Edwin Rollett: Der Heimatdichter und sein Erfolg. (1929)
Zu J. C. Heers 70. Geburtstag.
Eine Betrachtung der schriftstellerischen Persönlichkeit J. C. Heers rollt zweierlei Probleme auf. – Und jede Betrachtung eines nicht in der ersten Reihe der Literatur stehenden Schriftstellers vier Jahre nach seinem Tod kann, wenn sie nicht rein philosophisch ist, nur durch die Bedeutung der an ihn gebundenen und in ihm ausgedrückten allgemeinen Fragen und Probleme gerechtfertigt werden, ja wird wohl geradezu nur durch sie veranlaßt und um ihretwillen angestellt. – Sich mit J.C. Heer beschäftigen, heißt mit anderen Worten die Frage der Heimatliteratur aufwerfen, Sinn, Grund, Bedeutung von Stoff, Gegenstand, Hintergrund und Milieu des Romans beleuchten, es heißt aber auch, und das kaum weniger, der Psychologie des Erfolges der schriftstellerischen Publikumswirkung, dem Magnetismus des Romans nachzuspüren, wobei gleich gesagt sein soll, daß zwischen diesen beiden Fragen ein gewisser Zusammenhang besteht.
Es ist ein Ästhetenmärchen, ein ausgesprochener Aberglaube, daß der Gegenstand des Romans Nebensache ist. Gewiß kann eine geniale Künstlerhand jeden ihr gemäßen Stoff zum Gegenstand formen, kann auf der Entdeckungsfahrt in die Füße des Lebens Gebiete entdecken, deren Vorhandensein bisher als belanglos ignoriert wurde. Das Findergenie des großen Erzählers fährt ja mit jedem wirklich künstlerischen Roman derart die Columbus-Reise über den westlichen Ozean nach Ostindien und erschließt einen neuen Erdteil. Was neben den Genialen und nach ihnen segelt, das lebt aber nicht durch die Tatsache der Entdeckung, sondern von den gewonnenen Kolonialprodukten, nicht durch die Genialität der erstmaligen Tat, sondern durch die Tüchtigkeit der Verwertung des Gefundenen.
Columbusnaturen waren, um auf dem Gebiet der Heimatkunst zu bleiben, unbedingt etwa die Geschwister Brentano, das war im anderen Sinn Fritz Reute, war auch Rosegger, der anfangs seine Entdeckung nicht einmal einzugestehen wagte, und seinen Waldschulmeister irgend wohin nach Tirol verlegte, weil ihm seine Fischbacher Alpen und Mürztaler Berge zu unansehnlich, zu unbekannt erschienen, und er meinte, einen populären Namen als Vorspann benützen zu müssen. Columbusnaturen waren in der Schweiz ganz besonders Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller, der Berner Bauer und der Züricher Bürger, die jeder selbst Ergebnis und Träger der Kräfte ihrer schweizerischen Heimat, mit dem Selbstbewußtsein der Söhne eines jahrhundertelang republikanischen Stammes, dessen Eigenart ohne Beschönigung und ohne Beschränkung einbekannten, darstellten, künstlerisch ausformten, so kräftig und überwältigend, daß Schweizertum und Schweizer Volk literarische Mode wurden.
Auf solchen Fundamenten baute die Schweizer Heimatkunst am Jahrhundertende weiter, begünstigt durch den realistisch naturalistischen Zug, der zu jener Zeit die gesamte europäische Literatur beherrschte und allenthalben dazu verleitete, gewissenhafte Ortsangaben und Zeitbestimmungen durch detaillierte, spezialisierte Schilderung, durch Nachzeichnung wohlbekannter und vertrauter Charaktere zu ergänzen, begünstigt endlich durch die geläufig gewordene Popularität Kellers, begünstigt endlich durch den zunehmenden Fremdenverkehr, der jeden schweizerischen Heimatroman für so viele nicht nur zu einer durch die dargestellten Ereignisse, Schicksale und Stimmungen anregenden, sondern durch Landschaft und Milieu an Sommerfrische, Bergpartie und Erholung erinnernden, also von vornherein angenehm und willkommenen Lektüre machte, weil es sich darin doch um die bekannten Schweizer Berge und Schweizer Herzen handelt.
So ungefähr stellte sich die literarische Konjunkturlage dar, als der Winterthurer Bauernsohn, spätere Volksschullehrer und damalige Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung mit seinem Erstling hervortrat, und was an Material, an Elementen und Ingredienzien zu einem guten Heimatroman nötig ist, das war in // diesen „Heiligen Wassern“ schon reichlich enthalten: das Bauerntum mit echtem Erdgeruch bieder (manchmal bis zur Borniertheit), fromm (oft bis zum Aberglauben), naturhaft (selbst bis zur Unmenschlichkeit) und bodenständig (bis zur erbitterten Feindschaft gegen Besserung des Lebens). Dieses Bauerntum wurzelt ausschließlich und unausreißbar angeklammert in seinem Boden, auch wenn er furchtbar mit ihm umgeht, auch wenn die Heimat zum Fluch wird und ihre Kinder einem Blutbann unterwirft, wie der, der dem Dorf Sankt Peter, hoch oben an der Gletschergrenze, von Zeit zu Zeit immer wieder ein oder ein paar Menschenopfer abfordert, ähnlich dem Lindwurm, der den Städten der Sage solchen Tribut auferlegt hatte. Das Bauerntum der Berge also mit all seinen Mühsalen und Schwierigkeiten ist sozusagen das Rückgrat seiner Romane, jenes harte Bauerntum, das im Sommerfrischler ein so wohltuendes Gruseln erzeugen kann. Daneben Landschaft, sehr viel Landschaft. Darin war Heer ja seit jeher groß, man kann sagen, als Meister vom Himmel gefallen. Durch seine Fähigkeit, eine Landschaft in ihrer Eigenart, ihrem Reiz, ihrem speziellen Charakter zu erfassen und das Erfaßte in Worten festzuhalten, hatte er zu allererst auf sich aufmerksam gemacht. Als der Reisende in den Adriagegenden und als Schilderer von Ballonfahrten und den dort gewonnenen Eindrücken, als der Beschreiber der Landschaft aus der Vogelschau war er bekannt geworden. Das alles ist mit großer Solidität und ausgesprochener Tüchtigkeit, ohne Extravaganz, allerdings auch ohne besonderen Schwung in diesen Roman gegeben und schließlich fehlt auch noch der Fremdenverkehr nicht, der Schutzpatron der ganzen schriftstellerischen Richtung, der dem Alpental sogar gegen dessen Wunsch neue, frische Impulse und endlich doch eine Lebensverbesserung zuführt.
Es ist wie ein Rezept, wonach der erste, wonach aber auch so ziemlich alle anderen seiner Romane gebaut sind, selbst sein nachdrücklichster Erfolg Joggeli und sein ausgebreitetster Der Wetterwart. Das Handwerkliche steht im Vordergrund und auch damit ist Heer der typische Vertreter der ganzen Heimatdichter.
Nicht nur ihrer Abstammung nach, die sich ja von bahnbrechenden Genialitäten herleitet, sondern ebenso in ihrer Wirkung ist diese Heimatskunst aber eine gute, löbliche und gesunde Erscheinung, mag sie auch oft in allzu weitgehender Überschätzung des Stoffes diesen zum Selbstzweck erheben und schwelgerisch in ihm verweilen, mag sie auch mitunter das persönliche Interesse des Autors und das erhoffte des Lesers durch übertriebenes Entgegenkommen auszeichnen. Eine gewisse, wenn auch beschränkte Garantie gegen die Gefahr allzu papierenen Literatentums liegt doch in ihr. Hie Kaffeehaus – hie Sommerwohnung! So stellt sich der literarische Antagonismus von Stadt und Land, genauer besehen, dar, so kann man (auch heute noch) das deutsche Schrifttum halbieren, soweit nicht die ganze dünne Schicht in Frage steht, die wirklich Kunst zu schaffen vermag. Und es ist eine Angelegenheit des Geschmacks, nach welcher Seite man sich schlagen will.
Das deutsche Lesepublikum hat seine Entscheidung getroffen: die psychologische Konstruktion der Kaffeehausliteratur bucht manchen Sensationserfolg für sich. Sie lockt mit den Mitteln des Unbekannten, des Seltsamen, des Pathologischen, des Abenteuers, das sich freilich hier meist nicht in geographisch, viel mehr in psychologisch und sozial fremden Regionen vollzieht. Diese Fremde übt gewiß ihre Anziehungskraft. Aber dauerhafter, solider ist jener andere Magnetismus, der von der Assoziation des Bekannten und Geläufigen, vom Wiederfinden eigener Stimmungen und Empfindungen ausgelöst wird. Er beherrscht jene sehr breite Sphäre, in der nicht der abenteuerliche Reiz (allerdings auch nicht die Adelung und Selbsterneuerung durch wahrhafte Kunst), sondern die gegenständige Solidität, die Bürgerlichkeit maßgebend sind. Dieser weit ausgedehnte Kreis des deutschen Bürgerhauses sucht sich die zu ihm passenden Bücher.
Es ist Gebrauchsliteratur, die da gefordert wird, so wie man von Gebrauchslyrik oder Gebrauchsmusik spricht, eine Literatur, die alle Kultur-,// Sozial- und Religionsprobleme nicht in ihrer voller Wucht und Größe erfaßt, sondern in den Regionen des Unterhaltungsbedürfnisses verharren bleibt, die, soweit es sich um Heimatdichtung handelt, einer im Grunde genommen intellektualistischen Neigung huldigt, nach welcher sich die Wechselbeziehungen zwischen Volk und Kunst nicht als ein gewiß beschränkter, aber natürlicher Widerhall eines machtvollen Klanges in mehr oder minder taubem Gestein vollziehen, nicht als das Spiegelbild eines Gipfels im See darstellen (wie es bei Keller war), einer Neigung vielmehr, die meint, über eine hier und dort auf der halben Höhe des Entgegenkommens gespannte Konzessionsbrücke den Wechselverkehr bequem vollziehen zu können. Es ist der Standpunkt, des Sommerfrischlers, des unbeteiligten zufriedenen Beschauers, der hier ganz augenscheinlich dominiert.
Dieses deutsche Bürgerhaus aber beherrscht als der Hauptkäufer den Markt, trägt das Buch, macht seinen Erfolg und bestimmt das Geschäft von Autor und Verleger. Würde denn das Trommelfeuer der Verlagsprospekte, Annoncen und Affichen, würde der Ertrag der glänzenden Abonnentenspekulation, die sich Buchgemeinschaften nennt, würde die nahezu undurchdringliche, sicher unausrottbare Organisation der Freundschafts- und Gefälligkeitskritik auch nur halb den Umfang haben, wenn es anders wäre?
Nicht das Buch als geistige Kraft und geistige Macht ist dabei zu betrachten, sondern das Buch in seiner kaufmännischen Realität, als Ware, deren Werk sich ausschließlich nach der Nachfrage, also nach einer, nicht durch die absoluten Maße der Idee, sondern durch das höchst subjektive Element der Bequemlichkeit bestimmten Skala richtet.
Das Bedürfnis der Käufer bestimmt die Art der Ware, Das leicht faßliche mußte über das ideentiefe Werk triumphieren, das bequem zugängliche über jedes eigenartige und originelle, das nur anschauliche über das symbolische und gedankenstarke, das stofflich reiche über das gegenständlich hochwertige. Dabei ist ein gewisser nicht zu reichlicher ideeller Gehalt als Gewürz höchst willkommen. Zu viel Gewürz aber verdirbt den Braten. Ohne Theatralik der Aufmachung geht es auch nicht ab. Sie muß das ideelle Rückgrat vortäuschen, wo es fehlt, oder die Idylle so lange verkünden, bis sie geglaubt wird. Rein künstlerische Fragen treten in den Hintergrund. Die Gestaltung des lebendigen Sprachorganismus wird unwesentlich verglichen mit dem Gegenstand, der aus leicht zu bearbeitendem Sprachmaterial geformt wird. Daß auch die Literatur eine bildende Kunst sein muß, ist in Vergessenheit geraten.
Mit der Bevorzugung des. Gegenstandes. Hängt aber auch eine andere Erscheinung eng zusammen, die fast erfreulich scheinen möchte und als ein Zeichen der Gesundheit gelten darf: unter all den Büchern, die sich deutsche Heimatliteratur nennen, ist nicht ein einziges, das im Sinne bürgerlicher Sittlichkeit anstößig, das seiner Tendenz nach nicht gut zu heißen wäre. Mag man auch feinen menschlichen Wert noch so sehr in Zweifel ziehen, irgendwo glimmt in jedem Heimatdichter ein Funken echten Idealismus.‘
Nach all diesen Seiten hin kann I. C. Heer als Typus und Vertreter einer ganzen Richtung gelten, als der Dichter der deutschen Bürgerfamilie mit höheren Ambitionen. Das ist vom Standpunkt höchster Kunstkritik aus gesehen nicht eben viel. Das ist aber um so mehr, betrachtet man die Funktion des geschriebenen und gedruckten Wortes im Lebensganzen einer breiten Volksschichte. Es ist im wesentlichen eine Lehreraufgabe, die zu bewältigen ist, um so schwieriger, als sie von den Belehrten nie bemerkt werden darf, auch undankbar, insofern kein ideeller Erfolg sichtbar wird. Es ist die Kleinarbeit des Zwischenhändlers der Kunst, der, in der Mitte des Weges vom Genie zum Banausen stehend, jedem, der beiden die Hand reichen möchte, ein Volksbildneramt, wie so viele andere, nur daß dabei etwas mehr Ertrag abfällt, bei dem es gar sehr auf die Menge des Gebotenen und die Menge der Aufnehmenden ankommt, damit nur irgend etwas vom Guten hängen bleibt.
In: Wiener Zeitung, 18.7.1929, S. 1-3.