Rudolf Henz: Für ein neues Zeitalter. (1925)
Zu den Ergebnissen der katholischen Akademikertagung in Essen.
Weltanschauungsfeste, wie diese letzte katholische Akademikertagung eines war, erhalten ihren vollen Wert nicht nur durch die Begeisterung der Teilnehmer, durch die glänzenden Reden und Debatten, sondern vor allem durch das triebkräftige Nach- und Weiterwirken der aufgestellten Probleme und der aufgezeigten Lösungen. Es ist nicht genug, daß eine Schar überzeugter junger Leute Fragen diskutiert und löst, sondern daß die weiteste für uns erreichbare Öffentlichkeit gleichfalls daran Anteil nehme, und es ist nicht genug, nach solchen Zusammenkünften heimzugehen, froh und stolz zu sein, das Resultat in der Tasche zu haben, sondern es ist Pflicht, mit den Erfolgen nicht zufrieden zu sein und die in festlicher Atmosphäre gewonnenen Erkenntnisse auf der Basis des unerbittlichen Alltags zu verarbeiten. Gerade das der Essener Tagung zugrunde gelegte Gemeinschaftsproblem kann in diesem Sinne ein dauerndes, ein praktisch fast unlösbares genannt werden, eines, das eine ungeheure Menge praktischer Kleinarbeit, praktischen Christentums in sich schließt. Aber seien wir uns von vornherein klar, daß der Aufbau einer neuen Gemeinschaft auch das Grundproblem der Zeitüberhaupt darstellt und daß fast die gesamte geistig ehrliche Gegenwart in allen Lagern gerade in dieser entscheidenden Frage auf den Katholizismus als den Retter hinblickt. Wohin immer wir horchen, Notschreie und Jammerrufe, aber nirgendwo ein Ansatz zur Erlösung, ja nicht einmal der Wille dazu. „Keine Gegenwehr!“ schreibt ein feinsinniger Wiener Schriftsteller in einem Aufsatz über die „Monotonisierung der Welt“ und „so bleibt nur eines für uns, da wir den Kampf für vergeblich halten: Flucht, Flucht in uns selbst, vollkommene Nachgiebigkeit gegen die äußere, als übermächtig erkannte Zeitgewalt, bei eherner Bewahrung des inneren, unantastbaren Eigen willens“. Individuelle Vollkommenheit als letztes Ziel. Aber gehört nicht eben auch der Gemeinschaftsgedanke zu dieser Vollkommenheit? Der Mensch ist ein soziales Wesen, und wenn die Gesellschaft um uns zum Teufel geht, dann ist es auch aus mit persönlicher Freiheit, mit Eros und Kunst.
Ich weiß wohl zu sehr, welch unübersteigbare Hindernisse sich derzeit einer wahren katholischen Gemeinschaft entgegentürmen, aber eben deshalb bewundere ich die jungen Menschen, die sich dennoch im Namen dieses Gedankens zusammenfinden, nicht um Phrasen zu leiern und sich an Phantomen zu berauschen, sondern sachlich der Wahrheit ins Gesicht zu sehen; nicht in einem idyllischen, friedlichen Winkel, sondern mitten im größten deutschen Industriegebiete.
Wir aber haben die Pflicht, diese Jugend durch selbsttätige und energische Weiterverarbeitung der aufgezeigten Ideen zu unterstützen und zu diesem Zwecke sei aus dem Nach- und Nebeneinander der Debatten und Reden das Wertvollste herausgehoben und zusammengebaut.
Die kulturphilosophische Grundlage, einen knappen Querschnitt durch die Zeit, gab Professor Dr. Dessauer in einer für die „Essener Volkszeitung“ geschriebenen Skizze. „Der Mensch unserer Tage schreitet aus dem Geistesreich der Renaissance in ein neues Land, das er noch nicht kennt, von dem er aber manches ahnt. Noch hat ihn die Renaissance in ihrer Gewalt, mit ihrem gewaltigen Licht des Naturerkennens und ihrer kritischen Ordnung. Dieses Licht strahlte in der Renaissance so stark, daß es allen anderen Glanz zu verdrängen drohte. Je mehr der schreitende Mensch den Grenzen des Renaissancebereiches sich nähert, desto heller glüht anderes Leuchten am Horizonte vor seinen Augen auf.“ Wenn kein anderer Gedanke weiter wirken sollte, als dieser, dann wäre damit schon das Meiste getan. Es ist unmöglich, die Richtigkeit dieser Behauptung hier zu fundieren, in diesem engen Rahmen die große Entwicklungslinie Deskart [Descartes] — Luther bis Stinnes — Lenin zu verfolgen, aber ob wir an Individualismus, Dogmatismus, Relativismus herantreten, an die Entwicklung der Technik, die an sich ja nichts für die heutige Verwirrung kann oder an die Erhebung der Technik zur Philosophie des Lebens, die für alle Not und Zerstörung verantwortlich gemacht werden muß, immer müssen wir um 1914 eine große Cäsur setzen, eine allerersten Grades.
Nur wer nicht hinter die Dinge sieht, kann glauben, daß wir uns in einer Blütezeit des Materialismus befänden. Nur ein ganz Unbewanderter im geistigen Werdegang der Kulturen kann sagen: ich sehe keine Wirkung des neuen Zeitalters. Jede neue Kultur wird eben erst im Menschen geboren, lange, lange eh‘ sie nach außen in Erscheinung tritt. Und wir leben in diesem primären Stadium. Auch wenn wir bloß das Gefühl hätten, daß die rationalistische Denkart nicht mehr für uns ausreicht, wenn wir das Leben, das große, aus der Religion geborene Leben über alles stellen.
Und mit dem Augenblick, da wir den Renaissancemenschen in uns zu Grabe tragen, wird es Licht um uns, wir lernen das Weltbild des Mittelalters wieder verstehen und wissen, daß das neue jenem kongenial werden muß in seinem Verhältnis von Mensch zu Gott und von Mensch zu Mensch. Nicht Nachäffung, sondern junger Bau auf moderner Grundlage. Dazu aber ist es notwendig, daß wir vor allem den Kern des Gemeinschaftsproblems klar sehen lernen, das soziale Problem. Nicht auf dem Wege der „Betäubung“, wie Dr. Dessauer sagt. sondern auf dem Wege der „Wirklichkeit“.
Und das hat Schriftsteller Josef Joos in klarer und aufrechter Art getan. „Wir sind im Industrierevier“, führte er aus, „uns umgeben hier Großtaten menschlicher Energie und Wirtschaftsorganisation, Riesenwerke gemeinschaftlicher Arbeit reden zu uns. Steht ein Gemeinschaftsbewußtsein der handelnden Menschen dahinter? War es vorhanden? Ist es im Werden? Wir würden uns selbst täuschen, wenn wir solches annähmen.“ Denn, so fragt er, wo sind die Menschen schlechthin, die einander finden könnten? Sie alle sind gehetzt, der Zechendirektor und der Grubenarbeiter, und so kann es im heutigen Produktionsleben keine Gemeinschaft mehr geben, es sei denn, daß die Produktion und die Produzierenden sich selbst wieder in der richtigen menschen- und christenwürdigen Rangordnung der Lebenswerte zu sehen bemühten. Wenn oben und unten höchstes Streben Eigentum und einziges Ideal Besitz heißt, wie soll da Gemeinschaft werden? Die Massen sind krank, besser „gekränkt“, in ihrem Bestreben nach Persönlichkeit. Dem kann durch soziale Gesetzgebung zum Teil abgeholfen werden, das letzte aber bleibt der soziale Mensch. Was fehlt, ist die Ehrfurcht vor dem Menschen, ist persönliches Eintreten, persönliche Karitas im höchsten Sinne, persönliche Initiative überall dort, wo wir heute gewohnt sind, einfach den Staat einzuschalten. Gemeinschaft im tiefsten Sinne ist eben die seelische und praktische Haltung, die aus der tiefsten Erkenntnis von der Größe des Mysteriums des Leids und des Elends strömt.
Gerade in deutschen Landen fehlt dieser Gedanke. Anderswo sind die sozialen Gegensätze schärfer, aber nirgendwo fanatischer in Wirklichkeit umgesetzt. Da tritt an den gebildeten Katholiken die Pflicht heran, die Isolierung aufzugeben, die aufgerichteten „Glaswände“ zu durchbrechen, sich klar zu werden, daß auch ein Nationales ohne das Soziale undenkbar ist, in akademischen Korporationen nicht neue Mauern aufzurichten und die wahre harmonische Bildung zu suchen, die von selber zur Gemeinschaft führt.
Die Frage „Wozu ist der Mensch auf Erden?“ ist die Grundlage nicht bloß jeder Religion, sondern auch jeglichen sozialen Bewußtseins. Und für den religiösen Gebildeten gibt es eigentlich keinen Gegensatz zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft. Der Weg zu ihr führt nur über die Persönlichkeit, die zur wahrhaften Bildung, zur Liebe aufgestiegen ist.
Aus zwei Wurzeln kann also das neue Gemeinschaftsgefühl erwachsen, aus einer restlosen Aufläuterung der Persönlichkeit und aus einer der Verantwortung bewußten, ethisch gerichteten Wirtschaft.
Die zweite Frage hat Universitätsprofessor Doktor Götz-Brief eingehend beleuchtet. Die Zeit, da man Ethik und Wirtschaft nicht nebeneinander nennen durfte, sei vorüber. „Die Konjunktur der Moral im Steigen“. Ein schreckliches, aber auf die nicht immer lauteren Gründe ganz passendes Wort. Folgende Vorgänge kennzeichnen nach Dr. Brief die heutige Entwicklung: 1. Eine starke Konzentration der Wirtschaftsmächte, 2. Vernichtung zahlreicher selbständiger Unternehmerexistenzen, 3. Vieler freier Berufe und des Mittelstandes und 4. ein ungeheurer Proletarisierungsprozeß. Die Zinsfrage, die der Proletarisierung des Mittelstandes und die Lohnfrage stehen im Vordergrunde. Die Hauptfrage des Proletariats aber ist, daß der Arbeiter „dauernd und erblich in seiner Abhängigkeit steht, ohne Aussicht auf Erneuerung“. Hiefür gibt es nun negative und positive Lösungen. Erstere die soziale Revolution und Unterdrückung des Nachwuchses, letztere die kraftvolle Herrschaft des Staates über die wirtschaftlichen Mächte. Die Leiter der Konzerne und Syndikate „müssen unter den vollen Druck der Ver-//antwortlichkeit gestellt werden. Sucht man nicht diese positiven Lösungen, dann wird eine Katastrophe unausbleiblich sein!“ Die Aussprache, die sich an diese Darlegung schloß, gehört zu dem Interessantesten der praktischen Tagungsarbeit. Griffen hier doch Arbeiter und Führer ein in Fragen, in denen die nächsten praktischen Lösungsmöglichkeiten liegen. In der scharfen Verurteilung der Konzerne war man einig, auch die Forderung nach Zusammenschluß der katholischen Unternehmerschaft verdient größte Beachtung, vor allem aber die Ausführungen P. Hürths, daß es keine differenzierende Moraltheologie gebe und daß die Grundsätze der katholischen Moral für alle Katholiken in allen Lebenslagen bindend seien. Eine Selbstverständlichkeit, die, in restlose Praxis umgesetzt und wenn sie dem Arbeitnehmer auch den letzten Zweifel an der Ehrlichkeit dieser Forderung nehmen würde, ein gewaltiger Schritt zur wahren Gemeinschaft wäre.
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Wenn hier also scharf gegen den modernen Kapitalismus aufgetreten wurde, so gelangt Abt Dr. Ildefons Herwegen von der geistig kirchlichen Seite her zur gleichen Verurteilung: „Auf der Seite Christi ist eine Weltanschauung des Kapitalismus und ihre Folge unmöglich, und wenn sie doch da auftreten, so bedeutet das schon einen Abfall von Christus“. Das Christentum hat die soziale Zerklüftung der Antike überwunden und ist auch fähig, heute das Gleiche zu tun, denn die eigentliche christliche Volksgemeinschaft ist die Kirche, in der alle als Glieder des mystischen Leibes Christi eine hohe Würde haben. Hier ruhen die religiösen Wurzeln der Gemeinschaft; einerseits das Wissen, daß jeder Beruf Ruf von Gott ist, eine nicht immer leichte und heute für den fast zum Maschinensklaven gewordenen Arbeiter eine sehr schwere Sache, anderseits die unbedingte Achtung vor der Würde jeglichen Berufes. Bei der Aufgabe der Weltheiligung ist Dienst an der unscheinbarsten Stelle nicht weniger wichtig als der geistige auf den Höhen der Wissenschaft. Beide Gruppen sind für die Auswirkung ihres Berufes ihrer selbst und der Gemeinschaft willen aufeinander angewiesen. Die soziale Not der Antike ist dadurch überwunden worden, daß einzelne Herren und Sklaven ernst machten mit dem christlichen Wort: „Hast du den Bruder gesehen, so hast du den Herrn gesehen“.
Das ist das Großartige an diesen katholischen Akademikertagungen, daß sie über die Debatten der inneren Organisation, über Fragen des Studentischen hinaus immer den vollen Anschluß an die lebendige Gegenwart und deren Not suchen und finden. Daß sie wie diese Tagung mithelfen, die Gegensätze, die sozialen und geistigen wenigstens unter den Katholiken selbst auszugleichen und aufzulösen. Denn gerade das lebendige Beispiel einer in sich einigen katholischen Gemeinschaft, die alle Klassen und Stände umfaßt, könnte nicht lange ohne Wirkung bleiben.
Ob wir durch solche geistige Aussprachen diesem Ziele näher kommen?
In einem sicher, daß wenigstens die Katholiken sich bewußt werden, daß die geistige Einstellung das Primäre ist — eine Tatsache, die nicht allen katholischen Intellektuellen vertraut ist —. „Wenn diese Tagungen nichts anderes erreichen,“ sagt Friedrich Muckermann, „als nur dieses eine Erlebnis, daß es dem vielbewegten Leben gegenüber eine Verantwortlichkeit gibt, das Wohl und Wehe dieser und jeder Ordnung und also auch jedes einzelnen Menschen abhängig ist von der Tragkraft geistiger Symptome, wenn dies der ganze Erfolg wäre, wir könnten uns bescheiden. Denn gewesen wären in diesem Augenblick die satte Ruhe, der eitle Stolz, der sich absondernde Kastengeist, die Lebensfremdheit, alles, alles, was je der gebildeten Klasse als Makel angehangen.“

