Edwin Rollett: „Traumtheater“ und „Traumstück“ von Karl Kraus (1924)

(Erstaufführung: Neue Wiener Bühne, 29. April.)

Die Feier des 50. Geburtstages von Karl Kraus, die am Dienstag in der Neuen Wiener Bühne vor sich ging, wurde durch eine Rede des Regisseurs Berthold Viertel eröffnet, der Kraus, „den eigensinnigsten Sohn Wiens“, nach Wesen, Art und Charakter schilderte, die Bedeutung Wiens für Schaffen und Entwicklung des Mannes darstellte, der, „indem er in Wien geblieben, weit über Wien hinauswuchs“, und die verschiedenen Wege aufzeigte, auf denen der Norden und der Süden an die Persönlichkeit des Kämpfers und Dichters Kraus

heranzukommen streben: wie dem Berliner die schneidende Verstandesschärfe das gemäße Eingangstor zu seinem inneren Wesen, dem Wiener dagegen die Pointe des Witzes die Brücke zu ihm bildet. Das zu sich selbst geflüchtete Innenleben des Satirikers, dessen Darstellung die Rede gewidmet war, bildet auch den Inhalt der nachfolgenden Stücke, die, wie Viertel sagte, „seinen Schreibtisch auf die Bühne stellen““und die Zuhörer „in einer

Stunde eine Nacht mit dem Dichter erleben lassen“, wie deren ungezählte in seinen Schaffensjahren dahingegangen sind.

Diese abschließenden und überleitenden Sätze der Rede geben die richtige Einstellung zu den beiden Stücken. Traumtheater und Traumstück sind durchaus lyrische Werke, unmittelbare Bekenntnisse, Nachtvisionen, bei denen das direkte und persönliche Mitwirken und Mitleiden des Dichters noch verdeutlicht und veranschaulicht wird durch den

Rahmen, den „Der Dichter“ als dramatis persona beherrscht. Im wörtlichen Sinne steht sein Schreibtisch auf der Bühne, er ist es, der daran sitzt, er, der die Visionen erlebt und an ihnen teilnimmt. Aus dieser Subjektivität aber erwächst ein Typus: der des Kunst- und Lebenverbundenen, des Gestalters und Weltleid Erleidenden. Und das Wort des 

Traumtheaters: „Ich habe zu Einzelgestalten, wie sie im Leben herumlaufen, keine Beziehung“, darf in höherem Sinne über beide Dichtungen gesetzt werden.

„Das Einssein des Weibes und der Schauspielerin, die Übereinstimmung ihrer Verwandlungen, die Bühnenhaftigkeit einer Anmut, die zu jeder Laune ein Gesicht stellt“, die Erkenntnis der „zeitwidrigen Urkraft“ des Weibes, des „Urgesichts der monotonen Vielgestalt und Wechselblicks Naturgewalt“ sind die Probleme der „zarten Gabe“, die Traumtheater heißt. Fünf kleine schlanke Szenen, licht, klar und  spielfreudig, in dem schweren Rahmen des Zwiegespräches von Dichter und Regisseur, eingefügt als erhellender Traum in die trübe Wirklichkeit, als ein Lichtblick aus den

Regionen, in denen „die Elemente auf das Leben losgelassen“ sind, einen Meter hoch über dem Leben. — Ein Fliehen in das Reich der Phantasie, aus dem das Theater als einziges Vorwerk in die Wirklichkeit herüberragt, dem Traum verwandt in seiner Unwirklichkeit, Sinnenspiel und Spiel der Gedanken vereinend, im Verlorensein Geist und Leib zueinander führend, zugleich Symbol des künstlerischen Schaffens und seiner Kämpfe mit der Realität überhaupt.— Was an Symbolik und an mystischen Zusammenhängen noch in diesem feinen

Spiele liegt, ist wohl nachzufühlen, nicht nachzudenken. Wie viele Deutungen möglich, wievielerlei Gaben daraus zu nehmen sind, läßt sich nur ahnen. Eine skizzierende Analyse von Poesie bringt nur den Schatten ihres Skelettes fertig. Nur Konstruktionen lassen sich bis zu Ende deuten. Dichtung muß in ihrem Wesen erfühlt, immer neu, immer anders erfühlt werden.

Das Traumstück, das aus Vorlesungen des Dichters und aus der schon seit längerer Zeit erschienenen Buchausgabe bereits bekannt war, ist das weltanschaulichere, das wirklichkeitsnähere der beiden Stücke. Visionen der Sehnsüchte und der Widerstände, gestaltende Abrechnung mit den Fratzen der Wirklichkeit, die in das Traumleben eindringen.

Die peinigenden Erscheinungen der entmenschten Nachkriegszeit, aus denen Niedertracht, Habsucht, Vertierung und abgründiges Elend ihre Bekenntnisse tun, löst die Flucht in die Natur, zum Ideal ab. Die dorthin nachdringenden scheußlichen Bilder knechtender Unfreiheit erwecken die Kampfesfreude des Verstandes, der wieder durch Ausartungen des Verstandes, die „Psychoanalen“, denen die längste // und schärfste Szene des Dramas gilt, verscheucht wird. Traum und Traumdeutung sind hier in ebenso geistreicher als boshafter Art in Beziehung gestellt. Der Hilferuf, in den die Szene ausklingt, sucht Rettung aus solcher Klarheit in den Traum. „Imago“, das aus der Wand sprechende Bild, hier eine Versinnlichung künstlerischen Weltfühlens, das alles durchlebt und sich in allem darbietet, das kleine, sonst übersehene, von ihm beachtete Geräusch des fallenden Tropfens, die Poesie des Kleinsten, und der Traum selbst führen endlich den Weg des Trostes, leiten in ein  phantasiebeschwingtes Erwachen, dem das Geräusch des Teppichklopfens noch zu einer letzten Vision verhilft, die die Welt nicht nach Besitz, sondern nach Wert geordnet zeigt und schon durch einen Ansatz dazu Versöhnung mit dem Leben verheißt. 

Das Erlebnis dieser Traumdichtungen wird durch eine ganz ungewöhnlich intensive Regietat Berthold Viertels vermittelt. Er ist der bühnenkundige, hingebungsfreudige Leiter, den solche Dichtung, ja Dichtung überhaupt, braucht. Seine Führung bleibt in der Gefolgschaft des Autors, hebt Gedanken, Vers und Wort sinnlich, ohne sie zum Effekt auszuschroten. Aus dem Versenken in die dichterische erwächst ihm die theatralische Vision. Geringfügiges gewinnt Bedeutung: Der gedämpfte Trommelwirbel hinter der Szene, der die Erscheinung des Schieberpelzes begleitet, das spukhafte Hervorschnellen der drei Nachkriegsvisagen, der unheimlich starre Aufmarsch der Teufel des Weltkrieges sowie die unwirkliche Lieblichkeit der Imagoszene im Traumstück und die halb wie ein Märchen, halb wie ein Marionettenspiel gehaltene Stilisierung der Visionsszenen des Traumtheaters spiegeln Geist vom Geiste des Dichters. Die szenischen Bilder Leopold Blonders gesellen der Dichtung und den Regieideen das entsprechende malerische Gewand. Lothar Müthel hat in beiden Stücken die Rolle des Dichters inne. Sein Spiel ordnet sich von innen heraus. Der Schwerpunkt liegt im Herzen. Der Körper gehorcht den Gängen der Seele, der Ton des Sprechers dem Geiste des Wortes. Cäcilie Lvovsky innig und lieblich als Imago, weich, instinkthaft, gar nicht dämonisch als Schauspielerin im Traumtheater, weder Schlange noch Kätzchen, sondern warmes Weib. Von überwältigender Scheußlichkeit Oskar Homolka als Gürtelpelz und als tanzender Zinsfuß, Lyda Salmanova als Valuta, das Trio der Psychoanalen (Behal, Farkas, Schrecker) äffende Alpdrücke. Karl Götz, dezent als „der alte Esel“, Ernst Stahl-Nachbaur männlich und fest in beiden Stücken. Unter den Darstellern gab es keinen, der nicht gegeben hätte, was er konnte und mußte.

Daß die Hörerschaft von diesem in jeder Hinsicht seltenen Theaterereignis hingerissen ward, gehört zum Selbstverständlichen.

In: Wiener Zeitung, 2.5.1924, S. 1-2.

Ernst Lothar: Gespräch über die besten Bücher des Jahres. Ratschläge, Urteile, Feststellungen (1928)

Der Bücherfreund (zum Kritiker): Sie haben kürzlich vom „Glück der Bücher“ gesprochen, das einem seither ja auch auf allen Plakatwänden mundgerecht gemacht wird. Wollten Sie nicht über das Allgemeine hinausgehen und bestimmte Werke nennen? Vor Weihnachten haben viele, die Bücher kaufen werden, den Wunsch nach einem Rat. Blättert man aber die Kataloge durch, dann erschreckt man vor der Quantität und wird noch konfuser. Welche Bücher empfehlen Sie? 

Der Büchersnob: Die Frage des Herrn ist wohl in der Einzahl gemeint! Er will, hoffe ich, schlimmstenfalls sagen: welche zwei oder drei Bücher empfehlen Sie? Denn das, worum es sich hier handeln kann, ist doch nur: das Buch des Jahres. Das Buch, von dem man spricht. Sind Sie mehr für den Ulysses von James Joyce oder für das Chinabuch Die Eroberer von Malraux? 

Der Kritiker: Auf diese Art werden wir uns schlecht verständigen. Rekommandationen für Fünfuhrgespräche zu liefern, bin ich außerstande. Auch ist es weder meine Sache, das Verstiegen-Abseitige zu bestätigen noch irgend etwas nur deshalb zu rühmen, weil es von Ausländern herrührt. Damit will ich nicht sagen, daß dieses Jahr nicht eine ganze Anzahl ausgezeichneter ausländischer Bücher, darunter etwa die genannten, hervorgebracht hat. Aber solange es ausgezeichnete neue Bücher deutscher Verfasser gibt, werde ich zuerst für diese stimmen. Besonders dann, wenn man ihre Autoren noch nicht gebührend kennt. 

Der Bücherfreund: Gibt es denn neue wertvolle deutsche Namen?

Der Kritiker: Es gibt zwei. Sie heißen: Ernst Glaeser und Ernst Weiß. Ernst Glaeser steht im Beginn, Ernst Weiß hat sich trotz vielfachen Beweisen seiner Dichterschaft noch nicht „durchgesetzt“. Lassen Sie mich mit dem Unbekannten beginnen. Von Ernst Glaeser liegt ein Roman Jahrgang 1902 (Verlag Kiepenheuer) vor. Nichts ist mir zuwiderer als die fetten Lobkleckse, die fast jedem Druckwerk prompt und wahllos angepinselt werden. Aber bei ersten Buche eines jungen Deutschen, das die Epoche, die dem Krieg unmittelbar voranging, aus Knabenausgen sieht, das von lapidarer Sachlichkeit ist, ohne nüchtern oder roh zu sein, das die junge Generation hinreißend verteidigt, weil es ihre Defekte aus ihrem Erlebnis ursächlich erklärt und ihre Vorzüge wortlos sichtbar macht: bei diesem Buch, das überall dokumentarisch wirkt, ist das Wort „außerordentlich“ am Platze und vielleicht noch zu gering. Wer die höhnischen Schlagworte über die neue Jugend verlernen und die um 1902 Geborenen verstehen lernen will, erwerbe den Jahrgang 1902. Auch der Roman Boetius von Orlamünde (Verlag S. Fischer), der Ernst Weiß zum Dichter hat, formt das Problem des jungen Menschen dieser Zeit. Mit reinsten Mitteln, in einem beispielhaften Deutsch von // schöner epischer Ruhe wird das Heranreifen eines adeligen Konviktszöglings erzählt und der Sport monumentalisiert. Doch nicht auf die landläufige Zyniker-Art, welche den Erd- zu einem riesigen Fußball deformiert, sondern in einer neuen, persönlichen, harmonischen Verbindung von Muskel- und Seelentum. Ergreifend klingt ein Oberton von Güte und Zartheit aus diesen Blättern, die den Fäusten Reverenz erweisen… Ein Ton, der in den jüngeren geistigen Hervorbringungen Deutschlands selten wurde. 

Der Büchersnob: Sie preisen also noch immer „Romane“ an? Haben Sie gelesen, was bei einer Rundfrage nach den besten Büchern Bert Brecht einer Berliner Zeitschrift jüngst geantwortet hat: er findet den Roman von heute „stumpfsinnig“ und nennt als „Prototyp der üblichen stumpfsinnigen Form unsres Romans“ den Fall Maurizius von Jakob Wassermann. Was sagen Sie dazu? 

Der Kritiker: Dazu lache ich. Urteile solcher krassen Verantwortungslosigkeit kann man nicht ernst nehmen. Derselbe Bert Brecht spricht übrigens an derselben Stelle von der „respektablen Dummheit“, die er in Wells „Welt des William Clifford“ gefunden haben will. Ich, meinerseits, habe sie in seinem Werturteil über Wassermann und Wells gefunden, und nicht einmal so respektabel. Was aber den „Fall Maurizius“ betrifft, ist er der beste deutsche Roman dieses Jahres; in Problematik, Komposition und Ausdruck. 

Der Bücherfreund: Wie denken Sie über Arthur Schnitzlers Therese? Ich habe in deutschen Blättern Beurteilungen gelesen, die miteinander nicht übereinstimmen. 

Der Kritiker: Hier liegt ein kritisch sonderbarer Fall vor. Man hat, in Deutschland, der Therese ihren „grauen Ton“ zum Vorwurf gemacht. Man fand die chronikale, sozusagen protokollhafte Aneinanderreihung von Fakten des kargen Lebens einförmig und der Gesamtfarbe abträglich. Dieser Meinung kann ich nicht beipflichten. Denn hier wird als ein Manko betrachtet, was bewußte dichterische Absicht und wohl auch Notwendigkeit war. Nie hat sich Arthur Schnitzler um Vortrag oder Thema monoton gezeigt; immer als das absolute Gegenteil. Schon dieser sinnfällige Unterschied zwischen seinem bisherigen Werk und der „Therese“ hätte klarstellen müssen, daß dieser Unterschied gewollt war. Nicht also zufällig oder aus nachlassender Kraft hat hier ein großer Dichter einen Lebensalltag grau in grau gezeichnet, sondern: dies war strenges Darstellungsprinzip. Richtiges, wie ich glaube. Aus der Summe gleichbleibender Summanden sollte die ungeheure Differenz zwischen Anspruch und Erfüllung abgelesen werden; aus dem lebenslang Unveränderten die Überlebensgröße des Unabänderlichen; aus dem Oberflächengrau die unterirdische Blutröte der Sehnsucht. Deshalb wirkt das Buch ganz so beklemmend wie unser Leben. Die Französin Bovary hat in der Wienerin „Therese“ eine ebenbürtige Schwester gefunden. 

Der Bücherfreund: Und wie steht es mit den Büchern anderer Autoren von anerkanntem Rang?

Der Kritiker: Es sind Nieten darunter. Dem Rang ihrer Dichter entsprechen: Heinrich Manns Eugenie (Verlag Zsolnay): eine faszinierende Frauenfigur, von einem bizarren Hintergrund meisterhaft abgehoben. Dann: Franz Werfels Abituriententag (Verlag Zsolnay); René Schickeles Blick auf die Vogesen (Verlag Kurt Wolff): Beide von innerem Blick, zeitnah, vollkommen erzählt. 

Der Bücherfreund: Und das nichtdeutsche Ausland? Jetzt werden Sie doch wohl Ausländer nennen?

Der Kritiker: Ich habe noch nicht die Absicht. Ich fange geradezu erst an. Denn nun kommen die Bücher jener Autoren, die zwar bekannt, aber in Österreich nicht genug gelesen sind. Wappnen Sie sich mit Geduld, denn ihrer sind nicht wenig! Da ist vor allem Arnold Zweig. Kennen Sie seinen Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa? (Verlag Kiepenheuer). Es ist der Kriegsroman Deutschlands. Ganz abgesehen davon, daß er (technisch) mit einer staunenswerten Kunst gebaut, gesteigert, vorgetragen ist, besitzt er eine Universalität der Anschauung, eine Objektivität des Urteils, eine Schlagkraft der gestalterischen Beweisführung, daß man diesem Buche anheimfällt wie einer Passion. Um dieses gräßlich abgegriffene Wort zu brauchen: das Buch ist ein Erlebnis. Arnold Zweig hat in diesem Jahre außerdem die Erzählung Pont und Anna veröffentlicht, die eine Figur aus dem „Sergeanten Grischa“ übernimmt und fortsetzt (Verlag Kiepenheuer). Auch diese Erzählung überragt durch Realität und Landschaftsbildnerschaft den Durchschnitt hoch. Hier nenne ich gleich Leonhard Frank, aus dessen Humanitätsschule der junge Ernst Glaeser kommt, mit dem entzückenden Ochsenfurter Männerquartett (Insel-Verlag); Heinrich Eduard Jacobs kleinen Roman Jacqueline und die Japaner (Verlag Rowohlt): Rassenfragen mit Takt und Feinfühligkeit gültig beantwortet und in schwebende Sprachmusik gesetzt; „Als Mariner im Krieg“ von Joachim Ringelnatz (Verlag Rowohlt): Berichte von einer Präzision, Vitalität und Ungeschminktheit, die ihresgleichen suchen; Bruno Frank: Politische Novelle (Verlag Rowohlt), fesselnde Verbindung von politischer und Menschenanschauung, die einem eminenten Stilisten gelang; erfreulicherweise auch zwei österreichische Erzähler: O. M. Fontanas Roman Gefangene der Erde (Verlag Knaur), der mit Recht den Preis der Stadt Wien erhielt, da er Phantasie, Feuer und ethische Kraft vereint; Paula Grogger, die steirische Dichterin, deren Roman Grimmingtor und deren Novelle Die Sternensinger (Ostdeutsche Verlagsanstalt) seit langem wieder ein großes österreichisches Frauentalent beglaubigen. Lassen Sie mich hier der herrlichen Gedichte gedenken, die Max Mell im Speidelschen Verlage hat erscheinen lassen. Es sind Strophen von einer solchen edlen Anmut, von solcher spürbaren Naturnähe, schlichten Macht und keuschen innersten Melodie, daß ich sie zum Kostbarsten zähle, was wir an deutscher Lyrik überhaupt besitzen. 

Der Büchersnob: Und das Ausland? Geben Sie doch endlich die Pfahlbürgerei auf, immer nur „Nationales“ // zu propagieren. Europäisch muß das Buch sein, wenn es mir gefallen soll. Nennen Sie mir europäische Bücher!

Der Kritiker: Entschuldigen Sie es, wenn ich bei meinen Ratschlägen und Feststellungen auf Ihre Privatmeinung nicht genügend Rücksicht nehme. Denn ich fürchte, daß Ihnen das Wort „europäisch“ nur deshalb so ans Herz gewachsen ist, weil es mit den drei anderen eisernen Intelligenzphrasen („Einstellung“, „Mentalität“, „Rhythmus“) zum täglichen Weltbürgerbedarf gehört. Was sich davor drängt – aber lassen wir das. Ich nenne Ihnen lieber einen ausländischen Roman, der mir den Begriff „europäisch“ vorbildhaft zu verkörpern scheint: „Die amerikanische Tragödie“ von Theodore Dreiser (Verlag Zsolnay). Halten Sie das für paradox: ein amerikanisches Erzeugnis als europäisch reklamiert? Dafür müßten gerade Sie Verständnis haben, obschon ich nichts weniger als ein Paradox beabsichtige. Doch in der Dreiserschen Trilogie manifestiert sich, wie in keinem Buche irgend einer Nation zuvor, der europäische Gedanke: Gegen die Todesstrafe! Wer gelesen hat, wir der junge Clyde Griffith im „Todeshaus“ auf den elektrischen Stuhl vorbereitet wird und ihn nach Jahresfrist erleidet… der ist so unsäglich erschüttert, ja wochenlang ans Kreuz dieser Vision genagelt, daß er für sein ganzes Leben erzogen worden ist. Europäisch erzogen. 

Der Bücherfreund: Ich fürchte, das ist zu deprimierend. Ich für meinen Teil wäre für minder triste Bücher dankbar. 

Der Kritiker: Dann lesen Sie Hamsuns letzten Roman: Landstreicher (Verlag Langen): Nicht ganz so bezaubernd wie „Segen der Erde“ und Die Weiber am Brunnen. Aber immer noch: Hamsun. Also göttliche Ironie der Darstellung. Leben aus der Distanz, trotzdem tief genähert. Und lesen Sie die beiden ersten Originalbände von J. Haseks Geschichte des braven Soldaten Schwejk (Verlag Synek): das ist nicht etwa der von Piscator plakatierte Theaterfilm, sondern ein Epos tiefgründigen Humors, eine gelassene entlarvende Auseinandersetzung mit Schändlichkeiten. Auch der Roman Das Schlangenhemd von Grigol Robakidse (Verlag Diederichs), einem neuen „Ausländer“, zeigt ein unvergeßliches Gesicht, das sich der „Monotonisierung der Welt“ entgegenstemmt und die Charakterzüge des Georgischen Volkes aus dem Hexenkessel europäischer Gleichmacherei erhebt. 

Der Büchersnob: Das alles sind Romane, Novellen, Gedichte. Gibt es denn nichts, das im Grenzgebiet zwischen dem allen läge? Eine neue Form? 

Der Kritiker: Gewiß gibt es das. Es ist die „kleine Form“, die Alfred Polgar meistert. Sein neues Buch Schwarz auf Weiß (Verlag Rowohlt) bereitet ein durch nichts geschmälertes Vergnügen. Delikatessen für literarische Feinschmecker, und noch etwas mehr. Denn in diesen Miniaturen unseres kleinen Lebens ist eine blendende Stilkunst, doch auch eine Beobachtungsschärfe am Werk, welche mit des Messers Schneide spielt und trifft. Überdies empfehle ich für jeden, der vor Allzumenschlichem fliehen will, Paul Eippers Tiere sehen dich an (Verlag Reimer) als Rettung. 

Der Büchersnob: Und? 

Der Kritiker: Ich nehme Ihnen das Wort vom Munde, das Sie vorwurfsvoll zurückhalten: Memoiren. Sie wollen (weil auch das zu den Gemeinplätzen gehört, auf denen „europäisch Eingestellte“ mit Vorliebe lustwandeln) vermutlich sagen: „Mir sind Memoiren hundertmal lieber als die besten Romane!“ Bedienen Sie sich. Ob Ihnen freilich Rudolf G. Bindings Erlebtes Leben (Verlag Rütten & Löning), das eines Dichters Dasein schildert, nicht zu „einfach“ sein wird? Diese Einfachheit ist, notabene, grandios. Und ob sie Vera Figner Nacht über Rußland (Malik-Verlag) nicht zu revolutionär finden werden? Ungeachtet diese Denkschrift das Gedächtnis der Welt für alle Zeiten wachrütteln müßte! Ohne mir indes den Kopf hierüber zu sehr zu zerbrechen, nenne ich auf exakteren Literaturgebieten: den zweiten Band von Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit (Verlag Beck): Barock und Rokokko in durchaus persönlicher Weise gesehen und sichtbar gemacht; falsche Meinungsfassaden glänzend blankgeputzt, eingekrustete Vorurteile rabiat abgerissen; eines wie das andere mit einer Polyhistorkenntnis, mit außerordentlicher Formulierung und mit bedeutender Kraft zu rebellischer Synthese. Wells Weltgeschichte (Verlag Zsolnay): Mehr als Wissenschaft, die es natürlich auch ist. Hier wird Welt- als Menschheitsgeschichte vorgetragen. Schließlich, vom Biographischen dieses Jahres: Josef Redlichs bewundernswertes Standard-Werk über Franz Joseph (Verlag für Kulturpolitik); André Maurois: Disraeli (Verlag S, Fischer), der die großartige Figur Lord Beaconsfields der Dauer überliefert; Paul Wieglers „Wilhelm I, und seine Zeit“ (Avalun-Verlag): eine Epoche nobel empfunden und ebenso beschrieben; Rudolf Kayser: „Stendhal“ (Verlag S. Fischer): Verlebendigung der schönen Gestalt durch Nach- und Nahgefühl; Werner Hegemann: Der gerettete Christus“ (Verlag Kiepenheuer): mißverständlich als Lästerung aufgefaßt, während der Autor im Gegenteil die heilige Idee stützt und reinigt; Emil Ludwig: Der Menschensohn (Verlag Rowohlt): Heilandsbiographie, nicht durchaus auf der Höhe von Ludwigs vorangegangenen historischen Porträts, doch um ihrer psychologischen Klarheit willen lesenswert. Damit bin ich am Ende. 

Der Bücherfreund: Ist Ihre Liste vollständig?

Der Büchersnob: Meiner Meinung nach überkomplett! Und nun verraten Sie mir noch, was Sie bei der Auswahl aller dieser Bücher geleitet hat? 

Der Kritiker: Sie irren in der Annahme, mein Lob-Index erhebe nur den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Er ist unvollständig, weil subjektiv. Damit beantwortet sich auch Ihre Frage. Um gut zu sein, müssen Bücher, meiner Meinung nach, zwei Forderungen erfüllen: Die der Kunst: diese Forderung ist relativ. Die der Menschlichkeit: diese Forderung ist absolut. 

In: Neue Freie Presse, 16.12.1928, S. 1-3.

Rudolf Lothar: Der Autor als Unternehmer (1926)

Als ich im Herbst vorigen Jahres zu Beginn der Saison in einem meiner Artikel an dieser Stelle den Berliner Theaterverhältnissen eine sehr pessimistische Diagnose stellte, waren die Berliner Theaterdirektoren über meinen Artikel sehr empört. Ich muß gestehen, daß diese Empörung mir sehr sympathisch war. Denn zu keinem anderen Beruf braucht man mehr Optimismus und Selbstvertrauen als zum Berufe des Theaterdirektors. Ein guter Theaterdirektor muß an sich, an seine Schauspieler, an seine Autoren glauben und muß diesen Glauben dem Publikum beibringen. Wenn ihm das gelang – in der guten alten Zeit – dann war er geborgen. Aber heute genügt auch der stärkste Optimismus nicht mehr, um ein Theater zu einem gewinnbringenden Unternehmen zu machen, selbst dann nicht, wenn das Publikum tatsächlich kommt und ein Stück tatsächlich Erfolg hat. Der Etat ist nicht hereinzubringen. Die Schauspielergagen sind nicht zu erschwingen. Auch darüber habe ich bereits an dieser Stelle gesprochen, wie die Gagenforderungen der Schauspieler heute jedes Theatergeschäft unmöglich machen. Leider hält das Frühjahr, was ich im Herbst prophezeite. Die großen Truste entlassen alle ihre Schauspieler. Ein so kluger Theatermann wie Dr. Zickel sagte, wie die Leser Ihres Blattes wissen, daß am 1. Mai wohl alle Berliner Theater geschlossen sein dürften. So schwarz sehe ich nun allerdings nicht, aber ich muß Zickel recht geben, wenn er behauptet, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen das Theaterführen unmöglich ist. Es müssen ganz neue Verhältnisse geschaffen werden, das Theater muß auf ganz neuer Basis aufgebaut werden. Aber auf welcher Basis? 

In Paris ist eine solche neue Basis gefunden worden. Dort tritt immer mehr und mehr der Autor selbst als Unternehmer auf. Dort wird es nach und nach zur Regel, was bei uns noch verpönt ist. Der Theaterdirektor ist sein eigener Autor. 

Die erfolgreichen französischen Dramatiker geben ihre Stücke in eigener Regie: das tut Bernstein, das tut Verneuil, das tun Savoir und andere. Wenn ein Dramatiker ein Stück hat, von dem er sich etwas verspricht, dann geht er zu einem Direktor, garantiert ihm den Etat und ein paar hundert Franc darüber und der Rest fließt in seine Tasche. Natürlich ist das Geschäft ausgezeichnet, wenn das Stück einschlägt. Geht es schief, so kann der Mißerfolg dem Autor Kopf und Kragen kosten. Allerdings hat der Pariser Autor weit mehr Möglichkeiten, den Erfolg zu forcieren als der deutsche Autor. Die Theaterreklame spielt in Paris eine viel größere Rolle als bei uns. Den wahren Sinn der Kritik verstehen nur die Leute vom Bau und die Eingeweihten, denn äußerlich ist fast jede Kritik so liebenswürdig und wohlwollend, daß der gewöhnliche Leser oft an einen Erfolg glaubt und gar nicht ahnt, wie der Kritiker den Autor verreißt. Eine geschickte Claque täuscht vollends den Provinzbesucher über den Wert des Stückes hinweg. Allerdings läßt sich ein Mißerfolg auch dort durch alle Mittel und Mittelchen nicht zu einem Erfolg stempeln, aber es ist immerhin möglich, vor allem, wenn man über genügend Geld verfügt, ein Stück statt zwanzigmal, wie es regulär gehen würde, hundertmal zu geben. Und hat einmal ein Stück die hundertste Aufführung erreicht, dann rollt es von selber weiter. Zum Theaterführen gehört nun einmal Geld, denn um einen richtigen Erfolg zu machen, braucht man Reklame und Reklame muß gut bezahlt werden. Der Autor also, der als Theaterdirektor auftritt, wenn auch nur vorübergehend und von Fall zu Fall, muß Kapitalist sein. Ich weiß nicht, ob sich heute deutsche Autoren finden würden, die bereit wären, Geld in ihre eigenen Stücke zu stecken. Ich betone: heute. Denn ich kann mir sehr gut den Fall vorstellen, daß es bald für den Autor keine andere Möglichkeit geben wird, sein Stück auf der Bühne zu sehen, als wenn er selbst als Unternehmer auftritt. Vielleicht läßt sich sogar einmal eine Formel finden, auch die Schauspieler am Risiko zu beteiligen und ihre Gage von der Größe des Erfolges abhängig zu machen. 

Das Pariser System nähert sich, wie man sieht, sehr dem amerikanischen. Auch in Amerika übernimmt der Unternehmer stets nur das Risiko für ein Stück. Nur daß drüben der Unternehmer selten der Autor selbst ist. Ich möchte aber als Kuriosum erwähnen, daß der größte Erfolg, den die amerikanische Bühne je erlebt hat, das Stück Abie’s Irish Rose ist. Die Autorin Annie Nichols konnte das Stück nirgends anbringen und wagte endlich, es auf eigene Faust in einem ad hoc gemieteten Theater zu spielen. Dieses Wagnis hat ihr bis heute über drei Millionen Dollar eingebracht. Das Stück ist in New York allein über viertausendmal gespielt worden. Dieses Beispiel mag beweisen, daß der Autor als Unternehmer auch sehr gut reüssieren kann, wenn er Glück hat. Allerdings, ein bißchen Hasard wäre bei diesem System immer im Spiele. Noch kein Mensch mit irdischen Sinnen hat bis heute die Chancen eines Stückes vor der Aufführung voraussehen können. Es wirken zu viele Imponderabilien mit. Es kann passieren, daß ein Stück gegeben wird, das einem maßgebenden Kritiker außerordentlich gefallen hätte. Dieser Kritiker wird am Tage der Premiere krank, und dem Kollegen, der ihn ersetzt, gefällt das Stück ganz und gar nicht. Oder: an dem Tage, wo ein Lustspiel gegeben wird, passiert in den Nachmittagsstunden kurz vor der Aufführung etwas Schreckliches, was die ganze Stadt in Aufruhr versetzt. Die Stimmung ist vorbei. Das Lustspiel, das an einem anderen Tage vielleicht stürmische Heiterkeit erweckt hätte, findet bei dem zerstreuten, erregten Publikum nur eine kühle oder gar eisige Aufnahme. Zu jedem großen Erfolg gehört eine Dosis Glück. Also ist Theaterleben allemal ein Glückspiel. Der heutige Direktor kann die Scharte von gestern morgen auswetzen. Der Autor-Unternehmer hat keinen zweiten Pfeil im Köcher. Der Mißerfolg kann ihn finanziell so schwer schädigen, daß er Jahre braucht, um sich wieder hochzurappeln. Aber da wird es vielleicht auch Mittel geben, um die Gefahr abzuschwächen. Etwa eine Kombination zwischen Unternehmer und Autor, eine Paarung von Autor und Finanzmann, wobei natürlich der Autor auf einen Teil seines Gewinnes verzichten müßte. Jedenfalls aber glaube ich, daß die Erscheinung des Autors als Unternehmer nicht auf Paris beschränkt bleiben wird. Er ist gewiß eine der Formen des künftigen Theaterbetriebes. 

In: Neues Wiener Journal, 14.3.1926, S. 16.

Was soll man lesen? Umfrage der Bukum-AG (1924)

Die Bukum A.G. (vorm. Hugo Heller & Co.) hat ihrem diesjährigen Weihnachtskatalog eine interessante Rundfrage vorangestellt, deren Beantwortung sie iener großen Anzahl namhafter Schriftsteller überlassen hat. 

„Welches Buch des Jahres hat auf Sie den stärksten Eindruck gemacht? Wodurch ist dieser Eindruck nach Ihrer Meinung begründet?“

So lautet die Frage. Mit Bewilligung der Bukum A.G. veröffentlichen wir nachstehend einige der interessantesten Antworten, doppelt interessant dadurch, daß es ja selbst Schriftsteller sind, welche ihrer Ansicht hier Ausdruck geben. 

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Ich bin ein viel zu unpünktlicher Leser, als daß ich es wagen dürfte, das beste Buch des letzten Jahres zu nennen; schon ein rein subjektives Urteil wäre unfair gegen die vielen guten Bücher, die ich offenbar im letzten Jahr nicht gelesen habe. Hätten Sie mich nach dem schlechtesten Buch des Jahres gefragt oder nach dem Buch, das mir am stärksten mißfiel, dann hätte ich leichter antworten können: ich hätte, einem bewährten Instinkt folgend, unter den großen Schlagererfolgen des Jahres gesucht, und ich verrate Ihnen, obwohl Sie mich nicht gefragt haben, daß die Versuchung nahegelegen hätte, blindlings und ohne Wahl Ossendowskis verlogenes Buch über Tierische Menschen und Götter zu nennen. Wenn ich aber ein gutes Buch nennen soll, kann ich Ihnen höchstens sagen, daß unter allen Büchern, nicht des letzten Jahres, sondern der letzten Jahre, der Roman Babbit des Amerikaners Sinclair Lewis mich am stärksten angepackt hat – diese große Anklage gegen die Bourgeiosie nicht als soziale Klasse, sondern als Lebensform; ich denke an dieses Buch mindestens einmal am Tag, seitdem ich es gelesen habe. Ich liebe dieses Buch, weil es zugleich revolutionär und geduldig ist, weil es zugleich zu verurteilen und zu begnadigen weiß, weil der Autor, als der erste Dichter nach Thackeray, jenen höchsten Grad erlangt hat, den des tragischen Humoristen…

Aber Sie wollen ja, daß ich von einem Buch spreche, das vor höchstens zwölf Monaten erschienen ist. Ich unterdrücke eine Neigung, noch von dem Roman Goha le Simple der Ägypter Albert Adès und Albert Josipovia zu schwärmen (es erschien in Paris im Jahre 1922) – und beschließe resolut, Ihnen das meiner Meinung nach beste Buch dieses, wie mir scheint, nicht sehr reichen Jahres 1924 nicht zu nennen. Ich begnüge mich damit, ohne Vergleich, ohne Rangordnung, ohne sie anderen guten Büchern ungerecht vorziehen zu wollen, von zwei ausgezeichneten Büchern dieses Jahres die Titel herzusetzen: das erste, Andreas Reischks Buch über Neuseeland, wird in Ihrer Buchhandlung viel gekauft – die Leute mögen es, obwohl es ein scheues, schüchternes, eigentlich unscheinbares Buch ist – es ist herrlich, voll von einer Wanderlust, Natursehnsucht, Schlichtheit! – und das andere kauft niemand, der Autor, Josef Weinheber, ist noch nicht berühmt, und der Roman Das Waisenhaus auch nicht. Ich nehme an, die Durchschnittskunden Ihrer Buchhandlung werden dieses Buch noch einige Zeit nicht kaufen – und daher nicht erfahren, warum es so gut ist. 

Richard A. Beermann

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Welches Buch des letzten Jahres den stärksten Eindruck auf mich gemacht hat? Die Denkwürdigkeiten des Grafen Waldersee. Und weshalb? Weil sie ganze Bibliotheken selbst guter Romane an Anschaulichkeit, Interessantheit und Spannungsreiz aufwiegen. Wäre die deutsche Republik eine; sie würde einen Auszug aus diesen Denkwürdigkeiten – mehr als acht Druckseiten brauchten es nicht zu sein – in 60 Millionen Exemplaren anfertigen lassen und damit der nationalistischen Kriegsschuld- und der Dolchstoß-Legende für immer ein Ende machen. 

Siegfried Jacobsohn

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Ich bin mit der Nicht-Abfassung meiner eigenen Werke so intensiv beschäftigt, daß ich nicht die Zeit fand, irgend ein Buch des Jahres 1924 kennenzulernen. 

Anton Kuh

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Unter den wenigen Büchern von allgemeinerem Interesse, die ich in diesem Jahr gelesen habe, möchte ich das Buch von Rolf Schott „Reise in Italien“ (Sibyllen-Verlag) herausheben. Rolf Schott ist Maler und Dichter zugleich, er schildert italienische Landschaften und südliche Gesittung mit einer so tiefen Kenntnis aller Kultur und einem so klaren Künstlerbild, daß diesem Buch nicht viele Reisebücher gleichgesetzt werden können. Ganz zarte Zeichnungen sind dem Text beigegeben. Niemand, der Italien kennt, wird dieses Buch lesen, ohne ihm dankbar zu sein. 

Emil Lucka 

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  1. Der kleine Peter von Anatole France.
  2. Durch die Zartheit, mit der das Problem der Kinderpsyche behandelt ist. 

Maria Mayer

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Von neuen Büchern hat mir zuletzt ein historisches Werk, Die Wiedertäufer in Münster 1534/35, – Berichte, Aussagen und Aktenstücke von Augenzeugen und Zeitgenossen, ausgewählt von Klemens Löffler, Jena bei Diederichs – großen Eindruck gemacht. Warum? Weil darinnen, im Bild eines politisch-religiösen Umsturzes, steht, was nicht alle Tage in Büchern zu finden ist: ein ganzes Bild menschlichen Lebens.  

Max Mell 

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Ich nenne lieber einige Bücher, aus verschiedenen Gebieten; denn Eindrücke sind durchaus nicht immer vergleichbar: 

Den im Verlag Die Schmiede erschienenen Gedichtband Sprung auf die Straße von Victor Wittner. Neuer Mann, Österreicher. Es sind Bildchen der Großstadtstraße, aus dem sechsten Stockwerk eines vielfenstrigen Hauskäfigs gesehen. Von einem, der hinabspringen möchte, um dabei zu sein, aber auch, aus, Gott weiß, welchen Gründen. 

Die bei Gunther Langes erschienene Erzählung Oskar Maurus Fontanas Die Insel Elephantine. Sie behandelt bildhaft, in einem Hotel am Nil, einen Niederbruch der Zivilisation im Zusammenstoß mit Naturkräften. Sie ist eine Parabel und das Entscheidende an ihr ist „der unendlich ferne Punkt“, zu dem hin jede Parabel deutet und sich wendet, was wir in der Geometrie gelernt, aber im Leben vergessen haben. Pessimismus und Erlösung, Zivilisation und Natur, unheilbare Widersprüche mögen sich dort schließen, das Buch selbst hat keinen Schluß: es flieht etwas hindurch, hinterläßt als Zeichen den wie aus Vogelfedern gewebten Stil des Dichters.

Eine bei E. Reiß erschienene Feuilletonsammlung Der rasende Reporter, weil der „Tagesschriftsteller“ Egon Erwin Kisch kein durchgefallener, sondern ein aus der Ewigkeitsschule davongelaufener Dichter ist. Er wurde lieber Pilot, U-Bootsmann, Reporter bei Mördern, Henker, Diplomaten, Taschenspielern und Hochöfen; alles nur für einen Tag oder ein Feuilleton, ungeduldig, witzig, essentiell; der Leser, der die Nase in dieses Buch steckt, sieht durch ein Periskop Gebiete der Welt (samt Beleuchtung), die er sonst nie kennenlernen könnte; diese Art der Reportage ist eine Zeitnotwendigkeit. 

Das Kuriositäten-Kabinett der Literatur, bei Paul Steegemann erschienen. Nicht nur, weil diese Essais Führer der zu wenig bekannten amüsanten oder wertvollen Erscheinung der Weltliteratur sind. Oder weil Franz Blei, ihr Dichter, einer der gescheitesten und belesensten europäischen Schriftsteller ist. Sondern auch, weil er einer der größten Kritiker ist, der sein Geschäft leider nie anders ausübt, als im Vorübergehen mit ein paar Bemerkungen.

Den Fall Elli Link von Alfred Döblin, welcher im Verlag Die Schmiede, Sammlung Außenseiter der Gesellschaft, erschienen ist, weil Döblin hier nackter als es in der Dichtung üblich ist, seine geistige Arbeit zeigt. Dieser im jüngeren Deutschland ganz vorne stehende, in Wein merkwürdig wenig bekannte Dichter ist Arzt, und seine Psychologie ist stark psychoanalytisch gefärbt, Doch kann man menschenpsychologisch zwar zerlegen, unmöglich ist es, sie aus solchen Elementen aufzubauen; es bleibt etwas übrig, das Ungesetzliche, Tatsächliche, die Art der Mischung, das Schicksal, das Zufällige und eben deshalb Individuelle: dafür hat Döblin in dieser kleinen Arbeit ganz sachlich und unsentimental ergreifende Ausdrucksmöglichkeiten gefunden. 

Nachtrag: Die bedeutende Drammaturgie des Films Der sichtbare Mensch von Béla Balázs, Deutschösterreichischer Verlag, habe ich nur deshalb aufzuzählen vergessen, weil ich gerade einen großen Essai über sie schreibe.

Robert Musil 

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Stärkster Bucheindruck dieses Jahres: Brandes, Voltaire

Arthur Schnitzler

In: Der Tag, 10.12.1924, S. 10.

Oskar M. Fontana: Der Kampf um das Buch (1928)

             Eine Zeitlang schien es, als sterbe der „liebe Leser“ in Deutschland langsam, aber unerbittlich aus, als bauten die Verleger am Bücherturm nur aus Gewohnheit weiter. Wer nicht Fußball spielte, tanzte. Wenn schon etwas gelesen werden mußte, weil man nicht einschlafen konnte, las man Magazine. Die vermehrten sich wie die Fliegen. Für ein Novellenbuch war und ist kein Käufer zu finden, aber für ein Magazin mit Kurzgeschichten, also auch Novellen, waren und sind tausende Leser zu finden.

             Es ist gesund und erfreulich, daß der Mensch endlich wieder einmal gemerkt hat, daß er einen Körper besitzt und daß er ihm ein Daseinsrecht geben muß. Aber es ist ungesund und unerfreulich, daß er darüber ebenso den Geist vergessen hat so wie ein früheres Stubenhockergeschlecht den Körper. Oberflächlichkeit ist ebensowenig ein Ziel wie Ästhetizismus.

             Was geschah von „Amts wegen“, um dieser drohenden Abwanderung der Heutigen ins belanglose Banale einer zu nichts verpflichtenden Magazinswelt zu begegnen? Nichts geschah. Der Staat hielt und hält ein paar Theater aus in der lächerlichen Überschätzung der Kulissen. Damit glaubt er seinen Verpflichtungen gegenüber der Dichtung und der Literatur erfüllt zu haben. Er deckt das Defizit, sorglos kann also „Alt Heidelberg“ oder „Das Duell am Lido“ gegeben werden. Denn die Theater, auch die Staatstheater, müssen gefüllt werden und so zahlt der Staat dafür, daß Publikumsstücke gespielt werden können. Deutschland gibt für seine fünf oder sechs Staatstheater jährlich 15 Millionen Mark aus. Diesen Millionen stehen 10.000 Mark gegenüber als jährliche Gesamtsumme der Aufwendungen für Literaturförderung.  (Österreich wiederholt dieses groteske Verhältnis im Kleinen.) Der Staat, mit den Repräsentationspflichten und Lasten des Theaters beladen, merkt gar nicht, daß das Buch und damit die geistige Spannkraft seines Volkes bedroht ist. Es kümmert ihn nicht.

             Merken es die Parteien? Kümmert es sie? Nicht im mindesten. Sie haben keine Zeit für solche „Kleinigkeiten“. Sie verurteilen die Kräfte, die innerhalb des Parteigefüges für eine Erhaltung des lebenden alten Schrifttums und einen durchsetzenden Vorstoß der neuen Autoren sorgen könnten, zur Einflußlosigkeit. Und so kommt es, daß eine Wiener sozialistische Wochenschrift für Frauen einen Roman von der Marlitt bringt. Widerspruchslos. Wo hört die Bourgeoisierung des Geistes auf? Wo beginnt sie?

             Die Not des deutschen Buches wird nur von den Verlegern bekämpft. Nicht aus Idealismus natürlich, sondern aus Wirtschaftsgründen. Sie kämpfen damit um ihre Existenz. Der Schriftsteller, als der ökonomisch Unselbständige, konnte diesen Kampf gar nicht aufnehmen, selbst wenn er ihn ahnte, außerdem blieb ihm der rettende Ausweg in die Zeitung offen. Der Verleger aber hat keine anderen Möglichkeiten, als die im Kapital und im Buch enthalten sind. Das Mißverhältnis zwischen beiden wurde in den letzten Jahren immer größer. Der Verleger begann das sehr heftig, sehr unangenehm zu spüren. Er mußte sich aus Selbsterhaltungstrieb dagegen zur Wehr setzen und wurde dadurch der einsame Schützer des Buches.

             Von der einen Seite her geht der Kampf um die Bewahrung der feinsten, gebrechlichsten und am „überflüssigsten“ scheinenden Literatur, das heißt um Lyrik und um jene Form von Epik die aus einem inneren Gesetz oder einem inneren Mangel – gleichviel – sich nur an wenige wenden kann und die doch das Recht hat, gehört zu werden, und der gegenüber die Gesellschaft die Verpflichtung hat, sie am Leben zu erhalten. Hans Martin Elster, der nicht nur Verleger ist (Horen-Verlag), sondern auch Schriftsteller, kommt diesem am meisten bedrohten Flügel der Literatur mit der Forderung nach seiner Schaffung einer Notgemeinschaft deutschen Schrifttums zu Hilfe. Er verweist als Beispiel auf die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die glänzend arbeitet und durch die Beistellung von Geldmitteln Publikationen ermöglicht, die sonst nicht hätten ediert werden können.

             Mit Recht scheint ihm ein Zustand absonderlich und unwürdig, der wohl den über den Dichter Schreibenden schützt, den Dichter selbst aber für sich allein sorgen, also verkommen läßt. Eine Notgemeinschaft des deutschen Schrifttums kann, indem sie einen Teil der Herstellungskosten übernimmt, bewirken, daß wieder Lyrik, daß wieder sucherische oder abseitige Dichtung gebracht werden kann, und daß ihre Autoren wieder zu leben vermögen. Die Widerstände gegen eine solche Notgemeinschaft kommen von Beamten, von Administrativen, die ihre Schreibtische für wichtiger halten als eine ganze Generation von Schriftstellern. Dennoch scheint mir eine Notgemeinschaft des Schrifttums nicht mehr aufzuhalten. Sie ist notwendig. Sie wird sich durchsetzen.

             Von der anderen Seite wird der Kampf um das Buch mit der Idee der Demokratisierung des Buches geführt. Es ist zu teuer geworden, es steckt in seinen Kalkulationen, in seiner Produktions- und Verkaufsweise noch immer in der Postkutschenzeit. Auch das Verlagswesen hat erkannt, daß es „Massen“ gibt, und daß diese mit ihren eigenen Mitteln erfaßt werden müssen. Organisierung der Kaufenden versuchten die Buchgemeinschaften. Ihre Gefahr: Sattheit, Schwerfälligkeit, Zaghaftigkeit haben sie bisher nicht überwunden. Die Organisation wurde ihnen letzten Endes wichtiger als der Geist.

             Die Demokratisierung des Buches macht erst der Verlag. Th. Knaur Nachf. in Berlin zur Wirklichkeit. Er ging von dem Gedanken aus, daß das deutsche Buchwesen im Gegensatz zum französischen nicht auf Broschüren, sondern auf dem gebundenen Buch beruhe, daß also dieses zum billigsten Preis hergestellt werden müsse, wenn Deutschland wieder für das Buch erobert werden solle. „Die Romane der Welt“ begannen im Vorjahr in diesem Sinne zu erscheinen und jetzt läßt der Knaur-Verlag ihnen die Standard-Bücher folgen, das sind Romane und wissenschaftliche Werke dauernder, klassischer Art. Hier wie dort ist das auf gutem Papier klar gedruckte Buch in Ganzleinen gebunden und kostet einheitlich 2 Mark 85 Pfennig (nicht ganz 5 Schilling). Den Romanen der Welt konnte Ungleichheit des Niveaus und Favorisierung der Ausländer vorgeworfen werden (trotzdem: sie brachten Joseph Hergersheimer, O’Flagerty, Walter Mehring, Sinclair Lewis – mutige und kühne Werke). Die Standard-Bücher sind dem Streit der Meinungen entrückt. Sie bringen Ewiges wie Dante und Dostojewski, ein deutsches Volksbuch wie Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit, sie versuchen Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance, bisher nur unter den „Gebildeten“ berühmt und geliebt, auch unter die Massen zu bringen – es ist der erste Versuch, nach Haeckels Welträtseln, ein wissenschaftliches Werk zu popularisieren – ein sehr ernster Versuch, dem entscheidende Bedeutung zukommt.

             Die Standard-Bücher bringen auch den ganzen Konrad Ferdinand Meyer, der bisher auf dem Ehrenfriedhof des deutschen Buchhandels ruhte. Diese vier Einzelbände, deren erster den Jürg Jenatsch und Angela Borgia, deren zweiter die Gedichte Huttens letzte Tage und Engelberg, deren dritter die Novellen und deren vierter den Heiligen und die Versuchung des Pescara bringt, sind eine sehr große Leistung. Im Wirtschaftlichen: jeden der Bände dieser vorbildlichen Art zu dem billigsten Preis herauszubringen und ohne den Zwang, alle vier gleichzeitig abnehmen zu müssen. Im Geistigen: weil hier ein großer deutscher Schöpfer endlich die Stoßkraft erhält, die ihm gebührt.

             Der Verlag Th. Knaur Nachf. hat zur Verbilligung seiner Ausgaben von Ford das Produktionsprinzip des rollenden Bandes übernommen, aber auch die Grundidee. Dem amerikanischen Motto: „Jedem sein Auto“ entspricht hier: „Jedem sein Buch“. Amerikanismus, ins Deutsche umgebogen. Es ist dadurch bewiesen, daß Bücher von innerer und äußerer Qualität zu billigstem Preise hergestellt werden können und daß dann die Leser, die es fast nicht mehr gab, wieder da sind. Und das ist das sehr Wichtige an dem Versuch des Knaur Verlages. Daß 400.000 Bände seines Konrad Ferdinand Meyer innerhalb einer Woche vom deutschen Buchhandel und seinen Käufern verschluckt wurden, ist mehr als ein persönlicher Erfolg – der bekümmerte die Allgemeinheit kaum –, vielmehr der in der Wirklichkeit vollzogene Beweis einer bisher geleugneten billigen Herstellungsweise, und die Tatsache des Erfolges wird die deutschen Verleger zur Umstellung ihrer Produktion zwingen. Es gibt ihn wieder. Er ist da. Jede Schlacht um den Leser ist aber ein Sieg des Buches. 

In: Der Tag, 4.3.1928, S. 3.

N.N.: Boykott österreichischer Schriftsteller in Deutschland (1933)

             Namens des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich richtete vor einigen Tagen der Vorsitzende des Verbandes, Oskar Maurus Fontana, ein Schreiben an die österreichische Gesandtschaft in Berlin, in dem es unter anderem heißt: 

             Wie aus Zeitungsberichten zu ersehen ist, hat die deutsche Reichsregierung in letzter Zeit sich wiederholt gegen den Boykott im Wirtschaftsleben gewandt und ihn an manchen Orten untersagt, mit der Begründung, „daß in einem solchen Vorgehen eine öffentliche Beleidigung, eine versuchte Nötigung oder gar Erpressung gesehen werden kann“. Was für das Wirtschaftsleben gilt, muß auch für das Geistesleben seine Berechtigung haben.

Nun wird gerade in den letzten Wochen in verschiedenen deutschen Zeitungen, unter anderem auch im „Börsenblatt“ des deutschen Buchhandels, gegen österreichische Schriftsteller zum Boykott aufgefordert, unter dem Vorwande, sie seien als Österreicher Deutschfeinde. Diese Aktion bezieht ihr Material zum größten Teil von österreichischen, in letzter Zeit nach Deutschland übergesiedelten Schriftstellern.

             Der Schutzverband deutscher Schriftsteller in Österreich findet es unter der Würde des Standes, sich mit einem solchen Vorgehen, das sich selber richtet, weiter zu beschäftigen und überläßt das Urteil darüber getrost jedem Menschen, der sich sein moralisches Bewußtsein bewahrt hat.

             Etwas anderes ist aber der angedrohte und in einigen Fällen auch zur Ausführung gelangte Boykott, dem österreichische Schriftsteller in Deutschland zum Opfer gefallen sind, Sie zu schützen, ist um so mehr unsere Pflicht, als alle diese Verdächtigungen auf schlechte, übelwollende Informationen zurückzuführen sind. Wir wagen zu behaupten:

Kein österreichischer Schriftsteller (die oben erwähnten „Gebärdenspäher und Geschichtenträger“ ausgenommen) hat sich gegen die deutsche Kultur vergangen; die deutsche Kultur kann darum keinen österreichischen Schriftsteller ausschließen.

             Der S.D.S.Ö ersucht Sie verehrter Herr Gesandter, im Propagandaministerium, in der Reichsschrifttums-Kammer und in der Reichspresse-Kammer in diesem Sinne vorstellig zu werden und dahin zu wirken, daß solche Ächtungen, in welcher Form immer sie erfolgt sein mögen, aufgehoben werden. Der S.D.S.Ö. ist bereit, jenen ihm zur Kenntnis gebrachten einzelnen Fall gemeinsam mit den österreichischen offiziellen Stellen zu untersuchen und aufzuklären. Anderseits darf erwartet werden, daß der von unverantwortlichen Personen eingeleitete und geführte Boykott österreichischer Schriftsteller in Deutschland ehestens zum Stillstand gebracht werde.

In: Der Tag, 10.12.1933, S. 6.

Emil Szittya: (Die Reinigungsarbeit) [hs]. Mein Erlaß an die kunstpolitischen Bewegungen[1]. (1919)

I. (Die Reinigungsarbeit.)

Es ist Trudbefreiung, daß die Kunst aufhört, ein abstraktes Problem zu sein. Problematisieren war auf dem Gebiet der Kunst schon vom Dilettantismus diskreditiert. Das Zergrübeln über die Kunst (die Lebensatmen sein sollte) wurde immer zweck- und geschmackloser und konnte sich (dort, wo es noch etwas war) nur zu einem unsagbaren Sichauflehnen jammern.

(Weil zuviele Larven von gestern den Sucher vermummen, konnte alle Erfahrung und jedes Praktischwerden sich nur in Hinfälligkeiten häufen.)

II. (Über das Schnüffeln)

Kunstforschung, wenn sie sogar zur Litteratur wird, ist eigentlich ein verkappter Kunstsnobismus, in dem sich die von der Kunsttat Abseitigen in Ästhetenentfliehungen verketten. Kusntsnoberei ist abscheulich, weil sie sich nur von Kunstscharlatanerie nähren kann.

III. (Fort mit der Kunstkritik)

Kunstkritik baut sogar in ihrer raffiniertesten Form auf die Geringschätzung der Gegenwart. Es ist ein vom ewigen Zurückgreifen-Afgezehrtsein. Kunstkritik erdreist sich, die Kunsttat immer in die Vergangenheit zurückschrauben zu wollen.

IV. (Die Unverständlichkeit)

Es fehlt die Freude an der Gegenwart. Man freut sich nicht über jene, die ein Übermaß der Hingabe von bisher (mit Unrecht) Unbeachteten zu vergeben haben. Man freut sich nicht darüber, daß es in der Kunst Wunderahner gibt, deren Lebensnerv sich im Giftlefzenfluidum zerwühlt. //

(Die fiebernden Formbildner müssen durch das Unverständnis, das man ihnen als Dank gibt in Unräumlichkeiten erstarren.)

V. (Kunstliebe.)           

Kunstkritik ist von vornherein von Mißtrauen geschweißt. Statt Kunstkritik muß Kunstregistrieren kommen, denn dort, wo Kunstregistrieren zur wirklichen Kunst sich entfaltet, ist es Kunstliebe. Kunstliebe ist ein Sichhineinbetten in die Vielheiten eines organisch sich aufbauenden Weltkomplexes.

VI. (Fort mit den Kunstschulen, wenn sie auch expressionistisch sind.)

Man darf nicht das trotzig wilde Streben nach dem Zentrum der schwindenden Höhen, die einen von den Kunstrevieren aus erfüllen, von dem Standpunkt einer Schule betrachten. Sogar die revolutionärste Kunstschule muß auf einer Grammatik des Schauens basieren und will verhindern, daß man die Grenzenlosigkeit des Zuständlichen anschaulich bewegliche. Die Schule war immer daran schuld, daß viele große Künstler sich von dem Effekt des Zufalles beeinflussen ließen, um wenigstens auf Augenblicke das Wunder zu besitzen.

VII. (Kunst und Sozialismus)                                                                                                                                                  

Die wirkliche Kunst ist Lebenkneten und nicht Vomlebengeknetetsein.

VIII. (Die traurige Einsamkeit des Künstlers.)

Es ist ein zum Verzweifeln bringendes Schicksal, daß der Künstler, der sich mit seinem Leben und Weltgeschehniskneten an die Menschheit anheimeln will, durch deren Unverständnis das Anheimeln (wenn er nicht sozialistischer Agitator ist) fortwährend in sich tilgen muß.

IX. (Die Kunsttat.)

Psychologische Zergliederungen sind nicht mehr nötig. Nicht auf kritische Spitzfindigkeiten kommt es noch an. Nötig ist: Eine wirkliche Entlarvung! Künstler! Gebt einmal Bewußtseinsdokumente über Euch! Es war genug von dem Gleichnissumpf! Kunst muß aufhören, eine verschleierte Gottheit zu sein. Rücksichtslosigkeit!, aber auch gegen sich selbst.

Nicht von Zeitereignissen gelähmt sein! Nicht das Wirren treibender Kräfte sein. Es war viel zu viel von der kleinbürgerlich-optischen Kunstpose! Bewegungsfähige hatten zu lange Ethosruhepunkte, aus dem Zagen die Gegebenheit verschwenden // ließ. Man muß sich aufraffen zur Selbsteinheit und jede Persönlichkeitsphilosophie wird sich  in Einheitsbewußtsein erformen.

Aktivität beginnt, an nichts vorüberzugehen.Tiefschürfendes erhellend auswirken und das Anschauliche, das durch den wirklichen Künstler bewußt geschieht, in ein Kulturganzes ausbreiten und mit eigenem Blutmitschwingen zum Wahrheitsgenießen verinnerlichen.

In: Horizont-Hefte Nr. 5/1919, S. 1-3.


[1] Die Streichungen sind in dem im Literaturarchiv Marbach erhaltenen Horizont-Hefte-Exemplar von Szittya handschriftlich offenbar nach dem Druck des Heftes Nr. 5 angebracht worden.

Max Eisler: Die Kunst in unserer Zeit (1930)

Im Oberstock des Künstlerhauses ist seit einigen Tagen eine Ausstellung zu sehen, die den Formenwillen unserer Zeit bis auf den Grund klarlegen möchte. Sie setzt sich also ein geistiges Programm. Denn es geht ihr nicht um das vollkommene Beispiel, sondern um Sinn und Weise der modernen Gestaltung. Was sie will, ist eine Klärung des Wirrwarrs, in dem wir gedankenlos vegetieren, eine Atempause der Selbst- und Weltbesinnung in dem überhitzten Tempo, von dem wir uns treiben lassen, also den Weg zur Erkenntnis der tieferen Beweggründe und der Einheit im Schaffen der Gegenwart.

Um das aufzuzeigen, werden – besonders innerhalb der Malerei – die Werke dreier Generationen, aber auch sehr verschiedene Betätigungen – etwa Erzeugnisse der heutigen Technik, sozial-ökonomisches Bauen und endlich Bilderkunst – miteinander konfrontiert. Die Gegenüberstellung der drei malenden Generationen – von Hans Tietze, dem verdienstvollen Urheber der Aufstellung, schon einmal versucht – erweist sich auch diesmal sehr fruchtbar. Aber schon bei den zwei Zimmern, welche die Einrichtung in den Jahren 1900 und 1930 charakterisieren sollen, wird man grundsätzlich Bedenken haben; denn der Raum vom Jahre 1900 ist kein rein charakteristisches Beispiel, sondern ein mit drastischer Absicht zusammengebrachter Auswuchs der Zeit, wie er sich auch für die Gegenwart leicht hätte finden lassen. Bedenklicher noch scheint uns die Zusammenführung so entlegener Dinge wie etwa eines höchst rationellen Staubsaugers und der neuesten Malwerke. Denn da werden, nach unserm Gefühl, Brücken gelegt, wo besser Grenzen gezogen werden müßten. So ist es z. B. heute bei weitem nicht mehr so wichtig, an dem und jenem die gemeinsame „Sachlichkeit“ nachzuweisen, als dieses arg mißbrauchte Schlagwort durch eine feinere Unterscheidung von Fall zu Fall zu entkräften und wesentlich richtigzustellen. Und das ist vielleicht nirgends so wichtig, wie bei der Bestimmung des Verhältnisses von neuer Bau- und neuer Bildkunst, die in ihren Gegensätzen weit gründlicher verstanden werden können als in ihren vorgeblichen Gemeinsamkeiten. Jedenfalls bringt die Anhäufung so vieler disparater Arbeiten im engen Raume die Gefahr mit sich, daß das Publikum – dieses sollte ja erzogen werden – statt des Zusammenhanges eine Verwirrung wahrnimmt. Und das wäre furchtbar schade.

Denn die Ausstellung ist, trotz allem, eine ernsthafte und mutige Tat. Schon als geistiges Ereignis steht sie hoch über unserm normal lässigen Ausstellungsbetrieb, der sich im besten Fall von irgend einer Konjunktur inspirieren läßt. Hier endlich ist ein umgreifender Gedanke Antrieb der Veranstaltung gewesen und von den Mitarbeitern Tietzes mit junger, schöner Hingabe verwirklicht worden. Gewiß nicht mehr als ein Experiment. Aber, selbst in seinen Irrtümern derart interessant, daß man so leicht davon nicht loskann. (Auch wir wollen ein nächstesmal noch genauer darauf zurückkommen.)

Heute schon das: Man mag gegen den Aufbau des Problems seine Bedenken haben und deshalb auch bezweifeln, ob er in breiteren Kreisen zu der erwünschten rechten Einsicht führen wird – gewiß ist, daß durch diese Ausstellung, namentlich auf dem Gebiet der neueren und neuesten Malerei, der von allen pfahlbürgerlichen Geistern verrammelte Horizont des Wiener Kunstfreundes mit einem Male kosmopolitisch erweitert wird. Man begegnet hier namhaften Meistern der Zeit mit bedeutenden Werken, man sieht, was einem bisher zu sehen versagt und nur durch das Gerücht, meist durch ein übelwollendes Gerücht, bekannt geworden war – man erhält endlich wieder einen weltgültigen Gesichtskreis und darin die Möglichkeit, einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Das ist das unbestreitbare Verdienst der Veranstaltung. Und schon das allein macht sie für alle aufrichtigen Freunde des Kunstlebens, ohne Unterschied ihrer Einstellung, wahrhaft sehenswert.

In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, 31.3.1930, S. 8.

Robert Musil: Intensismus (1926)

             Verschwenden Sie nicht viel Zeit an die Kunst! Setzen Sie sich kurzerhand an die Spitze der Kenner! Ich gebe Ihnen dafür zwei Regeln.

             Erklären Sie ein Bild, das Ihnen nicht gefällt oder das Sie nicht verstehen, unter allen Umständen für veraltet. Fügen Sie nichts hinzu, was daraus schließen läßt, ob Sie es für zweites oder zwanzigstes Jahrhundert, für ein Aquarell oder einen Holzschnitt gehalten haben. Denn darüber läßt sich streiten.

             Zweitens, behaupten Sie, wenn man Sie nach den Gründen dieses Urteils frägt, die Malerei der Zukunft sei der Intensismus. Und wenn man Sie frägt, was das sei, verweigern Sie die Antworte und sagen, das verstände sich von selbst.

             So macht man es nämlich immer. So hat es der Impressionismus gemacht und der Expressionismus. Ich sage Ihnen natürlich nicht, was diese beiden Worte bedeuten; das geht Sie glücklicherweise nichts mehr an. Und wenn ich Ihnen über den Intensismus etwas mehr andeute, so geschieht es nicht, um Ihnen eine Vorstellung von ihm zu geben – denn wenn die Anhänger einer Bewegung eine klare Vorstellung von ihr hätten, so würde das jeden Schwung lähmen –, sondern weil Sie das Gefühl empfangen sollen, daß diese kommende Kunst die Malerei Ihrer Nerven, Ihres Willens, Ihrer Vitalität sein wird: diesen Beschluß müssen Sie bewahren, alles übrige vergessen.

             Man hat früher größere Bilder gemalt als heute. Das kam davon, daß damals die Wohnungen größer waren. Sie sehen, wie einfach Kunstregeln sind.

             Als man in Burgen wohnte, bedeckte man ganze Wände mit einem Bild. Später, als man ein Haus bewohnte, hatten die Bilder nur noch die Größe von höchstens 1,50 mal zwei Metern. Heute können selbst schwere Leute nur Wohnungen von ein paar Zimmern kaufen, die halb so hoch sind, als sie früher waren, und die Bilder haben demgemäß ein Format von bloß 1:0,8 Metern; und wenn, was vorauszusehen ist, die Bautätigkeit in Europa noch lange stockt so werden die Bilder noch kleiner werden.

             Sie sind aber im Verhältnis nicht billiger geworden. Daraus folgt, daß der Grund und Boden des Bildes teurer, die Bodenrente per Quadratzentimeter Bildleinwand größer geworden ist und die gleiche geistige Rentabilität eine intensivere Bewirtschaftung der Leinwand verlangt. Dies ist die eine Wurzel des Intensismus.

             Als zweites verlangt ihn die psychische Energie. Betrachten Sie eine Landschaft, so finden Sie gewöhnlich ein Drittel, wenn nicht die Hälfte des Bildes von Luft oder Wasser bedeckt. Solche Bilder sind gewissermaßen Brachland. Überdies ist nicht zu bestreiten, daß schon ein Quadratzentimeter, blau bestrichen oder gar mit einer Anmerkung versehen, vollauf genügt, um uns wissen zu lassen, daß Himmel oder Wasser beabsichtig sei; jeder Mensch weiß, wie sie aussehen, etwas Neues ist daran nicht zu zeigen, es handelt sich einfach um eine Verschwendung durch gewohnheitsmäßigen Schlendrian. Das gleiche finden Sie natürlich auch, wenn Sie ein Porträt betrachten. Der Maler füllt nicht das ganze Bild mit Ihnen aus, sondern spart sich einen Hintergrund aus, der mindestens die Hälfte ausmacht. Er könnte ja beispielsweise Sie zweimal malen oder Sie und dahinter Ihren Konkurrenten malen, wie Sie ihm den Fuß auf den Nacken setzen, den großen Tag, wo alle Effekten in die Höhe sprangen, oder den schwarzen Tag, wo alles schief lag. Scheuen Sie sich nicht vor solchen Forderungen; allen wahrhaft ursprünglichen Epochen der Kunst waren sie ganz natürlich. Denken Sie daran, daß man mehrere Bilder ineinander malen kann; aber ich will nicht vorgreifen, diese Kunst entwickelt sich bereits von selbst. Halten Sie also bloß still an dem Wunsch fest, daß sich die Malerei bald wieder Rennpferden, Jagdbildern, Automobilen, Flugzeugen und allem, was Sie wirklich schön finden, zuwenden möge und verlangen Sie vorläufig, daß mit den unausgenützten Geistflächen Schluß gemacht werde.

             Intensivstes Leben im kleinsten Bildteil, nervöse Fläche, Einleitung der siegreichen Energie des modernen Lebens in den Bildrahmen: das ist der Intensismus! Wenn Sie irgendetwas sehen, das schon dahin weist, dann sagen Sie nichts als: Aber das ist ja intens! Wenn Ihnen das schwer fällt, so nehmen Sie immer Ihre Frau Gemahlin mit, die wird es treffen.

In: Prager Tagblatt, 17.12.1926, S. 3, Rubrik: Kunst und Leben