden zwischen der Lärmmusik und ihren Lärminstrumenten wie Hupen, Sirenen, Signalpfeifen und einem seriösen Orchester, das solche Ausnahmsinstrumente zwar gelegentlich bringt, dann aber immer wieder abschafft. Was dieses seriöse Jazz-Orchester der neuen Musik gibt, läßt sich in instrumentaler wie in harmonischer Beziehung noch gar nicht abschätzen. In instrumentaler Beziehung, indem ganz neue Klagfarben eingeführt, schon bekannte Instrumente, wie Posaune und Saxophon, völlig neu verwendet werden. In harmonischer Beziehung, indem auch für ein breiteres Publikum die Unterschiede zwischen Dur und Moll, das Bewußtsein der Tonalität schon auf dem Weg über die Klangfarbe verwischt wird.

             Alexander Jemnitz, ein bekannter ungarischer Komponist, der aber auch als witziger deutscher Schriftsteller auftritt, sieht die besondere Bedeutung der Jazz-Musik darin, daß der Rhythmus hier über die Melodie siegt, daß sich also durch den Jazz eine Musik vorbereitet, deren Hauptelement das Rhythmische ist. Er (und viele andere) erklären denn auch den großen Erfolg des Rhythmikers Strawinsky in Amerika durch die Beziehungen seiner Musik zum Jazz; und dieser große Erfolg Strawinskys beeinflußt wiederum die neueste deutsche, französische, italienische und auch schon tschechische Musik. Der ungeheure Erfolg von Béla Bartóks neuer Tanzsuite ist wohl auch ein Erfolg des Rhythmus. Allerdings streut Milhaud in die Diskussion (die die Musikzeitschrift „Anbruch“ vor ein paar Monaten eröffnet hat) mit Recht ein, daß im Blues das melodische Element etwa gegenüber dem reinen Ragtime schon wieder näher vortrete.

             Hat Milhaud auf den engen Zusammenhang hingewiesen, der zwischen der Jazz- als Ausdrucksmusik und der nicht bloß weltlichen, sondern auch geistlichen Musik der Neger (Nigro-Spirituals, wie sie hier in Wien Roland Hayes gesungen hat), deutlich besteht, so führt Louis Gruenberg diesen Zusammenhang nicht bloß theoretisch aus. Er hat für sich selbst ein geistliches Lied in der trockengeschäftlichen Art, wie sie einem Neger-Boy von heute drüben in Amerika gemäß sein mag, zum Muster genommen und es im Jazz-Rhythmus komponiert, den sogenannten Danie-Jazz, der der große Erfolg des jüngsten internationalen Musikfestes in Venedig war: da wie die Geschichte von Daniel in der Löwengrube vorgetragen, dem frommen Knecht Daniel, der seinem König durch fortwährendes Psalmen-Rezitieren langweilig wurde, so daß er ihn zuletzt den Löwen vorwarf; aber da ihm die Bestien nichts antaten, gab er ihm seine Dienststelle wieder. Einige Zuhörer waren entrüstet, wie sich ja viele mit Würde und Bärten behaftete Leute über jede Art von Jazz immer noch entrüsten. Die meisten aber hätten das famose stück am liebsten gleich zum weiten Male angehört. Vielleicht muß man amerikanischer Komponist sein, um diese Art Musik weiter bringen zu könne, wie das Gruenberg so reizend und zukunftsverheißend getan hat. Alle Amerikaner, alle Musiker, die auch nur je in Amerika waren, sind der Meinung, die Zukunft der amerikanischen Musik werde vom Jazz getragen werden. Sie sind dieser Meinung schon deshalb, weil der Jazz seit langem, wenn nicht überhaupt der einzige originelle Ausdruck eines gesamtamerikanischen Musikempfindens ist. Paul Whitman selbst erzählt eben jetzt in „Vanity Fair“, daß er mit seiner Kapelle eine ganze Saison lang „revolutionäre Konzerte“ veranstaltet habe, die auch alle jene anlocken, die zu einem regelrechten Symphoniekonzert gar nicht gehen würden, also gleich alle amerikanischen Männer. Das Publikum, das er so gewinnt, soll dann zur klassischen Musik eben auf dem Umweg über den Jazz geführt werden.

             Es versteht sich von selbst, daß bei der ungeheuren Bedeutung des Jazz für das amerikanische Musikleben drüben auch schon förmliche schulen und Lehrgänge des Jazzspielens eingerichtet sind. In New York gibt es eine eigene Schule „The Winn School for Popular Music“, an der man lehrt, wie man Ragtime, wie man Jazz und Blues spielt. Interessieren dürfte, daß der Leipziger Musikkritiker Alfred Baresel, angeregt durch unsere Wiener Jazz-Diskussion, jetzt ein eigenes Jazz-Buch (im Verlag Zimmermann in Leipzig) herausgegeben hat, dessen erste Auflage in drei Wochen vergriffen war. Das Jazz-Buch gibt genauen Aufschluß über alles Technische beim Jazz, gibt Übungen für den Klavierspieler, kurz es ist ein Lehrbuch, dessen Ziel sich auf 34 Seiten Umfang erreichen läßt. Es wird immer nötig sein (wie man aus alldem ersieht), und auf eine Reihe von Jahren hinaus, vom Jazz zu sprechen…

In: Die Bühne, Nr. 68, 1926, S. 26-27.

Ann Tizia Leitich: Girldämmerung

Das neue Ideal: die wissende junge Dame

Wer von Ihnen, meine Damen, hat ein Körpermaß von 155 Zentimeter? Wem gibt der Bubikopf ein lächerliches Aussehen und wird nur getragen, weil man lieber lächerlich wirken als wie seine eigene Großtante aussehen will? Wer hatte seine liebe Not mit diesen Puppen- , diesen Konfirmationskleidchen, die die Mode der letzten Jahre vorschrieb? Wem hat ein Künstler gesagt, daß die sanfte Wellenlinie der Hüften entzückender sei als die erbittert angestrebte hermaphroditische Kurvenlosigkeit der modernen Figur – was Sie natürlich damit beantworten, daß sie die ganze Schönheit mit einem Jumper zu phantasieloser Geradliniegkeit plattdrückten? Welche Frau gefällt sich in der von der Mode verbannten langen fließenden Gewändern mit einer Schleppe? Wer ist der ewigen Filzcloche der Sechzehnjährigen müde? Und wer möchte  – ich bin mir bewußt, daß diese Frage der ganz unmittelbaren Gegenwart etwas vorausgreift, aber sie liegt in der Entwicklungslinie meines Gedankens – wer möchte einmal, statt bloß geistlos zu tanzen, interessant flirten?

Alle diese Damen, deren geheime Wünsche mit den Möglichkeiten im Widerspruch liegen, können frohlocken und einander die Hände schütteln. Für sie bricht eine bessere Zeit heran: sie kommen wieder in Mode, denn – –

Das Girl hat ausgespielt. Wie es in Europa ist, weiß ich nicht, denn die Behauptung gilt nur für Amerika, das Land, wo das Girl die impertinent unschuldigen und je nach Bedarf keck-fröhlich oder sentimental-ergebenen Augen aufschlug. Europa dürfte übrigens, wie in den letzten Jahren gewöhnlich, schleunigst folgen. Es wird natürlich auch nicht gleich ganz verschwinden, das Girl, dazu ist es zu lebenskräftig und zäh; aber es wird Liebe und Sex, Mode, Künstler  und Figurinenzeichner, Männer und ihren Geschmack, Literatur, Theater, Kino, Manieren nicht mehr tyrannisieren können. Es ist ihm nämlich das Fatalste passiert, das einem weiblichen Wesen heute zustoßen kann: es ist uninteressant geworden. Das geschah, als die Intellektuellen und die Snobs es gleichzeitig fallen ließen. Jene taten es, indem sie sich laut und wortreich in ihren Magazines mit den Problemen der verheirateten und erwerbenden Frau befaßten; diese rein geistige, daher langweilige Tätigkeit wäre wahrscheinlich ohne Konsequenzen für die Welt verhallt, wenn die Snobs nicht gewesen wären, die sich in ihren Magazines an blasierten Dialogen erfreuten, in denen die weibliche Partnerin so kühl-überlegen, so raffiniert berechnend, so erhaben über allem und doch lüstern auf jede Sensation, so lässig hingegossen und dabei in jedem Winkel ihres Wesens auf der Lauer gezeichnet war, wie es ein Girl nie und nimmer sein durfte, ein Typus, den man mit dem unübersetzbaren Wort ‚sophisticated‘ bezeichnete. Schon seit geraumer Zeit glorifizieren die Snobs, die in Newyork, dem größten Wettrennplatz der Welt, eine ganz hervorragende Rolle spielen, dem herrschenden Broadway-Geschmack und dem berühmtesten Girlregisseur Flo Ziegfeld zum Trotz die ‚sophisticated woman‘. Wer Vogue, Harpers Bazar oder Vanity Fair je in der Hand gehabt hat, dem wird dies keine Neuigkeit sein.

Das Girl im Leben und auf der Bühne. –

„Baby-stare“

Die Allgemeinheit wurde scheinbar nicht dadurch beeinflußt: Die Girlmode  hielt sich vor allem deswegen, weil sie an einem unerhört  festen psychologischen Haken der Frauen hing, die da glauben, nicht bloß Jahre, sondern Jahrzehnte wegschwindeln zu können, wenn sie sich als Girls gebärden; was bei einigen stimmte, bei vielen aber nicht; was wir aber wieder nicht so bemerkten, weil wir alle den Girlkomplex hatten. Wie in der Mode, behauptete sich das Girl auf der Revuebühne, wo das stehende Heer von Ziegfeld-, Hoffmann-, Tiller-, Albertina-, Rasch-, Duncan- und anderen Girls fortwährend durch neu anmarschierende Bataillone verstärkt wurde. Sein Gesicht lächelt unentwegt und unerschüttert von den Titelblättern und aus den Seiten der populären Magazines; und sein knabenhaft unentwickeltes, schmetterlingsleichtes Figürchen, das dem Mann nicht bis zur Schulter reichen durfte, beherrschte die allmächtige Silberleinwand und damit Millionen von Zuschauern.

Vielleicht ist es hier nützlich, darauf zu verweisen, daß das amerikanische und das europäische Girl sich nicht ganz deckten. Die charakteristischen und wesentlichen Eigenschaften des amerikanischen, also des echten Girls, war die … o nein, nicht die Bubenhaftigkeit. Diese war nur die äußere Würze, die pikant kontrastierende Beigabe, die mit großer Kunst verwendet sein wollte, die die Europäerin meist nicht so gut verstand wie die Amerikanerin; denn das Girl war bei weitem schlauer als es aussah; schlauer zu sein als zu scheinen, war ja sozusagen sein Geschäft; Millionen wurden damit verdient. Daher begegneten nur Imitationsgirls dem Mann burschikos; die echten, unter denen es wahrhaft entzückende gab, wußten, daß sie vor allem ‚sweet‘ (süß) zu sein hatten. Und deshalb war das Girl an der Vermännlichung der Frau unschuldig; diese Vermännlichung gehört in ein ganz anderes Kapitel und ist auch eine Ursache mehr, daß das Girl aufhören muß, Girl zu sein. […]

Das Hauptrüstzeug ihrer Vorgängerin wird samt und sonders in die Abfallkanne wandern und darum ist es wahrlich nicht schade. Das ist nämlich jener süße, unschuldig-einfältige Blick aus weitaufgerissenen, dem Leben namenlos verwundert gegenüberstehenden Augen, mit dem das Girl zum Mann hinaufsah. Diesen Blick bezeichnete der amerikanische slang treffend als „Baby stare“. Jeder kennt ihn aus amerikanischen Filmen; denn wenn die Heldin nicht eine /30/ ausgemachte Verführerin war, so mußte sie über dieses Baby-stare und die Babygestalt verfügen und das Babyliebesgetändel beherrschen, um Helden und Zuschauer dranzukriegen. Demgemäß waren die Straßen, die Geschäfte, die Restaurants von Hollywood mit den hübschesten, gedrilltesten und mustergültig uniformen Girls so angefüllt, daß die ganze Gegend mit Baby-stares förmlich infiziert war und nach kürzerer oder längerer Zeit seinen Verstand verlieren mußte.

Mary Pickford wird entthront

Noch tanzen die Girls auf Broadway – – sie werden es noch lange tun, God bless them. Am Weihnachtstage glühlichterte ein Revuetheater über die unabsehbare Menschenmenge der Theaterstraße: „4 shows today nothing but girls.“ Aber etwas geschah neulich, das man nicht so sehr beachete, da hier täglich Größen fallen und Größen aufstehen. „Darling of America“, Mary Pickfords neuester Film fiel auf Broadway fast durch1. Nicht weil Mary über das Alter der Girls hinaus ist, aber weil sich das Publikum für Mary-Girls nicht mehr interessiert. Mary fiel zum ersten Mal in ihrem Leben ‚flach’ und sie wird ‚fern von Madrid’ jetzt Zeit haben, darüber nachzudenken, wie viele von ihren schauspielerischen Künsten sie dem Filmbaby opferte, das sie kreiert hat. Nachdem dieses Ereignis ohne Kommentar versunken war, wurde ein über der Fünften Avenue schwebender monumentaler Girlkopf, der eine Seife mit den Worten anpries „keep that school-girl complexion“ (Bewahre den Schulmädchenteint), eines Tages durch den schlanken, intelligenten Kopf und das liebenswürdig, aber sehr weltweise dreinschauende Gesicht einer jungen Frau ersetzt, die noch dazu ganz offen eine Frisur trug. Gleichzeitig verschwand auch die „School-girl complexion“. Damals begann ich etwas zu ahnen, denn ein solches Plakat kostet zu viel, als daß man sich dabei Experimente erlauben könnte. Meine Ahnung bestätigte ein Blick in das Schaufenster eines berühmten Modehauses, wo die reizenden Stilkleider, die das Girl mit seiner bekannten Präpotenz sich auch gleich wieder hatte aneignen wollen, indem es durchaus niedliche flatternde Kleidchen daraus zu machen suchte, ladylike verlängert waren. Einzelne rückwärts bis zum Boden, in der Art der Kostüme der andalusischen Tänzerinnen, andere mit seitlicher oder rückwärtiger Schleppe. Ha, eine Schleppe, das geschieht ihm recht, dem Girl.

            Es gab in den Schaufenstern noch allerhand andere interessante Sachen, Schleier zum Beispiel, die aber wahrscheinlich nicht Mode werden dürften, weil die Amerikanerin sie einmal nicht will, und geraffte, fließende Kleider, die für jene hochgewachsenen Frauen geschaffen sind, die sich die letzten Jahre in Mauselöchern verkriechen durften, wenn sie nicht sich selber untreu sein wollten. Und am selben Abend sah ich bei einer fashionablen Premiere alle die Damen, von denen ich wusste, daß ihre blonden, brünetten, grauen, weißen Bobs (geschnittene Haare) unmöglich schon nachgewachsen sein konnten, mit tiefen Knoten im Nacken, mit gedankenvollen, intelligenten, von zu viel Erleben müden Gesichtern – Müdigkeit, die natürlich zu 99 Prozent Imitation war, Gesichter, die zum Mann keineswegs hinauf-, sondern offenbar auf ihn herabsahen, auf denen ein Lächeln nur selten aufflog, aber dann mit allen Anzeichen von Kostbarkeit, Geheimnis und wissendem Locken. Blond, brünett, grau oder weiß – – die Girls waren samt und sonders verschwunden und es gab nur elegant-geschmeidige, unendlich blasierte „sophisticates“.

Die neue Königin und ihre Attribute

Und damit seien auch alle jene getröstet, die um die verlorene Dame die Hände gerungen haben. Es ist nicht mehr notwendig, denn sie ist schon wieder da. Wirklich und wahrhaftig; man darf sich beruhigen. Sie ist zwar nicht ganz die Alte, selbstverständlich nicht, Gott sei Dank nicht, dazu hat sie viel zu viel mitgemacht und zu viel gelernt; aber sie ist Dame. Wenn man es noch nicht glauben kann, so will ich zum Schluß jetzt meinen Trumpf ausspielen: Hollywood ist mit dabei, sein ureigenstes Produkt, das Girl, zur Strecke zu bringen. Das ist ungeheuer wichtig, denn ohne Hollywood könnten wir’s alle nicht ermachen. Sie zweifeln? Aber ich habe es schriftlich. „Hoch, schlank, statuesk, schön, die Personifizierung schlummernder Glut.“ Worte, die vor zwanzig Jahren geschrieben wurden? Mit nichten! Ganz neue Worte, so neue, daß sie noch brennend weiß über Broadway getragen werden. Denn mit ihnen preist Hollywood seinen neuesten Star an, Greta Garbo, die Schwedin, die gegenwärtig in einem Film, „Love“ Triumphe feiert, dessen Personen komischer- oder tragischerweise die Namen von Tolstois Roman „Anna Karenina“ tragen. Auch Pola Negri2 hatte hier Erfolg, aber es war nicht die Art von Erfolg, die so zwingend einen Teil der öffentlichen Mentalität wird, daß die Frauen sich selbst, Mode und Liebe verändern, und die Männer ihr weibliches Ideal von heut auf morgen umkrempeln. Greta kam eben im psychologischen Moment, als Amerika reif war für die hohe, schlanke, wissende, junge Frau, die noch vor zwei Monaten in Hollywood ruhig vor den Toren der Studios hätte verhungern können, selbst wen sie die Duse3 des Films in Person gewesen wäre. Greta bricht übrigens auch die Tradition in anderer Hinsicht, indem zum erstenmal in einem amerikanischen Schlager eine verheiratete Frau zur Liebesheldin gemacht wird.

Was werden nun die Girlarmeen in Hollywood machen? Und wie werden die kleinen Stenos ihr Budget dem neuen Ideal anpassen, das bei weitem teurer kommt? Warum sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen; wer hat uns gefragt, als man uns Kinderkleider zumutete! Ich habe meine Pflicht getan und Ihnen, meine Damen, eine „Advance notice“ zukommen lassen. Und jetzt gehe ich zum Coiffeur, um mir die Haare à la Garbo  – halblang auf die Schulter fallend – frisieren zu lassen, und zur Schneiderin, um mir ein gerafftes Abendkleid mit einer kleinen, blasierten Schleppe zu bestellen.

Newyork, im Januar 1928.    

In: Neue Freie Presse, 22.1.1928, S. 29-30.

  1. Mary Pickford (1892-1979, Star des amerikanischen Stummfilms) siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/Mary_Pickford (Zugriff vom 5.7. 2014)
  2. Pola Negri, 1897 in Lipno, Russland (eigentl. Poln. Stadt) – 1987, San Antonio, USA; Star der Stummfilmzeit, insbes. in der Zusammenarbeit mit Ernst Lubitsch seit 1919 (Madame Dubarry), Hollywood, Rückkehr nach Deutschland 1934, wo sie mit Paul Wegener für die UFA drehte, ab 1941 wieder in den USA.
  3. Eleonora Duse (1858-1924), bedeutende italienische (Theater)Schauspielerin; siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Eleonora_Duse (Zugriff, 5.7.2014)

Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. Noch einmal „Monotonisierung der Welt“

Siehe dazu auch Monotonisierungsdebatte.

Stand da vor Wochen ein so interessantes Feuilleton in diesem Blatt, voll der Wehmut, die sich über schwindende Schönheit neigt, und doch auch voll Kraft im Selbstbehaupten, im Pathos der Schlusssätze. Der es schrieb, ein Dichter-Schriftsteller von internationalem Ruf, dessen künstlerisches und menschliches Wesen bis in die letzte Fiber durchtränkt ist von dem Duft, der Sensibilität der Kultur, deren unaufhaltsames Schwinden er beklagt; einer Kultur, die zwar unbewußt und liebenswürdig hochmütig, aber in ihrem universellen Umfassen aller ‚Himmel des Geistes’ dem Gefühlsleben ein Blumenparterre schuf, darin die Seelen im Anschauen von Schönheit ewige Fragen in edler Muße besprechen konnten. Vorausgesetzt freilich, daß sie in dieser Muße geboren waren, denn sonst hatten sie in der Regel draußen vor den Toren zu bleiben. Denn diese schöne und versinkende Kultur, unsere europäische Kultur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die der Krieg mit Auszehrung schlug, sie war eine individual-aristokratische, respektive bürgerliche Kultur, wie bis jetzt noch jede, die altgriechische ausgenommen. Sie gehörte jenen, die durch Geburt, Klasse, Stand sie in die Wiege gelegt bekamen. Sie ist uns allen teuer, die wir in ihr aufgewachsen. Wir alle bluten aus Wunden, die uns ihr Abreißen geschlagen hat, und unser taumelndes Leid wird  beredt in der Sprache eines Dichters wie jenes, der den Aufsatz schrieb, auf den ich hier weise: ‚Monotonisierung der Welt.’

Aber nicht um Vergangenem nachzuahmen greife ich zur Feder; ich bin in Amerika und da gibt es nur Gegenwart und Zukunft, keine Vergangenheit. Ich schreibe heute, weil in ‚Monotonisierung der Welt’ ein Satz ist, der heißt: „Woher kommt diese Welle, die uns alles Farbige, alles Eigenförmige aus dem Leben wegzuschwemmen droht? Jeder, der drüben gewesen ist, weiß es: von Amerika.“ Ich greife diesen Satz heraus und nehme ihn unter die Lupe.

Woher nehme ich die Courage? Kaum eine Handvoll Jahre ist es her, da saß ich im Kaffeehaus an der grünen Salzach, wo die ganz ansehnliche Künstlergemeinde Salzburgs ihr Quartier-Latin-Zusammenkünfte in jenen Nachkriegsjahren zu haben pflegte, im Angesichte von Fluß, Brücke, Stadt und des alten Wolfdietrich ragendem Schloß. Ist’s Café-Akademie? Zuviel ist über den Namen gerauscht, wie plastisch zwar auch die Szene der Seele erhalten geblieben. Und da saß am selben Tisch Stefan Zweig. Nicht, daß er mich bemerkt hätte: ich war jung und unreif, aber dankbar für die Stunde, die den Dichter an meine Seite gebracht, der mir die schlanke, sensitive Hand reichte, der aus der Welt von Kunst und Büchern seines altersgrauen Schlößchens nur selten herunterkam, um zu präsidieren, mit der Grazie eines Herzogs in der Nonchalance von Kniehosen und Sporthemd. Aber nicht ganz so selten wie der unsichtbare Geist über dieser literarischen Gemeinde, der schweigsam und exklusiv wie ein grollender König, täglich, in Silberbart und karierten Bridges, in ein gewisses Gasthaus in der Vorstadt pilgerte, wo es die besten Knödel gab. Ich meine natürlich Hermann Bahr. Oder der Schmied duftiger Verslein und sinniger Geschichtlein, voll der Herb-Süße Alt-// Österreichs, Franz Karl Ginzkey, der sich gerade ein Nest zurechtzimmerte, so weit draußen, versteckt hinter Wiesen und Hecken, daß man seine liebe Not hatte, es zu finden. Reinhardts Barockschloß träumte damals noch abbröckelnd, mit glaslosen Fenstern, über einen schilfgesäumten Teich, der jedem gehörte, der ihn haben wollte.

Was für silberne Tage, was für ein silberner Platz: Salzburg. So recht geschaffen dazu, dort eine Burg aufzurichten gegen die in der Phalanx der Großstädte auftürmende Verplattung von Zeit, Mensch, Gedanke. Und daraus stracks nach Amerika – es könnte ebenso gut heißen, von einem Planeten durch unendlichen Raum zu einem anderen Planeten. In das Amerika nämlich, in das ich gelangte. Mitten hinein ins schlagende Herz der neuen Welt warf es mich, nach Chicago. Und da war keine lieblich erwärmte Hotelsuite für mich bereit, keine Freundeshand, die mich führte und wies, kein Wegzeiger auf meiner Straße, aber da war auch kein Land von Hotel zu Hotel durchrasender Salonwagen, keine schwatzenden Komitees, die im ehrlichsten Bemühen nichts anderes tun als eine Welt in einem Fingerhut präsentieren. Ich kam nicht aus Hunger nach Brot oder Gold: denn eine leidlich gute Krippe hatt’ ich im alten Land in den Wind geschlagen und vom Gold war ich klug genug zu wissen, daß es auch hier nicht auf der Straße liege. Ich kam aus dem Zusammenbruch einer Epoche: aus dem Zusammenbruch eines Lebens, um die Möglichkeit neuen Lebens zu suchen. So stand ich Amerika gegenüber mit blanker Seele, aus der die Vergangenheit weggebrannt war, fragend: Was bist du, wo bist du, wer bist du; was bringst du mir, was der Welt? Ich, die Mücke, zum Riesen Amerika. Und der Riese sagte: Go ahead and find out! Geh und schau zu, was du findest. Ich stand mit dem Bündel Fetzen, das der Krieg einem österreichischen Intellektuellen hinterlassen hatte, in den Straßen Chicagos ätzend heiß im Sommer. Go and find out… Und ich ging und trachtete zu finden. Vorerst etwas zu essen und ein Dach überm Kopf. Leicht oder nicht leicht, ich wollte doch so ungeheurer mehr. Schritt um Schritt rang ich es dem Riesen ab. Ich kämpfte mit ihm, ich arbeitete für ihn, ich schrie gegen ihn, ich schmeichelte mich an ihn heran, trachtete seine schwachen Seiten herauszufinden und fand seine starken, dort wo sie kaum geahnt. Ich besah ihn mir von unten und oben, von innen und außen. Ich aß apple-pie und steak mit Wäscherinnen und Tippfräulein und Austern und Lobster mit Klubdamen und Millionären. Lachende Töchter des Westens schlug ich auf der Universität in englischer Grammatik, und ließ mich von ihnen in basket-ball schlagen. Viele Türen ging ich ein und aus und sah den Menschen bei der Arbeit auf die Finger, belauschte die Muße: Eine bunte Menge, hochmütig-exklusiv und gemütlich-anbiedernd, arm und reich, edel und unedel, ich sah, wie die Tage, die Wochen, die Jahre, wie die Städte und die Weiler sie gleich Treibholz an das Ufer unseres Bewusstseins schwemmen, das bereit steht mit der Laterne der Frage: Wer seid ihr, was bringt ihr? Und ich bin in den Farmerhäusern des großen Mittelwestens gewesen, wo Schweine auf der einen und Mais auf der anderen Seite der Menschen Hirn und Herz begrenzen, weil ihnen die Natur nichts anderes gewährt, und ich habe mich gewundert, wie sie es zusammenbringen, dazwischen auf Gott nicht zu vergessen, was immer nun Gott auch sein mag. Der Mittelwesten hat Amerika eine Anzahl seiner besten Dichter und Schriftsteller des letzten Jahrzehnts gegeben. Die man in Europa erst noch kennen zu lernen hat als die Pfadbrecher einer neuen literarischen Epoche – Morgenrot über dunklen, schlafenden Wäldern.  Freilich glaube ich nicht, daß einer unter ihnen sich mit Marcel Proust hätte verständigen können oder Proust mit ihnen; dazu sind beide zu sehr Vertreter der Extreme, die nicht einmal auf derselben Linie liegen. Ich möchte nicht begraben sein im Mittelwesten, kein Europäer könnte dort leben, der vor dem Krieg erwachsen und gebildet war. Aus dem einfachen Grund, weil es zu verschieden ist. Ich floh nach Newyork, um Europa näher zu sein, um Europa zu riechen im Angesichte der Dampfer, die es erste vor ein paar Tagen gesehen; aber ich habe im Mittelwesten unendlich viel gelernt. Amerika ist mehr als die an monumentale Keckheit, an Frivolität des Geistes grenzende Ausgestaltetheit der Wolkenkratzer; ist mehr als Newyorks weißglühender Markt der Eitelkeiten und des Sensationshungers, Broadway, mehr als Wallstreets Dollarjagd; mehr als seine 16 Millionen Automobile und die unheimliche Kompetenz des Druckknopfes (just press the button), der uns mit allem versieht, von einer Tasse Kaffee bis zum Konzert des berühmten, ein paar hundert Meilen weit entfernten Virtuosen. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten des Reichwerdens, wie es in den europäischen Märchen vorkommt, ist mehr oder weniger eine Sache der Vergangenheit; aber Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten n der Evolution des Menschengeschlechtes mag wohl eine Tatsache werden.

Europa weiß ja selbst heute seinen Weg nicht. Es taumelt in der Dunkelheit. Zurück zum Alten, über die Trümmer hinüber klimmen kann es nicht und vorwärtsweiß es nicht recht wie. Europa ist zu befangen, zu verstrickt in tausend Strömungen und Unterströmungen, in Hemmungen und Wünschen.  Der Europäer als Einzelmensch ist einem werter und unleugbar interessanter als der Amerikaner, aber das Land als solches? Langweilig, platt, oberflächlich? Nein. Je länger man hier ist, desto überzeugter wird man davon, daß man noch immer mehr zu erkennen hat. Wenn ich sage ‚Land’, so meine ich es: Land. Die amerikanischen Städte sind mit wenigen Ausnahmen von einer trostlosen Hässlichkeit, einzig und allein für den Zweck gebaut, Geld zu machen; aber der Amerikaner besiegt diese Hässlichkeit, indem er ihr so viel als möglich ausweicht, und es hilft ihm dabei ein großes Glück: Platz zu haben. Alle amerikanischen Städte wachsen weit ausladend ins Grüne. Aber die Kraft, der Sinn Amerikas liegt nicht in den Städten, der liegt im Boden. Monotonie? Langeweile? Ja, fürchterlich, in beiden, Land und Stadt. Aber der Amerikaner kann nichts dafür; er empfängt diese Monotonie nicht freiwillig wie der Europäer, der sie eintauscht für bessere Güter. Ihn hat sie überrascht, überströmt, daß er momentan wehrlos, obwohl nicht tatlos ist gegen sie. Nach der sauren, alle Zeit und Energie in Anspruch nehmenden Arbeit der Erschließung eines riesigen Kontinents verwandte er den Ueberschwang// der also durch Uebung gestählten, durch Erfolg erfrischten Kräfte auf den weiteren Ausbau seines Lebens, für das er sich in wenigen Jahrzehnten eine Form geschaffen hat, die alles je Dagewesene an Brillantheit übertrifft. In Treibhausschnelle ist sie der ehemaligen Lehrmeisterin Europa über den Kopf gewachsen. […] Europa hat Jahrhunderte gebraucht, um seine Kultur zu bilden, die, zwar befruchtet von asiatischen, dennoch seine eigene ist. Nun, Amerika ist dabei, seine eigene Kultur zu bilden. Was es bisher gehabt hat, war importiert, adaptiert, oder trug deutlich den Stempel europäischer Schulung. Nun beginnt es sich zu emanzipieren. Sein politisches Distanzhalten ist vielleicht ein Symptom davon. Nicht daß es Europa von sich fern hielte, Europa und Amerika sind näher denn je, geographisch. Es horcht, was Europa zu sagen hat. Dieses Horchen darf man aber nicht für Absorbieren nehmen, denn es geht absolut seinen eigenen Weg. Wer kann heute genau wissen, wohin der führt? Aber jeder, der hier ist und dem Land den Puls fühlt, wird es erleben: die unverwischbare Empfindung, daß hier etwas im Werden ist, daß sich eine Seele regt, die langsam große Augen aufschlägt.

Renan definiert eine Nation: „Große Dinge in Gemeinschaft gemacht zu haben und wünschen, große Dinge in Gemeinschaft zu machen.“1 Aus naheliegenden Gründen trieb und treibt der Materialismus hier – wie überall – seine giftigen Blüten. Aber legt man das Ohr auf die Erde, so hört man den Hufschlag von Besserem. Hat man in Europa je daran gedacht, in Gemeinschaft national Wertvolles zu leisten? Ja, der Einzelne, der Große, er dachte und denkt die großen, die schönen Gedanken. Der Impetus, den die Großen gaben, war immer die Hefe für Neues und Besseres. Aber einmal über die Schwelle ihres Hauses trat man in Tyrannei, Stupidität, Haß und Schmutz. Hat je ein Volk zusammengearbeitet, um sein Land groß zu machen? Nein, es wurde höchstens dazu gepeitscht, es mächtig zu machen. Nur ein Beispiel. In Europa gibt es heute genug sehr reiche Leute, wahrscheinlich mehr als vor dem Krieg. Ist es einem eingefallen, ein großzügiges Kulturwerk zu schaffen, deren Nutznießer die Allgemeinheit ist, eine Bibliothek, eine Universität usw. oder Bestehendem genügend aufzuhelfen? Ich habe nichts davon gehört. […]

Amerika ist noch mitten drin im Fundamentlegen. Nun noch einmal zu unserem Mann zurück, zu unserem Durchschnittsmann – abends konzertieren für ihn Pablo Casals, Jeritza, die Philharmonie in seinem Hause, Staatssekretär Hughes spricht für ihn. Der reichste Mann der Welt kann wahrscheinlich Pablo Casals, Jeritza für einen Abend engagieren, kaum aber Staatssekretär Hughes2. Aber hier ist er in einem Fünf-Zimmer-Haus! Also: Fabriksware, Maschine, Kino, Radio, Horreurs für den kultivierten Europäer, gewiß. Warum aber eine Gefahr? Kein Künstler braucht zu fürchten, daß sein Saal leer wird durchs Radio, denn wer Schaljanin am Radio hört, wäre wahrscheinlich kaum ins Konzert gekommen. Andrerseits aber wird durch das Hören am Radio der Wunsch erweckt, den Künstler in Person zu hören. Wenn man hundert-, zweihundertmal am Victriola (ein ausgezeichnetes Grammophon) „O du mein Abendstern“ gespielt hat, prägt sich einem schließlich etwas von der Schönheit ein, und man wünscht die ganze Oper zu hören3. Vielleicht ist das Victriola zum großen Teil  schuld daran, daß die Operngesellschaften in Amerika aus der Erde wachsen. Riesige Entfernungen sind in Amerika, die durch die Vehikel der Kultur, wie wir sie einst in den schönen Zeiten vor dem Radio gehabt haben, nie erreicht werden könnten. Viele Millionen Menschen wohnen dort. Ihnen allen wird plötzlich eine neue Welt erschlossen. Machen wir uns doch einmal klar, daß die Zeit, da Cheops (von dem wir glauben, daß er seit Tausenden Jahren tot ist, der aber noch immer atmet) Ungeheures schuf mit Hilfe von Hunderttausenden von namenlosen Sklaven, die in der Wüstensonne wie Fliegen starben, daß diese Zeit endgültig vorüber ist. Wir stehen an der Schwelle einer ganz neuen. Wir sind inmitten einer ungeheuren sozialen Evolution. Europa experimentiert sich in diese Zeit hinein und es experimentiert, wie das russische Beispiel zeigt, nicht gut. Aber das russische Bei//spiel hat auch gezeigt, wie faul, wie unterminiert unsere Zeit gewesen. Es gefiel uns, gewiß, und wenn wir von Elend und Jammer und Hässlichkeit hörten, hielten wir die Hände abwehrend vor und sagten: Ja, ja, das existiert, aber wir wollen nichts davon wissen. Aber es nützte uns nichts; wir bekamen Jahre voll Elend, Jammer und Hässlichkeit voll zubemessen und wir sind dem russischen Gemetzel nur um ein Haar entronnen. Der Gestank aus übertünchten Gräbern wird früher oder später ruchbar.

Ich sehe für einen der bedeutendsten, ja vielleicht für den bedeutendsten Amerikaner der Epoche jenen an, der in allen seinen Betrieben dem geringsten Laufjungen einen solchen Wochenlohn zahlt, daß er durch ihn mehr haben kann als bloß trockenes Brot. Dies nicht aus Idealismus, auch nicht nur als Propagandakunststück, aber aus einer mehr schlauen als weisen, ungemein sicheren Vorausfühlung, mit der er Gestalt findet für Dinge, die da kommen sollen. Dieser Mann ist Ford. Ich habe gezögert, den Namen hinzuschreiben, denn Ford hat in Europa schlechtesten Ruf als der Protagonist des Taylorsystems, der äußersten, verblödenden Spezialisierung der Arbeit, Man kann eben nie ein Glied aus einem komplizierten Mechanismus, wie es ein Industriesystem ist, herausgreifen und einzeln betrachten; da muß man falsche Schlüsse machen. Gut und schlecht – das Kapitel Ford ist ein Kapitel amerikanischer Kulturgeschichte. Was aber nun den Laufjungen betrifft – es muß auch Laufjungen geben, warum sollen sie Ausgeworfene sein, weil sie Laufjungen sind? Es wäre entsetzlich, wenn die Welt nur aus Universitätsprofessoren bestände. Ich bin weder eine Bolschewistin noch eine Sozialistin, lediglich Amerikanerin – in diesem Sinn – und als solche sage ich: Jeder, wo immer er geboren ist, soll die Möglichkeit haben, sein Leben auszugestalten; die Möglichkeit, die Zeit, zu lachen. Das wollen wir vor allem wieder können: lachen. Dann werden wir weiter sehen. […]

Ja, wird man mir sagen, in Amerika ist das leicht, den Leuten geht es eben einfach allen materiell besser. Aber das ist es keineswegs, was den Unterschied so fundamental macht. Er liegt tiefer, dort, wohin die gleißende Politur des Geldes nicht mehr reicht. Diese Lemuren: Jazz, Fabriksware, Maschinen, Talmikunst – sie sind Quartiermacher, sie sind nicht Amerika. Es ja uns, die wir Heldenverehrer sind und die Persönlichkeit über alles schätzen, gleichgültig sein, ob Millionen Menschen wissender und lachender werden. Menschen, für die wir uns von vornherein, weil sie in Bildung unter uns stehen, nicht interessieren. Aber es ist für das Wesen der Dinge, für die Formung der Zeiten nichts weniger als gleichgültig. Ich ging einst in der Sonntagsmenge von Coney Island, dem größten Volksvergnügungsplatz der Welt, mit einem sehr gereisten sehr verwöhnten und Amerika – wie alle – sehr skeptisch gegenüberstehenden Wiener, der sagte zu mir: „Diese Mädchen sind alle nett gekleidet, sie sehen alle gut und hübsch aus. Wie machen sie es? Nun, darauf könnte man mancherlei Antwort geben, aber unter anderem auch das: Ein nettes, einfaches Kleid kann man billiger in Newyork kaufen als irgendwo anders, obwohl Newyork zu den teuersten Städten der Welt gehört, vorausgesetzt, daß man die Durchschnittsstatur hat. Dank der Fabrik. Wenn mein Geschmack darüber erhaben ist, so kaufe ich es einfach nicht. Daß die Fabriksware Geschmack verdirbt, ist durchaus unrichtig. Das Gegenteil ist der Fall, denn bei Leuten, die sich mit Fabriksware Genüge sein lassen, ist kein Geschmack zu verderben, höchstens einer zu entwickeln. Und dabei muß man immer von unten anfangen, nicht von oben. Es hat wenig Sinn, wehmütig derTage zu denken, da man in der Beschaulichkeit eines geruhsamen Lebenstaktes kunstvolles Hausgerät und Gewänder ersann und sie bedächtig und fürsorglich für langes Dienen in die Welt setzte. Jedes Jahrhundert hat seinen Inhalt und seine Aufgaben, und wo hinaus und hinauf die phänomenale Basis, auf die unsre gestellt ist, sich auswachsen wird, das können wir heute wohl gar nicht ahnen. Aber man fühlt es hier am Herzen Amerikas mit größter Gewissheit als hinter Europas Zaunburgen, daß auf den Kämmen dieses mit barbarischen Kräften geschwellten Stromes der ‚Monotonisierung der Welt’ neue und große Werte herangetragen werden mögen, daß sie herangetragen werden. 

In: Neue Freie Presse, 25.3.1925, S. 1-4.


  1. Ernest Renan (1823-1892), französischer Schriftsteller, Historiker, Orientalist und Religionswissenschaftler. Leitich bezieht sich auf seine berühmte, 1882 an der Sorbonne gehaltene Rede Was ist eine Nation (Qu’est-ce qu’un nation?) Siehe: http://fr.wikisource.org/wiki/Qu%E2%80%99est-ce_qu%E2%80%99une_nation_%3F (Zugriff vom 6.7.2014)
  2. Pablo Casals (1876 in El Vedrelli, Spanien – 1973 Puerto Rico), bedeutender Cellist, Komponist und Dirigent, der sich auch politisch, kulturell und sozial exponiert und engagiert hat, insbesondere gegen den Nationalsozialismus durch Einladungsablehnungen sowie im Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs ab 1936 für die Republik und gegen Franco, was seinen Gang ins Exil zur Folge hatte. Weiters setzte er sich konsequent für die katalanische Sprache und Kultur ein.

    Maria Jeritza (1887, Brünn – 1982 New Yersey), weltbekannte Sopranistin und Theaterdiva, in vielen Opern von Richard Strauss und Max Reinhardt engagiert, 1921-1932 Ensemblemitglied der New Yorker Metropolitan Opera.

  3. Bezieht sich auf die Arie O du mein holder Abendstern in Richard Wagners Oper Tannhäuser (UA 1845, erste Aufführung in New York 1859)

N.N: Amerikanische Automobilgrotesken

            Es ist ganz selbstverständlich, daß in einem Lande wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo nach den letzten Zählungen auf jeden siebenten Einwohner ein Automobil kommt, das Automobil auch in Kunst und Literatur, in der ernsten Betrachtung und in der witzigen Satire, eine bedeutende Rolle spielt. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten in der amerikanischen Automobilindustrie hat sich die Mühe genommen, eine lange Reihe guter und weniger guter Witze, die über den bekanntesten amerikanischen Wagen, den Ford, der bekanntlich in vollkommen gleicher Ausführung täglich zu etwa 3000 Stück die Fabrik verläßt, in Umlauf sind, zu sammeln und in einem eigenem Büchlein zu vereinigen. Das Ueberraschende daran ist nur, daß der Verfasser und Herausgeber dieses Werkes – Mr. Henry Ford selbst ist, der Schöpfer und Fabrikant des seinen Namen führenden Autos. Mit seltener Selbstironie hat Ford alle diese zum Teil beißend boshaften Witze und satirischen Anekdoten über sein Fabrikat in Druck gegeben und dafür gesorgt, daß die Sammlung massenhafte Verbreitung finde. Er hat sich das erlauben können, weil er gewußt hat, daß sein Auto bereits derart verbreitet und gut eingebürgert ist, daß ihn auch Spott und Hohn nicht schaden können. Im Gegenteil, es hat den Anschein, als ob Mr. Ford mit dem Büchlein ein neues Mittel zur weiteren Popularisierung seines Wagens gefunden haben will.

            Ein Selbsterlebnis Fords sei den anderen Anekdoten vorangestellt. Als Ford eines Tages auf einem seiner Wagen eine Fahrt ohne Chauffeur über Land unternahm, sah er einen anderen Ford-Fahrer in Panne stecken. Er bot sich an, die Störung zu beheben, was ihm auch gelang. Nach getaner Arbeit wollte ihm der Besitzer des wieder in Gang gesetzten Autos einen Dollar geben, welche Schenkung Ford lächelnd mit den Worten ablehnte, er sei ein reicher Mann und danke für das Trinkgeld. Empört antwortete der andere: „Schneiden Sie gefälligst nicht auf! Wenn Sie wirklich ein reicher Mann wären, würden Sie nicht mit so einem lumpigen Kasten von Ford fahren.“

            Weitere Anekdoten: Ein Chauffeur, der in einer Garage um Beschäftigung bat, rühmte sich, jede Automobilmarke am Geräusch des Wagens zu erkennen. Man ging auf seinen Vorschlag, eine Probe zu machen, ein, und verband ihm die Augen. Tatsächlich hatte er bereits sieben Wagen richtig agnosziert, als unvermutet ein Hund, dem Gassenjungen einen alten Topf an den Schweif gebunden hatten kläffend und heulend in die Garage stürzte. „Jetzt kommt ein Ford!“ rief sofort der Chauffeur mit den verbundenen Augen.

            Angebliche Notizen in der Fachpresse: „Gerüchtweise verlautet, daß Ford sich mit dem Plane trägt, eine bedeutende Ersparnis an seinem Wagen zu verwirklichen. Er will den Geschwindigkeitsmesser entfernen, da sich die Entbehrlichkeit dieses Apparats erwiesen hat. Der Wagen selbst stellt nämlich den besten Geschwindigkeitsmesser dar, denn bei 15 Kilometer in der Stunde klirren die Lampen und die Scheinwerfer, bei 25 Kilometer klirrt der Windschirm und bei 40 Kilometer klirren die Knochen der Fahrgäste.“ – Eine andere derartige Notiz: „Seit kurzem ist der Ford-Wagen mit einem ganz neuartigen Signalapparat ausgestattet. Der Apparat arbeitet wie ein Grammophon und tritt automatisch in Tätigkeit, sobald der Wagen eine Stundengeschwindigkeit von vierzig Kilometer erreicht. Dann beginnt der Signalapparat den bekannten Choral: „Näher, mein Gott, zu dir“ zu spielen.“

Schlagworte: Automobil, Automobilgroteske, Ford, Grammophon

In: Neue Freie Presse, 1.1.1921, S. 31-32.