Hermann Bahr : Tagebuch (30. Dez. 1917)
Salzburg, 30. Dezember. Endlich! Es war aber auch höchste Zeit: seit fast zwanzig Jahren ist in Österreich keine neue Jugend mehr erschienen, seit zwanzig Jahren warte ich auf Ablösung! Längst ist meine Jugend alt geworden; um die Vierzig wird’s ja Zeit, daß der Mensch den Schein durchschaut und sich zur Ewigkeit kehrt, aber wer erst so weit ist, taugt dann im Irdischen nicht mehr viel, da taugt nur, wer sich noch von den Täuschungen täuschen läßt, nur der kann sich noch erdreisten. Es ist nicht gut, wenn Alter jung tut. Was bleibt ihm aber übrig, wenn Jugend alt tut? Ich wünsche mir seit Jahren nichts mehr als in mich hinein den Geheimnissen zu lauschen, das Aug an den Sternen, kaum einmal noch mit einem verwunderten Seitenblick aus den Tag hin. Der Tag gehört der Jugend in ihrem Wahn! Erinnerung, Entsagung, Betrachtung ist des Alters; Wähnen, Walten, Wirken ziemt der Jugend. Was sie fordert, worauf sie drängt, wohin sie treibt, darauf kommt’s gar nicht so sehr an, als daß sie fordere, dränge, treibe! Aber wo blieb sie? Jung ist nur, wer sich gesendet fühlt und eine neue Welt zu bringen meint. Da waren in den letzten zehn Jahren
wir Alten noch immer die Jüngsten. Jetzt aber scheint es endlich, daß mir auch dieser Wunsch erfüllt wird: ein herzhaft junges Blatt kam heut geflogen, Der Anbruch herausgegeben von Otto Schneider und Ludwig Ullmann, nicht bloß im Format an den Berliner Sturm und die Berliner Aktion erinnernd, endlich ein Versuch, die neue Jugend Österreichs zu sammeln! Ullmann kenn ich noch aus der Zeit, als er sich, mit Paul Stefan und Erhard Buschbeck zusammen, um den Akademischen Verein bemühte. Nun kündigt er hier eine Jugend an. „so radikal wie kaum eine, berückend in ihrer Nüchternheit und eisern in ihrem sprühenden geistigen Glanz“, und mit der Leidenschaft, „Exaktheit und Rausch zu vereinen“. Also ungefähr, was Robert Müller immer predigt, und fast mit den nämlichen Worten. Robert Müller hat sich ja seinen Namen zuerst als Phantast der Nüchternheit, als
Romantiker des Betriebs, als eine Kreuzung von Zarathustra mit Roosevelt gemacht. Ihm scheinen eleusinische Mysterien von Cowboys der Großindustrie vorzuschweben. Je weniger ich mir das vorstellen kann, desto neugieriger wär ich. Er hat sehr viel Verstand, was heute selten ist, und hat dazu, was noch seltener ist// auch Phantasie, und nicht bloß von der schnüffelnden, anschmeckenden Art, sondern eine schaffende. Nur macht er von so hohen Gaben einen etwas sonderbaren Gebrauch: er benutzt den Verstand nicht, um die Phantasie zu zügeln, und die Phantasie nicht, um den Verstand zu füllen, sondern eher umgekehrt, er denkt phantastisch und phantasiert nüchtern, er berauscht sich an Zahlen und rechnet Märchen aus; sein Ideal wäre, als Generaldirektor eines ungeheuren Welttrusts auf ungesatteltem Pferd Haschisch zu rauchen. Ich weiß nicht, ob diese Mischung einen Dichter aus ihm machen wird, er aber ist offenbar überzeugt, daß sie zum großen Politiker genügt, und es kann sein, daß er recht hat; ich glaube es eigentlich auch. Er ärgert einen oft, weil er die Gewohnheit hat, gerade dort, wo man meint: aha, jetzt kommts!, aufzuhören; und man harrt umsonst, er sagt nichts mehr. Es ist aber möglich, daß er nichts mehr sagt, nicht weil er nichts mehr weiß, sondern weil es etwas ist, das überhaupt nicht gesagt werden kann, sondern getan werden muß: er spricht nicht weiter, weil er jetzt handeln müßte. Cäsar hat’s leicht gehabt, den gallischen Krieg zu schreiben, denn er hat ihn ja vorher geführt; vor der Tat sprechen, ist schwer; gar aber statt der Tat, das muß für einen geborenen Täter ganz unerträglich sein! Und vielleicht ist Robert Müller einer, ich hab ihn sehr in Verdacht: was er schreibt, macht mir immer den Eindruck von ungeduldigen Kommentaren zu seinen ungetanen Taten, er ersetzt sich das Tun vorläufig durch Schreiben; dies ist vielleicht für beide nicht das Richtige. Ich wäre dafür, daß er bei den nächsten Wahlen kandidiert; wir gewinnen vielleicht einen Politiker, sicher einen Schriftsteller. Er wird nämlich immer enttäuschen, solange er nicht ganz erfüllt, was sein Geist verheißt: vorläufige Leistungen verzeiht man einer echten Begabung nicht gern. Er hat jetzt auch ein Stück geschrieben: Die Politiker des Geistes (S. Fischer, Berlin), mit Witz, Laune, Temperament, Anmut und Bedeutung genug, um eine ganze Saison zu versorgen. Alle seine Lieblingsideen von einem „Politischen Expressionismus“, der „die schöpferische Willkür neben den Mechanismus“ und „den irrationalen neben den modernen wissenschaftlichen Staat stellen will“, von einer „neuen universalen Rassigkeit“, von irgendeiner geheimnisvollen Aussöhnung des Geistes mit der Maschine kehren da wieder, in ein amüsantes, ja spannendes Theaterstück gefügt, das nur einen Fehler hat, aber einen großen: es verrät, daß in seinem Verfasser noch viel mehr steckt. Und das Publikum, das dafür eine sehr feine Witterung hat, kann das leicht als eine Beleidigung empfinden, es glaubt ja für sein Geld vom Dichter verlangen zu dürfen, daß er schwitze, bis ihm die Zunge heraushängt. Ja dieses Heraushängen der Zunge gilt bei uns für das Merkmal, woran allein man den wahren Dichter erkennen will, experto credo Ruperto! Ich bin ja genügsamer als das Publikum: hätte Robert Müller nichts geschrieben als den prachtvollen kleinen Aussatz: Der Oesterreicher in seinen „Europäische Wegen“ (S. Fischer, Berlin), er wäre mir unvergeßlich, schon um seiner Mundart willen, in der unser altgewohntes Österreichisch oft auf einmal ganz sonderbar neu klingt. Doch es mag sein, daß ich ihn überschätze, weil ich nämlich bestochen bin: er hat einmal meiner Eitelkeit so dick geschmeichelt, er nannte mich einen „Austropäer“, und darauf bin ich unbändig stolz, denn besser läßt sich wirklich gar nicht sagen, was ich gern wäre!

