Viktor Silberer: Semmering-Rekord (1921)

(Erstabdruck: Wiener Volkszeitung)

Wenn man nur die Zahl der Besucher und das von ihnen verausgabte Geld in Betracht zieht, so kann der Semmering heuer eine Wintersaison, die alles bei weitem übertrifft, was dort jemals vorher an Masssnbesuch und Aufwand zu verzeich­nen war. Das Stammpublikum der Vorkriegszeit aber ist vom weiterem Besuche des ihm einst so lieb gewesenen, herrlichen Ortes ganz ausgeschlossen. Was nun an Großschiebern und sonstigen neuen Reichen in Wien in den teuersten Nachtlokalen in tollster Verschwendung praßt, bevölkert derzeit den Semmering, und treibt es dort womöglich noch ärger als in der Stadt. Dabei sind zwei Merkmale dieser Gesellschaft von heute zu verzeichnen. Erstens, daß es unter ihr fast gar keine alten Leute gibt und zweitens die bis zur Verrücktheit entwickelte Tanzwut. Woher alle die Burschen das viele Geld haben, die hier, aller­dings nur soweit es sich um die leichte Hand im Geldausgeben handelt, als Grandseigneurs auf­treten oder die indischen Nabobs spielen, bildet ein großes Rätsel. Aber gewiß ist, daß das viele Geld da ist und in leichtsinniger Weise vergeudet wird.

Zur Charakteristik eine kleine Episode: Ein soeben angekommenes Paar betritt die Halle des Hotels und wird vom „Chef de reception“ empfangen stets wohlgelitten. Beide in kostbarste Pelze gehüllt. „Zim­mer,“ sagt kurz der Jüngling. — „Haben bitte eines bestell!“ fragt der Chef. — „Nein,“ war die Antwort. — „Ja bitte, da kann ich dann nicht dienen: denn was noch nicht besetzt ist, ist alles längst schon bestellt!“— „Machen S‘ keine G‘schichten, sperr‘n S‘ uns ein schickes Zimmer auf, da haben Sie zehntausend Kronen!“

Das Tanzen hat den Charakter einer Seuche angenommen. Es wird, nicht etwa zu einer bestimmten Stunde, im ausgeräumten Speisesaal oder in der Halle täglich abends getanzt, sondern es gibt dafür weder mehr eine Orts- noch eine Zeitbestimmung. Man tanzt vielmehr jederzeit und überall; schon gleich nach dem Frühstück, noch vor dem Essen, nach dem Essen, bei der Jause, vor und nach dem Abendmahl, bis das letzte Licht erlischt, in allen möglichen Räumen, Gänge nicht ausgenommen! Dabei wird neben aller anderer Verschwendung auch ein enormer Luxus mit frischen Blumen getrieben. Die kleinste Nelke kostet 40 K, eine Chrysanthemeblüte 50 bis 100 K, eine Orchidee aber wird mit zweihundert bis fünfhundert Kronen das Stück bezahlt und diese Blu­men schmücken nicht nur die Frisuren der Damen und stecken in den Knopflöcherm der Smokings der Herrren, sondern es wird dann, im Höhepunkt des Vergnügens und der Freude am schönen Leben in der neuen Zeit, gegenseitig damit geworfen.

Im sterbenden Wien aber gehen zur gleichen Zeit Hunderttausende, darunter auch viele ehedem bemittelte, ja selbst sehr wohlhabende Leute, wegen Mangels einer ausreichenden Ernährung in aller Stille der völligen Entkräftung und damit einem langsamen Hungertode entgegen. Leben doch auch Tausende von Familien, die früher sehr gut situiert waren, ja zu den Reichen zählten, schon seit längerem nur mehr vom Verkaufen besseren Hausrats.

In: Prager Tagblatt, 20.1.1921, S. 2.

Hugo Steiner: Palästina und die Judenfrage. (1929)

Der nachstehende Artikel legt den Standpunkt der sozialistisch-zionistischen Arbeiter dar.

Angesichts der blutigen Vorgänge in Palästina, die wie ein Blitz in dunkler Nacht die Lage des jüdischen Volkes aufgezeigt haben, die vielleicht vielen sagen, daß Ahasver, der ewige Jude, noch nicht zur Ruhe gekommen ist, wurde überall viel über Palästina geschrieben. Aber die Palästinafrage kann nur im Zusammenhang mit der Judenfrage verstanden und erklärt werden. Erst dann wird klar werden, warum der jüdische Arbeiter nach Palästina und nur nach Palästina wandert, um dort aus dem heißen sandigen Boden die jüdische Heimstätte zu schaffen. Und nur die Kenntnis dieser Ideologie läßt die Taten und Opfer der jüdischen Arbeiterschaft verstehen und begreifen.

Der Zionismus der Chaluzim, der jüdischen Arbeiterpioniere, es geht von der Tatsache des jüdischen Lebens aus. Die wirtschaftliche Grundlage des jüdischen Lebens liegt in seiner Exterritorialität. Diese drückt sich darin aus, daß die Juden nirgends in die Grundpfeiler der Wirtschaft eingedrungen sind, daß sie überall nur in gewissen Teilen der Wirtschaft tätig sind. Der Typus des Juden in Polen und Amerika ist der proletarisierte jüdische Kleinbürger. Er lebt wie der ärmste Proletarier, fühlt sich aber nicht als solcher. Daneben gibt es das jüdische Proletariat: es trägt den gelben Fleck der Exterritorialität auf seinem Arbeitsgewand. Der jüdische Proletarier kämpft seinen Kampf nicht in den weiten Hallen der Fabrik, er hungert und darbt in den Schwitzhöhlen von Neuyork und Warschau. Das jüdische Proletariat kämpft seinen Klassenkampf nicht gegen das Großkapital, es kämpft gegen kleine Meister, die selbst nichts zu beißen haben. Der jüdische Arbeiter arbeitet in den Zweigen der Wirtschaft, die für die Wirtschaftslage des betreffenden Landes geringe Bedeutung haben, und daher ist auch die Entwicklung der jüdischen Arbeiterbewegung von vornherein durch objektive Bedingungen gehemmt. In ziellosem Radikalismus zu unfruchtbaren Kämpfen verurteilt, siecht das jüdische Proletariat dahin.

Das jüdische Kleinbürgertum, das sich wirtschaftlich in fast gleicher Situation wie das Proletariat befindet, unterscheidet sich von ihm nur durch das Bewußtsein. Innerhalb dieser Mehrheit des jüdischen Volkes gehen nun einige Prozesse vor sich: Produktivisierung und Wanderung. Die Söhne der jüdischen Händler wollen nicht mehr Händler werden, ihr Streben geht dahin, schaffende, arbeitende Menschen zu werden. Dieser gewaltige innere Umschichtungsprozeß, der dem jüdischen Proletarier die Grundlage seines Kampfes ändert, der die Nadel, das Symbol der jüdischen Arbeit von gestern, zum Hammer des jüdischen Arbeiters in Palästina wandelt, dieser Umwandlungsprozeß verbindet sich mit der zweiten großen Frage der jüdischen Massen, mit der Wanderung zu einer sozialen Bewegung: zur Chaluzbewegung.

Bestimmend für die Ideologie der Chaluzim ist der Umstand, daß hier Städter zu Bauern werden. Die Höhe der städtischen Kultur verbindet sich mit der Arbeit an Grund und Boden. Nur so ist die hohe gesellschaftliche Einstellung der jüdischen Arbeiterschaft in Palästina zu verstehen. Dies sind die objektiven materiellen Grundlagen der Chaluzbewegung. Das subjektive Wollen der Chaluzim, die sich jahrelang für Palästina vorbereiten, ist gerichtet auf eine freie, arbeitende Gesellschaft in Palästina. In Palästina erst kann der jüdische Arbeiter seinen Klassenkampf erfolgreich führen, denn hier ist der jüdische Proletarier in der Wirtschaft verwurzelt, hier baut er sich sein eigenes Land auf. Nur Palästina ist das Land, in dem sich das jüdische Proletariat emanzipieren kann. Ohne Palästina gibt es kein klassenbewußtes jüdisches Proletariat. Will das jüdische Volk aus seinem Volk von Händlern ein schaffendes Volk von Arbeitern werden, dann führt der Weg nur durch Palästina. Und es ist im Interesse des internationalen Proletariats, daß die Juden aufhören, Händler zu sein, daß sich die jüdischen Massen einreihen in die Scharen der internationalen Arbeiterschaft.

Nun zu Palästina. Es ist ein Land, das noch fast vollkommen unerschlossen ist. Was es an positiven wirtschaftlichen Werten in Palästina gibt, haben jüdische Arbeiter geschaffen. Was die arabischen Arbeiter an Erfolgen zu verzeichnen haben, konnten sie nur mit Hilfe der jüdischen Arbeiterschaft im Lande erringen. Der geringe Teil des Bodens, der urbar gemacht wurde, ist Eigentum der Essendis, der arabischen Großgrundbesitzer. Die palästinische Wirtschaft ist eine Feudalwirtschaft. Die einwandernden Juden beginnen das Land zu kapitalisieren und zu sozialisieren. Der Kampf, der jetzt in Palästina tobt, ist der Kampf der Feudalwirtschaft gegen die neuzeitliche Wirtschaft. Die Drahtzieher der Kämpfe, die arabischen Adeligen, wissen genau, daß das Eindringen der Juden in Palästina gleichbedeutend ist mit dem Untergang der feudalen Ordnung. Und so wie im Mittelalter in Europa alle Wirtschaftskämpfe im Gewand von Religionskämpfen ausgefochten wurden, so kämpfen die Araber unter der grünen Fahne des Propheten. Darum aber ist der Kampf in Palästina nicht der Befreiungskampf des arabischen Volkes gegen britischen Imperialismus, denn nicht ein arabisches Bürgertum – das es noch gar nicht gibt – drängt nach wirtschaftlicher Freiheit, sondern arabische Fürsten wollen die alte Ordnung gegen die Neuzeit, deren Träger die Juden sind, verteidigen. Der Kampf in Palästina ist der Kampf des Mittelalters gegen die Neuzeit.

Aber noch mehr: die Träger der jüdischen Aufbauarbeit ist die organisierte jüdische Arbeiterschaft. Der überwiegende Teil der Juden in Palästina sind organisierte Arbeiter. Dort, wo die Arbeiterklasse die Macht hat, ist die Wirtschaftsform nicht mehr eine kapitalistische, sie ist eine planmäßig sozialistische. Keineswegs soll geleugnet werden,, daß es viele Kräfte im Zionismus gibt, die gegen die Arbeiterwirtschaften Sturm laufen, aber die Praxis hat gezeigt, daß der Aufbau Palästinas abhängt von der Kraft der organisierten Arbeiterschaft in Palästina. Palästina steht und fällt mit der organisierten jüdischen Arbeiterschaft ebenso wie der Zionismus nur bestehen kann durch die Kraft der jüdischen Arbeiter.

Zweitausend Jahre wandert das jüdische Volk, sein Weg ist gekennzeichnet durch Blut und Jammer. In Palästina kämpfen Tausende jüdische Arbeiter um ihr Recht auf Arbeit und Brot.                                          

In: Arbeiter-Zeitung, 2.9.1929, S. 1-2.

Erwin Rieger: Wie meine österreichische Anthologie entstand. (1931)

             Kaum etwas mehr als ein halbes Jahr ist nun vergangen, da erhielt ich eines Tages von Josef Würth, dem Besitzer des Darmstädter Verlages, der mit seiner Handpresse schon eine Reihe schöner Bücher hergestellt hat, einen langen Schreibebrief, in dem er mir einen nicht von der Hand zu weisenden Vorschlag machte. „Schon seit langem beabsichtige ich, die Fülle junger, wertvoller Erzeugnisse Österreichs in einem Sammelwerke zu vereinigen,“ hieß es da, „doch scheiterte dieser Plan immer an der Kenntnis der Persönlichkeit, die diese Arbeit geschmackvoll und sachkundig auszuführen imstande wäre und zugleich das Vertrauen der Autoren besäße. Sehr oft liegen mir Manuskripte vor, die unbedingt festgehalten zu werden verdienen. Dies und die Tatsache, daß ich glaube, in Ihnen eine Persönlichkeit gefunden zu haben, um einem solchen Projekt gerecht zu werden, ist es, was mich veranläßt, an Sie die Anfrage zu richten, ob Sie bereit wären, die Herausgabe einer lyrischen Anthologie zu übernehmen.“ Dieser Antrag war schmeichelhaft. Er kam überdies, wie mir dünkte einem sehr lebhaften Bedürfnis unsrer jüngeren Autoren entgegen. Wie für kaum einen andern Künstler ist unsre harte Zeit so unerbittlich wie für den lyrischen Dichter. Schwerer wird es ihm als jedem andern, für das, was er zu sagen hat, den tauglichen Ort zu finden.

             Die Aufgabe schien somit recht verlockend, und in großen Umrissen stand denn auch bald der Plan fest. Vor allem galt es, den Dichtern meiner eigenen Generation zu helfen, jenen, welchen der Krieg das Dasein mittendurch auseinandergebrochen hatte und die heute an der Schwelle der Vierzig stehen. Dann aber schien die Gelegenheit höchst erfreulich, den Jüngeren, den nach uns Heraufkommenden, einen Dienst zu leisten. Mit einigen Freunden wurde in aller Eile eine Liste zusammengestellt und ein Rundbreif an die in Frage kommenden Dichter ausgesendet.

             Nicht ganz leichten Sinnes geschah das nun aber freilich, denn so gut wie nichts ließ sich den Aufgeforderten an materieller Gegenleistung bieten, und kaum jemals zuvor ist die Kunst nach Brot gegangen wie heutzutage. Dazu kam noch in diesem besonderen Falle, daß auch innerhalb der Dichtung heute vielfach die leidigsten, nämlich die politischen Gesichtspunkte gelten. Auch die Dichter tragen die verschiedenen politischen Modefarben, und so mancher Pegasus beugt sich, mehr der Not als dem eigenen Triebe gehorchend, unter das Joch dieser oder jener Partei.

             Die Antworten, die auf meinen Rundbrief einliefen, zerstreuten aber alsbald solche und andre Sorgen. Diese Antworten waren fast ausnahmslos positiv. Sie erfüllten mich mit Stolz und Freude. Bald war fast das ganze jüngere und junge Österreich da. Nun aber galt es, in diesen Kreis der Autoren auch jene einzubeziehen, deren Dichterruhm längst anerkannt und wohlbegründet ist. So wurden in allerletzter Stunde neben einigen andern noch Franz Karl Ginzkey, Max Mell, Richard v. Schaukal, Franz Werfel, Anton Wildgans und Stefan Zweig gebeten. Auch sie sagten sämtlich in selbstloser Weise zu.

             Als dann die Bücher, die Manuskripte kamen, mit der Erlaubnis, daraus zu wählen, da galt es freilich nicht, diese Anerkannten neu zu entdecken, Längst schon inst mir, wie vielen andern, der tiefe Herzenston eines Felix Braun so lieb wie vertraut. Längst schon schätzen wir an Kurt Frieberger, der sich’s, wenn er nur wollte, sehr leicht machen könnte, das ernste Ringen um eine strenge, sachliche Form. Längst wissen wir darum, daß sich hinter Alexander Lernet-Holenias virtuosen stilistischen Kapriolen ein großer lyrischer Gestalter lächelnd verbirgt. Längst steht fest, daß Friedrich Schreyvogl sich gerade im Gedicht von seiner reinsten künstlerischen Seite zeigt. Und wenn zu wenige bisher von dem hymnisch-dithyrambischen Impetus Joseph Gregors ergriffen wurden, so liegt das eben weit mehr an der Ungunst der Zeit, als an ihm und an ihnen.

             Dann aber kamen die Überraschungen, und sie bewiesen mir, daß ich im Grunde, gegen die Annahme des Verlegers, wohl doch nicht ganz der Richtige war, um gerade diese Arbeit zu leisten. Denn ich hatte mich – ich bekenne es – in den letzten Jahren vielleicht allzusehr in fremden Literaturen umgetan und wie einer, der das Gute mit Vorliebe in der Ferne sucht, die Heimat und ihre Kunst über Gebühr beiseite gelassen. Freilich, dieses plötzliche, freudige Gewahrwerden des Vielen, das immer noch vorhanden ist und nachkommt, hatte persönlich etwas geradezu Beglückendes für mich. Da waren Fritz Brügels höchst melodische Verse, aus denen ich unter anderm das betörende „Regenlied“ wählen durfte. Da war Oskar Jellinek, der sehr stark sozial fühlt, ohne sich jedoch dabei zu überschreien, und auch als Lyriker die hohe, lautere Form findet, die an seinen Meistenovellen entzückt. Da war Theodor Kramer, in dessen Gedichten ein so herber wie süßer Saft des Lebens pulst, und, in Kramers geistiger Nachfolge, Edmund Finke. Da war Konrad Paulis – den Lesern dieses Blattes seit langem wohlbekannt –, Vertreter des Bürgerlichen in einer edlen Art und mit einem Humor begabt, der auch in dem talentierten Ernst Scheibelreiter auf einer ganz anderen Ebene wiederkehrt und hier zuweilen einen Zug aus dem scheinbar Alltäglichen in das Dämonische aufweist. Da war Ernst Waldinger, noch fast gänzlich übersehen und in seinen Zeitgedichten vielleicht unbewußt an keinen Geringeren als an Verhaeren anknüpfend; und da war sein Gegenspiel, Josef Weinheber, wohl der größte Künstler unter ihnen allen, in seinem unbedingten Streben nach dem absoluten lyrischen Thema und dessen klassischem Ausdruck. Da waren Johannes Lindner und Guido Zernatto, ganz erdnah, wie Bäume emporgewachsen aus der bäuerischen Scholle. Und da war schließlich eine Frau, die geniale Lene // Lahr, die so tief weiblich empfindet, dabei jedoch ungemein klar zu analysieren vermag.

             Die Monate sind vergangen, und nun ist das Buch vollendet. Schön gedruckt und geschmackvoll gebunden liegt es in meiner Hand, und ich gedenke lächelnd aller kleinen und größeren Plänkeleien, die es auszufechten galt, um dieses Schock Lyriker gleichsam unter einen Hut zu bringen. Denn kaum ahnst du wohl, geneigter Leser, daß sich mit gar manchem unter ihnen nicht ganz so leicht Kirschen essen ließ, wie auf den ersten Blick in diese Seiten nun wohl scheinen mag. Denn gar manche unter ihnen sind nicht nur, wie sich’s für Lyriker nun einmal ziemt, recht sensitive, sondern ein wenig allzu nervöse Leute. Ja, man macht sich mit einem solchen Experiment nur Feinde, und nicht zuletzt unter jenen, die aus aus irgendeinem Grund nicht aufgefordert oder nicht gebracht werden konnten… Auch diese „Selbstanzeige“ – ich weiß es – ist eine schwere, eine gefährliche Unvorsichtigkeit. Habe ich denn in diesen Zeilen jeden meiner Mitarbeiter nach Gebühr herausgestrichen oder auch nur genannt? Schaudernd überfliege ich nochmals die Namenliste. O Gott! Viele fehlen immer noch von meinen Sechzig (und es sind auch sehr nahe Freunde darunter): Erhard Buschbeck, Csokor, Max Fleischer, Siegfried Freiberg, Rudolf Henz, Rudolf Jeremias Kreuz, Hans Nüchtern, Sonka, Heinrich Suso Waldeck, Paul Wertheimer und Alma Johanna Koenig… Etliche andre noch!

             Aber nun kommt es ja gar nicht mehr auf diese kleinen Dinge zwischen mir und ihnen an. Nun hat nur noch der Leser das Wort, und es gilt nur der eine Wunsch: daß es ihm bei der Lektüre ähnlich ergehen möge wie mir, als das Buch entstand, daß er ein ähnliches Staunen erleben möge vor der herrlichen Fülle dessen, was uns in diesen Tagen der Not im Bereiche des Geistes immer noch verbleibt.

             Möge denn diese „Anthologie österreichischer Lyrik“ den Beweis dafür erbringen, daß auch in dem neuen kleinen Vaterlande die überkommene Gabe immer noch sich entfaltet, blüht und fruchtet!

In: Neues Wiener Tagblatt, 16.12.1931, S. 2-3.

Edwin Rollett: Der Heimatdichter und sein Erfolg. (1929)

Zu J. C. Heers 70. Geburtstag.

             Eine Betrachtung der schriftstellerischen Persönlichkeit J. C. Heers rollt zweierlei Probleme auf. – Und jede Betrachtung eines nicht in der ersten Reihe der Literatur stehenden Schriftstellers vier Jahre nach seinem Tod kann, wenn sie nicht rein philosophisch ist, nur durch die Bedeutung der an ihn gebundenen und in ihm ausgedrückten allgemeinen Fragen und Probleme gerechtfertigt werden, ja wird wohl geradezu nur durch sie veranlaßt und um ihretwillen angestellt. – Sich mit J.C. Heer beschäftigen, heißt mit anderen Worten die Frage der Heimatliteratur aufwerfen, Sinn, Grund, Bedeutung von Stoff, Gegenstand, Hintergrund und Milieu des Romans beleuchten, es heißt aber auch, und das kaum weniger, der Psychologie des Erfolges der schriftstellerischen Publikumswirkung, dem Magnetismus des Romans nachzuspüren, wobei gleich gesagt sein soll, daß zwischen diesen beiden Fragen ein gewisser Zusammenhang besteht.

             Es ist ein Ästhetenmärchen, ein ausgesprochener Aberglaube, daß der Gegenstand des Romans Nebensache ist. Gewiß kann eine geniale Künstlerhand jeden ihr gemäßen Stoff zum Gegenstand formen, kann auf der Entdeckungsfahrt in die Füße des Lebens Gebiete entdecken, deren Vorhandensein bisher als belanglos ignoriert wurde. Das Findergenie des großen Erzählers fährt ja mit jedem wirklich künstlerischen Roman derart die Columbus-Reise über den westlichen Ozean nach Ostindien und erschließt einen neuen Erdteil. Was neben den Genialen und nach ihnen segelt, das lebt aber nicht durch die Tatsache der Entdeckung, sondern von den gewonnenen Kolonialprodukten, nicht durch die Genialität der erstmaligen Tat, sondern durch die Tüchtigkeit der Verwertung des Gefundenen.

             Columbusnaturen waren, um auf dem Gebiet der Heimatkunst zu bleiben, unbedingt etwa die Geschwister Brentano, das war im anderen Sinn Fritz Reute, war auch Rosegger, der anfangs seine Entdeckung nicht einmal einzugestehen wagte, und seinen Waldschulmeister irgend wohin nach Tirol verlegte, weil ihm seine Fischbacher Alpen und Mürztaler Berge zu unansehnlich, zu unbekannt erschienen, und er meinte, einen populären Namen als Vorspann benützen zu müssen. Columbusnaturen waren in der Schweiz ganz besonders Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller, der Berner Bauer und der Züricher Bürger, die jeder selbst Ergebnis und Träger der Kräfte ihrer schweizerischen Heimat, mit dem Selbstbewußtsein der Söhne eines jahrhundertelang republikanischen Stammes, dessen Eigenart ohne Beschönigung und ohne Beschränkung einbekannten, darstellten, künstlerisch ausformten, so kräftig und überwältigend, daß Schweizertum und Schweizer Volk literarische Mode wurden.

             Auf solchen Fundamenten baute die Schweizer Heimatkunst am Jahrhundertende weiter, begünstigt durch den realistisch naturalistischen Zug, der zu jener Zeit die gesamte europäische Literatur beherrschte und allenthalben dazu verleitete, gewissenhafte Ortsangaben und Zeitbestimmungen durch detaillierte, spezialisierte Schilderung, durch Nachzeichnung wohlbekannter und vertrauter Charaktere zu ergänzen, begünstigt endlich durch die geläufig gewordene Popularität Kellers, begünstigt endlich durch den zunehmenden Fremdenverkehr, der jeden schweizerischen Heimatroman für so viele nicht nur zu einer durch die dargestellten Ereignisse, Schicksale und Stimmungen anregenden, sondern durch Landschaft und Milieu an Sommerfrische, Bergpartie und Erholung erinnernden, also von vornherein angenehm und willkommenen Lektüre machte, weil es sich darin doch um die bekannten Schweizer Berge und Schweizer Herzen handelt.

             So ungefähr stellte sich die literarische Konjunkturlage dar, als der Winterthurer Bauernsohn, spätere Volksschullehrer und damalige Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung mit seinem Erstling hervortrat, und was an Material, an Elementen und Ingredienzien zu einem guten Heimatroman nötig ist, das war in // diesen „Heiligen Wassern“ schon reichlich enthalten: das Bauerntum mit echtem Erdgeruch bieder (manchmal bis zur Borniertheit), fromm (oft bis zum Aberglauben), naturhaft (selbst bis zur Unmenschlichkeit) und bodenständig (bis zur erbitterten Feindschaft gegen Besserung des Lebens).  Dieses Bauerntum wurzelt ausschließlich und unausreißbar angeklammert in seinem Boden, auch wenn er furchtbar mit ihm umgeht, auch wenn die Heimat zum Fluch wird und ihre Kinder einem Blutbann unterwirft, wie der, der dem Dorf Sankt Peter, hoch oben an der Gletschergrenze, von Zeit zu Zeit immer wieder ein oder ein paar Menschenopfer ab­fordert, ähnlich dem Lindwurm, der den Städten der Sage solchen Tribut auferlegt hatte. Das Bauerntum der Berge also mit all seinen Müh­salen und Schwierigkeiten ist sozusagen das Rück­grat seiner Romane, jenes harte Bauerntum, das im Sommerfrischler ein so wohltuendes Gruseln erzeugen kann. Daneben Landschaft, sehr viel Landschaft. Darin war Heer ja seit jeher groß, man kann sagen, als Meister vom Himmel gefallen. Durch seine Fähigkeit, eine Landschaft in ihrer Eigenart, ihrem Reiz, ihrem speziellen Charakter zu erfassen und das Erfaßte in Worten festzuhalten, hatte er zu allererst auf sich aufmerksam gemacht. Als der Reisende in den Adriagegenden und als Schilderer von Ballonfahrten und den dort gewonnenen Ein­drücken, als der Beschreiber der Landschaft aus der Vogelschau war er bekannt geworden. Das alles ist mit großer Solidität und ausgesprochener Tüchtigkeit, ohne Extravaganz, allerdings auch ohne besonderen Schwung in diesen Roman gegeben und schließlich fehlt auch noch der Fremdenverkehr nicht, der Schutzpatron der ganzen schriftstellerischen Richtung, der dem Alpental sogar gegen dessen Wunsch neue, frische Impulse und endlich doch eine Lebensverbesserung zuführt.

Es ist wie ein Rezept, wonach der erste, wonach aber auch so ziemlich alle anderen seiner Romane gebaut sind, selbst sein nachdrücklichster Erfolg Joggeli und sein ausgebreitetster Der Wetterwart. Das Handwerkliche steht im Vordergrund und auch damit ist Heer der typische Vertreter der ganzen Heimatdichter.

Nicht nur ihrer Abstammung nach, die sich ja von bahnbrechenden Genialitäten herleitet, sondern ebenso in ihrer Wirkung ist diese Heimatskunst aber eine gute, löbliche und gesunde Erscheinung, mag sie auch oft in allzu weitgehender Überschätzung des Stoffes diesen zum Selbstzweck erheben und schwel­gerisch in ihm verweilen, mag sie auch mitunter das persönliche Interesse des Autors und das erhoffte des Lesers durch übertriebenes Entgegenkommen auszeichnen. Eine gewisse, wenn auch beschränkte Garantie gegen die Gefahr allzu papierenen Literatentums liegt doch in ihr. Hie Kaffeehaus – hie Sommerwohnung! So stellt sich der literarische Antagonismus von Stadt und Land, genauer besehen, dar, so kann man (auch heute noch) das deutsche Schrifttum halbieren, soweit nicht die ganze dünne Schicht in Frage steht, die wirklich Kunst zu schaffen vermag. Und es ist eine Angelegenheit des Geschmacks, nach welcher Seite man sich schlagen will.

Das deutsche Lesepublikum hat seine Entscheidung getroffen: die psychologische Konstruktion der Kaffeehausliteratur bucht manchen Sensationserfolg für sich. Sie lockt mit den Mitteln des Unbekannten, des Seltsamen, des Pathologischen, des Abenteuers, das sich freilich hier meist nicht in geographisch, viel­ mehr in psychologisch und sozial fremden Regionen vollzieht. Diese Fremde übt gewiß ihre Anziehungskraft. Aber dauerhafter, solider ist jener andere Magnetismus, der von der Assoziation des Be­kannten und Geläufigen, vom Wiederfinden eigener Stimmungen und Empfindungen ausgelöst wird. Er beherrscht jene sehr breite Sphäre, in der nicht der abenteuerliche Reiz (allerdings auch nicht die Adelung und Selbsterneuerung durch wahrhafte Kunst), sondern die gegenständige Solidität, die Bürgerlichkeit maßgebend sind. Dieser weit aus­gedehnte Kreis des deutschen Bürgerhauses sucht sich die zu ihm passenden Bücher.

Es ist Gebrauchsliteratur, die da gefordert wird, so wie man von Gebrauchslyrik oder Gebrauchsmusik spricht, eine Literatur, die alle Kultur-,// Sozial- und Religionsprobleme nicht in ihrer voller Wucht und Größe erfaßt, sondern in den Regionen des Unterhaltungsbedürfnisses verharren bleibt, die, soweit es sich um Heimatdichtung handelt, einer im Grunde genommen intellektualistischen Neigung huldigt, nach welcher sich die Wechselbeziehungen zwischen Volk und Kunst nicht als ein gewiß be­schränkter, aber  natürlicher Widerhall eines macht­vollen Klanges in mehr oder minder taubem Gestein vollziehen, nicht als das Spiegelbild eines Gipfels im See darstellen (wie es bei Keller war), einer Neigung vielmehr, die meint, über eine hier und dort auf der halben Höhe des Entgegenkommens gespannte Konzessionsbrücke den Wechselverkehr bequem vollziehen zu können. Es ist der Stand­punkt, des Sommerfrischlers, des unbeteiligten zufriedenen Beschauers, der hier ganz augenscheinlich dominiert.

Dieses deutsche Bürgerhaus aber beherrscht als der Hauptkäufer den Markt, trägt das Buch, macht seinen Erfolg und bestimmt das Geschäft von Autor und Verleger. Würde denn das Trommelfeuer der Verlagsprospekte, Annoncen und Affichen, würde der Ertrag der glänzenden Abonnentenspekulation, die sich Buchgemeinschaften nennt, würde die nahezu undurchdringliche, sicher unausrottbare Organisation der Freundschafts- und Gefälligkeitskritik auch nur halb den Umfang haben, wenn es anders wäre?

Nicht das Buch als geistige Kraft und  geistige Macht ist dabei zu betrachten, sondern das Buch in seiner kaufmännischen Realität, als Ware, deren Werk sich ausschließlich nach der Nachfrage, also nach einer, nicht durch die absoluten Maße der Idee, sondern durch das höchst subjektive Element der Bequemlichkeit bestimmten Skala richtet.

Das Bedürfnis der Käufer bestimmt die Art der Ware, Das leicht faßliche mußte über das ideentiefe Werk triumphieren, das bequem zugängliche über jedes eigenartige und originelle, das nur anschau­liche über das symbolische und gedankenstarke, das stofflich reiche über das gegenständlich hochwertige. Dabei ist ein gewisser nicht zu reichlicher ideeller Gehalt als Gewürz höchst willkommen. Zu viel Gewürz aber verdirbt den Braten. Ohne Theatralik der Aufmachung geht es auch nicht ab. Sie muß das ideelle Rückgrat vortäuschen, wo es fehlt, oder die Idylle so lange verkünden, bis sie geglaubt wird. Rein künstlerische Fragen treten in den Hintergrund. Die Gestaltung des lebendigen Sprachorganismus wird unwesentlich verglichen mit dem Gegenstand, der aus leicht zu bearbeitendem Sprachmaterial geformt wird. Daß auch die Literatur eine bildende Kunst sein muß, ist in Vergessenheit geraten.

Mit der Bevorzugung des. Gegenstandes. Hängt aber auch eine andere Erscheinung eng zusammen, die fast erfreulich scheinen möchte und als ein Zeichen der Gesundheit gelten darf: unter all den Büchern, die sich deutsche Heimatliteratur nennen, ist nicht ein einziges, das im Sinne bürgerlicher Sittlichkeit anstößig, das seiner Tendenz nach nicht gut zu heißen wäre. Mag man auch feinen menschlichen Wert noch so sehr in Zweifel ziehen, irgendwo glimmt in jedem Heimatdichter ein Funken echten Idealismus.‘

Nach all diesen Seiten hin kann I. C. Heer als Typus und Vertreter einer ganzen Richtung gelten, als der Dichter der deutschen Bürgerfamilie mit höheren Ambitionen. Das ist vom Standpunkt höchster Kunstkritik aus gesehen nicht eben viel. Das ist aber um so mehr, betrachtet man die Funktion des geschriebenen und gedruckten Wortes im Lebensganzen einer breiten Volksschichte. Es ist im wesent­lichen eine Lehreraufgabe, die zu bewältigen ist, um so schwieriger, als sie von den Belehrten nie bemerkt werden darf, auch undankbar, insofern kein ideeller Erfolg sichtbar wird. Es ist die Kleinarbeit des Zwischenhändlers der Kunst, der, in der Mitte des Weges vom Genie zum Banausen stehend, jedem, der beiden die Hand reichen möchte, ein Volksbildneramt, wie so viele andere, nur daß dabei etwas mehr Ertrag abfällt, bei dem es gar sehr auf die Menge des Gebotenen und die Menge der Aufnehmenden ankommt, damit nur irgend etwas vom Guten hängen bleibt.

In: Wiener Zeitung, 18.7.1929, S. 1-3.

Siegfried Schmitz: Die Tragödie des jüdischen Theaters. (1923)

In Wien wurde durch ein paar Jahre jüdisches Kunsttheater gespielt; es wurde das versucht, was in anderen großen jüdischen Zentren versucht worden war, ein ständiges jüdisches Kunsttheater zu schaffen. Der Versuch ist bisher in Wien nicht gelungen, aber – in den anderen jüdischen Zentren (Berlin, Warschau, Wilna) ebensowenig. Ein ständiges jüdisches Kunsttheater besteht heute nur in New-York, und da wird immer wieder von den Schwierigkeiten berichtet, unter denen es sich gegen die Konkurrenz d[e]s leichten Genres zu behaupten hat. Daß alle Versuche zur Schaffung eines ständigen jüdischen Kunsttheaters bisher mit einem Mißerfolg endigten, läßt sich aus den wirtschaftlichen Verhältnissen der Länder, in denen diese Versuche unternommen wurden, nicht ausreichend erklären, ebensowenig aus der langsamen kulturellen Durchdringung der Juden in diesen Ländern mit  profaner jüdischer Kultur: hier müssen die Gründe auch im Wesen des jüdischen Theaters selbst, wie es sich uns heute darbietet, liegen. Es wäre sonst unmöglich, daß jüdische Theatergründungen wie die Wilnaer Truppe (besser: die beiden Wilnaer Truppen) und die in Wien entstandene Freie jüdische Volksbühne sich keinen stabilen Platz in den jüdischen Zentren erringen konnten, sondern auf die schiefe Bahn der Gastspielreisen gedrängt wurden, welche – es sei offen herausgesagt – für ein Kunsttheater unbedingt künstlerischen Abstieg bedeuten.

Für ein Theater sind die ausschlaggebenden Momente des Erfolges seine Stücke und seine Darstellung. Wie sieht es mit beiden im modernen jüdischen Kunsttheater aus? Das Repertoire des jüdischen Kunsttheaters gliedert sich in zwei Teile: die jüdischen Originalstücke und die Übersetzungen aus der europäischen Literatur. Die originale Dramatik in der jüdischen Volkssprache ist nicht viel älter als das jüdische Theater. Denn wenn wir von den mehr tendenziösen als dichterischen Versuchen absehen, welche die Schriftsteller der ostjüdischen Aufklärung, der Haskala, auf dem Gebiet der Dramatik machten – unter ihnen befindet sich übrigens kein Geringerer als Mendele Mocher Sforim mit zwei ebenso umfangreichen wie temperamentvoll tendenziösen Dramen gegen die Kehillamißstände sowie ein entschieden dramatisch begabter Autor, S. Ettinger, aus dessen Komödie Serkele in einer zeitgemäßen Bearbeitung die jüdischen Bühnen nachdrücklichst hingewiesen seien –, so fällt mit der Entstehung des jüdischen Theaters auch der Beginn der jüdischen dramatischen Produktion zusammen. Goldfaden, der Schöpfer des jüdischen Theaters, war sein eigener dramatischer Autor. Das Goldfadensche Singspiel, auf der jüdischen Bühne noch heute heimisch, hat freilich in einem modernen jüdischen Kunsttheater wenig Raum. es sei denn, daß sich ein mutiger dramaturgischer Bearbeiter fände, welcher diese Singspiele, in ihrer Art einen wertvollen volkstümlichen Besitz, sozusagen modern „aufmacht“ und in würdigem Gewande stellen läßt.

Weiter aber ist die dramatische Dichtung in der jüdischen Volkssprache eigentlich über das Milieu nicht hinausgekommen, eine Tatsache, welche schon mit den primitivsten Grundsätzen der dramatischen Form – der Darstellung eines menschlichen Schicksals, abgewandelt an einem Einzelfall – sich schwer vereinbaren läßt. Es ist interessant, daß der fruchtbarste und theatralisch begabteste dramatische Schriftsteller der jüdischen Literatur, Jakob Gordin, seine dramatischen Konflikte stets aus fremden Mustern holte und sie eigentlich nur mit einem jüdisch-familienbürgerlichen Milieu umgab, dabei häufig eine lehrhafte Tendenz hineinschob. Gordin hat auf diese Weise die gesamte dramatische Literatur von Shakespeare bis aus Sudermann und Hauptmann in ihren dramatischen Konflikten milieuhaft verwendet. Die übrige dramatische Produktion ist höchst selten sehr über das Milieu hinausgekommen. Zu nennen wäre hier nur Pinskis Arbeiterdrama Eisik Scheftel, welches dem Wiener Publikum durch die hervorragende Darstellung in der Freien jüdischen Volksbühne bekannt ist, ein Werk, in dem das Ersticken der künstlerisch-erfinderischen Individualität durch die kapitalistische Ausbeutung über das jüdisch Milieu hinausreicht, ferner mit gewissen Einschränkungen desselben Antors allerdings dramatisch nicht restlos gelungenes Schauspiel Jedem sein Gott, sowie Leiwiks von der Freien jüdischen Volksbühne mit so großem Erfolge trefflich aufgeführtes Schauspiel Schmates. Damit ist aber der Vorrat an einigermaßen über das Milieu hinaus dramatisch wirksamen Stücken der jüdischen dramatischen Literatur erschöpft, wenn man von dem sehr feinen, seelisch tief schürfenden, aber nicht völlig als dramatisch anzusprechenden Spiel Karikaturen von Katzenel­son absieht. An – skis so viel bewundertes und besprochenes Legendenspiel Der Dybuk schöpft seine Wirkung ausschließlich aus dem Milieu und ist weit mehr als ethnographisch-folkloristische Darlegung denn als dramatische Gestaltung zu werten.

Die Tatsache, daß die jüdische dramatische. Dichtung bisher über das Milieu nicht hinausgekommen ist, ist auch wohl die tiefgründige Ursache dafür, daß das jüdische Drama bisher eine Komödie echten Sills, ein gutes Lustspiel, nicht hervorgebracht hat. Denn Komödie erfordert, selbst wenn sie im Milieu einige ihrer Humore schöpft, unbedingt ein Hinausheben der Handlung und der Typen über das Milieu gewissermaßen in die Spähre der Menschlichkeiten der Menschheit. Ein einziges Mal ist, wenigstens zum Teil, dieser Grundforderung an eine Komödie David Pinski in seiner Komödie Der Schatz gerecht geworden, welche eigentlich mehr eine Satire ist. Was die dramatische Lite­ratur der Volkssprache sonst an Komödien produzierte, ist unzulänglich und kann eigentlich nur als Milieuhumor angesprochen werden. Das Volksstück in seiner modernen künstlerischen Form, wie es Perez Hirschbein in manchen recht ansprechenden Stücken zur Geltung bringt, ist überall sine reine, bei Hirschbein übrigens vielfach zu literarisch angefaßte Milieuangelegenheit.

Daraus schon ist zu ersehen, daß das jüdische Theater bisher, wenigstens in der originalen dramatischen Produk­tion, viel zu wenig Möglichkeiten für seine Entwicklung gefunden hat. Es ist geradezu tragisch für das jüdische Theater, daß es durch den gewissermaßen engen dramatischen Horizont der dramatischen Produktion geradezu bis zum Ersticken beengt wird. Dem jüdischen Theater steht freilich auch die reiche dramatische Produktion der ganzen Weltliteratur von Aeschylos bis Kaiser und Brecht für theatralische Ausbeute zur Verfügung. Der Einwand, daß anderssprachige Dramen im Jüdischen nicht „klingen“, ist nicht stichhaltig. Ob Hamlet der Dänenprinz englisch, deutsch, russisch oder jüdisch spricht, ist gleichgültig. Freilich // kommt die Aufführung von Stücken aus der europäischen Dramenliteratur mehr dort in Betracht, wo das jüdische Theater und insbesondere ein jüdisches Kunsttheater in der jüdischen Masse fest verankert ist, wo es das Bildungs- und Kulturbedürfnis der Juden fast ausschließlich befriedigt. In Wien und Berlin, wo jüdische Kunsttheater eine Zeitlang stabil spielten, ist dies nicht der Fall, weshalb denn auch für das Repertoire dieser Theater die europäische Dramenliteratur fast gar nicht in Betracht kam.

Aber selbst dort, wo europäische Dramenliteratur ins Repertoire des jüdischen Theaters eingefügt werden kann, ist – wenigstens bisher – der Erfolg, welcher durch diese willkommene Bereicherung des Repertoires sich ergeben müßte, illusorisch gemacht durch die begrenzte Darstellungsmöglichkelt, welche es im jüdischen Theater bis jetzt noch gibt. Ein so ausgezeichnetes Ensemble wie die Wilnaer Truppe hat, wenn man es mit der Kritik genau, objektiv und sach- und theaterkundig nimmt, bei der Darstellung von Stücken aus der russischen Dramenliteratur, wie Eifersucht von Artzybaschew und Der die Ohrfeigen kriegt von Andrejew völlig versagt, ja selbst die Aufführung eines jüdischen Stückes, in dem es nicht bloß Milieudramatik gibt, wie Weiters Der Stumme, muß als unzulänglich bezeichnet werden. Man hatte bei diesen Stücken nicht den Eindruck von Darstellung, sondern von Vermummung, und das oft von schlechter. Denselben Eindruck hatte ich, als die Freie jüdische Volksbühne in ihren Anfängen einmal das erwähnte Weitersche Stück gab.

Damit sind wir beim zweiten für den Erfolg eines Kunsttheaters maßgebenden Moment angelangt, bei der Darstellung. Diese ist im jüdischen Theater nie über das naturalistische Maß hinausgekommen. Minutiöser Naturalismus scheint ein Wesenszug jüdischer Darstellungskunst zu sein. Außerdem ist die Wiedergabe von Milieudramatik naturgemäß mit naturalistischer Darstellungsweise verbunden. Die eine Begrenzung, welche dem jüdischen Theater auferlegt ist, die durch das Milieu, zieht eben die andere nach sich, die in der Darstellung. Während heute schon jede sechstrangige europäische Bühne imstande ist, Darstellung und Regiearbeit zu leisten, die über den Naturalismus hinauskommt, ist dies beim jüdischen Theater bisher sehr selten der Fall. Die Wilnaer Truppe versuchte die Einführung eines bestimmten Stils in der Darstellung bei Aufführungen wie An-Skis Der Dybuk und Tag und Nacht. In der Dybuk-Aufführung war das Ergebnis eine gewisse Starrheit, welche freilich zu dem ethnographischen Charakter des Stoffes des Stückes paßte; in Tag und Nacht trat der von der Regie angewendete Stil am klarsten zutage, aber der Versuch, dieselbe Schablone ein wenig modifiziert in Weiters Der Stumme anzuwenden, brachte Langweile und Lächerlichkeit hervor. Für eine moderne Theateraufführung, welche über den überall bereits seit mehr als einem Jahrzehnt abgetanen Naturalismus hinausgeht, fehlt es dem jüdischen Theater bisher an Darstellern. Die wenigen, welche vorhanden sind (ich denke vor allem an Paul Baratoff), kommen von anderen Bühnen.

Die Begrenzung des jüdischen Theaters durch das jüdische Drama und durch die aus Schwäche zur Begrenzung gezwungenen darstellerischen und gestaltenden Kräfte sind die inneren Ursachen für die Tragödie dieses Theaters, die darin besteht, daß es, in einer in Theaterdingen so anspruchsvollen Zeit wirkend, so sehr hinter den Forderungen dieser Zeit zurückbleibt.  Deshalb hat bisher das neue jüdische Kunsttheater keinen stabilen Platz finden können, aus welchem es sich selbst erhalten und das, was ihm für einen neuen, eigenen Ton im Theaterwesen der Welt fehlt, sich erwerben könnte (sofern überhaupt gerade dem Juden auf dem Gebiete des Theaters Neues, Eigenes gelingen kann). Hier könnte nur Förderung durch die Gesamtheit einsetzen, eine Förderung, die über das augenblickliche Interesse an der Spezialität, an der Milieuspezialität, hinausgeht. Die ist aber schwer zu finden, denn das -Talent des jüdischen Schaffens auf dem Gebiete des Theaters scheint zu schwach zu sein, um ein Interesse zu erwecken, welches sich über den sogenannten „Reiz des Milieus“ und seiner Darstellung erheben würde. Wenigstens bis jetzt, in der Zerstreuung der jüdischen Zentren. Vielleicht später einmal, wenn im eigenen Lands sich eigene Kunstformen bilden sollten …

In: Wiener Morgenzeitung, 18.3.1923, S. 5-6.

Siegfried Schmitz: Jüdische geistige Not. (1920)

Das Wort von der Not des geistigen Arbeiters ist von den jedes sozialen Ethos baren Tagschreibern zum Schwatz über den Dozenten und die Waschfrau erniedrigt worden, in welchem das geistige Elend auf einen Vergleich der Einkommensziffer mit dem Arbeitstaglohn reduziert wird. Daß es der geistigen Not nicht abhilft, wenn der geistige Arbeiter so viel wertloses Papier gezahlt bekommt wie die Waschfrau, darüber nachzudenken fehlt es den Klugschwätzern an Ehrlichkeit. Die geistige Not besteht heute in Wirklichkeit darin, daß die Internationalität des Geistes sich als ein Ziel erwiesen hat, von dem die Welt noch weit entfernt ist. Die Haßkundgebungen der Männer des Geistes in den einzelnen Ländern haben es genügsam kundgetan, zu wie viel Lüge das wahrhaft große Wort von der „Internationale des Geistes“ mißbraucht wurde. Und trotz Krieg, Revolution und Frieden finden sich keine Ansätze, um die Internationale des Geistes in wahren Formen zu verwirklichen. Das und die Tatsache, daß heute das Schaffen der sogenannten geistigen Arbeiter in die engsten Grenzen der jeweiligen eigenen Staatlichkeit eingeschränkt ist, daß, abgesehen von Virtuosen, Tänzerinnen und Varieteegauklern, die Schöpfer geistiger Werte ihr Schaffen nicht über die Grenzen ihres sogenannten Vaterlandes hinaus auswirken lassen können, daß ferner das geistige Schaffen, in sozialer Verkümmerung gebunden, auch in seinem Wert verkümmert, das ist der Kern der geistigen Not. Das jüdische Volk, welches in allen Belangen durch das Unheil, das in die Welt gebracht wurde, am schwersten gelitten hat, hat auch die schlimmste geistige Not zu tragen. In den letzten Jahrzehnten begann verheißungsvoll der Anfang einer die traditionelle jüdische Kulturbasis verbreitenden weltlichen Kultur im Judentum Osteuropas aufzusprießen. In der allgemeinen Katastrophe, die das osteuropäische Judentum getroffen hat, ist das jüdische geistige Leben in Osteuropa zusammengebrochen. Die osteuropäische Judenheit, früher durch den Bestand eines großen Reiches und ziemlich gleichartiger sozialer Verhältnisse zu einer gewissen Einheit zusammengefaßt, ist heute zersplittert und jeder der abgesplitterten Teile ist von Not und Tod umdroht, hat den Kontakt mit den übrigen Volksgenossen lockern müssen und lebt in ungewissem Schicksal dahin. Damit hat das jüdische geistige Zentrum in Osteuropa aufgehört zu existieren. Die günstigere materielle und soziale Lage der Juden Amerikas hat sie in den Stand gesetzt, in den letzten Jahren auch einen jüdisch-kulturellen Aufschwung zu nehmen. Diesem fehlen jedoch die Tradition und die Kontinuität, welche früher durch den ständigen jüdischen Zufluß aus Osteuropa gewahrt waren. Kommt es tatsächlich zu der drohenden Absperrung Amerikas gegen die Einwanderung, so wird der kulturelle Aufschwung der amerikanischen Juden, die sozial und wirtschaftlich sehr an ihre Umgebung gebunden sind, bald vorüber sein.

Die Juden Mitteleuropas sind kulturell, wenn auch in anderem Sinne, isoliert. Ein Beispiel bieten Wien. Hier hat der Krieg mit dem Strom jüdischer Flüchtlinge aus dem Osten eine Welle jüdisch-geistiger Elemente herangespült durch die der jüdische Inhalt Wiens belebt wurde. Das politische Schicksal dieser Stadt hat das jüdische Schaffen in Wien von jeder Auswirkung in die Ferne abgeschnitten. Diese allenthalben hervorgebrachte Zersplitterung und Isolierung ist das Spezifikum der jüdischen geistigen Not. Sie vermindert auch die Hoffnung auf einen raschen Entwicklungsgang eines jüdischen Kulturzentrums in Erez Israel. Denn nur wenn Menschen mit gesunden Kulturanlagen ins Land kommen, kann dieses rasch das Wachstum dieser Keime fördern. So hat die Weltkatastrophe dem Judentum auch in geistiger Beziehung schwersten Schaden zugefügt.

Hier muß Hilfe kommen. Hilfe von den Schaffenden selbst, welche gerade jetzt fühlen müssen, daß sie nicht bloß Exponenten ihres Schaffensgeistes sind, sondern auch Exponenten des Volksgeistes. Es muß sich darum handeln, daß die Schöpfer und Träger der Kulturinhalte sich ihrer sozialen Sendung bewußt seien, und diese ist: Die Aufhebung jener Zersplitterung und Isoliertheit des jüdischen Geistes, wie sie heute besteht, durch Zusammenschluß aller Träger und Schöpfer der jüdischen geistigen Welt. Dieser Zusammenschluß muß es ermöglichen, daß die geistige Not der Judenheit vielleicht rascher überwunden wird als die materielle. Für den materiellen Wiederaufbau der europäischen Judenheit wurde das Wort „Produktive Hilfe“ zum Leitmotiv gewählt. Für die Beseitigung der geistigen jüdischen Not ist es noch mehr am Platze. Die erste Voraussetzung aber ist der Zusammenschluß der Menschen des jüdischen Geistes. Er ist leichter zu bewerkstelligen als die Zusammenfassung der heute zersplitterten Judenheit in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung.

Die jüdischen Gelehrten, Schriftsteller und Künstler, alle jüdisch Schaffenden, welche Richtung immer sie angehören, müßten sich zusammenschließen, um die kulturelle Einheitlichkeit, die uns fehlt, und deren Anfänge und Möglichkeiten das Chaos, das über die Welt gekommen ist, zerstört hat, aufzubauen, aufzubauen nicht bloß für den Augenblick, sondern gerade im Hinblick auf das Werk des Aufbaus in Erez Israel. Ohne ein starkes Judentum kann Erez Israel nicht erbaut werden. Auch der jüdische Geist, der in Erez Israel herrschen soll, erfordert geistige Einheitlichkeit.

In Zürich und Wien haben sich vor mehr als Jahresfrist solche Organisationen der jüdischen Gelehrten, Schriftsteller und Künstler unter dem Namen Haruach begründet; in Amerika gibt es Schriftstellervereine, ebenso in Wilna, Odessa und anderen jüdischen Zentren Osteuropas. Sie alle haben bisher nur lokale Wirksamkeit gehabt. Es geht aber um mehr: um die einheitliche Zusammenfassung aller jüdisch Schaffenden. Sie müßte geschehen, um die „produktive Hilfe“ für die jüdische geistige Not zu ermöglichen. Nicht durch Unterstützungen, sondern durch Förderung aller schöpferischen jüdischen Arbeit. Wenn über die Isolierung und Zersplitterung hinaus der jüdische Geist die Kraft hat, die Einheit zu bilden, so muß diese Förderung des jüdischen Schaffens durch die jüdische Gemeinschaft erfolgen. Es wäre daher Pflicht aller berufenen Faktoren, eine solche Vereinigung zu fördern, Pflicht aller jüdisch Schaffenden, an ihr mitzuwirken. Die schon bestehenden Organisationen wären auszubauen, neue zu gründen und alle zu vereinigen. Und in der jüdischen Gemeinschaft mußte dort wo sie materiell und geistig dazu fähig ist (heute vielleicht nur in Amerika und einigen jüdischen Zentren Europas, die noch nicht gebrochen sind), das Verständnis dafür obwalten, da ein Hinauskommen aus der geistigen Not neue Kraft für große Ziele bedeute.

In: Wiener Morgenzeitung, 21.12.1920, S. 1-2.

Oskar Rosenfeld: Uriel Birnbaum. (1924)

             Uriel Birnbaums geistig-bildnerisches Schaffen ruht auf einer religiösen, jüdisch-religiösen Grundlage. Sein Schaffen entströmt einem gläubigen Kern: das Erlebnis des Glaubens gibt der Idee auch die Maße für die Form. Es erfüllt ihn ganz, auf allen Stufen seiner Entwicklung hat es ihn begleitet, die Streifungen in die abseits gelegenen Gebiete, denen kein Künstler sich versagen darf, ergaben nur Begleitakkorde zu einer einzigen Melodie. Sein gläubiges Herz bestätigt erst seine Produktion, die Monumentalität seiner Darstellung in der phantasiereichsten Formulierung.

Wenn wir Uriel Birnbaum als religiös durchpulsten, in jüdischer Wesensart schöpferischen Menschen erkannt haben, erfühlen wir auch die Grenzlinie, die ihn von den anderen, von ,jenen“ trennt, denen das „Jüdische Künstlertum“ nur Zeiterscheinung, Maske, Pose, Gedankenarmut sein kann; von den anderen, den Palästina-Reisenden und Mogen Dovid-Kullissenschiebern, die Embleme, Symbole, Allegorien brauchen, um sich als jüdische Künstler affichieren zu können. Denn Uriel Birnbaums Darstellungsart— abgesehen von seiner Darstellungswelt — ist kräftig, eindeutig in sich, bedingt durch seinen Charakter,

sein künstlerisch-religiöses Gewissen, das keinem Kompromiß zugänglich ist. Und sie ist aufbauend, Formen erst schaffend, mit ihnen ringend: ihr Umfang läßt sich nicht hineinpressen in ein einziges Bild. Das große Epos des menschlichen Lebens — es gibt ja eine Bibel— verlangt den großen Atem, verlangt selbst, will man es bildnerisch erfassen, ein Bildespos: nur die zyklische Reihe kann es wiedergeben, kann die dramatisch gespannte oder lyrisch beschwingte Linie der Geschehnisse und der Träume ausklingen lassen. Uriel Birnbaum hat als Künstler nie geirrt. Er ging keinen Schemen nach, schielte nie nach Erfolg, begnügte sich nie mit den Früchten der Alltagsarbeit. Denn er schuf stets unter dem Zwang einer Grundveranlagung. An diese ist die Veranlagung des Einsamen, des Edelmenschen. Seine Zeichnungen (Visionen!) entsprechen nicht der gesellschaftlichen Haltung der Kunst unserer Zeit, sie find bei aller bewußt unmystischen, wirklichkeitsfreundlichen Verklärung innerer Offenbarungen privat bis zur Gefahr, nicht verstanden zu werden — von denjenigen, die sich ein System zur Beurteilung von Kunstwerken zurechtgelegt haben. Innerhalb dieser Bewußtheit regiert ein kompositorischer Geist, der sich zu keinen Extravaganzen, Verschnörkelungen hinreißen läßt: das Malerische ist niemals zugunsten der „Idee“ vernachlässigt. Er malt Bilder, die als solche zu bestehen haben.

„Moses!“ Welcher Abstand beispielsweise vom berühmten Bibelillustrator Gustave Doree, der die biblische Legende nachzeichnet, wie er etwa Zeichnungen zum Ro­binson Crusoe verfertigt hatte, ohne jede innere Verantwortung, ohne jenes Muß, das den Beschauer niederzwingt. Birnbaums zyklische Darstellungen sind Monologe und gleichzeitig Zwiegespräche mit Gott, keinem illustrativen Gebrauchszweck dienend, letzten Endes Tagebuchaufzeichnungen seiner Träume und Erschütterungen. Von ihnen geht daher eine Wirkung aus, die es möglich macht, daß das göttliche Wort wiedererlebt werde aus dem Geist der ewigen jüdischen Allheilsidee.

Im Stofflichen gibt es kein Anklammern an das Mythologische. Die göttliche Idee des Judentums ist kein Mythos, sie ist täglich neu zu erlebende Wirklichkeit. Das Licht, das die Legende umwebt, die Farbe, die in den Landschaften aufblüht, ist irdischen Glanzes, die Form ist aus dem Geheimnis der seelischen Entladungen des Künstlers geboren.

Ein solches Dasein muß zum Erwecker der Sittlichkeit in der Kunst werden, die nur aus dem Bestrahlen durch den göttlichen Funken erklärbar gemacht werden kann. Und diese Sittlichkeit redet zu keiner Klasse und zu keinem Zeitalter, sie erschließt sich jedem, der in sich selber etwas von diesem göttlichen Schauen und Erschauen besitzt, als Mittlerin zwischen dem einsamen Schöpfer und der Welt.

In: Wiener Morgenzeitung, 8.6.1924, S. 4.

Jakob Rosenthal: Werdende Literatur. (1934)

An dem Tore der junghebräischen Dicht­kunst steht der hebräische Dichterfürst, der heute 61jährige Chaim Nachman Bialik, der größte lebende nationale Dichter der Juden seit der spanischen Hochblüteperiode des hebräischen Schrifttums. Bialik, dessen Dichtungen heute bereits in fast alle Kultursprachen der Weltliteratur übersetzt sind, ist gleichzeitig geistiger Führer und Symbol jener großen Teile des zeitgenössischen Judentums, deren Seelen von der großen Sehnsucht nach Erneuerung und Ausbau ihrer Volkshaftigkeit erfüllt sind.

                                                                                 *

Die seelische und geistige Revolutionserneuerung des Judentums, insbesondere des ost­europäischen in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, durch das Auftreten eines Geistesriesen, wie Achad Haam und des genialen Theodor Herzl fand in CH. N. Bialik ihren gewaltigsten, feurigsten dichterischen Interpreten. Vom ersten Augen­blick an, da er mit seinen Dichtungen noch als Talmudjünger vor die Öffentlichkeit trat, wurde er als das große Gnadengeschenk empfunden, welches das historische Schicksal dem Volke beschieden hat. Gleich sein erstes dichterisches Auftreten war der stärkste Ausdruck und Widerhall der Träume dieser Menschen und jeder seiner späteren Gesänge war das Echo der Hoffnungen, der Sorgen und der Zweifel seines Geschlechtes, der Übergangsperiode in der neuesten hebräischen Historie. Bialik wurde zum Sänger dieser ersten Kämpfer-Generation der modernen national-jüdischen Bewegung.

Heute ist Bialik das geistige Oberhaupt des national-arrivierten Judentums, des nationalen Zentrums der Juden, der Hohe­priester des modernen Jerusalems. Und es ist für den Geist des jüngsten, im Entstehen begriffenen nationalen Gebildes der modernen Geschichte von wesentlicher Charakteristik, daß der eigentliche geistige Führer des jung-jüdischen Palästina kein Politiker, kein Diplomat und kein Militärsmann, son­dern ein Dichter, ein lyrischer Sänger, ein Jehuda Ha-Levy des 20. Jahrhunderts ist. Denn das ist CH. N. Blalik, der erste und größte Klassiker der jung-hebräischen  Dichtkunst.

                                                                                 *

An Freudentagen und festlichen Anlässen, wenn auf den breiten Boulevards Tel-Avivs orientalisches Treiben herrscht, wenn bunte Gruppen im Karnevalszug durch die Stadt ziehen, so ist ihr erstes Ziel, zum Hause des Dichterfürsten zu pilgern, ihn an ihrer Freude teilnehmen zu lassen. Wenn dunkle Kräfte gegen das mühsam zustande­gebrachte Werk giftige Pfeile schleudern, wenn der herrlich blaue Himmel Tel-Avivs durch dunkle politische Streifen verdüstert wird, dann ziehen wieder Zehntausende durch die Straßen der jungen Gartenstadt, stumm und traurig zu Bialik. Von ihm erhoffen und erwarten sie Trost und Erhebung.

                                                                                 *

Das moderne hebräische Schrifttum in Palästina entwickelt sich ganz großartig, Theater und Kunst nicht minder. Und alles geschieht dabei in einem zähen Ringen. Jede der dichterischen Schöpfungen dieses alt-neuen Landes erzählt uns von den Sorgen und Leiden, vom Streben und Kämpfen einer jungen werdenden Gemeinschaft. Unerhört viel geistige Energie, unendlich starke Erlebnisfähigkeit werden dort auf dem schmalen Küstenstreifen am Mittelländischen Meere entfaltet. Der Zahl nach kaum mehr als die Einwohnerschaft einer mittleren Provinzstadt, leben die 250.000 Juden Palästinas ein geistig und seelisch reiches, ungemein differenziertes Leben.

Dort, wo stark pulsierendes Leben herrscht, ist Bewegung, Differenzierung, gibt es Rich­tungen, Meinungen und Strömungen, gibt es Kämpfer, die für die eine oder die andere Idee mit vollem Einsatz ihrer Persönlichkeit eintreten.

In der palästinensischen Literatur von heute spiegeln sich alle Probleme und Fragenkomplexe des stetig wachsenden und schaffenden Palästina wider. Spricht man von den junghebräischen Dichtern, die wohl weit von dem Heros Bialik entfernt sind, ja muß man in erster Linie die Kämpfergruppe Elieser Steinman, Abraham Schlonski und Uri Zwi Grünberg nennen. Wucht und schöpferische Fülle der Ideen, scharfes analytisches Denken bei dem einen, bestechende sprachliche Formschönheit, temperamentvolle Lebens- und Schaffens­lust bei dem anderen, tiefstes nationales Erleben und Aufgewühltsein bei dem dritten, lassen sie als die geistigen Exponenten der jungen Dichtergeneration erscheinen, die das neue, lebendige Palästina künstlerisch vertreten. Dem engeren Kreis Steinmann-Schlonski gehört auch der junge Schriftsteller Dr. Jakob Horowitz an, der Übersetzer und Bearbeiter von Hebbels Judith für das Hebräische Theater. Alles Sein und Geschehen in diesem Lande findet in den Schöpfungen dieser jungen Schriftsteller ihren Niederschlag. Zu Uri Zwi Grünberg, der, wenn auch politisch ein wenig exaltiert, in literarisch-künstlerischer Bezie­hung revolutionierend wirkt, gesellt sich noch der äußerst begabte Dichter Avigdor Hameiri, die beide durch ihr außer­ gewöhnliches dichterisches Talent der jungen Dichterschule neue Impulse und Ideen schenken.

Blicken sie auch alle in größter Verehrung zum Dichterfürst Bialik empor, so führt die junge Schriftstellergeneration dennoch einen Kampf gegen die Richtungen und Vertreter der an sich noch jungen hebräischen Literatur aus der Vorkriegsära. Der Kampf der jungen Schriftstellergeneration hat über das spezifisch Jüdische hinaus, seine Bedeutung. Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, zu hören, was die Exponenten dieser Gruppe Schlonski und Steinmann, gelegentlich ihres seinerzeitigen Besuches in Wien, über diesen Kampf sagten: „Wenn wir nach Europa kommen und über Palästina befragt werden, so haben wir stets dasselbe befremdende Gefühl: Man verbindet noch immer die Vorstellung von Palästina mit einem Stück Folklore, der man natürlich seiner Exotik wegen schon einiges Interesse entgegenbringt. Etwa so: Palästina – ja, das ist Klagemauer, Rahels Grab, weinende, betende Juden usw. Dies ist vor allem die Vorstellung des nicht natio­nal eingestellten Teiles des Judentums. Die Beziehung desselben zu Palästina erschöpft sich in der Vorstellung dieser Denkwürdigkeiten jüdischer Vergangenheit, und man ver­gißt fast ganz, daß dort ein Gemeinwesen in Bildung begriffen ist, bestrebt, das Beste der Kultur Europas und der alten Kultur des Morgenlandes in allen seinen sozialen und kulturellen Äußerungen zu einer neuen Schöpfung zu verarbeiten. Man vergißt an die Plantagen und Fabriken, an die Wasser­kraftwerke am Jordan. Und aus solcher Mentalität heraus fragt man: Wolkenkratzer? „In Jerusalem? Die haben wir doch in New York und Paris. Immer wieder verlangt man von uns, daß wir von der Exotik Pa­lästinas erzählen.“

Allerdings stehen wir in dieser Beziehung nicht vereinzelt da, diese jungen Schriftsteller Palästinas. Ging’s den Russen denn nicht ähnlich? Hat nicht etwa in der ganzen Welt Jahre hindurch das Wolgalied sich als der Ausdruck der tiefen russischen Seele für den Westen offenbart, während gleichzeitig Dostojewski, Tschechow und andere Schrift­steller ganz in den Hintergrund rückten?

Und gegen eine ähnliche Geistesausfassung glaubt diese junge Dichtergruppe auch im heutigen Palästina kämpfen zu müssen, da­gegen, daß der Geist der hebräischen Klassik, der immer nur von dem Gedanken des jüdischen Lebens und seiner Erforschung beseelt war, seltener aber den allgemein-menschlichen Problemen Raum gewährt, vorherr­schend bleibt. Die Kunst der Juden war wohl immer erfüllt von der Eigenart des Volkes und nicht von der Problematik des Individuums, was in der Geschichte der Galuth schließlich begründet ist. Diese junge Dichtergruppe aber kämpft bei aller selbst­verständlichen Betonung des Nationalen gegen ein neues quasi geistiges Ghetto. Der Losung „Fort aus dem Ghetto“ entsprechend, ging die hebräische Literatur des letzten Jahr­zehnts diesen Weg. Innerhalb einer unglaub­lich kurzen Zeit waren die bedeutendsten Werke aus der Weltliteratur von den altgriechischen Tragödien bis zu den Stücken moderner Autoren ins Hebräische übertra­gen. Die europäischen Vorbilder waren nicht nur ein Wegweiser für die Bildung und Ent­wicklung der literarischen Geschmacksrichtung der jungen Dichtergeneration, sondern vor allem dafür, daß in Palästina trotz der spezifisch Palästinensischen Note und Beibe­haltung des jüdischen Timbres, der Blick ins allgemein Menschliche, ins Kosmische nicht verloren gehe. Der Zug ins Kos­mische ist die Richtung dieser jungen Dichtergruppe, die auf eine Synthese

des jungen hebräischen Palä­stina mit der alten abendländischen Kultur hinzielt. Vom „Untergang des Abendlandes“ wollen diese jungen Geistespioniere nichts wissen. Was sie vom geistigen Europa verlangen, ist – um mit den Worten des tiefsinnigen Kritikers Steinmann zu reden –, daß es sie und ihre Be­strebungen ernst und zu – ihrem Schaffen kritisch Stellung nehme. Denn „sie wollen keine geistige Philanthropie“.

*

Ob diese Richtung es vermögen wird, neue Werte in wirklich schöpferischer Synthese für die Zukunft palästinensischen Geisteslebens zu einer vielversprechenden Harmonie zu schaffen, oder ob sie nur den revolutionär­ dichterischen Niederschlag subjektiven Empfindens und Erlebens dieser jungen, in der abendländischen Kultur verwurzelten, an Europa glaubenden Schriftsteller bildet, wird wohl erst die Zukunft entscheiden. Jeden­falls steht jedoch heute schon fest, daß die Werke einzelner Vertreter der palästinensisch-europä­ischen Anschlußidee – wenn man das so nennen darf – wie Steinmanns, die ausgezeichneten Essayisten und tiefschürfenden Romanciers, und Schlonskis, des dichterischen Feuergeistes und Dramatikers, einen in der Gegenwart nicht mehr zu missenden lebensvollen Farbenreichtum in der palästi­nensischen Palette und eine in die Zukunft schwingende Klangfülle in der Symphonie des nach neuen Inhalten und Ausdrucksformen ringenden Palästina bedeuten.

In: Der Tag, 18.3.1934, S. 12.

N.N.: Die Republik und die Juden. (1918)

             Gewaltige Hammerschläge haben das alte Gefüge des österreichisch-ungarischen Staates zertrümmert. Unter Schwierigkeiten und Kämpfen wurde die Republik Deutschösterreich ausgerufen, welche nun ihre Entwicklungen, welche nun ihre Entwicklung nehmen wird. Die 16. Stunde des 12. November 1918 war damit die Schicksalsstunde der habsburgischen Dynastie, deren letzter Monarch in einem bewegten Schreiben von den Völkern Abschied genommen hat. Was geschehen ist, ist am Webstuhl der Zeit nach den Regeln der Geschichte und den unerbittlichen Gesetzen der Logik entstanden und weder der Einzelne, noch kleine Gruppen konnten darauf einen nennenswerten Einfluß nehmen. Der große Kampf richtete sich nicht gegen Personen, sondern gegen Systeme, und auch die Feinde der Monarchie erkennen bei allem Willen zur Freiheit an, daß der Kaiser selbst gute Absichten hatte, aber die Entwicklung der feindseligen Ereignisse nicht mehr aufhalten konnte und ihnen deshalb zum Opfer fiel. Auch wir Juden erinnern uns trotz unserer alten Liebe zur Freiheit und unserer Entschlossenheit, dem neuen Staat als seine alten Bürger unser Bestes zu geben, dankbar an die Tatsache, daß Kaiser Karl nicht die Schuld daran trug, wenn wir ungerecht von Mächten verfolgt wurden, die stärker waren als er und ihn auch selbst schließlich ins Verderben stürzten.

             Jetzt schreiten auch wir Juden mit großen Hoffnungen in die neue Zeit hinein, welche große und schöne Grundsätze verkündet hat. Wir erwarten, daß auch für uns viele Sünden der Vergangenheit begraben werden, unter denen wir zu leiden hatten. Was wir verlangen, ist kein Vorteil, nicht einmal der Schatten eines Vorteils, ist etwas so Selbstverständliches, daß man eigentlich gar nicht davon reden sollte. Wir wollen nichts als Recht und Gerechtigkeit, als die Gleichheit vor dem Gesetz und das Urteil der Menschen. Hoffentlich verschwindet jetzt das eingewurzelte Verbrechen, uns als eine Gesamtheit zu betrachten, der man die Verbrechen Einzelner vergrößert und beschwert zur Last legt, während man alles Gute unterschlägt und übersieht. Man sieht in uns ein Volk des Nutzens und rechnet uns jeden habgierigen Kaufmann zehnmal an. Und doch ruft jetzt der erschütternde Tod des großen Arbeiterführers Viktor Adler der ganzen Welt ins Gedächtnis, wie viele und wie große opferbereite Idealisten unter den Juden leben. Nicht einige von diesen Führern zum Licht sind Juden, sondern zu Hunderten und Tausenden können sie genannt werden. Und nicht nur politische Idealisten haben wir in Massen, sondern auch von reinstem Feuer geläuterte Führer auf allen Gebieten des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, der Wissenschaft, der Kunst, der Literatur, der sozialen Frage. Wird man diese Kräfte befreien und benützen oder sie wie bisher unfruchtbar verkümmern lassen und zurücksetzen?

             Das ist die große Frage, die wir Juden an die Zukunft, an den neuen Staat und seine Machthaber richten. Es fällt uns gar nicht ein, etwas Böses und Schlechtes in unserem Kreis zu schützen oder zu verbergen. Aber der Übeltäter mag allein büßen und wir nicht mit ihm. Wir anderen, die wir die überwältigende Mehrheit der Juden sind und nichts anderes wollen als ehrlich unser freies Leben für uns selbst zu bestreiten und für die die Öffentlichkeit alles Edle und Schöne anzustreben und unterstützen – wir wollen unter dem Schutz der für alle gültigen Gesetze, getragen von der Achtung für gute und redliche Arbeit, gestärkt von der Gerechtigkeit der Moral, frei und offen als Vollbürger die Schwelle der neuen Zeit und des neuen Staates überschreiten.

In: Dr. Bloch’s Wochenschrift. Zentralorgan für die gesamten Interessen des Judentums, 15.11.1918, S. 1.

N.N. [Leitartikel]: Judentum und Völkerbund. (1924)

Die erste Werbeversammlung des jüdischen Völkerbundliga.

             Gestern fand im Festsaale des Ingenieur- und Architektenvereins eine zahlreich besuchte Versammlung der jüdischen Völkerbundliga statt, zu der als Gast und Hauptredner der Präsident der österreichischen Völkerbundliga, Botschafter a.D. Dr. C. Th. Dumba, geladen war. Unter den vielen anwesenden Persönlichkeiten bemerkte man insbesondere den österreichischen Gesandten in Berlin Riedl.

             Der Vorsitzende, Oberrabbiner Dr. Chajes, führte in seiner Begrüßungsansprache die Gründe an. die die Juden bewogen haben, eine eigene jüdische Völkerbundliga zu schaffen. „Es ist unser Bestreben gewesen,“ sagte er, „die jüdische Sache durch eigene jüdische Vertreter beim Völkerbunde vorbringen zu lassen, ferner veranlaßte uns hierzu die Erwägung, daß gerade wir es sind, die das größte Verständnis für die Vorzüge und Schwächen der anderen Volker haben, weil wir uns durch unsere jahrtausendelange Knechtschaft an ihre kulturellen Verhältnisse anpassen mußten. Der dritte Grund für die Schaffung der jüdischen Völkerbundliga soll der sein, daß wir als prägnantestes Beispiel in der Weltgeschichte dafür zeugen, wie wenig brutale Kraft und Unterdrückung auszurichten imstande sind. Wir wurden geknechtet, wie kein anderes Volk und stehen immer noch völlig ungeschwächt da. Der vierte Grund“, schloß Redner, „ist, daß gerade das Judentum es war, das als erster durch seine Propheten den Gedanken der Völkerversöhnung verkünden ließ“.

             Der Präsident der österreichischen Völkerbundliga, Dr. Dumba, dankte für die herzliche Begrüßung und führte aus, daß die Grundlage der Schaffung des Völkerbundes auf zwei Gedanken basiere. Es soll die Wiederholung einer solchen Katastrophe, wie sie der Weltkrieg heraufbeschworen hat, in Zukunft hintangehalten werden, und zweitens sollen die wirtschaftlichen Fäden, welche durch die willkürlichen Friedensverträge zwischen den einzelnen Staaten zerschnitten wurden, wieder angeknüpft werden. Hierauf gab der Redner einen kurzen historischen Überblick über die Entwicklung des Völkerbundes, der, wenn auch unleugbare Fehler, so doch andererseits wieder ungeheure Vorteile habe. Vor dem Kriege bestand das System der Allianzen und des europäischen Gleichgewichtes, das aber in dem Moment gestört wurde, als England sich auf Seite Frankreichs und Rußlands stellte. Dies führte unaufhaltsam zur Katastrophe. Während des Krieges war Sir Edward Grey der erste, der den Gedanken der Völkerversöhnung offiziell aussprach und dann Wilson, der in seinen 14 Punkten die Gedanken aufgriff, die die Vertreter der kriegsführenden und neutralen Mächte im Haag anregten.

                                                      Fehler des Völkerbundes

liegen darin, daß er ebenso wie der Diktatfriede in Versailles gestiftet wurde und daß ihn nur sehr viele, stark einschneidende Kompromisse möglich machten. Nach einer kurzen Darstellung der Konstruktion des Völkerbundes kam der Redner auf seine Aufgaben zu sprechen. Eine seiner Hauptausgaben sei die allgemeine Abrüstung, der er wenigstens schon soweit gerecht wurde, daß die Weiterrüstungen eingestellt wurden. Wohl die wichtigste und schwerste Aufgabe des Völkerbundes sei der Schutz der nationalen und religiösen Minderheiten und gerade in dieser Hinsicht habe er den Juden vieles zu bieten. Aber auch auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiete hat der Völkerbund hohe Funktionen zu erfüllen. Seine erste Tat sei die Sanierung Österreichs. Heute stehen noch drei große Mächte außerhalb des Völkerbundes, Amerika, weil es den Vertrag von Versailles nicht anerkennt, Deutschland und Rußland. Gelingt es auch diese für ihn zu gewinnen, dann wird an Stelle von Allianzen der Verbund seine segensreiche Tätigkeit entfalten können.

Oberrabiner Dr. Chajes dankte dem Vortragenden für seine klaren Darstellungen, die van den Zuhörern mit lautem Beifall belohnt wurden und erklärte, es mute sonderbar an, daß gerade diejenigen, die den Mi­noritätenschutz am stärksten in Anspruch nehmen, die Juden am meisten unterdrücken.

In: Wiener Morgenzeitung, 22.5.1924, S. 1-2.