Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. Noch einmal „Monotonisierung der Welt“
Siehe dazu auch Monotonisierungsdebatte.
Stand da vor Wochen ein so interessantes Feuilleton in
diesem Blatt, voll der Wehmut, die sich über schwindende Schönheit neigt, und
doch auch voll Kraft im Selbstbehaupten, im Pathos der Schlusssätze. Der es
schrieb, ein Dichter-Schriftsteller von internationalem Ruf, dessen
künstlerisches und menschliches Wesen bis in die letzte Fiber durchtränkt ist
von dem Duft, der Sensibilität der Kultur, deren unaufhaltsames Schwinden er
beklagt; einer Kultur, die zwar unbewußt und liebenswürdig hochmütig, aber in
ihrem universellen Umfassen aller ‚Himmel des Geistes’ dem Gefühlsleben ein
Blumenparterre schuf, darin die Seelen im Anschauen von Schönheit ewige Fragen
in edler Muße besprechen konnten. Vorausgesetzt freilich, daß sie in dieser
Muße geboren waren, denn sonst hatten sie in der Regel draußen vor den Toren zu
bleiben. Denn diese schöne und versinkende Kultur, unsere europäische Kultur
des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die der Krieg mit
Auszehrung schlug, sie war eine individual-aristokratische, respektive
bürgerliche Kultur, wie bis jetzt noch jede, die altgriechische ausgenommen.
Sie gehörte jenen, die durch Geburt, Klasse, Stand sie in die Wiege gelegt
bekamen. Sie ist uns allen teuer, die wir in ihr aufgewachsen. Wir alle bluten
aus Wunden, die uns ihr Abreißen geschlagen hat, und unser taumelndes Leid
wird beredt in der Sprache eines Dichters
wie jenes, der den Aufsatz schrieb, auf den ich hier weise: ‚Monotonisierung
der Welt.’
Aber nicht um Vergangenem nachzuahmen greife ich zur
Feder; ich bin in Amerika und da gibt es nur Gegenwart und Zukunft, keine
Vergangenheit. Ich schreibe heute, weil in ‚Monotonisierung der Welt’ ein Satz
ist, der heißt: „Woher kommt diese Welle, die uns alles Farbige, alles
Eigenförmige aus dem Leben wegzuschwemmen droht? Jeder, der drüben gewesen ist,
weiß es: von Amerika.“ Ich greife diesen Satz heraus und nehme ihn unter die
Lupe.
Woher nehme ich die Courage? Kaum eine Handvoll Jahre
ist es her, da saß ich im Kaffeehaus an der grünen Salzach, wo die ganz
ansehnliche Künstlergemeinde Salzburgs ihr Quartier-Latin-Zusammenkünfte in
jenen Nachkriegsjahren zu haben pflegte, im Angesichte von Fluß, Brücke, Stadt
und des alten Wolfdietrich ragendem Schloß. Ist’s Café-Akademie? Zuviel ist
über den Namen gerauscht, wie plastisch zwar auch die Szene der Seele erhalten
geblieben. Und da saß am selben Tisch Stefan Zweig.
Nicht, daß er mich bemerkt hätte: ich war jung und unreif, aber dankbar für die
Stunde, die den Dichter an meine Seite gebracht, der mir die schlanke,
sensitive Hand reichte, der aus der Welt von Kunst und Büchern seines
altersgrauen Schlößchens nur selten herunterkam, um zu präsidieren, mit der
Grazie eines Herzogs in der Nonchalance von Kniehosen und Sporthemd. Aber nicht
ganz so selten wie der unsichtbare Geist über dieser literarischen Gemeinde,
der schweigsam und exklusiv wie ein grollender König, täglich, in Silberbart
und karierten Bridges, in ein gewisses Gasthaus in der Vorstadt pilgerte, wo es
die besten Knödel gab. Ich meine natürlich Hermann
Bahr. Oder der Schmied duftiger Verslein und sinniger Geschichtlein,
voll der Herb-Süße Alt-// Österreichs, Franz Karl
Ginzkey, der sich gerade ein Nest zurechtzimmerte, so weit draußen,
versteckt hinter Wiesen und Hecken, daß man seine liebe Not hatte, es zu
finden. Reinhardts Barockschloß träumte damals noch abbröckelnd, mit glaslosen
Fenstern, über einen schilfgesäumten Teich, der jedem gehörte, der ihn haben
wollte.
Was für silberne Tage, was für ein silberner Platz:
Salzburg. So recht geschaffen dazu, dort eine Burg aufzurichten gegen die in
der Phalanx der Großstädte auftürmende Verplattung von Zeit, Mensch, Gedanke.
Und daraus stracks nach Amerika – es könnte ebenso gut heißen, von einem
Planeten durch unendlichen Raum zu einem anderen Planeten. In das Amerika
nämlich, in das ich gelangte. Mitten hinein ins schlagende Herz der neuen Welt
warf es mich, nach Chicago. Und da war keine lieblich erwärmte Hotelsuite für
mich bereit, keine Freundeshand, die mich führte und wies, kein Wegzeiger auf
meiner Straße, aber da war auch kein Land von Hotel zu Hotel durchrasender
Salonwagen, keine schwatzenden Komitees, die im ehrlichsten Bemühen nichts
anderes tun als eine Welt in einem Fingerhut präsentieren. Ich kam nicht aus
Hunger nach Brot oder Gold: denn eine leidlich gute Krippe hatt’ ich im alten
Land in den Wind geschlagen und vom Gold war ich klug genug zu wissen, daß es
auch hier nicht auf der Straße liege. Ich kam aus dem Zusammenbruch einer
Epoche: aus dem Zusammenbruch eines Lebens, um die Möglichkeit neuen Lebens zu
suchen. So stand ich Amerika gegenüber mit blanker Seele, aus der die
Vergangenheit weggebrannt war, fragend: Was bist du, wo bist du, wer bist du;
was bringst du mir, was der Welt? Ich, die Mücke, zum Riesen Amerika. Und der
Riese sagte: Go ahead and find out! Geh und schau zu, was du findest. Ich stand
mit dem Bündel Fetzen, das der Krieg einem österreichischen Intellektuellen
hinterlassen hatte, in den Straßen Chicagos ätzend heiß im Sommer. Go
and find out… Und ich ging und trachtete zu finden. Vorerst etwas zu essen und ein Dach
überm Kopf. Leicht oder nicht leicht, ich wollte doch so ungeheurer mehr.
Schritt um Schritt rang ich es dem Riesen ab. Ich kämpfte mit ihm, ich
arbeitete für ihn, ich schrie gegen ihn, ich schmeichelte mich an ihn heran,
trachtete seine schwachen Seiten herauszufinden und fand seine starken, dort wo
sie kaum geahnt. Ich besah ihn mir von unten und oben, von innen und außen. Ich
aß apple-pie und steak mit Wäscherinnen und Tippfräulein und Austern und
Lobster mit Klubdamen und Millionären. Lachende Töchter des Westens schlug ich
auf der Universität in englischer Grammatik, und ließ mich von ihnen in basket-ball
schlagen. Viele Türen ging ich ein und aus und sah den Menschen bei der Arbeit
auf die Finger, belauschte die Muße: Eine bunte Menge, hochmütig-exklusiv und
gemütlich-anbiedernd, arm und reich, edel und unedel, ich sah, wie die Tage,
die Wochen, die Jahre, wie die Städte und die Weiler sie gleich Treibholz an
das Ufer unseres Bewusstseins schwemmen, das bereit steht mit der Laterne der
Frage: Wer seid ihr, was bringt ihr? Und ich bin in den Farmerhäusern des
großen Mittelwestens gewesen, wo Schweine auf der einen und Mais auf der
anderen Seite der Menschen Hirn und Herz begrenzen, weil ihnen die Natur nichts
anderes gewährt, und ich habe mich gewundert, wie sie es zusammenbringen,
dazwischen auf Gott nicht zu vergessen, was immer nun Gott auch sein mag. Der
Mittelwesten hat Amerika eine Anzahl seiner besten Dichter und Schriftsteller
des letzten Jahrzehnts gegeben. Die man in Europa erst noch kennen zu lernen
hat als die Pfadbrecher einer neuen literarischen Epoche – Morgenrot über
dunklen, schlafenden Wäldern. Freilich
glaube ich nicht, daß einer unter ihnen sich mit Marcel Proust hätte
verständigen können oder Proust mit ihnen; dazu sind beide zu sehr Vertreter
der Extreme, die nicht einmal auf derselben Linie liegen. Ich möchte nicht
begraben sein im Mittelwesten, kein Europäer könnte dort leben, der vor dem
Krieg erwachsen und gebildet war. Aus dem einfachen Grund, weil es zu
verschieden ist. Ich floh nach Newyork, um Europa näher zu sein, um Europa zu
riechen im Angesichte der Dampfer, die es erste vor ein paar Tagen gesehen;
aber ich habe im Mittelwesten unendlich viel gelernt. Amerika ist mehr als die
an monumentale Keckheit, an Frivolität des Geistes grenzende Ausgestaltetheit
der Wolkenkratzer; ist mehr als Newyorks weißglühender Markt der Eitelkeiten
und des Sensationshungers, Broadway, mehr als Wallstreets Dollarjagd; mehr als
seine 16 Millionen Automobile und die unheimliche Kompetenz des Druckknopfes
(just press the button), der uns mit allem versieht, von einer Tasse Kaffee bis
zum Konzert des berühmten, ein paar hundert Meilen weit entfernten Virtuosen.
Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten des Reichwerdens, wie es in
den europäischen Märchen vorkommt, ist mehr oder weniger eine Sache der
Vergangenheit; aber Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten n der
Evolution des Menschengeschlechtes mag wohl eine Tatsache werden.
Europa
weiß ja selbst heute seinen Weg nicht. Es taumelt in der Dunkelheit. Zurück zum
Alten, über die Trümmer hinüber klimmen kann es nicht und vorwärtsweiß es nicht
recht wie. Europa ist zu befangen, zu verstrickt in tausend Strömungen und
Unterströmungen, in Hemmungen und Wünschen.
Der Europäer als Einzelmensch ist einem werter und unleugbar
interessanter als der Amerikaner, aber das Land als solches? Langweilig, platt,
oberflächlich? Nein. Je länger man hier ist, desto überzeugter wird man davon,
daß man noch immer mehr zu erkennen hat. Wenn ich sage ‚Land’, so meine ich es:
Land. Die amerikanischen Städte sind mit wenigen Ausnahmen von einer trostlosen
Hässlichkeit, einzig und allein für den Zweck gebaut, Geld zu machen; aber der
Amerikaner besiegt diese Hässlichkeit, indem er ihr so viel als möglich
ausweicht, und es hilft ihm dabei ein großes Glück: Platz zu haben. Alle amerikanischen
Städte wachsen weit ausladend ins Grüne. Aber die Kraft, der Sinn Amerikas
liegt nicht in den Städten, der liegt im Boden. Monotonie? Langeweile? Ja,
fürchterlich, in beiden, Land und Stadt. Aber der Amerikaner kann nichts dafür;
er empfängt diese Monotonie nicht freiwillig wie der Europäer, der sie
eintauscht für bessere Güter. Ihn hat sie überrascht, überströmt, daß er
momentan wehrlos, obwohl nicht tatlos ist gegen sie. Nach der sauren, alle Zeit
und Energie in Anspruch nehmenden Arbeit der Erschließung eines riesigen
Kontinents verwandte er den Ueberschwang// der also durch Uebung gestählten,
durch Erfolg erfrischten Kräfte auf den weiteren Ausbau seines Lebens, für das
er sich in wenigen Jahrzehnten eine Form geschaffen hat, die alles je Dagewesene
an Brillantheit übertrifft. In Treibhausschnelle ist sie der ehemaligen
Lehrmeisterin Europa über den Kopf gewachsen. […] Europa
hat Jahrhunderte gebraucht, um seine Kultur zu bilden, die, zwar befruchtet von
asiatischen, dennoch seine eigene ist. Nun, Amerika ist dabei, seine eigene
Kultur zu bilden. Was es bisher gehabt hat, war importiert, adaptiert, oder
trug deutlich den Stempel europäischer Schulung. Nun beginnt es sich zu
emanzipieren. Sein politisches Distanzhalten ist vielleicht ein Symptom davon.
Nicht daß es Europa von sich fern hielte, Europa und Amerika sind näher denn
je, geographisch. Es horcht, was Europa zu sagen hat. Dieses Horchen darf man
aber nicht für Absorbieren nehmen, denn es geht absolut seinen eigenen Weg. Wer
kann heute genau wissen, wohin der führt? Aber jeder, der hier ist und dem Land
den Puls fühlt, wird es erleben: die unverwischbare Empfindung, daß hier etwas
im Werden ist, daß sich eine Seele regt, die langsam große Augen aufschlägt.
Renan definiert eine Nation: „Große Dinge in Gemeinschaft gemacht zu haben und wünschen, große Dinge in Gemeinschaft zu machen.“ Aus naheliegenden Gründen trieb und treibt der Materialismus hier – wie überall – seine giftigen Blüten. Aber legt man das Ohr auf die Erde, so hört man den Hufschlag von Besserem. Hat man in Europa je daran gedacht, in Gemeinschaft national Wertvolles zu leisten? Ja, der Einzelne, der Große, er dachte und denkt die großen, die schönen Gedanken. Der Impetus, den die Großen gaben, war immer die Hefe für Neues und Besseres. Aber einmal über die Schwelle ihres Hauses trat man in Tyrannei, Stupidität, Haß und Schmutz. Hat je ein Volk zusammengearbeitet, um sein Land groß zu machen? Nein, es wurde höchstens dazu gepeitscht, es mächtig zu machen. Nur ein Beispiel. In Europa gibt es heute genug sehr reiche Leute, wahrscheinlich mehr als vor dem Krieg. Ist es einem eingefallen, ein großzügiges Kulturwerk zu schaffen, deren Nutznießer die Allgemeinheit ist, eine Bibliothek, eine Universität usw. oder Bestehendem genügend aufzuhelfen? Ich habe nichts davon gehört. […]
Amerika ist noch mitten drin im Fundamentlegen. Nun noch einmal zu unserem Mann zurück, zu unserem Durchschnittsmann – abends konzertieren für ihn Pablo Casals, Jeritza, die Philharmonie in seinem Hause, Staatssekretär Hughes spricht für ihn. Der reichste Mann der Welt kann wahrscheinlich Pablo Casals, Jeritza für einen Abend engagieren, kaum aber Staatssekretär Hughes. Aber hier ist er in einem Fünf-Zimmer-Haus! Also: Fabriksware, Maschine, Kino, Radio, Horreurs für den kultivierten Europäer, gewiß. Warum aber eine Gefahr? Kein Künstler braucht zu fürchten, daß sein Saal leer wird durchs Radio, denn wer Schaljanin am Radio hört, wäre wahrscheinlich kaum ins Konzert gekommen. Andrerseits aber wird durch das Hören am Radio der Wunsch erweckt, den Künstler in Person zu hören. Wenn man hundert-, zweihundertmal am Victriola (ein ausgezeichnetes Grammophon) „O du mein Abendstern“ gespielt hat, prägt sich einem schließlich etwas von der Schönheit ein, und man wünscht die ganze Oper zu hören. Vielleicht ist das Victriola zum großen Teil schuld daran, daß die Operngesellschaften in Amerika aus der Erde wachsen. Riesige Entfernungen sind in Amerika, die durch die Vehikel der Kultur, wie wir sie einst in den schönen Zeiten vor dem Radio gehabt haben, nie erreicht werden könnten. Viele Millionen Menschen wohnen dort. Ihnen allen wird plötzlich eine neue Welt erschlossen. Machen wir uns doch einmal klar, daß die Zeit, da Cheops (von dem wir glauben, daß er seit Tausenden Jahren tot ist, der aber noch immer atmet) Ungeheures schuf mit Hilfe von Hunderttausenden von namenlosen Sklaven, die in der Wüstensonne wie Fliegen starben, daß diese Zeit endgültig vorüber ist. Wir stehen an der Schwelle einer ganz neuen. Wir sind inmitten einer ungeheuren sozialen Evolution. Europa experimentiert sich in diese Zeit hinein und es experimentiert, wie das russische Beispiel zeigt, nicht gut. Aber das russische Bei//spiel hat auch gezeigt, wie faul, wie unterminiert unsere Zeit gewesen. Es gefiel uns, gewiß, und wenn wir von Elend und Jammer und Hässlichkeit hörten, hielten wir die Hände abwehrend vor und sagten: Ja, ja, das existiert, aber wir wollen nichts davon wissen. Aber es nützte uns nichts; wir bekamen Jahre voll Elend, Jammer und Hässlichkeit voll zubemessen und wir sind dem russischen Gemetzel nur um ein Haar entronnen. Der Gestank aus übertünchten Gräbern wird früher oder später ruchbar.
Ich
sehe für einen der bedeutendsten, ja vielleicht für den bedeutendsten
Amerikaner der Epoche jenen an, der in allen seinen Betrieben dem geringsten
Laufjungen einen solchen Wochenlohn zahlt, daß er durch ihn mehr haben kann als
bloß trockenes Brot. Dies nicht aus Idealismus, auch nicht nur als
Propagandakunststück, aber aus einer mehr schlauen als weisen, ungemein
sicheren Vorausfühlung, mit der er Gestalt findet für Dinge, die da kommen
sollen. Dieser Mann ist Ford. Ich habe gezögert, den Namen hinzuschreiben, denn
Ford hat in Europa schlechtesten Ruf als der Protagonist des Taylorsystems, der
äußersten, verblödenden Spezialisierung der Arbeit, Man kann eben nie ein Glied
aus einem komplizierten Mechanismus, wie es ein Industriesystem ist,
herausgreifen und einzeln betrachten; da muß man falsche Schlüsse machen. Gut
und schlecht – das Kapitel Ford ist ein Kapitel amerikanischer
Kulturgeschichte. Was aber nun den Laufjungen betrifft – es muß auch Laufjungen
geben, warum sollen sie Ausgeworfene sein, weil sie Laufjungen sind? Es wäre
entsetzlich, wenn die Welt nur aus Universitätsprofessoren bestände. Ich bin
weder eine Bolschewistin noch eine Sozialistin, lediglich Amerikanerin – in
diesem Sinn – und als solche sage ich: Jeder, wo immer er geboren ist, soll die
Möglichkeit haben, sein Leben auszugestalten; die Möglichkeit, die Zeit, zu lachen.
Das wollen wir vor allem wieder können: lachen. Dann werden wir weiter sehen.
[…]
Ja,
wird man mir sagen, in Amerika ist das leicht, den Leuten geht es eben einfach
allen materiell besser. Aber das ist es keineswegs, was den Unterschied so
fundamental macht. Er liegt tiefer, dort, wohin die gleißende Politur des
Geldes nicht mehr reicht. Diese Lemuren: Jazz, Fabriksware, Maschinen,
Talmikunst – sie sind Quartiermacher, sie sind nicht Amerika. Es ja uns, die
wir Heldenverehrer sind und die Persönlichkeit über alles schätzen,
gleichgültig sein, ob Millionen Menschen wissender und lachender werden.
Menschen, für die wir uns von vornherein, weil sie in Bildung unter uns stehen,
nicht interessieren. Aber es ist für das Wesen der Dinge, für die Formung der
Zeiten nichts weniger als gleichgültig. Ich ging einst in der Sonntagsmenge von
Coney Island, dem größten Volksvergnügungsplatz der Welt, mit einem sehr
gereisten sehr verwöhnten und Amerika – wie alle – sehr skeptisch
gegenüberstehenden Wiener, der sagte zu mir: „Diese Mädchen sind alle nett
gekleidet, sie sehen alle gut und hübsch aus. Wie machen sie es? Nun, darauf
könnte man mancherlei Antwort geben, aber unter anderem auch das: Ein nettes,
einfaches Kleid kann man billiger in Newyork kaufen als irgendwo anders, obwohl
Newyork zu den teuersten Städten der Welt gehört, vorausgesetzt, daß man die
Durchschnittsstatur hat. Dank der Fabrik. Wenn mein Geschmack darüber erhaben
ist, so kaufe ich es einfach nicht. Daß die Fabriksware Geschmack verdirbt, ist
durchaus unrichtig. Das Gegenteil ist der Fall, denn bei Leuten, die sich mit
Fabriksware Genüge sein lassen, ist kein Geschmack zu verderben, höchstens
einer zu entwickeln. Und dabei muß man immer von unten anfangen, nicht von
oben. Es hat wenig Sinn, wehmütig derTage zu denken, da man in der
Beschaulichkeit eines geruhsamen Lebenstaktes kunstvolles Hausgerät und
Gewänder ersann und sie bedächtig und fürsorglich für langes Dienen in die Welt
setzte. Jedes Jahrhundert hat seinen Inhalt und seine Aufgaben, und wo hinaus und
hinauf die phänomenale Basis, auf die unsre gestellt ist, sich auswachsen wird,
das können wir heute wohl gar nicht ahnen. Aber man fühlt es hier am Herzen
Amerikas mit größter Gewissheit als hinter Europas Zaunburgen, daß auf den
Kämmen dieses mit barbarischen Kräften geschwellten Stromes der
‚Monotonisierung der Welt’ neue und große Werte herangetragen werden mögen, daß
sie herangetragen werden.
In: Neue Freie Presse, 25.3.1925, S. 1-4.