Anton Hanak: Ein Kunstbeirat für Wien (1923)

Der Stadt Wien kann wohl niemand den Vorwurf machen, daß sie nicht in allen künstlerischen Fragen den hohen Rat der Künstler angerufen und befolgt hat.

             Es ist in den letzten, sagen wir fünfundzwanzig Jahren sicherlich kein öffentliches Bauwerk oder Denkmal errichtet worden, das nicht von den Künstlern entworfen oder zur Ausführung empfohlen wurde.

             Es gibt in Wien auch sicherlich kein Denkmal dieser Zeit, das nicht bei seiner Übergabe an die Öffentlichkeit als eine Zierde der Stadt besungen und gepriesen wurde.

              So ist diese Stadt zu ihrem heutigen Bilde ausgebaut worden. Alle haben das beste zusammen getan und somit ein Wahrzeichen ihres Lebens und ihrer sittlichen Stufe geschaffen.

*

             Nun ist eine neue Zeit herangebrochen und der Menschheit bemächtigen sich andere Ziele, andere Ideale.

             Und gerade so wie unsere Vorfahren der Stadt, in der sie wohnten, ihr persönliches Gepräge gegeben haben, so werden es sicherlich die tun wollen, die nun kommen müssen.

             Niemand kann verlangen, daß alles, was geschaffen wurde, von den Nachkommenden restlos übernommen werde, als unverrückbar fortbestehen muß.

             Die Kommenden nahen und werden bauen. Bauen im Sinn ihrer Gefühle – ihres Strebens.

                                                                                 *

Unerwartet erschallt uns ihr erster Ruf; die Stadt Wien fordert ihre Künstler auf zu einem Leben, zu einer erhebenden Tat.

Sie will ihrer Tradition folgen, auf ihren Fundamenten weiterbauen.

Und wie bei jedem Bauwerk, das vorübergehend eingestellt wurde, vorerst notwendig ist, daß das Vorhandene gründlich gesäubert wird ehe weiter gebaut werden kann, so gilt dieses Gesetz auch für die Stadt Wien.

                                                                   *

Den Künstlern, die nun berufen werden, der Stadt mit Rat und Tat zu dienen, möge die Zeit ihr höchstes Ziel vor Augen stellen.

Mögen die irdischen Grenzen noch so eng sein – nach oben ist es grenzenlos.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.1.1923, S. 5.

Oskar Maurus Fontana: Vertrustung der Wiener Theater (1921)

Sicher, daß die heutige Form des Theaters eine absterbende ist, daß wir ihre Agonie mitmachen, in der allerdings Jahrzehnte wie Augenblicke zählen. Ebenso sicher, daß keine neue Theaterform bisher erschien, die Dauer hatte oder umfassend war. Eine jede beschränkte sich auf einen Teil, auf einen Ausschnitt des großen Fragenkreises: wie bringe ich das Theater und die Allgemeinheit zusammen.

             In Wien versucht man jetzt die primitivste Lösung, die oberflächlichste, man will verschiedene Theater zu einem Trust der Kapitale verbinden, dann kämen automatisch goldene Zeiten für die Geldgeber, das Publikum, die Schauspieler, die Textmacher. Bisher blieb die Vorbereitung zum Trust unterirdisch, aber man hört die Arbeit vieler Maulwürfe, denn es sind mehrere Konsortien tätig. Auswärtiges Kapital, inländische Millionen sollen Operette und Schauspiel zusammenschließen, die Staatstheater umfassen, so daß schließlich als letzte Einzelgänger das Deutsche Volkstheater, das Bürger-Theater und das Carl-Theater übrig blieben. Vielleicht liegen auch die im Bereiche der Trustpläne, vielleicht geraten noch einige Theater mehr als die genannten aus dem Bereich, sicher aber ist, daß von mehreren Seiten die Vereinigung einiger Wiener Bühnen versucht wird und daß die verschiedenen Konsortien die Absicht zeigen, sich ihrerseits wieder zu vereinigen und so die Vertrustung der Wiener Theater herbeizuführen.

             Wenn das gelänge, so wäre es das Ende der Wiener Theater, so wäre seine Automatisierung vollzogen. Das Schauspiel würde vollends zum Anhängsel des Exportartikels „Wiener Operette“ und als weniger einträglich und immer mehr weniger einträglich (da es durch den Mangel an Pflege ganz verwahrloste), nur des Prestiges wegen vielleicht noch das Burgtheater gehalten. Die Umwandlung der Schauspielhäuser in große Kinos ergäbe sich ganz von selbst, ähnlich wie es jetzt mit den Zirkusgebäuden geschehen ist und geschieht. Was das Wiener Theaterleben brauchte, um zu erstarken, um über seine Enge hinauszuwachsen, ist Antrieb, ist Wettbewerb, ist Begeisterung. Die geringen letzten Spuren davon, die sich noch in einigen Wiener Theatermenschen gerettet haben, gingen bei der Vertrustung ohne Erbarmen zum Teufel. Wer es nicht glaubt, ist reif zum Verwaltungsrat im Wiener Theatertrust.

             Nun wird immer gesagt, alle die Wiener Kapitalisten, die den Trust wollen und fördern, tun es nur aus Idealismus, sie wollen kein Geld verdienen, sie wollen der Kunst helfen. Aber einem Ertrinkenden kann nur einer helfen, der sich selber in den Strom wirft, nicht einer, der nicht einmal am Ufer steht, sondern mit dem Fernrohr aus seinem kilometerweit entfernten Fenster den Vorgang beobachtet. Ich nehme an, sie alle sind Idealisten, der Mensch ist gut // und ich bin nicht böswillig. Aber in ihnen lebt – und das ist das Unglück – ein falscher Idealismus, ein Goldschnittidealismus, aber kein Idealismus, der aus einer Idee, der aus dem Geist kommt. Daher, aus ihrer Beziehungslosigkeit zum Theater, zur Kunst stammt ihre Hilflosigkeit, ihre Ratlosigkeit in Personenfragen. Die hat es fertig gebracht, daß bereits ein Theater, die Volksoper, künstlerisch allen Wert verloren hat, durch die Unbeständigkeit ihres ersten Vertrauensmannes, des Herrn Weingartner, mit dem dieses oder ein anderes Konsortium die beiden Staatstheater pachten wollte und uns herrlichen Zeiten entgegenzuführen versprach und sehr ungehalten war, als die „Republikaner“ darauf nicht eingingen. Und dieselbe Unkenntnis der Realität zeigten die realen Geldmänner bei der Wahl ihres zweiten Vertrauensmannes, Herrn Rainer Simons, der jetzt beide Staatstheater pachten wollte und uns versprach, was Wilhelm II. 1914 versprach, der aber die Volksoper nur zu einer Festung machen konnte, daß Sänger, Kapellmeister, Bühnenarbeiter ihm den Eintritt ins Theater verwehren, und mit ihm nicht einmal der heimgekehrte Weingartner etwas zu tun haben wollte. Dieser zweimalige Zusammenbruch sollte als Beispiel allen genügen, wohin es führt, wenn nur das Kapital allein in Theaterdingen entscheidet: zum Ruin der Schaubühne. Was der Volksoper geschah, droht allen Wiener Theatern, droht allen Trusten ernster (Nichtoperetten-)Theater: Niedergang der Kunst und Aufstieg des Defizits. Niemals noch war die Volksoper wirtschaftlich so herunter, ging ihr Abgang in die Millionen wie jetzt, da die Geldmänner sie retten wollten.

             Diese Idealisten wollen nichts bei dem Trust verdienen. Was wahr ist. Aber nicht minder wahr ist, daß sie dabei nicht ihre Hosen und Hemden verlieren wollen, dazu sind sie alle zu tüchtige und gewitzte Geschäftsmänner. Sie werden wissen, daß das Geld seine eigenen Gesetze hat, daß es umgesetzt werden will, daß es nicht liegen kann und daß laufendes Kapital entweder wachsen oder schwinden muß. Es kann nicht gleich bleiben. 50 Millionen, in einen Betrieb investiert, sind in einem Jahr entweder 150 Millionen oder 10 Millionen. Und das heißt, dieser Idealismus muß Geschäfte machen, will er sich nicht, plötzlich am Theater desinteressiert, wieder in seine Banken und Fabriken zurückziehen. Das Ende wäre dann verlorene Kapitalien, verwüstete Theater, „daß noch in zehen Menschenjahren kein Pflanzer auf der Brandstatt ernten soll“.

             Alle die Mittel, die vom Trust als Heilung angepriesen werden, verraten wirklich Unwissende oder sich unwissend Stellende. Verbindung eines Verlags mit einem Theater zum Beispiel – eines dieser Mittel – kann nur bei Stücken rentabel sein, die in einer Serie ausgenützt werden, weil ja der Verlag in dem Aufsaugen der Produktion selbst bei den größten Mitteln, aber besonders bei unserer Valuta beschränkt ist, dem Theaterspielplan nicht genügend Bewegungsfreiheit gibt und die Bühne dadurch festlegt und // in der Folge unmöglich macht – alle derartigen Versuche endeten pleiteartig. Darum ist die Vereinigung von Verlag und Theater nur bei Operetten, Revuepossen oder amerikanischen Sensationsstücken dauerhaft, weil lohnend. Dorthin treibt die drohende Vertrustung der Wiener Theater, wenn sie nicht an den Geburtswehen zugrunde geht.

             Erwägenswert an diesen Plänen bleibt nur, was bei einer Zusammenlegung der Großstadttheaterbetriebe gewonnen würde: die Einheitlichkeit und größte Ausnützung alles Materials, sei es lebend oder tot. Es ist ja sicher eine Verirrung, besonders in unserer verarmten Zeit, wenn in den verschiedenen Depots 30 Klubgarnituren hinträumen, indessen am Abend insgesamt eine gebraucht wird, wenn im Theater A die Ritterrüstungen verstauben, während sie im benachbarten Theater B, das keine Ritterrüstungen hat und sie für ein Drama herstellen lassen muß, gebraucht würden, wenn Sänger und Schauspieler zum Spazierengehen und Neid auf die Kollegen verurteilt sind, weil sie gerade im Repertoire ihres Theaters nicht gebraucht werden. Hier einen Zusammenschluß zu erreichen, scheint mir ein Ziel, weil er das Technische vereinfacht, ausschaltet. Aber es wird nicht den Theatertrusts gelingen, die nur die Macht haben, aber nicht den Geist. Der scheint mir eher in einer Vergenossenschaftlichung der Großstadttheaterbetriebe, in einem System der gegenseitigen Hilfe zu liegen. Das Prinzip der Genossenschaft wird, wie es in der Volkswirtschaft aus seiner Utopie eine sehr greifbare und wertvolle Realität wurde, auch im Theaterwesen die nächst höhere Entwicklung sein. Daß bis dahin das den Rotters ausgelieferte Berlin und das dem Trust verfallende Wien sich noch genügend Kraft zum Aufschwung sichern, sollte die Sorge aller sein, denen Kunst mehr als eine Attrappe, Theater mehr als eine Amüsierhalle ist.

In: Der Merker, H. III (1921), S. 309-311.

Anton Böhm: Die neue Jugend in der Volksgemeinschaft (1931)

             Die Jugend ist nicht die Erfüllung des Lebens. Jene Bereiche der Reife liegen noch vor ihr, in denen sich die tiefsten Erlebnisse des Daseins erschließen. Sie ist erst im Anstieg zum Gipfel der Kraft und der Klarheit.  Das Jugendalter kann daher nicht die vollkommenste Epoche des Menschenlebens sein. Daran hat die Jugendbewegung, hier im weitesten Sinn verstanden, nichts geändert – wenn es auch abwegige Richtungen gegeben hat, die der Jugendbewegung gerade den Sinn zumaßen, das Jugendalter in Volksgemeinschaft und Kultur führend zu machen, die „Diktatur der Greise“ zu brechen, ein Zeitalter der Jugend herauszuführen. Das kann die Aufgabe der Jugend in der Volksgemeinschaft niemals sein, ein solches Bestehen wäre frevelhafte Umkehrung der Wesensordnung. Aber die Jugend ist auch nicht eine leere Zwischenzeit, eingeschoben zwischen Kindheit und Mannestum. Sowenig es der Jugend gemäß ist, in Volk und Kultur zu herrschen, ebensowenig ist es ihr gemäß, ohne eigenen Lebensstil, ohne eigenes Recht, ohne eigenen Sinn nur nach dem Schema der Gewohnheiten, Allüren, Ziele der Erwachsenen zu leben: d.h. sie im Äußerlichen nachäffen, ohne doch ihre Reife, Kraft, Lebenserkenntnis zu besitzen. Gerade die Zeit, aus der die Jugendbewegung erwuchs, die Jahrhundertwende, hatte (von vorausschauenden Erziehern abgesehen) praktisch vergessen, daß es neben Kind, Mann, Greis noch den Jüngling als selbstständigen Typ der Lebensalter gibt. An seine Stelle trat der „kleine Erwachsene“. Daran nun hat die Jugendbewegung wohl Entscheidendes geändert. Sie hat die Jugend zum Selbstbewußtsein ihres Eigenwertes gebracht, der freilich höheren Werten untergeordnet sein muß, aber deswegen doch nicht in seiner Besonderheit beeinträchtigt wird; sie hat die Anerkennung dieses Eigenwertes durchgesetzt: Die Jugend erhielt ihr Recht.

             Das ist zugleich auch die erste große Leistung der Jugendbewegung für die Volksgemeinschaft. Denn die Volksgemeinschaft kann ihre volle Entfaltung und Kraft nur dann erreichen, wenn alle Lebensalter in harmonischem Verhältnis stehen, wenn jede Stufe der menschlichen Reife ihr Lebensraum und ihre natürliche Leistung zugemessen wird: Es gibt eine organische „Ständeordnung“ der Lebensalter, die nicht gestört werden darf.

             Die Jugend ist noch ganz Aufstreben, ohne kraftgehaltenen Stillstand, ohne Verfall. Daß sie reifendes Leben ist, aber Leben, das zur vollen Selbstverantwortung erwacht ist, bestimmt ihre Art. Darum ist ihre Zeit vorwiegend die Epoche der Gestaltung, der Erziehung. Aber eine Jugend, die zum Bewußtsein ihrer Eigenberechtigung erwacht ist, will Anteil an diesem Werk der Erziehung, sie will Selbstgestaltung. In diesem Willen mag sie manchmal übers Ziel geschossen haben; aber es ist ein dauerndes Verdienst, daß die neue Jugend dem (an sich uralten) Gedanken wieder zum recht verholfen hat: Die Vollendung und Krone der Erziehung ist die Selbsterziehung. Sie ist durch keine Bemühung, des Erziehers, durch kein System, durch keine „Atmosphäre“ ersetzbar. Es ist von bestimmender Bedeutung für die Volksgemeinschaft, daß die Jugendbewegung fort in der gesamten Jugend den ehrlichen Willen zur Selbsterziehung geweckt hat. Die Gruppen der Jugendbühne sind heute nur mehr zum geringsten Teil bloße Organisationszellen (nicht einmal in den Jugendvereinen der Parteien), sondern Gemeinschaften der Selbsterziehung. Die Jugend hat sich einen eigenen, ihrem Wesen gemäßen, einen jugendlichen Lebensstil geschaffen, der längst nicht beschränkt bleibt auf die Jugendbewegung im engeren Sinn, sondern Allgemeingut geworden ist oder wird, und der zum Ausdruck kommt in Gemeinschaft, Fest, Beratung, Heim, enthaltsamen Leben, strenger Schlichtheit in allen Dingen, vor allem in der „Fahrt“, im Hinstreben zur Natur. Das ist Leistung für die Volksgemeinschaft – denn da Jugend die Zeit der Reife und Erziehung ist, ist es die erste große Pflicht der Jugend in der Volksgemeinschaft, das Ihrige zu tun, um durch Selbsterziehung zur starken, arteigenen Gestaltung des Jugendlebens zu kommen. Die Errichtung des „Jugendreichs“ ist die wichtigste Leistung der Jugend für das Gesamtvolk!

             Aber die Jugend kann noch weit über den Bereich der Selbstgestaltung hinaus der Volksgemeinschaft dienen. Die Jugendbewegung, das allgemeine Erwachen der deutschen Jugend aller Staaten zu bündischen Zusammenschluß, zu Selbstbewußtsein und Formwillen kam aus den Tiefen des Volkstums. Deutsche Art – nicht im Phrasensinn des nationalen Stammtisches – wollte sie wieder finden und erwecken. In der glücklicheren Vergangenheit volkhafter Kultureinheit fand sie Güter unverlierbaren Wertes. Sie hat verschüttetes, mißachtetes Volksgut wieder lebendig gemacht und der Volksgemeinschaft neu geschenkt: sie sang wieder die alten Volkslieder, tanzte die alten Reigen, spielte die alten ernsten religiösen Volksspiele, erlebte die Dichtung der Vorzeit, die sonst nur als Schuldgegenstand zur Kenntnis genommen wurde. Und sie fand von dem Geist dieser überlieferten Schätze wieder den Weg zu neuem Schaffen. Der Wert dieser Leistung ist hoch anzuschlagen: Hier ist ein Ansatz zu innerer Erneuerung der Volkskultur, heute freilich bedroht durch das wilde Aufwuchern zivilisatorischer Entartung, aber doch entwicklungsfähig. Die neue Jugend selbst hat die neuentdeckten Werte der Volksgemeinschaft weitergegeben. Sie ging zuerst zu den Bauern, in dem richtigen Gespur, daß im bäuerlichen Bereich, wo das hundertjährig Überlieferte am längsten seine Kraft bewahrt, im Grund am meisten Bereitschaft zur Neuaufnahme alten vergessenen Besitzes zu finden sein muß. Sie zog mit ihren Spiel- und Singscharen ins gefährdete bäuerliche Gebiet, das bedroht ist von der Überflutung durch die Großstadtzivilisation, die im tiefsten bauernfeindlich, weil wurzellos ist. Zuerst ohne Bindung, auf willkürlichen Streifzügen, romantischen Entdeckungsfahrten, dann mit erwachender Verantwortung, mit dem erstarkenden Willen zur Leistung. Neben Spiel, Lied, Tanz tritt das Bestreben nach bewußter volkserziehlicher Wirkung. Die Gruppen finden den Entschluß zur Bindung – es ist für junge Menschen gewiß kein leichter; sie arbeiten vielfach mit den staatlichen Volksbildungsstellen zusammen; sie bauen oder mieten sich „Landheime“, die dann für einen bestimmten Umkreis Mittelpunkt volksbildnerischer Kleinarbeit werden.

             Früh schon beginnt die neue Jugend, zu den deutschen Siedlern an den Grenzen des Volksgebietes, in die deutschen Sprachinseln des Ostens, Südostens, Südens zu ziehen. Auch hier ist es zuerst ein dunkler Wanderdrang, bindungslos; aber bald wandelt sich die Romantik zur bewußten Verantwortung: Heute ist die neue deutsche Jugend Hauptträger der praktischen Grenzlandarbeit und das Neuaufleben der Erforschung der deutschen Minderheiten ist ohne die Jugendbewegung ganz undenkbar. Jahr für Jahr ziehen Jugendgemeinschaften ins Grenz- und Sprachinselland, bringen gesamtdeutsches Volksgut zum Neuaufleben, nehmen sich der Kinder an, helfen, wo es geht, unter Bedrängnis manchmal; Jahr für Jahr wächst die Kenntnis vom Deutschtum außerhalb der Grenzen, wächst das Bewußtsein der tiefen Verbundenheit, der kulturellen Einheit. Nur die wandernde Jugend konnte solches leisten, nicht der Staats- und Kulturpolitiker; nur die volksnahe Gemeinschaft, die sich wirklich einfügt in das Leben des deutschen Bauern draußen, die ihn aus seinem Tagesmühen heraus versteht. Hier wurde ganz im Stillen ernste, unersetzbare Volkstumsarbeit geleistet.

             Die Jugendbewegung – und allen voran die katholische, seit Anbeginn! – ist „völkisch“ nicht nur im Sinn nationaler Erweckung. Sie ist es vor allem im Sinn sozialer Erneuerung. Die neue Jugend weiß, daß heute jeder nationale Appell, sei er politisch oder kulturell gemeint, sinnlos ist, wenn er nicht gerechtfertigt ist durch das gleichzeitige Bemühen, die Volksgemeinschaft wirklich wieder herzustellen. Sie existiert heute nicht; sich auf sie zu berufen wie auf eine vorausgesetzte Tatsache, ist wie unbewußter Hohn – so lange es ein Proletariat in der heutigen Bedeutung des Wortes gibt. Es liegt nun freilich nicht in der Macht der Jugend, eine durchgreifende soziale Reform zu setzen. Aber es ist schon, für ihren Bereich, genug getan, wenn sie sich, so weit sie selbst nicht proletarisches Schicksal erlebt, verstehend erlebt, ergreifen läßt von der tiefen Volksnot, dem menschlichen Elend, das in dieser unseligen „Ordnung“ sich unerträglich aufhäuft; wenn sie aus dem Verstehen dieser Not den Willen in sich bildet, das Lebenswerk der Mannesreife der Lösung dieser Not zu schenken. Die neue Jugend hat diese Haltung, diese soziale Aufgeschlossenheit. Sie will die satte Selbstzufriedenheit meiden, die sonst den Willen zu helfender Liebe lähmt. Für sie gibt es keinen bürgerlichen oder akademischen Standesdünkel und die Gefahr des Erlöser- und Führerwahns hat sie erkannt und bekämpft sie. Aus der tiefen Erschütterung durch das Mitleid will sie wieder den Weg finden zur entschlossenen Brüderlichkeit mit allen, zuerst den Unterdrückten. Trotz den von vornherein geringen Aussichten auf „Erfolg“, trotz der Unzulänglichkeit der Kraft hat katholische Jugend immer wieder versucht, von der neuen sozialen Haltung und von der geistigen Schulung an den sozialen Problemen zur Leistung zu gelangen. Von der Mitarbeit in Vinzenz- und Elisabethkonferenzen, in der „Frohen Kindheit“ usw., von der sozialen Hilfe im Rahmen der Pfarrkaritas abgesehen – in Wien ist zum Beispiel der Gedanke der Gottessiedlung“ zuerst von der Jugend, von „Neuland“ verstanden, erfaßt und verwirklicht worden. Hier sollte apostolisches Wirken und soziale Hilfe ganz eng verbunden sein, so wie im Erlebnis der Jugend der Ruf nach sozialer Hilfe als Anruf Gottes verstanden wurde. Diese grundsätzliche Verbindung ist erst das volle Wesen der Gottessiedlung, nicht bloß die Errichtung einer Notgottesdienststätte. Mangel an Arbeitskräften und Mitteln ließ das Werk nicht zur vollen Entfaltung kommen; aber der Gedanke lebt und wird nicht mehr vergessen werden.

             Die praktische Politik gehört nicht in den Bereich der Jugend. Aber die neue Jugend ist nicht anarchisch, unstaatlich. Sie erlebt das Staatliche als die Ordnungsform der Volksgemeinschaft neu; sie erkennt seine Weite und tiefe Bedeutung. Die neue Jugend erkennt das Staatliche in ihren Bünden und Gemeinschaften; sie vergleicht sie, nicht nur des Bildes wegen, sondern aus einer bewußten Wesensverwandtschaft gern mit dem Staat; sie erlebt ihre Gemeinschaft als ihren „Staat“: als die objektive Ordnung ihres Zusammenlebens; sie gelangt zum Verständnis des Wesens und der Aufgabe der Autorität, der Führerschaft. So wird ihr der Staat ganz konkret nah und lebendig, freilich nicht die willenlosen Gebilde des Überdemokratismus. Lebensnähere „politische Bildung“ läßt sich wohl kaum denken!

             Vom Erleben der Jugend her wird das Mannesalter bestimmt. Die erste Generation der Jugendbewegung ist zum Mannestun, zur Frauenschaft gereift. Ihr Lebenswerk wird fortsetzen, was die Jugend an Grunderkenntnissen aufleuchten ließ. Die Jugendbewegung weitet sich aus zur Kulturbewegung; die engen Grenzen der Bünde müssen bedeutungslos werden, das Wirken geht auf das Ganze. Hier stehen wir erst an einem Anfang. Aber manches ist auch hier schon getan. Was die neue Jugend als Grundlinie ihrer Selbsterziehung erarbeitete, gehört heute zum Wesentlichsten der pädagogischen Erneuerung in der Gegenwart (die freilich nicht mit jeder beliebigen „Schulreform“ sich deckt). Sie wird zum größten Teil von Menschen aus der Jugendbewegung: von der jungen Generation, geistig und praktisch, getragen. Zeugnis dafür sind – auch durchaus nicht allein – die neuen katholischen Schulwerke: Laacher See, Drachenburg usw. – und die Grinzinger Schulsiedlung. Die neuen Fortschritte der Volksbildung in der allgemeinen Zielsetzung und Methode, wie in der praktischen Verwirklichung sind zum guten Teil das Werk von Männern und Frauen aus der jungen Generation, die Landerziehungsheime, die modernen Bauernschulen, die Gemeinschaftswochen für Arbeitslose in Deutschland sind ohne ihre Arbeit oder Vorarbeit nicht denkbar. Die allmähliche Schaffung eines auch ordnungsmäßigen Zusammenhanges aller Teile des deutschen Volkstums baut auf der Grenzlandarbeit der Jugend auf. Und die junge Generation ist es, die den Kampf um eine neue soziale Ordnung ausfechten wird, geistig und praktisch; sie wird die überalteten Fronten durchbrechen. Und es wird auch die Zeit kommen, da sie reif sein wird, sich in politischer Tat für die Volksgemeinschaft, an Zielen, die sie aus ihrer Grundhaltung heraus als richtig erkannt hat, zu bewähren.

In: Reichspost. Beilage: Die Quelle, 31.5.1931, S. 25.

Paul Federn: Die vaterlose Gesellschaft. Wien 1919

             Nun wissen wir aus der Analyse der Schicksale Einzelner, daß unbewußte Bindungen dann entwurzelt werden, wenn sie den alten unbewußten Wunsch, der sie geschaffen hat, nicht mehr erfüllen. Dann aber verliert all das Wert und Macht, worauf die unbewußte Bindung übertragen worden. Eine solche Loslösung erfolgt mit starkem Unlustgefühl und bedingt oft eine psychische Erkrankung. Ich habe ausführlich den riesenhaften Eindruck, den das Kind von seinem Vater erhält und die innere Kettung des Kindes an den Vater geschildert. Das Kind hat das Verlangen, von einem geliebten Wesen abzuhängen, dessen Größe, Macht und Wissen ihm absolute Sicherheit und Schutz gewähren. Der Wunsch nach einem solchen Vater läßt eben den wirklichen Vater fallen und bleibt als Bedingung für die Wahl der Vatergestalten. Er schafft die Intensität der Verehrung und Abhängigkeit für die späteren Autoritäten, als letztes Abbild, für den König und Kaiser. […] Aber der Sturz des Kaisers, der Macht und Land verlor und jetzt keine Sicherheit mehr bieten konnte, hat ihm diese unbewußte Bindung entzogen. Und damit stürzten alle Ehrfurchtsgefühle vor der Staatsordnung, stürzte die sichere Sohnesstellung zusammen, und wenn auch das Verlangen nach einer Vatergestalt noch bei vielen Menschen erhalten blieb, so hatten diese keinen gemeinsamen, sie vereinigenden Halt mehr.[1]) So standen plötzlich in begreiflicher innerer Verwirrtheit eine Menge vaterloser Gesellen da, welche das gemeinsame Mutterland und die Not zur Schaffung einer vaterlosen Gesellschaft zwingt. //

             Nicht alle waren durch den Sturz des Kaisers unvorbereitet vaterlos geworden.[2]) Für viele hatte schon die Kriegserklärung die Vaterbindung zerstört, weil kein imaginärer Vater seine Kinder töten läßt, wenn nicht in höchster Verteidigungsnot der Mutter, des Vaterlandes. Diese Partei der „Unabhängigen“ vermehrte der Krieg dadurch, daß zwar nicht die fernste Vatergestalt, aber die näheren, die ungezählten Vorgesetzten, Amtsstellen und Offiziere so viel eigensüchtiges Unrecht begangen und so viel unbefolgbare Befehle erteilt haben, daß die „Niederen“, die Arbeiter und Soldaten, schon während des Krieges dieselbe Enttäuschung an diesen Vätern erlebten wie einst in der Kindheit. Die Enttäuschung war so groß, daß sich bei vielen Tausenden die anhängliche Vatereinstellung noch nachträglich in eine haßerfüllte, oppositionelle verwandelte.

             Der Sturz des Vatertums in dem kaisertreuen Volke war in Österreich durch die wenig zur Vatergestalt taugende Persönlichkeit des jungen Kaisers erleichtert. […] //

             Mit dem Sturz des Kaisers mußte alles kraftlos werden, was von der ideellen Vatergemeinschaft getragen war. All dem nicht zu gehorchen, war jetzt innere Bereitschaft, fast innerer Zwang geworden. […]

             Der Wirrwarr wäre noch größer gewesen, wenn nicht die organisierten Sozialdemokraten schon lange die freiwillige Einordnung in ihrer Partei gelernt und ihr ideelles Vaterbedürfnis schon lange am Führer befriedigt hätten. Daß in Deutschösterreich die Revolution ohne die Raserei haltlos gewordener Menschenrudel verlaufen ist, verdanken wir dem Glücke, daß Viktor Adler noch lebte und führte, den jeder Genosse fast bewußt als Vater empfand. Dem radikalen Teil der Partei, dessen Sohneseinstellung sich längst vom Obrigkeitsstaate, während des Krieges auch von den Parteiführern gelöst hätte, bot sich wiederum in der – man kann ohne Übertreibung sagen – heldenhaften Gestalt Fritz Adlers eine gemeinsame Vaterbindung. // Die Tat Fritz Adlers war darum von solch ideeller Bedeutung für die sozialdemokratische Partei in Österreich, weil sie der vehemente Ausbruch der Gegnerschaft gegen den alten Obrigkeitsstaat war, eine Gegnerschaft, die während des Krieges wie betäubt verstummt schien.

Auszüge, S. 13-16; online zugänglich unter: https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1112474994#page/n1/mode/1up)


[1] [Originalfußnote] Der Verlust des Landes hat auch darum eine besondere Bedeutung, weil im Unberwußten das Land Symbol für die Mutter ist, die Vaterlandsliebe aus der Liebe zur Mutter ihre unbewußte Stärke bezieht. Das Kind ist an den Vater durch Vermittlung der Mutter fixiert und der ist keine Vater, der die Mutter nicht retten konnte. (Siehe Dr. Ludwig Jekels. Napoleon. Imago 1914).

[2] [Originalfußnote] Es liegt der Hinweis auf die Verwaisung von Hunderttausenden von Kindern nahe. Nach den Erfahrungen der Psychoanalyse steigert meist der Tod des Vaters die Bindung des Sohnes an die Vaterreihe. Hingegen hat der Krieg durch die jahrelang andauernde Zerstörung der Familie die patriarchalische Einordnung auch unmittelbar vielfach erschwert.

Kurt Sonnenfeld: Streber von heute. (1921)

Beim Umsturz dachte man sich das sehr einfach: der Adel wird abgeschafft, Ordensauszeichnungen werden nicht mehr verliehen, folglich hört alle Streberei auf. Aber die menschliche Natur läßt sich nicht von heute auf morgen umkrempeln. Und die Streber, die seit jeher gewohnt waren, ihre Laufbahn auf dem Bauch zurückzulegen, rutschen auch heute noch auf dem Bauch langsam, aber sicher vorwärts und aufwärts wenn sie auch ihr Haupt manchmal mit einer Jakobinermütze geschmückt und dadurch dem Zeitgeist Rechnung getragen haben.

Der Krieg war die Hochkonjunktur der Streberei. Wer anläßlich des Kaiserjubiläumshuldigungsfestzuges (welch schönes Wort) noch nicht den ersehnten Adel, sondern vielleicht nur den Franz-Josef-Orden bekommen hatte, der war nunmehr überzeugt, daß man diesmal Allerhöchsten Ortes seine Verdienste gebührend zu würdigen wissen und ihm Gelegenheit geben werde, sich eine neunzackige Krone in die Leibwäsche sticken zu lassen.

Man benutzte die sinnreichsten Mittel, um sich Verdienste zu erwerben. Ein Herr zum Beispiel hatte die Spezialität, „Anregungen“ zu machen, wie man dem Hinterland durch Sparsamkeit eine verlängerte Kriegsführung ermöglichen könne. Er war sonst ein ruhiger, gesitteter Mensch; aber wenn der Dämon der Anregungen in ihn fuhr, so rief er schäumend: „Sammelt Tramwaykarten! Sammelt Obstkerne! Sammelt Abreißkalender!“ Diese genialen Anregungen hätten ihm auch wirklich den Adel eingetragen, wenn der Krieg nicht durch den Umsturz ein vorzeitiges Ende genommen hätte. Der Ärmste, der sich durch die dumme Revolution um die Früchte seiner Arbeit betrogen sah, ist trübsinnig geworden und macht gegenwärtig in Steinhof noch immer Anregungen: „Sammelt Regenwürmer! Sammelt Schneeflocken!“

Immerhin sind diejenigen noch gut daran, die bloß durch Anregungen und nicht auch durch Zeichnung von Kriegsanleihe eine Standeserhöhung anstrebten. Denn Anregungen sind ja schließlich nur eine geistige Arbeit, und geistige Arbeit ist billig, – oder das Geld, das auf dem Altar des Ehrgeizes geopfert worden ist, hätte sich in einer Partie Baumwollwaren jedenfalls weit besser verzinst.

Diese Streber waren verhältnismäßig harmlos, –  obwohl auch sie jene Atmosphäre mitschufen, deren Ausdünstungen noch heute die Luft vergiften. Weniger harmlos aber waren die Streber, die auf fremde Kosten ihren Ehrgeiz befriedigen wollten und bedenkenlos Menschenleben hinopferten, um sich bei irgendeiner maßgebenden Persönlichkeit einzuschmeicheln.

Herrmann Bahr hat kürzlich in seinem Tagebuche gesagt, Personenwechsel sei der Sinn aller Revolutionen und unter neuem Namen werde der alte Betrieb fortgesetzt. Wer aber inbrünstig an die beglückende, befreiende und erneuernde Kraft einer gewaltlosen und geistigen Revolution glaubt, der wird eine politische Umwälzung, bei der sich allenfalls ein Personenwechsel – und oft nicht einmal dieser – vollzogen hat, nicht als revolutionär bezeichnen. Denn ob die Streber, die auf dem Buckel des Volkes zur Macht emporklettern möchten, von rechts oder von links kommen, das bleibt sich für das Volk gleich. Die geistige Revolution ist noch fern.

Es wird weiter gestrebt. In der Elektrischen kam ich neulich mit drei fremden Herren ins Gespräch, die über die hohen Tabakpreise schimpften. Alle drei hatten das Bedürfnis, sich vorzustellen: „Rat Meier!“ – „Rat Müller!“ – „Rat Huber!“ – Ich sagte dreimal: „Sehr angenehm!“ und suchte herauszubekommen, mit was für Räten ich es zu tun habe. Rat Meier entpuppte sich als Armenrat, Rat Müller als Arbeiterrat und Rat Huber als (wie er neckisch hinzufügte: ehemaliger) kaiserlicher Rat… Angesichts dieser drei Räte, die einander an Titel, Gestalt und Ansichten so ähnlich waren, daß man sie getrost hätte mit einander vertauschen können, war ich buchstäblich und im wahrsten Sinne des Wortes ratlos.

Man hat oft darüber gelacht, daß sich viele Kriegslyriker von 1914 mit beflissener Promptheit in die Freiheitsfänger von 1918 verwandelten. Man täte ihnen aber unrecht, wenn man sie ausnahmslos der Streberei beschuldigen wollte. Künstler reagieren auf ein Erlebnis zumeist mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstande – und die Lyriker, die sich im Juli 1914 für die Mobilisierung und im Oktober 1918 für Barrikadenkämpfe begeisterten, brauchen deshalb durchaus keine Gesinnungslumpen zu sein, sondern sie erlebten in beiden Fällen den prachtvollen und berauschenden Elan einer Massenbewegung als ästhetisches Schauspiel, ohne nach der logischen und sittlichen Berechtigung dieser Bewegung viel zu fragen. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich war selbst in der Überschwänglichkeit meiner zwanzig Jahre bei Kriegsausbruch glühend begeistert und ich verwahre in meiner Schreibtischlade sogar noch ein fürchterliches Gedicht, in dem ich Serben auf Scherben und Sterben reimte. Diese Begeisterung verflog aber bald und gründlich nach meiner Einrückung, als ich schaudernd erkannte, daß der Krieg eigentlich doch nicht das richtige Thema für Lyriker sei.

Aber selbst wenn manchen Literaten Gesinnungslosigkeit oder, sagen wir, allzu große Anpassungsfähigkeit vorgeworfen werden kann, so darf man mit ihnen nicht allzu streng ins Gericht gehen, da man die tieftraurigen Verhältnisse berücksichtigen muß, in denen diese Menschen leben. Ehrgeizig, nervös, von ihren Stimmungen gequält, zwischen Größenwahn und Verzagtheit hin- und hergerissen, wissen sie nur allzu gut und bekommen es täglich und stündlich zu fühlen, daß ihre Manuskripte nicht gerade Bedarfsartikel sind. Nirgends ist eine gewisse Eitelkeit begreiflicher und verzeihlicher als beim Literaten; denn hier sind doch Leistung und Name am engsten und unmittelbarsten mit einander verknüpft. Darum sind manche Literaten in ihren Namen geradezu verliebt und sind zu allem fähig, um ihren Namen und das mit diesem Namen verknüpfte Opus gedruckt zu sehen. Die Sehnsucht nach der Öffentlichkeit und nach dem Erfolg hat schon manchen Charakter verdorben und aller Würde beraubt. In mancher Literatenkaffeehäusern kann man beobachten, mit welcher Beflissenheit diese von unbefriedigtem Ehrgeiz zerfressenen Menschen darauf lauern, sich „Beziehungen“ zu verschaffen, die sie fortwährend grüßen und sich verbeugen, weil man doch nicht wissen kann, ob nicht der Herr mit dem Spitzbart ein Verleger und der glattrasierte Herr ein Rezensent ist. Sie fühlen sich von jedem abhängig und darum leben sie nach dem Grundsatz: Tiefer bücken, tiefer bücken, wenn man was erreichen will!

Wie während des Krieges, so muß man auch heutzutage zwischen harmlosen und gefährlichen Strebern unterschieden, nämlich Strebern, die auf fremde Kosten spekulieren. Haben die Streber von damals das Volk in die Schützengräben gehetzt, so hetzen die Streber von heute das Volk auf die Barrikaden. Bei gar zu blutrünstigen Schreiern, die sich aber immer hübsch vorsichtig im Hintertreffen halten, soll man sich immer fragen: Was will dieser Mensch für sich? Namen, Geld, Macht? Oder alles zusammen?

Ich hatte selbst einmal ein lustiges Erlebnis auf diesem Gebiete. Ein in seiner Gesinnung sehr anpassungsfähiger Herr, dessen literarische Leistungen hauptsächlich darin bestehen, daß er sich mit dem Privatleben einiger Mitmenschen sehr genau beschäftigt und durch eine mit Kraftausdrücken unflätigster Art gespickte Sprache den Anschein biederer Treuherzigkeit zu erwecken sucht, sandte mir einmal einige Monate vor dem Umsturz eine Gedichtsammlung und ersuchte mich in einem Begleitbriefe, einen Redakteur einer bestimmten Zeitung um die Veröffentlichung einer Probe aus der kleinen Sammlung. Er schloß sein höfliches Schreiben mit der liebenswürdigen Wendung: „Ich bin zu Gegendiensten gern bereit.“

Ich antwortete ihm, daß ich seinem Wunsche nicht entsprechen könne und daß er die Gedichte direkt an die betreffende Redaktion schicken möge. Damit hielt ich die Angelegenheit, der ich keine sonderliche Bedeutung beimaß, für erledigt.

Der Umsturz kam und der Herr entschloß sich, Karriere zu machen. Leider verstand er vom Sozialismus nicht das geringste und zog es vor, in Kaffeehäusern bei kaltem Aufschnitt und Bäckerei verschiedene Likörsorten zu studieren, anstatt sich mit dummen, theoretischen Büchern zu plagen, die er ja auch in Volksversammlungen nicht zu benötigen glaubte. Er dachte, für die Arbeiter sei es gerade gut genug, wenn man die Bourgeoisie, die Sozialdemokratie, die Anhänger der Gewaltlosigkeit und noch einige Richtungen mit wüsten Schimpfworten bombardieren und so ganz nebenbei und gleichsam per Hetz die Bewaffnung des Proletariats und ein bißchen Blutvergießen verlange. Aber die Arbeiter durchschauten bald, daß sie es mit einem Wurstel zu tun hatten und lachten ihn aus.

Auf meine Freunde und mich aber wirkte der blutrünstige Barrikadenkämpfer, der sich in Kaffeehäusern mästete und in Versammlungen haßerfüllt gegen die Schlemmer und Prasser und namentlich gegen die Zeitungen und insbesondere gegen eine ganz bestimmte Zeitung loszog, außerordentlich drollig. Denn wir lasen mit Vergnügen den Brief, in dem er mich noch vor wenigen Monaten ersucht hatte, gerade diese Zeitung um die Veröffentlichung einiger Gedichte zu bitten, diesen Brief, der mit einer für einen Barrikadenkämpfer immerhin sonderbaren Wendung schloß: „Ich bin zu Gegendiensten gerne bereit…“

Gerade diejenigen, denen die Revolution, nämlich die Beseitigung von Zwang, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt heilig ist, empfinden es als tieftraurig, daß gewissenlose Streber an dem heiligen Feuer ihr Süppchen kochen wollen. Hier ist die Grenze, wo die Streberei verächtlich wird. Mit der Streberei nicht zu verwechseln ist aber der Ehrgeiz, der selbst in seinen Entartungen eine edle und schöpferische Leidenschaft ist. Der Ehrgeiz treibt uns Arbeiter zu rastloser Tätigkeit, er spornt die Geduld und Gedankenkraft des Forschers an und beflügelt die nervenverzehrenden Visionen des Künstlers. Ohne den Ehrgeiz wäre die Welt ein stickiger Sumpf.

In: Neues Wiener Journal, 18.4.1921, S. 3-4.

Else Feldmann: Kulturarbeit (1919)

             Wem sind noch die Augen blind? Wer glaubt noch, daß wir das für Kultur anzusehen haben, was uns vor dem Sommer 1914 Kultur bedeutete? Was war uns Kultur?

             Ein herrlich strahlender Maimorgen. In der Reitallee der Ringstraße sprengten elegante Reiter daher. Das war Kultur. Oder der Blumenkorso im Prater. „Ah, die Metternich!“ riefen ausgemergelte Proletarierweiber – schon damals ausgemergelt, wo ein Kilogramm Mehl noch dreißig Heller kostete!  – und hoben ihre rachitischen Kinder in die Höhe; und während die armen Kleinen mit den dünnen Ärmchen nach den Blumen griffen, wurde die Mutter vom Kopf bis zu den Füßen mit Kot bespritzt – allein, was tat’s, sie ging nach Hause, nach Ottakring, in dem frohen Bewußtsein, die Metternich in ihrer gelben Karosse gesehen zu haben. Oh, schmachvolle Wachträume der Armen! Oh, Hunger und Notdelirien der Elenden!

             Was nannte man alles Kultur?

Lueger hat den Wald- und Wiesengürtel um Wien gelegt, hat blühende Gärten um die Stadt gebaut. Aber wie hat er gleichzeitig das Herz dieser Stadt mit widerlichem Parteigezank vergiftet und verpestet.

Wie schön sind unsere Bauten. Zum Beispiel das spielerische Antikwerk des Reichsratsgebäudes, die wundervollen Mosaiken daran im Sonnenglanz eines Frühherbstabends. Und wie häßlich war das, was jahrzehntelang darin geschah. War das überhaupt je Arbeit erwachsener, ernster Menschen, nicht vielmehr wichtigtuerischem Geschrei kleiner Schullausbuben vergleichbar?

Was ist geschehen? Was haben wir außer Gassenhauern und Operetten geleistet? Die prächtige Renaissance des Burgtheaters. Für wen stand es da? Für die frisierten und manikürten Damen im Goldkäferschuh und in großer Gala, für glattrasierte Herren im Lackschuh und Frack, duftend nach Kölnerwasser. Das war Kultur! (Die Jugend aus besseren Häusern stellte sich an.) Wo aber war das Volk geblieben? Das Volk? Dafür waren die Branntweinschenken. Das Äquivalent für all die Nichtanteilnahme des Volkes an den Festen des Geistes, an den Freuden und Errungenschaften der Kultur war, daß die hohe Regierung den schrankenlosen Ausschank von Alkohol gestattete. Und er war billig. Um fünf, sechs Kreuzer konnte man sich einen ordentlichen Rausch antrinken, nach Hause gehen, in die freudlose Lichthofwohnung, um die Kinder zu zeugen, die dann mit Wasserköpfen, Rückgratverkrümmungen, Nerven- und Herzfehlern zur Welt kamen.

Unsere Herrscher, Staatsmänner, Parlamentarier und Politiker hatten im „Kirchenstaat“ ein Leben der äußeren Kultur zu leben mit gut gehender Beamten- und Polizeiwirtschaft; sie hatten dafür Sorge zu tragen, daß man nicht aus dem Gleichgewicht kam.

In: Neues Wiener Journal, 5.1.1919, S. 6.

Joseph Aug. Lux: Die vierzehn Punkte des Kunst- und Kulturrates. Mit Anwendung auf alle Städte und Länder. (1919)

             Wenn die Dinge ihren bisherigen Gang gehen, dann ist leicht vorauszusehen, daß auch in der neuen Staatsform an der von den jetzigen Lebensmächtigen besetzten Tafel kein Platz für ideenschöpferischen, geistigen Menschen ist. Nur im Äußerlichen hat sich das Bild verändert; etliche Destruktionen, eine Revolution der Oberfläche, aber die Seelen sind unberührt geblieben von dem Sturmhauch der Freiheit, der die herrlichsten Hoffnungen auf eine neue, wahre Kultur erweckte – und schon enttäuschte. Aus unfruchtbaren Herzen keimt keine edle Saat; im tiefsten Kern steckt der alte verknöcherte Geist, die kompakte Majoriät philiströser Hierarchien, der Bureaukratismus, die Zünftelei der Ämter, Bauämter, Kunstämter, Schulämter, der Berufsorganisationen, der Vereinsmeierei, der sentimental gefärbte Materialismus, die ewige Verneinung verkrüppelter Seelen, die unfruchtbare Rückständigkeit, die im innersten nicht weniger reaktionär ist als früher, auch wenn sie jetzt demokratische Spruchbänder zum Halse herausreckt. Das System ist geändert, der Geist ist geblieben, mehr oder weniger bewußt verschworen – vielleicht nicht so sehr aus angeborener Bosheit, als mehr aus Trägheit oder Dummheit – gegen die Macht neuer Ideen, dieses gefürchtetste und darum gehaßte und doch so unentbehrliche Göttergeschenk und gegen dessen Träger, die freie geistige Persönlichkeit.

             Und abseits von dem Lärm steht das leidende, namenlose Volk, vielfach roh und unwissend ohne eigene Schuld, und der Künstler, scheinbar entgegengesetzte Pole und doch innerlich zusammengehörig, wurzeleins, wesensgleich und schicksalsverwandt, so verwandt wie der himmelwärtsstrebende Baum und die Erde, darin er wurzelt. Der Künstler sucht das Volk als platonische Idee und Menschheitsbegriff; das Volk ahnt den Künstler vielleicht aus seinem unbewußten Genius heraus, aber sie können nicht zueinander kommen; was dazwischen steht, sind die Macher und Makler, die Wechsler im Vorhof des Tempels; was dazwischen steht ist vielleicht auch das sogenannte P.T. „Publikum“, jene konventionelle Menge, die indessen im Grunde noch lange nicht so schlecht ist wie ihre gefälligen Diener, Verblender und Ausbeuter.

             Wann bilden Kunst und Volk eine Einheit? Sie bilden eine Einheit, wenn eine Kunstschöpfung, ein gefühltes Leid, ein edler Gedanke, eine schöne Tat die Seelen ergreift. Um aber ein Echo zu geben bedarf es einer unbefleckten Empfängnis der Seelen, einer inneren Vorbereitung und entwickelter Seelenorgane: Kunst und Kultur sind im richtigen Sinn kein Luxus für die Reichen, sondern eine Kultsache für die Menschheit, mit der Glück und Leben der Einzelnen und des ganzen Volkes zusammenhängt. Dazu bedarf es der Aufwärtsleitung, der Emporläuterung aller Kräfte nach dem Priestertum //der hohen Sache, nach den inneren, höheren Zielen, die das Antlitz des Lebens veredeln. Das Werk, die Tat wird von Einzelnen geboren, Träger und Vollender ist die Gesamtheit mit ihrer Resonanz; nur nach den Schöpfungen des Genius bemißt sich die Kulturhöhe eines Volkes. „Darum sind ja von jeher Sänger, Seher und Gotterleuchtete gewesen“, lautet ein Wort Grillparzers am Grabe Beethovens, „damit sich die Menschheit an ihnen aufrichte, ihres Ursprungs eingedenk und ihres Zieles.“

             Wann und Wo hat man je ein Wort auch nur annähernd dieses Sinns aus dem Munde eines Volksvertreters oder Politikers vernommen? Wann und Wo gab es ein Parlament, einen Landtag, einen Gemeinderat, eine Wählerversammlung, wo von dieser tiefsten Notwendigkeit der Volkswirtschaft der menschlichen Werte die Rede war? Heute wäre Zeit dazu.

[…]

Dem Zwang der Ideen, die überall ihre Träger und Verfechter haben, wird sich der Geist der Schwere und der Negation auf die Dauer nicht widersetzen können. Aus dieser idealen Gemeinsamkeit stellen wir zunächst die vierzehn Punkte unseres Programms auf, die den Machthabern zeigen können, was not tut, nicht um bloß zu regieren, sondern um gut zu regieren.

             Punkt 1. Gründliche Reform der Schulpläne und Volkserziehung. Die Schule entläßt den jungen Menschen mit einem Ballast toten Gedächtnisraums und einem falschen Weltbild im Hinblick auf Geschichte und Leben. Flickwerk an den Schulplänen für Volks-Bürger-, Mittel- und Gewerbeschulen ändert nichts an dem Übel. Der Unterricht muß mit der Werkfreude (Spieldrang) des Kindes beginnen und damit fortsetzen im Sinn einer Verlebendigung und Erweckung aller schlummernden, schaffenden und seelischen Kräfte des Kindes und seiner künftigen Stellung im Alltag. Die Bestrebungen des Professors Czischek [Cizek] in Wien und an der Wiener Kunstgewerbeschule unter Roller, die Schule Joseph Hoffmann und die früheren Kurse des Malers Böhm für Frauen und Mädchen, als Vorbild für viele ähnlichen Einrichtungen in Deutschland, besonders in Magdeburg, Köln und Düsseldorf, die Gewerbeschulreform in Bayern nach Arch. Zell, sind Vorbilder. Ähnliches wird in Salzburg ind en neuen kunstgewerblichen Lehrwerkstätten für Frauen und Mädchen in Anschluß an die Salzburger Werkstätten für Kunst und Mode eingerichtet. Eingehende detaillierte Pläne für // alle in Betracht kommenden Fälle werden ausgearbeitet und den neuen Regierungen vorgeschlagen.

             Den Überbau bildet die Volkshochschule, die wichtiger ist als der akademische Zopf der Universitäten, davon einige bereits obdachlos sind. Die Volkshochschule (freie Universität), die bedeutenden Lehrern und freien künstlerischen Persönlichkeiten eine Gaststätte für Vortragsserien und freie Kurse bietet, bildet die Centralstelle der Volksbildungsbestrebungen, nicht im Sinne von Verbreitung von abstrakten weit abliegenden Stückwerks akademischen Wissens, das nur Halbbildung im Volk erzeugt, sondern im Sinn wahrhaft geistiger und seelischer Vertiefung vom Standpunkt des praktischen Lebens und Berufes der Hörerschaft nach dem Beispiel der Volkshochschulen in Schweden und Dänemark.

[…]

             Punkt 2. Theaterkultur. Die vornehmste Bildungsstätte im künstlerischen Sinn ist die Bühne, aber nicht in ihrer bisherigen Verfassung, besonders was die Stadttheater, die Geschäftstheater, die früheren Hoftheater betrifft, von den wenigen Fällen einer wahrhaft künstlerischen Volksbühne abgesehen. Das Theater muß als künstlerische Erbauungs- und Bildungsstätte der Volksseele auf die Höhe zeitgemäßer Anforderungen gebracht werden, darüber sich die Denkschrift über die Probleme der Theaterkultur in diesem Heft genauer ausspricht. […]

Punkt 3. Der Kino. Die Kinolizenzen befinden sich fast ausnahmslos in den Händen unqualifizierter Elemente. Es ist daran zu denken, den Kinobetrieb zu verstaatlichen, da er nicht nur eine wichtige Geldquelle für höhere anderweitige Kulturzwecke erschließt, sondern auch die Aufsicht über seine Tendenzen als Kulturmittel erleichtert und überhaupt erst ermöglicht.

Punkt 4. Heimatschutz und Industrie. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Heimatschutzvereine zur Ohnmacht verurteilt sind. Sie arbeiten in sich, eine erbaulicher Verein für die Mitglieder, aber die Stoßwirkung nach außen ist in vielen Fällen gleich Null. Das bedauerliche //Schicksal, überall zu spät zu kommen und sich mit einem wirkungslosen Protest begnügen zu müssen, wird behoben sein, wenn die öffentliche Meinung wieder für die Aufgaben des Heimatschutzes, der nicht das Neue verhindern, sollen wachen soll, daß es die Schönheit vermehre, im größeren Ausmaß wieder gewonnen sein wird, wozu wir helfen wollen. […]

Punkt 5. Stadtregulierung. Die Schandtaten der Stadtbauämter überall, wo nicht Künstler von Ruf am Werke sind, müssen aufgedeckt werden. So auch in Salzburg, in diesem Weltstelldichein, auf dessen Schönheit die Menschheit ein Recht hat. […]

Punkt 6. Bauordnung, Bauaufgaben.[1] […]

Punkt 7. Arbeiterhäuser. Das Proletarierviertel und die Mietkasernen als Schandprodukte der Ausbeutung müssen schwinden, Arbeiterkolonien sind aus den Schrebergärten als der gegebenen natürlichen Grundlage unter künstlerischer Bauberatung zu entwickeln. Der Ruf nach Kinderheimen, Invalidenheimen, Dienstbotenheimen ist ein Zeichen, daß etwas krank ist am Volkswirtschaftskörper. Nicht mit den – „Heimen“ ist es getan, sondern mit der Ausrottung des Grundübels, mit der Sanierung der Wohnstätten und mit der Sanierung der Gesinnungen und menschlichen Verantwortungen.

Punkt 8. Denkmäler – Museen. Kriegerdenkmäler, Helden- und Freiheitsbrücken sind zu verbieten. (Ausgenommen schlichte Denksteine, Totenmäler.) Wertlose Denkmäler sind zu beseitigen. Die Museumsfragen unterliegen einem besonderen Studium, wobei Gewicht gelegt wird auf Volksmuseen mit Abendbesuch und freiem Vortrags- und Diskussionsrecht.

Punkt 9. Volkslied, Volkstracht, Volksbrauch. Ihnen gehört eine besondere Pflege. Volkstracht ist zu verlebendigen in kleidsamen, kunstgewerblich betonten Formgebungen, um sie aus dem petrefakten Zustand, der ihr Verschwinden verschuldet, weiter zu entwickeln. //

Punkt 10. Volkstümliche Hausindustrie und Qualitätsarbeit in Handwerk und Industrie. Das Ziel ist die künstlerische und wirtschaftliche Hebung der Hausindustrie durch kunstgewerbliche Anregung und Organisation, die von der freien Arbeitsgemeinschaft unternommen wird.

[…]

Punkt 11. Volksgesundheit.

[…]

Punkt 12. Ausstellungswesen. Das Ausstellungswesen ist ein Mittel der Volkserziehung und der Kunsterziehung, der Fachkreise wie des Publikums. Künstler von europäischem Rang sind einzuladen; Malerei, Kunstgewerbe und Handwerk sollen sich im freien Wettbewerb mit den besten Kräften von auswärts messen und höherbilden dürfen.

Punkt 13. Kulturgemeinschaft der Völker. Nicht Fremdenindustrie im herkömmlichen Sinn, gegen den sich ein gesunder Volksinstinkt auflehnt, sondern Kulturgemeinschaft mit den Völkern und den besten in aller Welt ist unser Ziel als Valutaregulierung menschlicher Werte, davon Sein und Nichtsein abhängt. Austausch der Güter, der Werte, der Anregungen im freien Verkehr. Idealer Fremdenverkehr. Wie? Darüber Genaueres zur geeigneten Zeit.

Punkt 14. Der innere Mensch – sichtbare Seelenkultur.

Dies liegt uns vor allem als die Hauptsache am Herzen. An der persönlichen Verwirklichung zu arbeiten und ein eigenes Beispiel zu geben, ist der Anfang jeder Kultur. Von der Zündholzschachtel bis zum Haus und zum Stadtbild muß alles in Ordnung sein. Aber nicht mit dem Äußerlichen ist es getan. Das Sichtbare ist Seelenausdruck. Dieses Innerliche steht uns am Nächsten. Musik, Dichtung, geistige und seelische Pflege sind die Pfade zum Evangelium der Schönheit und zu dem Mysterium einer neuen kosmischen Weltanschauung als Religion, die wir kommen sehen und vorbereiten helfen wollen.

Es ist daran gedacht, die Richtlinien der einzelnen Programmpunkte, soweit sie allgemeine Interessen betreffen, genau auszuarbeiten, in unsern Heften zu erörtern und in Kommissionen, zu denen autoritative Persönlichkeiten, Korporationen ec. jeweils berufen werden, für die Durchführung, Gesetzgebung ec. vorzubereiten. Das kann nur nach und nach geschehen, man kann nicht alles auf einmal sagen. Aber wir werden nicht ruhen, bis das Ziel im Wesentlichen erreicht ist.

In: Kunst- und Kulturrat. Salzburg, H. 1/1919, S. 3-7 (Auszüge)


[1] Bei diesem Punkt, der sich vorwiegend mit Bauordnungs- und Regulierungen, die in nachfolgenden Heften präzisiert werden sollen, verweist Lux auf seine Schrift: Städtebau und die Grundpfeiler der heimischen Bauweise. Dresden 1908.

Helene Scheu-Riesz: Appell an die Jugend. (1928)

Österreich hat noch kein Grabmal des unbekannten Soldaten. Dieses zerrissene, blutende, schwer heimgesuchte Land braucht kein äußeres Zeichen, um täglich und stündlich an den Krieg erinnert zu werden. Kein Marmorstandbild kann uns unsere Schuld so deutlich ins Gedächtnis rufen, wie sie in jeder Stunde in uns und um uns ist, auf jedem Schritt in die Straßen uns begegnet. Und dennoch klirren noch immer Waffen und Kriegstiraden. Dennoch wird sogar bei uns immer wieder zu irgendeinem inneren oder äußeren Krieg gehetzt und Zündstoff angehäuft, der sich unversehens zu einer Weltkatastrophe entladen kann.

             Ich wüßte ein besseres Denkmal für jenes erschütternde Symbol hingeopferter Jugend, den unbekannten Soldaten. Ein Denkmal, das sogar die Toten versöhnen könnte und die, die um sie trauern, Wenn alle Waffen in der Welt gesammelt und auf dieses Grab gelegt werden könnten an Stelle der welkenden Kränze, und wann man statt die hingegangenen Helden zu besingen, die Schwüre einlösen wollte, die ihnen mitgegeben hat: daß dieser Krieg der letzte sein werde, geführt, um die Institution des Krieges abzuschaffen und eine friedliche Organisation der Welt an ihre Stelle zu setzen. Die Diplomaten der Welt, ihre Regierungen, ihre Herrscher, Minister, Parteiführer und Presseleiter sprechen zuweilen von Abrüstung, der eine lauter, der andere leiser, der eine schüchtern, der andere zuversichtlich. Alle ehrlichen und einsichtigen Menschen geben zu, daß die Kriege die unmittelbare Folge der Rüstungen sind, und das alte „Si vis pacem, para bellum“ eine der gefährlichsten Lügen ist, die je ein Volk ins Elend gejagt haben. Und dennoch, wer entschließt sich, zu handeln? Es scheint, als ob die Generation, die diesen Krieg verschuldet hat, von allen guten Geistern verlassen wäre. Es scheint, als ob die neue Ordnung der Welt nicht beginnen könnte, solange noch irdendeiner von den zu ihr gehörenden etwas Entscheidendes zu sagen hat. Wenn es so ist, dann hilft nur ein Appell an die Jugend, an die Neuen, die im Krieg leidende und hungernde Kinder waren oder Sklaven oder Frauen, schuldlos gehetzte Opfer wie der unbekannte Soldat selber.

Heute findet, von der politischen Gruppe der „Internationalen Frauenliga“ und dem „Bund der Kriegsdienstgegner“ veranstaltet, eine Versammlung statt, in der über das Problem der äußeren und inneren Abrüstung gesprochen werden soll. Tausende Männer und Frauen Wiens haben Gelegenheit, in dieser Versammlung zu hören und zu sagen, was für den Frieden geschehen muß. In Genf waren die Russen die einzigen, die einen wirklich großzügigen und praktischen Vorschlag zur Abrüstung gemacht haben. Nun, die Welt hätte die Gelegenheit gehabt, sofort festzustellen, ob die Russen es ehrlich meinen oder nicht. Sie hätte den Vorschlag bloß annehmen müssen. Sie wird ihn eines Tages annehmen oder zugrundegehen. Ob das eine oder das andere geschehen soll, darauf hat jedes Volk Einfluß, das sich seiner Würde und Kraft besinnt, auch ein so armes und schwer geschlagenes Volk wie Österreich es ist. Es kann sogar vielleicht besser und leichter als ein anderes Volk zeigen, daß Würde und Kraft einer Nation nicht in den Waffen und nicht im Schwertrklirren liegen, sondern in der seelischen Bereitschaft und Entschlossenheit, sich einer neuen Zeit anzupassen, in der nicht die Gewalt, sondern das Recht herrschen wird.

In: Neue Freie Presse, 13.3.1928, S. 7.

Alfred Polgar: Synkope (1924)

             Der Mann, der hinter dem Schlagwerk der Jazzband sitzt, hält es durchaus mit den Schwächeren. Ein Freund der geringen, der unbetonten Taktteile ist er. Er tut für seine Schützlinge, war er nur kann, klopft sie in den Vordergrund, rettet sie, mit markigen Schlägen den Rhythmus teilend, wenn sie in diesem untergehen wollen. Etwas Justamentiges, Revolutionäres ist in seinem Getrommel. Gegen den Strich trommelt er.

             Seinem Schlagwerk hat es sich zum Gesetz gemacht, dem rhythmischen Gesetz nicht zu folgen, dem die brave Geige und das brave Klavier bis zum letzten Hauch von Darm- und Metallsaite gehorchen. Es tut, was es will, zigeunert durch die Zeitmaße. Wenn die anderen vier Tempi machen, macht es fünf.

             Ich kannte einen Jazzbandspieler, der schlug auf das gespannte Fell sieben Synkopen in den Viervierteltakt und verrührte sie drin mit Hilfe der kleineren Trommel , wie man ein Ei in der Suppe verrührt. Er hatte einen Hornbrille, sprach das reinste Südamerikanisch, warf die Schlegel in die Luft und klopfte indes, ihr Herabkommen lässig erwartend, seinen Part mit den Füßen. Die Instrumente genügten seinem Klangbedürfnis nicht. Er klopfte mit beiden Stäben auf den Klavierrücken, auf den Fußboden, auf den eigenen Kopf, auf das Weinglas; alles ward Trommel, Schallgelegenheit. Er stäubte unregelmäßiges Geräusch von sich wie ein Hund, der eben aus dem Wasser kommt, Tropfen. Er schneuzte sich in Synkopen. So entlud er sich, ein Glücklicher, aller Unzufriedenheit, die in ihm war, und förderte doch, ein Musikant, durch seinen Widerspruch, die Harmonie, der er diente, dienen mußte.

             Die Synkope ist Salz und Würze der zeitgerechten Tanzmusik. Und nicht nur der Tanzmusik. Die Synkope ist ein Symbol unserer widerspenstigen Tage, das Symbol einer aus dem Takt geratenen Welt, die doch nicht aufhören mag und kann, in Brudersphären Wettgesang zu tönen.

             Es macht sich allenthalben lebhafte Bewegung zugunsten der unbetonten Taktteile merkbar. Die Akzente verschieben sich, wackeln, stürzen.

             Die kleinen Leute haben auch schon was mitzureden. Sie behaupten obstinat, daß sie da sind.

             Der Rhythmus, nach dem die Himmelskörper kreisen, ist nicht so unverbrüchlich fixiert, wie wir dachten. Die Einstein-Synkope hat ihn auf ziemlich irritierende Weise gelockert.

             Die Wissenschaft von der Seele legt auf das vom Bewußtsein nicht Betonte den gewichtigsten Ton.

             Die Maler nehmen den Akzent vom Wesentlichen der Erscheinung fort und legen ihn auf das Un-Wesentliche.

             Die Stückeschreiber trommeln drei Stücke über einem. „Nebeneinander“ von Georg Kaiser ist das Muster eines syncopated Drama.

             Die Romanschriftsteller lassen die Kapitel ungeschrieben und schreiben das, was zwischen den Kapiteln steht.

             Die Affekte werden, unter Patronanz der Psychoanalyse, verschoben. Die Ware wird verschoben. Das Geld wird verschoben. Vom Sinn des Lebens ganz zu schweigen.

             In der Hotel-Hall sitzen die Damen und duften je nachdem. Der Akzent des Gewandes ist dort, wo es nicht ist. Der Rhythmus des Kleides wir durch die Betonung der Nacktheit angenehm inspiriert.

             Frau Goldstein spielt mit Herrn Goldstein takt-voll die Ehepièce. Der Ton aber liegt auf dem Skilehrer mit den eisblauen Augen. Ehen ohne Synkopen gar es vielleicht zur Walzerzeit.

             Die Musik der Sphären scheint sich mit einem Jazzbandspieler komplettiert zu haben. Und der Mensch muß ganz neue Schritte lernen, wenn er hiezu mit Grazie tanzen will.

In: Der Tag, 24.2.1924, S. 3.

Arnolt Bronnen: Sabotage der Jugend (1922)

Nachdem vor etlichen Sonnenjahren mit großem Lärm sich neue Menschen und neue Geschehnisse angekündigt hatten, bemerkt der gütige Leser aus der großen Stille, daß wieder einmal mehr Worte den Zähnen entrannen, als mit der Schwäche der Lungen vereinbar war, und geht zur Tagesordnung über. Ihm sei im folgenden ein kleines, harmloses Märchen, sozusagen eine sinnige Allegorie erzählt.

             Der junge Autor hatte im Jahre x13 die kindische Idee, gänzlich unvorbereiteterweise ein Schauspiel zu schreiben. In diesem glücklichen Alter hat man natürlich keine Ahnung, wozu das weiter gut sein soll. Im übrigen ist es seinem auch völlig wurst. Also sandte der junge Autor das Produktum teils für fünfundzwanzig Mark einem literarischen Bureau, wo offenbar gleich mehrere Leute von dergleichen Späße lebten, teils einen „Autoritäten“.

             Der junge Autor erhielt zwei Schreiben, in denen behauptet wurde, das Stück müsse und werde gedruckt werden. Es sei gleich bemerkt und der gütige Leser wird mir’s aufrichtig danken –, daß dies bis heute nicht geschehen ist. Hierauf wurde das Produktum dem großen Verlage gesandt. Der große Verlag sandte es dem großen Theater, und das große Theater sandte es dem großen Verlage. So oder so ähnlich spielte sich dies anmutige „Vater, leih mir d’Scher“ ab.

             Es würde den gütigen Leser ebenso langweilen wie den jungen Autor, wenn hier geschildert werden sollte, was sich im Jahre x14 ereignete, als der junge Autor auch weiterhin furchtbar einhertrat auf der eigenen Spur. Um es kurz zu sagen: es spielte sich dasselbe ab. […] Es kann also nicht behauptet werden, daß der junge Autor etwa an den falschen gekommen ist, wie dies dem Fräulein Säuselrot geschah, als sie ihre revolutionäre Lyrik im „Schwarz-Gelb-bis-auf-die-Knochen-Verlage“ veröffentlichen wollte. Nichts hiervon. Der Kern der Sache – lag wo anders.

             Der Kaiser rief, das Volk stand auf. Der junge Autor legte rasch ein Ei und stürmte mit den k. und k. hinaus. In alter Ahnungslosigkeit wurde auch dieses Eich dem Laboratorium des großen Theaters zur Bebrütung eingesandt. Die Front verschluckte den Helden, während die Konjunktur der Kriegsstücke die Heimat ergriff, saß der junge Autor drei Jahre in der Sizilei. Andere Leute hätten in dieser freien Zeit hundert Dramen geschrieben; die gerührte Mitwelt dankte es dem jungen Autor, daß er nur ein halbes schrieb (und auch das war nichts wert).

             Es sei bemerkt, wo nicht gar betont, daß der junge Autor bis dahin zu den Leuten gehörte, die das Gefühl hochgradiger Wurschtigkeit gegenüber den eigenen Produktionen beseelte. Ach, mit den Jahren wird es anders. Als gegen Ende des Jahres x19 der junge Autor in die schiebende Heimat zurückkehrte, da – dies läßt sich nicht länger verheimlichen – war es anders geworden. Man begann zu denken, man begann zu rechnen. Und die Rechnung lautete: sechseinhalb Jahre.

             Sechseinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Der große Verlag erhielt einen Brief, der sich gewaschen hatte. Die Gönner erhielten Briefe, die sie sich kaum auf den Hut stecken werden. Sie antworteten übrigens prompt, wie schon Gönner sind. Und nun wäre ohne Zweifel alles geblieben, wie es war, wenn nicht der große Verleger sich der geschlossenen Front seiner Lektoren gegenübergesehen hätte. Nun, er nahm zwei Sachen von vieren.

             Und druckte eine. […]

Im weiteren Verlauf dieser Geschichte seien nur kurz gestreift die gebrochenen Verträge der Theater, die Sage von den Konventionalstrafen, die Legende vom modernen Theaterdirektor und die schwachen Nerven aller Beteiligten. […]

             Diese Schauermär erzählt Ihnen, gütige Leser, Herr Bronnen aus folgenden Gründen: erstens weil sie wahr ist; zweitens weil sie ein sehr mild verlaufener Fall dessen ist, was täglich passiert; drittens weil dann dieselben Leute, die wissen, daß es passiert, ebenso täglich zu behaupten pflegen, daß die Jugend nichts wert ist; und viertens, weil sie das nicht nur behaupten, sondern auch noch beweisen, und sie beweisen es nicht nur, sondern es ist auch wahr, und es ist deshalb wahr, weil die ganze Generation von den kargen Brocken lebt, die ihnen eine schroffe Zunft von Verlegern vor die Füße wirft.

             Und ich behaupte – und Gott strafe mich, wenn ich es je beweisen müßte: Niemals hat eine Zeit ihre Jugend mehr verhöhnt und frecher verhandelt als diese. Während aus den Hirnhöhlen der Verstorbenen die die Villen der Obengenannten aufbauen, vererbt sich das Wesen des Schaffenden gezwungen in Inzucht. Es geht die Epoche, ohne zu lernen, und es sterben die Jungen, ohne geben zu können.

In: B.T. (vermutlich Berliner Tagblatt, 1922; nicht verifizierbar; zit. nach F. Aspetsberger, A. Bronnen: Sabotage der Jugend. Kleine Schriften. Innsbruck 1989, S. 15-17)