Otto Abeles: Das Jiddische Theater in Wien. Aufklärendes über die „Freie Jüdische Bühne“ (1924)

             In einem Hinterhaus der dunkelsten Leopoldstadt begann vor vier Jahren die „Freie Jüdische Volksbühne“ ihre Tätigkeit. Baratow entschloß sich dort, vom russischen zum jiddischen Theater überzugehen. Jarno erkannte Eigenart, Kraft und künstlerische Bedeutung dieser Vorstellungen und öffnete dem Ensemble seine Bühnen. Und Liebstoeckl, sehr bewegt nach der ersten Begegnung mit diesem Wiener jiddischen Theater – und sehr erstaunt über die Zrrückhalteung (heraus damit: Verschämtheit) israelitischer Fachkollegen – schrieb in seinem Referat: „Wess Herd dies auch war, hier durft‘ ich rasten“

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             Ich nehme das schöne Wort auf. Inzwischen hat man ja in Wien auch die Abende der „Wilnaer“ und jüngst erst die des New Yorker jiddischen Künstler-Theaters genossen und es ist angebracht, einiges über das Idiom zu sagen, das an diesem Herde gesprochen wird. Über die Menschen, denen dieser Herd Heimat ist. Über die Wärme, die er spendet. Über die Geistigkeit, die seine Flamme nährt.

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             Jiddisch ist die Sprache von rund zehn Millionen und sie ist vom Kai-Jargon ungefähr so weit entfernt, wie etwa die grammatikalisch einwandfreie Freitags-Predigt eines preußischen Reformrabbiners vom wesenhaften Deutsch entfernt ist.

             Kai-Jargon: das ist im besten Falle butterweiche, jämmerliche, um Mitleid bettelnde Sentimentalität – wie bezeichnend, daß sich just das Wort „nebbich“ hier erhalten hat – im schlechtesten (häufigsten) Falle aber zynischer Fatalismus, dem Selbstbeschmutzung eine erheiternde Angelegenheit ist.

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             „Jiddisch“, das ist ungebrochene Kraft der Empfindungen (himmelweit entfernt von degenerierter Sentimentalität), Inbrunst, Leidenschaft, Freude, rasender Schmerz, Humor – hohes Lebensgefühl. Es sind nicht nur Beispiele für die Prägnanz der Sprache, sondern weit mehr für die Wesenheit ostjüdischer Menschen, die ich jetzt anführe. Ausdruck für sehr dunkle verzweifelte Lebenslage ist das Wörtchen: „nischt gitt“, für freudigste Dankesbezeigung das Wörtchen: „a Dank“.

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             Die Menschen, in deren Bürgerwohnungen, Massenquartieren, Spelunken, Schnapsbuden, Kellerlöchern dieser Herd steht, kommen ausnahmsweise von der Börse und niemals aus Kaffeehäusern, Nachtlokalen, Redaktionsstuben und von Turfplätzen heim. Sie sind Fuhrleute und Fischer, Schnapsbrenner und Kleinkrämer, Landwirte und Schänker, Talmudisten und Spielleute; sie sind Mystiker oder Zuhälter, hungernde Idealisten oder gemästete Plusmacher, Arbeiter oder Ausbeuter, Höhenmenschen von reinster Gesinnung oder gehaute Gauner – kurz, sie sind das Volk. Sie wohnen im „Städt“ beisammen oder in einsamen Gehöften, die sie nicht trennen können. Sie sind einander verbunden in grausamsten Gefahren, bedroht: von Folternot der nächsten Stunde, aber auch in herrlicher höchstlebendiger Heiterkeit. Sie kennen einander bis zurück ins dritte oder vierte Geschlecht beim Vornamen. Ihre Stuben sind von köstlichen Volksliedern und ergreifenden, frommen Weisen durchzogen, von hundert wesenhaften Mythen und Legenden überrankt, vom Glanz der Feiertagskerzen wunderbar erhellt.

             Unter dem schmutzigen Kaftan schlägt ein Herz, unter dem speckigen, niemals gelüfteten Käppchen sinniert ein ewig junger, ein heißer Geist, und wenn sie bei ihrem Herd sitzen, diese Menschen mit dem unfreien Gang und dem runden Rücken oder jene anderen mit dem vierschrötigen muskulösen Körper, der auch bei schwerster Arbeit in Urvätertracht gezwängt bleibt – dann heimliche Schönheit auf.

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             Höchstes Gut dieser Menschen – auch ihre Sprache zeugt dafür – ist die Lebensbejahung, die naive, trotz aller Bedrängnis ungebrochen fortwirkende, heilige Freude am Dasein. Eine Greisin, die alle ihre Angehörigen als geschlachtete Pogromopfer in der ukrainischen Erde zurückgelassen hatte, sagte mir: „Ich habe so viel mitgemacht, daß ich es verdiente, doppelt so lang zu leben…“

             Wer ostjüdischen Menschentum nahe kommen will, hat sich zunächst den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation klar zu machen. Bekanntlich ist nur für letztere der Seifenverbrauch ein Gradmesser. Dem Judentum fernstehende Menschen, wie Richard Dehmel und Herbert Eulenberg, haben die Wesenheit des Ostjudentums erkannt und es ist Zeit, daß der Westjude die selbstmörderische Unkenntnis des östlichen Judentums abbaut. Der Westjude könnte hier – man verzeihe das pathetische Wort – den Weg zu den Müttern finden.

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             Spiegel des Ostjudentums, Bild seines bunten, naiven Volkswesens, Zeugnis der überraschenden Lebendigkeit und Lebenskraft seiner Menschen ist das Jiddische Theater. Gemeinschaftsgefühl, blutrote Leidenschaft, Weißglut der Ekstase, Liebseligkeit, naive Gläubigkeit, grübelnder Geist, der mit Gott hadert, vor allem aber die unbedingte Bejahung des Lebens, als der herrlichsten Gabe des Himmels, die zu wahren und zu lieben ist, so lange noch ein Atemzug die Brust hebt – dies alles ist hier sinnfällig im künstlerischen Gleichnis gezeigt.

In: Die Bühne, H. 2 (1924), S. 28.

O.M. Fontana: Werden der Dichtung. Versuch einer Selbstanalyse (1929)

Die neuere, wieder aus Spezialfertigkeiten und Einzelwissen zu einer geistigen Zusammenfassung strebende Medizin hat für das rätselhaft Bestimmende und Beharrende im Menschen den Ausdruck: Tiefenperson gefunden. Was macht nun den Dichter? Daß diese Tiefenperson, die im sogenannt normalen Menschen taubstumm bleibt, im Dichter zu hören und zu reden vermag. Wie diese Tiefenperson wird und ist, ergibt sich aus der Konstitution des Individuums und ist aus ihr wissenschaftlich eindeutig abzuleiten. Aber unableitbar, ein Geheimnis – warum die Tiefenperson in jenem taubstumm bleibt, in diesem hört und spricht. Auch so: ich (oder mir lieber: ein anderer) vermag zu sagen, aus welchen Lebensvorgängen heraus, kurz: wie ich dichte und in welcher Weise dieses Gedichtete dem

Ganzen meiner Person entspricht. Aber warum ich dichte, gerade ich in der Reihe meiner Ahnen – wer kann das sagen, besonders im Westen der Kultur, wo jeder glaubt, glauben muß, mit ihm beginne das Leben neu.

Soviel über die Gründe des Dichtens, über sein Geheimnis. Seinen Erscheinungen läßt sich mehr und auch mehr an der Oberfläche Liegen­des abgewinnen. Etwa die Frage: was ist zuerst beim Dichten da – das Gesicht eines Menschen oder seine Seele? Ich kann darauf nur ant­worten: je nachdem, einmal ist es dieses, das andere Mal jenes. Ein Gesicht, dem ich begegne, vermag mich zu verstören und tagelang zu be­schäftigen. Es geht in mir unter, um in neuer Form, mir unbewußt, wieder zu erstehen. So entstand mein Roman Erweckung. Begegnung eines Verlorenen war seine erste Keimzelle. Einen seelischen, einen geistigen Inhalt bis an sein Ende durchzugehen – ich weiß weniges, was für mich verlockender ist. So wurde der Roman, an dem ich jetzt arbeite und der Weiter leben heißt. Er wurde aus der Erkenntnis und dem Durchdenken jener Situation und jenes Lebens­inhalts, die mich und meine Gefährten des Schick­sals bestimmten und bestimmen: unsere Jugend und unser Mannestum.

Wie aber Darstellung immer Gestalt werden muß – das ist der Kampf des Dichters. Ein langer zäher Krieg, in dem große Siege oder Durchbrüche sehr selten sind, in dem es um ein kleines Grabenstück Welt oder Mensch geht. Ich möchte sagen: an seinen inneren Niederlagen wächst der Dichter. Er wird von ihnen nicht er­drückt, er muß sie überwinden. Das gibt ihm Kraft der Erneuerung, das ist seine Wintererde. Dichter ohne diese Inneren Niederlagen gehören jenem Jungentypus an, in dem der Frühlingssaft dichtet und der mit 35 Jahren vertrocknet, erledigt ist.

Wie einer Gestalt, einer Vision, einer Er­kenntnis Welt zuwächst, wie sich dieses Absolute der Tiefenperson mit der Vielfalt der Er­scheinungen mengt, die wir beglückt Leben nennen – das ist das Erlebnis des Dichters. Und auch: wie das von ihm Gedichtete Eigenleben gewinnt, wie sein fiktiver Mensch irgendwohin zu gehen beginnt, wo ihn der Dichter überrascht wiederfindet, und wie eine Idee sich zu ihrer letzten Konsequenz durchringt und den Dichter mit sich reißt. Das sind Dinge, die der Dichter mit sich selbst auszutragen hat, die den Betrachter nicht küm­mern, die aber über Glück oder Unglück, über Gelingen oder Mißlingen eines Werkes ent­scheiden.

Der Kampf des Dichters geht nach zwei Fronten, nach einer geistig inhaltlichen und nach einer formalen. Das Gehörte und Geschaute muß nicht nur Leben bekommen, es muß auch die Grenzen des Lebens erhalten, in denen es jenseits des Chaos, der Anarchie sich erfüllen kann. Ich glaube nicht, was sehr viele und sehr anerkannte Dichter glauben, es gebe feste Formen, in die alles gegossen werden könne. Es genüge zum Bei­spiel in der Epik bei A zu beginnen, um in der Reihe des Alphabets notwendig Z zu erreichen. Ich glaube, daß jedes Leben anders ist und daß darum jeder Roman, jede Geschichte anders sein muß. Ein Baumblatt ist ein Baumblatt, aber jedes ist anders gewachsen. Von innen her. Auch die Form einer Dichtung kann nur vom Inhalt her bestimmt sein. Ich habe darum in meiner

Erweckung dem Aufbrechen verhärteten Menschenseins die knappe große Sinnbildlichkeit

zu geben versucht, die jener ewige innere Vorgang beansprucht. Ich habe in dem Roman von der Insel Elephantine (Katastrophe am Nil) eine Gesellschaft innerhalb ihres Zusammenbruchs an­schauen wollen und sie darum in eine flackernde, nervöse Bilderfolge gestellt. Ich habe in dem Roman Gefangene der Erde den Weg eines Menschen, der den der Menschheit wiederholt, den Weg von der Schönheit des Barbarentums über den Zwiespalt der Zivilisation bis zur Schönheit seelischer Menschhaftigkeit durchschreiten wollen. Wie konnte ich den anders erzählen, als indem ich di« Stationen dieses Wegs, die Unbefriedigung, das Sucherische bis zur letzten Mündung immer wieder und in vielen Spielarten sichtbar machte!

Wann ist eine Dichtung fertig? Ich glaube: nie. Wie die Erde, die Welt, der Mensch ja auch nie fertig ist. Nur die schlechte Dichtung ist fertig. Der Schöpfung fehlt immer der i-Punkt. (Der Wahn, ihn setzen zu können, macht alles Menschenwerk so glückhaft und tragisch zugleich.) Die Schöpfung ist niemals und nirgendwo Kalli­graphie. Die Dichtung sollte es auch nie sein wollen. Wenigstens ich hüte mich davor. Ich glaube: die Dichtung, die wirklich Dichtung ist, bleibt immer im feurig flüssigen Zustand. Nur das erhält sie am Leben, nur das läßt die späte­ren Zeiten zu ihr wiederkehren und, sich in ihr spiegelnd, sich selber wiederfinden. Darum ist nicht der Staub der Bibliotheken, nicht die Literaturkritik oder Professorengeschichte, nicht die Klassikerausgabe jüngstes Gericht des Dichters und der Dichtung, sondern nur das Leben selber, das der Dichter, so er einer ist, immer will und

bis an seinen Grund erlebt. Nichts scheint mir lächerlicher als der Versuch, für „gesammelte

Werke“ zu schreiben.

Ich liebe die Zeit, weil ich in ihr schwebe wie eine winzige Mücke im Licht. Ich liebe die ewigen Dinge, weil sie allein dem Menschen die Kraft zum Höchsten geben: zu lieben. Im Ersten und im Letzten glaube ich, nicht das Individuelle macht den Dichter groß und gültig, sondern das Anonyme.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 16.4.1929, S. 5.

Otto Neurath: Weltanschauung und Marxismus. (1931)

Ist der Marxismus selbst eine Weltanschauung (stützt er sich auf eine ganz bestimmte Philosophie) oder ist er mit deren Lehren verschiedener philosophischer Systeme vereinbar?

Diese Frage setzt stillschweigend voraus, daß es neben wissenschaftlichen Aussagen noch andere sinnvolle gäbe, die mit ihnen sinnvoll verknüpft werden können, die „philosophischen“ oder „weltanschaulichen“. Diese Annahme ist falsch. Es gibt neben der Wissenschaft keine sinnvollen Sätze philosophischer Systeme. Der Marxismus ist als Wissenschaft weder auf eine bestimmte philosophische Grundlegung angewiesen noch hat es einen Sinn, zu fragen, ob er mit verschiedenen Weltanschauungen vereinbar ist.

Es ist insbesondere dem „Wiener Kreis“ um Schlick und Carnap zu verdanken, daß der Nachweis erbracht wurde, man könne nur Scheinsätze neben den Sätzen der Wissenschaft formulieren. Ohne diesen Nachweis hier im einzelnen zu führen, seien seine Grundgedanken kurz dargelegt. 

Unter Wissenschaft wird hier ein System von Formulierungen verstanden, das uns die Möglichkeit gibt, Voraussagen über bestimmte Vorgänge zu machen. 

Nur solche Voraussagen werden zugelassen, von denen man angeben kann, wie sie bestätigt oder widerlegt werden können. Sagen wir zum Beispiel schönes Wetter voraus, so müssen wir angeben können, was für Kontrollaussagen der Wetterwarten einlaufen müßten, damit die Voraussage als bestätigt gelten soll. 

Um zu den Voraussagen zu gelangen, werden die vorhandenen Beobachtungsaussagen gesammelt, Aussagen über Regen und Temperatur, über Luftdruck und // Feuchtigkeit, bis man über Gesetze verfügt (Vorgang der Induktion), die uns die Möglichkeiten geben, durch geeignete Verknüpfungen von Korrelationen Voraussagen zu machen, die dann durch Kontrollaussagen (in A hat es geregnet, in B war Sonne usw.) überprüft werden. […]

Nicht immer kann man über Einzelvorgänge Voraussagen machen, manchmal nur über Gruppen von Vorgängen. Man kann etwa mit genügender Genauigkeit die Sterblichkeit einer Bevölkerung im nächsten Jahr voraussagen, nicht aber, ob ein bestimmter Mensch im nächsten Jahre sterben wird (Statistische Voraussagen).

Die wissenschaftliche Sprache wird so eingerichtet, daß die Beobachtungsaussagen durch Aussagen über eine einheitliche Ordnung ersetzt werden können. In allen wissenschaftlichen Aussagen wird angegeben, wann und wo sich etwas ereignet, wobei die Aussagen eines Blinden, der taub ist, eines Tauben, der blind ist, den gleichen Wortlaut haben. An die Stelle der Worte „periodisch auftretendes Hell und Dunkel“ und der den gleichen Vorgang beschreibenden Worte: „periodisch auftretendes Laut und Leise“ (wenn zum Beispiel ein Blinder mit Hilfe eines Telephons und einer Selenzelle Lichtvorgänge wahrnimmt) tritt eine gemeinsame Formulierung, in der die periodische Schwingung mit ihren sonstigen Eigenschaften ausgedrückt wird; so wie man etwa von einem „Würfel“ spricht, gleichgültig, ob man ein Sehender oder ein Tastender ist. Diese gemeinsame Sprache, die allen Sinnen, allen Menschen gleich gerecht wird, ist die Einheitssprache der Wissenschaft; ist „intersubjektiv“ und „intersensual“.

Am vollkommensten ist diese Sprache in der Physik ausgebildet worden. Sie für alle Disziplinen auszubauen, ist Aufgabe des Physikalismus. Er begründet die Einheitswissenschaft mit ihrem Schatz von Gesetzen, die alle so formuliert werden, das jedes mit jedem kombiniert werden kann. Will man zum Beispiel voraussagen, wie sich ein Volksstamm bei Gewitter benehmen werde, so muß man ebenso die Gesetze des Gewitters wie der Soziologie kennen. Es gibt zwar Gesetze einzelner Wissenschaften, die man aus der Einheitswissenschaft herausschneiden kann, man kann aber nicht jede Voraussage einer bestimmten Wissenschaft zuweisen. 

Die physikalische Einheitssprache der Einheitswissenschaft bemüht man sich so aufzubauen, daß Scheinsätze von vornherein ausgeschlossen werden. Eine Rechenmaschine läßt nicht zu, daß man Rot mit fünf multipliziert oder die Tugend aufs Quadrat erhebt. Aber unsere Sprache erlaubt, daß man von einem „Nachbar ohne Nachbar“ spricht, von einem „Sohn, der nie Vater oder Mutter gehabt“. Daß das sinnleere Begriffe sind, sieht man freilich leicht ein, Aber viele Menschen hängen an Begriffen, wie: „Kategorischer Imperativ“, und sehen nicht ohne weiteres ein, daß das eine sinnleere Wortverbindung ist. […] Eine gut gebaute wissenschaftliche Sprache verfügt über eine Syntax, die Scheinsätze, zum Beispiel über das „Nichts, das nichtet“ (Heidegger), von vornherein unmöglich macht. 

Die Ausschaltung der Scheinsätze ist sehr wichtig. Aber die dann noch übrigbleibenden Aussagen, die grundsätzlich durch Beobachtungs-// aussagen kontrolliert werden können, können noch immer falsch sein! Die gesamten Sätze primitiver Magie zum Beispiel sind irdisch, durchaus durch Beobachtungsaussagen kontrollierbar, und doch sind nur wenige davon in unserem Wissenschaftssystem wiederzufinden. Das gleiche gilt von astrologischen und anderen Behauptungen. Es bedarf ganz anderer Mittel, um zu zeigen, daß eine durch Beobachtungsaussagen grundsätzlich kontrollierbare Behauptung nicht zutrifft.

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Beschreibt man das Verhalten des Einzelmenschen im Individualbehaviorismus, so beschreibt der Sozialbehaviorismus in der empirischen Soziologie das Verhalten von Gruppen, die miteinander durch Reize verbunden sind. Menschengruppen werden ebenso wie Ameisenhaufen untersucht. Metaphysiker, wie Sombart, möchten freilich die Lehre von den Menschenhaufen in eine grundsätzlich andere Wissenschaftskategorie wie die Lehre von

den Ameisenhaufen verweisen, weil es bei den Menschengruppen ein „Verstehen“ gebe. Es läßt sich zeigen, daß alles, was damit gemeint sein kann, sich auf räumlich-zeitliche Ordnung zurückführen läßt, so daß der Monismus des Physikalismus ungebrochen ist.

[…]

Für die empirische Soziologie ist zum Beispiel die Lehre vom Staat eine Lehre von Soldaten, Richtern, Bürgern, Bauern usw. mit ihren Telephonen, Straßen, Häusern, Gefängnissen, Gesetzbüchern usw. Die Nationalökonomie ist eine Lehre von den Beziehungen zwischen Gesellschaftsordnung und Lebenslagenverteilung.

Der Marxismus ist in diesem Sinne empirische Soziologie. Wer als Marxist nach Korrelationen zwischen den einzelnen soziologischen Vorgängen sucht, bedarf keiner philosophischen Grundlegung. Man mache Voraussagen über das Eintreten von Krisen, Revolutionen, Kriegen, über die Lebenslagenverhältnisse einzelner Klassen! Die marxistische Einstellung zeigt sich darin, welche Korrelationen angenommen werden. Man hebt gewisse Vorgänge als „Überbau“ hervor und stellt fest, wie ihr Auftreten mit bestimmten Vorgängen der Produktionsordnung „Unterbau“ zusammenhängt. Der Marxist wird ganz besonders darauf achten, alle wissenschaftlichen Formulierungen, also auch die eigenen, als Überbau in Abhängigkeit vom Unterbau zu sehen, das heißt, er wird erwarten, daß gewisse Theorien erst dann auftreten, wenn soziale Umwälzungen im Gange sind. Er wird daher von der Umgestaltung der Gesellschaftsordnung Änderung der theoretischen Aussagen erhoffen.

Andererseits ist die Theorie als physikalistisches Gebilde nicht nur Symptom für bestimmte Änderungen der Lebensordnung, sondern selbst ein Faktor dieser Umgestaltung. So ändert man durch Verbreitung bestimmter Lehren die Ordnung, und schafft so neue Grundlagen für den Ausbau der Theorie. So ist im Marxismus Theorie und Praxis— beides als räumlich-zeitliches Gebilde— aufs engste miteinander verbunden. Die bürgerliche Lehre vom „neutralen“ Gelehrten, der „von außen her“ den Ablauf der Ereignisse studiere, fällt damit weg.

Es ist bemerkenswert, daß Marx und Engels, auch darin ihrer Zeit weit vorauseilend, die vielfach metaphysisch gefärbte Sprache ihrer Umgebung dazu verwendeten, um zu modernen Wendungen vorzustoßen, die vielfach geradezu an den Behaviorismus heranführen. (Deutsche Ideologie): „Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. Der »Geist« hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie »behaftet« zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz, der Sprache, auftritt. Die Sprache ist das praktische auch für andere, also auch für mich selbst existierende wirkliche Bewußtsein.“

Wer die Traditionen des Empirismus hochhält und sich daran erinnert, daß die Materialisten die hier angedeutete Lehre vorbereiteten, wird sie als „Materialismus“ bezeichnen. Wer sich davor scheut, weil die Kirche den Materialismus verfemte, das Bürgertum ihn verachtet, oder wer sich davor scheut, weil die älteren Materialisten, am Mechanismus festhaltend, nicht ohne gelegentliche metaphysische Exkurse einen Standpunkt vertraten, der gerade der beschwingten geschichtlichen Auffassung des Marxismus Hemmungen bereitete, wird die neutralere Bezeichnung „Physikalismus“ vorziehen.

Marxismus als Wissenschaft macht sinnvolle Voraussagen und enthält sich aller Scheinsätze, er hat daher weder positiv noch negativ mit den Scheinsätzen der Philosophen etwas zu tun, mögen sie wie immer formuliert sein. Um den historischen Anschluß zu gewinnen, mag die Beschäftigung mit philosophischen Lehrmeinungen sehr nützlich sein, aber wenn man einmal unter diesem Gesichtspunkt sich weltanschaulichen Studien zuwendet, ist die Erforschung der Theologie wichtiger, weil sie historisch großen Einfluß ausgeübt hat und ausübt und weil die gesamte idealistische Philosophie abgeschwächte Theologie ist.

Diese völlige Trennung von Marxismus und Weltanschauung sagt aber noch gar nichts darüber, wie sich ein Marxist, der in der Arbeiterbewegung wirkt, nun zu konkreten Vertretern weltanschaulicher Scheinsätze innerhalb der Arbeiterbewegung zu verhalten hat, wie zu den Vertretern der Weltanschauungen außerhalb der Bewegung. Die Arbeiterbewegung faßt Menschen gleicher Klasseneinstellung zusammen. Sie ist darauf aus, bestimmtes klassenkämpferisches Verhalten wichtig zu nehmen, und ist an sich weltanschaulichen Einzelneigungen gegenüber eher tolerant. Es ist geradezu ein Element bürgerlicher Taktik, die weltanschaulichen Unterschiede innerhalb der Arbeiterklasse zu betonen, um so die Klassenfront zu sprengen. Anders freilich steht die Sache, wenn die religiöse Gemeinschaft gleichzeitig politische, antiproletarische Gemeinschaft ist. Aber auch dann sind die marxistisch geschulten Freidenker nicht der unmarxistischen Anschauung, daß durch Aufklärung allzuviel zu erreichen sei, sie begnügen sich vielmehr meist damit, die Glaubenslosen zu sammeln und nur zu verhindern, daß die Kinder wieder von Jugend an einer sehr oft antiproletarisch verwerteten religiösen Erziehung ausgesetzt sind. Auch die idealistischen Philosophen treten vielfach, wenn auch unbewußt, als Werkzeuge antiproletarischer Mächte auf und können zu einer Bekämpfung im Interesse proletarischer Entfaltung herausfordern.

Innerhalb der Arbeiterpädagogik kann die Toleranz gegenüber idealistischer Philosophie manchmal dazu führen, daß die Jugend bürgerlicher‘ Ideologie näher gebracht wird, als durch die Zeitumstände ohnehin geschieht. Aber das sind Einzelprobleme, deren Beantwortung durch die Situation des Klassenkampfes bedingt ist, nicht aber durch die theoretische Einsicht, daß der Marxismus als Wissenschaft mit Weltanschauung weder positiv noch negativ irgend etwas zu tun hat.

In: Der Kampf 10 (1931), S. 447-451.

Stefan Zweig: Reise nach Rußland (1928)

Stefan Zweig hat auf Einladung der russischen Regierung an den Tolstoi-Feierlichkeiten teilgenommen. In dem nachfolgenden Artikel beginnt er mit der Schilderung seiner Eindrücke.

Salzburg, 18. Oktober.

Redliche Vorbemerkung.

Welche Reise innerhalb unserer näheren Welt wäre heute auch nur annähernd so interessant, bezaubernd, belehrend und aufregend als jene nach Rußland? Während unser Europa, und besonders die Hauptstädte, dem unaufhaltsam zeitgemäßen Prozeß wechselseitiger Anformung und Verähnlichung unterliegen, bleibt Rußland völlig vergleichslos. Nicht nur das Auge, nicht nur der ästhetische Sinn wird von dieser urtümlichen Architektonik, dieser neuen Volkswesenheit in unablässiger Überraschtheit ergriffen, auch die geistigen Dinge formen sich hier anders, aus anderen Vergangenheiten in eine besondere Zukunft hinein. Die wichtigsten Fragen gesellschaftlich-geistiger Struktur drängen sich an jeder Straßenecke, in jedem Gespräch. In jeder Begegnung unabweisbar auf, ununterbrochen fühlt man sich beschäftigt, interessiert, angeregt und zwischen Begeisterung und Zweifel, zwischen Staunen und Bedenken leidenschaftlich angerufen.

So voll ballt sich jede Stunde mit Weltstoff und Denkstoff, daß es leicht wäre, über zehn Tage Rußland ein Buch zu schreiben.

Das haben nun in den letzten Jahren ein paar Dutzend europäische Schriftsteller getan; ich persönlich beneide sie um ihren Mut. Denn klug oder töricht, lügnerisch oder wahr, vorsichtig oder apodiktisch, alle diese Bücher haben doch eine fatale Ähnlichkeit mit jenen amerikanischen Reportagen, die nach zwei Wochen Cook-Rundfahrten sich ein Buch über Europa erlauben. Wer der russischen Sprache nicht mächtig ist, nur die Hauptstädte Moskau und Leningrad, bloß also in die beiden Pupillen des russischen Riesenleibes gesehen, wer außerdem die neue revolutionäre Ordnung mit den zaristischen Zuständen nicht aus früherer Erfahrung zu vergleichen vermag, sollte, meine ich, lieber redlicherweise verzichten auf Prophezeiung wie auf pathetische Entdeckungen. Er darf nur Impressionen geben, farbig und flüchtig wie sie waren, ohne jeden anderen Wert und Anspruch als den gerade in bezug auf Rußland heute wichtigsten: nicht zu übertreiben, nicht zu entstellen und vor allem nicht zu lügen.

Grenze.

In Niegoroloie erste russische Erde. Spät abends, so dunkel schon, daß man den berühmten roten Bahnhof mit der Überschrift »Proletarier aller Länder vereinigt euch« nicht mehr wahrnehmen kann. Aber auch die so pittoresk und fradiavolesk von romanhaften Reisevorgängern geschilderten Rotgardisten, grimmig bis an die Zähne bewaffnet, kann ich mit bestem Willen nicht erblicken, einzig ein paar klug aussehende, durchaus freundlich Uniformierte, ohne Gewehr und blinkende Waffe. Die Holzgrenzhalle wie alle anderen, nur da statt der Potentaten die Bilder Lenins, Engels, Marx’ und einiger anderer Führer photographisch von den Wänden blicken. Die Revision exakt, genau und geschwind, mit aller erdenklichen Höflichkeit: schon beim ersten Schritt auf die russische Erde spürt man, wieviel Lüge und Übertreiblichkeit man noch totzutreten hat. Nichts ereignet sich härter, strenger, militärischer als an einer anderen Grenze; ohne jeden brüsken Übergang steht man plötzlich in einer neuen Welt. Aber doch, ein erster Eindruck gräbt sich sofort ein, einer jener ersten Eindrücke, wie sie so oft eine erst später bewußt erkannte Situation divinatorisch umfassen. Wir sind im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig Personen, die heute die Grenze Rußlands überschreiten, die Hälfte davon bloß Durch-// reisende, «“Japaner, Chinesen, Amerikaner, die ohne Aufenthalt mit der mandschurischen Bahn nach Hause sausen; das gibt mathematisch einen Rest von etwa fünfzehn bis zwanzig Personen, die mit diesem Zuge wirklich nur nach Rußland reisen. Dieser Zug wieder ist der einzige im Tage, der von London, Paris, Berlin, Wien, von er Schweiz, aus ganz Europa nach dem Herzen Rußlands, nach seiner Hauptstadt Moskau zielt. Unbewußt erinnert man sich an die letzten Grenzen, die man passierte, erinnert sich, wieviele Tausende und Zehntsausende jeden Tag in unsere winzigen Länderchen einreisen, indes hier zwanzig Personen im ganzen ein Riesenreich, einen Kontinent beschreiten Zwei oder drei geradeströmende Eisenbahnadern verbinden im ganzen Rußland mit unserer europäischen Welt, und jede dieser pocht nur matt und zaghaft. Da erinnert man sich an die Grenzübergänge zur Zeit des Krieges, wo auch nur ein siebenmal gesiebtes Häuschen die unsichtbare Linie von Staat zu Staat überschritt, und begreift instinktiv etwas von der augenbliklichen Situation: Rußland ist eine umschlossene Festung ein wirtschaftliches Kriegsgebiet, durch eine Art Kontinentalsperre, ähnlich jener, die Napoleon über England verhängte, von unserer anders eingestellten Welt abgeschlossen. Man hat eine unsichtbare Mauer überschritten, sobald man die hundert Schritt vom Eingang zum Ausgang zwischen diesen beiden Türen getan. 

Umstellung ins Russische.

Noch ehe sich der Zug in Bewegung setzt, Moskau entgegen, erinnert mich ein freundlicher Mitreisender, daß man die Uhr jetzt umstellen müsse, um eine Stunde, von westeuropäischer auf osteuropäische Zeit. Aber dieser rasche Handgriff, diese winzige Schraubendrehung, bald wird man es merken, reicht beiweitem nicht aus. Nicht nur auf dem Zifferblatt muß man die Stunde umstellen, sondern sein ganzes Gefühl von Raum und Zeit, sobald man nach Rußland kommt. Denn innerhalb dieser Dimensionen wirkt sich alles in anderen Maßen und Gewichten aus. Die Zeit wird von der Grenze ab einen rapiden Kurssturz des Wertes erfahren, und ebenso das Distanzgefühl. Hier zählt man die Kilometer nach tausend statt nach hundert, eine Fahrt von zwölf Stunden gilt als Exkursion, eine Reise von drei Tagen und drei Nächten als verhältnismäßig gering. Zeit ist hier Kupfermünze, die keiner spart und sammelt. Eine Stunde Verspätung bei einer Verabredung gilt noch als Höflichkeit, ein Gespräch von vier Stunden als kurze Plauderei, eine öffentliche Rede von anderthalb Stunden als kurze Ansprache.

Aber 24 Stunden in Rußland, und die innere Anpassungsfähigkeit wird sich daran gewöhnt haben. Man wird sich sich schon nicht wundern mehr, daß ein Bekannter von Tiflis drei Tage und drei Nächte herfährt, um einem die Hand zu schütteln, acht Tage später wird man mit gleicher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit wegen der Kleinigkeit von 14 Stunden Bahnfahrt selbst einen solchen »Besuch« machen, und sich s allen Ernstes überlegen, ob man nicht wegen der bloß sechs Tage und sechs Nächte doch in den Kaukasus fahren sollte.

Die Zeit hat hier ein anderes Maß, der Raum hat hier ein anderes Maß. Wie in Rubeln und Kopeken, lernt man hier rasch mit diesen neuen Werten rechnen, man lernt Warten und sich selber Verspäten, Zeit versäumen ohne zu murren, und unbewußt kommt man damit dem Geheimnis der Geschichte und des russischen Wesens nahe. Denn die Gefahr und das Genie dieses Volkes liegt vor allem in seinem ungeheuerlichen Wartenkönnen in der uns unfaßbaren Geduld, die so weit ist wie das russische Land. Diese Geduld hat die Zeiten überdauert, sie hat Napoleon besiegt und die zaristische Autorität, sie wirkt auch jetzt noch als der mächtigste und tragende Pfeiler in der neuen sozialen Architektur dieser Welt. Denn kein europäisches Volk hätte zu ertragen vermocht, was dieses seit tausend Jahren leidensgewohnte und beinahe leidensfreudige an Schicksal erduldet; fünf Jahre Krieg, dann zwei, drei Revolutionen, dann blutige Bürgerkriege von Norden, von Süden, von Ost und West gleichzeitig sich hinwälzend über jede Stadt und jedes Dorf, schließlich noch die entsetzliche Hungersnot, die Wohnungsnot, die wirtschaftliche Absperrung, die Umschaltung der Vermögen— eine Summe des Leidens und Martyriums, vor der unser Gefühl ehrfürchtig sich beugen muß. All dies hat Rußland einzig nur überstehen können durch diese, seine einzige Energie in der Passivität, durch das Mysterium einer unbeschränkten Leidensfähigkeit, durch das gleichzeitig ironische und heroische »Nitschewo« (»Es macht nichts«), durch diese zähe, stumme und im Tiefsten gläubige Geduld, seine eigentliche und unvergleichliche Kraft.

Moskau: Straße vom Bahnhof her.

Kaum aus dem Zuge nach zwei Nächten und einem Tage, ein heißer, erster, neugieriger Blick durch das klirrende Wagenfenster auf die Straße hin. Überall Drängen und Geschwirr, überfülltes, heftiges, vehementes Leben: es sind plötzlich zu viele Menschen in die neue Hauptstadt gegossen worden und ihre Häuser, ihre Plätze, ihre Straßen quellen und kochen über von dieser stürmischen Bewegtheit. Über die stolperigen Pflaster flirren flink die Iswotschiks mit ihren Wägelchen und struppig-süßen Bauernpferdchen Trambahnen sausen blitzschnell mit schwarz angehängten Menschentrauben an der Plattform, dem Strom der Fußgänger stellen sich wie auf einem Jahrmarkt überall kleine Holzbuden entgegen, mitten im Trubel bieten hingekauerte Weiber gemächlich ihre Äpfel, Melonen und Kleinzeug zum Verkauf. All das schwirrt, drängt, stößt mit einer in Rußland gar nicht erwarteten Flinkheit und Eile durcheinander.

Dennoch aber, trotz dieser herrlichen Vitalität, wirkt etwas in dieser Straße nicht voll lebhaft mit. Etwas Düsteres, Graues, Schattenhaftes mengt sich ein und dieser Schatten kommt von den Häusern Die stehen über diesem verwirrend phantastischen Treiben irgendwie alt und zermürbt, mit Runzeln und zerfalteten Wangen, mit blinden und beschmutzten Augenlichtern; man erinnert sich an Wien 1919. Der Putz ist von den Fassaden gefallen, den Fensterkreuzen fehlt Farbe und Frische, den Portalen Festigkeit und Glanz. Es war noch keine Zeit, kein Geld da, sie alle zu verjüngen und aufzufrischen, man hat sie  vergessen, darum blicken sie derart mürrisch und verjährt. Und dann – was so besonders eindrucksvoll wirkt: während die Straße rauscht, redet, sprudelt, spricht, stehen die Häuser stumm. In den anderen Großstädten gestikulieren, schreien, blitzen die Kaufladen in die Straße hinein, sie türmen lockende Farbspiele, werfen Fangschlingen der Reklame aus, um den Vorübergehenden zu fassen, ihn für einen Augenblick vor den phantastisch bunten Spiegelscheiben festzuhalten. Hier schatten die Laden stumm; ganz still, ohne kunstvolle

Türmung, ohne Hilfe eines raffinierten Auslagenarrangeurs legen sie ihre paar bescheidenen Dinge (denn keine Luxusware ist hier verstattet) unter die mißmutigen Fensterscheiben. Sie müssen nicht streiten miteinander, nicht ringen und nicht wettkämpfen, die Kaufladen von nebenan und gegenüber, denn sie gehören doch, die einen und die andern, demselben

Besitzer, dem Staat, und die notwendigen Dinge brauchen nicht Käufer suchen, sie werden selber gesucht; nur das Überflüssige, der Luxus, das eigentlich nicht Gebrauchte, ,,Le superflu“, wie die französische Revolution es nannte, muß sich ausbieten, muß dem Vorübergehenden nachlaufen und ihn am Rockärmel fassen; das wahrhaft Notwendige (und anderes gibt es nicht in Moskau) braucht keinen Appell und keine Fanfaren.

Das gibt der Moskauer Straße (und allen andern in Rußland) einen so eigenartigen und schichsalshaften Ernst, daß ihre Häuser stumm sind und zurückhaltend, eigentlich nur dunkle, hohe, graue Steindämme, zwischen denen die Menschen fluten. Ankündigungen sind selten, selten auch Plakate Und was in roten Schriftzügen breitgerändert über Hallen und Bahnhöfen steht, ruft nicht Raffinements aus, Parfüms und Luxusautomobile, Lebensspielwerk, sondern ist amtliches Aufforderungsplakat der Regierung zur Erhöhung der Produktion, Aufruf, nicht zur Verschwendung sondern zur Zucht und Zusammenhang. Wieder spürt man hier, wie schon im ersten Augenblick, den entschlossenen Willen, eine Idee zu verteidigen, die ernste, zusammengeballte Energie, streng und stark auch ins Wirtschaftliche gewandt. Sie ist nicht ästhetisch schön, die Straße von Moskau, wie die pointillistisch glitzernden, farbensprühenden, lichtverschwendenden Asphaltbahnen unserer euroäischen Städte, abler sie ist lebensvoller, dramatischer und irgendwie schicksalhaft.

(Weitere Artikel folgen)

In: Neue Freie Presse, 21.10.1928, S. 1-2.

Julian Sternberg: Die Judenfrage im Roman (1922)

Rudolf Hans Bartsch: Seine Jüdin oder Jakob Böhmes Schusterkugel.

Das neue Buch Rudolf Hans Bartsch zeigt auf dem Titelblatt das Kreuz und den Stern Davids in inniger Verschlingung. Das Kreuz, wohlgemerkt, nicht das Hackenkreuz. Dieser Roman ist keine Tendenzschrift. Philosemiten und Antisemiten dürften ihn mit gleicher Entschiedenheit ablehnen, und sein Dichter, den bisher die linden, schmeichelnden Wellen der Publikumsgunst auch dort sanft und wohlig umspülten, wo er, sicher gemacht durch seine Erfolge, selbst davor nicht zurückschreckte, Unfertiges und Unreifes zu bieten, wird in Zukunft von Partei wegen gleichermaßen in den Proskriptionslisten der Judenknechte und der Judenfresser geführt werden. Derart hat Bartsch eine gewiß nicht gering zu schätzende Probe von Mut und Bekennertreue erbracht. „Seine Jüdin“ ist kein Pamphlet und weder von den einen noch von den anderen als Propagandaschrift zu gebrauchen. Leider ist der Roman deswegen kein Kunstwerk geworden. Wer „Seine Jüdin“ geschrieben hat, mag meinetwegen Anspruch erheben dürfen auf Tapferkeitsmedaillen aller Grade, aber nicht auf ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft. Der Dichter hat das richtige Empfinden gehabt, daß sich eine uralte Frage dringlicher und gebieterischer aufrichte als je zuvor; aber er hat keine Antwort auf sie gefunden. Und hier ist mit dem Gemeinplatz wenig gedient, daß keine Antwort unter Umständen auch eine Antwort sei. Weil der Generalstabsoffizier Christoph Hebedich, der aus Schlesien stammt, aus Jakob Böhmes, des sinnierenden und weltverbessernden Schusters, versonnener Heimat, sich mit seiner Jüdin nicht auf die Dauer finden konnte, ist keineswegs bewiesen, daß zwischen Arier‘ und Semitentum für alle Zeiten unüberbrückbare Abgründe gähnen. Bartsch läßt es selbst zweifelhaft, ob diese tiefen Schlüchte, über die auch der beschwingte Fuß erlesener und auserwählter Einzelwesen nicht hinüberzukommen vermag, den Juden von allem Nichtjüdischen abtrennen, oder ob nur der Deutsche, der Germane, dessen Seelenkurve sich wie eine Parabel mit ihren Enden im Grenzenlosen verliert, dem Juden unweigerlich wesensfremd gegenübersteht, dem Bartsch den gierigen Hiersein willen als schimpflichen Vorwurf ins Gesicht schleudert. Gretel, die Ausnahmejüdin, verläßt Christoph. Sie nimmt ihm die Kinder, die sie ihm geboren hat, und findet sich zu einem neuen Bund mit einem italienischen Offizier, der heiter ist wie ein italienischer Abend, der zu lachen versteht und anzbeten, dem der Rassenbegriff fremd ist, der keinen Unterschied macht zwischen Jud und Christ. Der Romane hat nichts als Menschentum, wo sich der Germane mystisch eingesponnen hat in wunderlicher Gotik.

Derart scheint mitten im Roman die Fragestellung nicht unwesentlich verschoben. Nicht mehr die Mischehen stehen zur Diskussion, sondern die Dichterhände suchen den Knäuel deutschen Wesens zu entwirren, von dem der kranken und siechen Welt so lange und mit so viel Selbstgefälligkeit die Genesung versprochen wurde. Was freilich Bartsch als des deutschen Wesens innersten Kern angesehen wissen will, scheint kaum als das geeignetste Heilmittel. Er erblickt den Fluch der Menschheit darin, daß sie an sich, und zwar an sich allein, glaubt. Dem Judentum kreidet er als Blutschuld an, daß es die große Lüge in die Welt gesetzt habe, der Mensch sei das Wichtigste, ja er sei alles. Diese Judenlüge habe an Jesus Christus ihren fortdauernden Anwalt gefunden, der als Unvollendeter, als Dreißiger ans Kreuz geschlagen wurde, bevor ihm die indische Weisheit aufgegangen war, daß Tier und Pflanze, Wolke und Stern unsere innigsten Brüder sind, uns völlig gleich und eines mit uns. Diese Auffassung verficht aber bei Bartsch jener Generalstabsoffizier, der sich nach Österreichs Zusammenbruch auf den Schusterdreifuß setzt, nach Jakob Böhmes Schusterkugel langt, ein Schuhmacher und Weltverbesserer dazu. Die Frau aber scheidet von dem Nachdenklichen und Schwerblütigen. Ihr genügt nicht die Versicherung, daß er nicht Feind ihres Blutes sei, nur Feind aller leidenschaft­lichen und gehässigen Menschen aller Rassen. Man kann dies der Frau nicht übelnehmen, wenn er ihr den Peitschenhieb ins Gesicht schnellt: „Zwischen Mensch und Mensch könnt ihr euch Geschäfte machend schieben, zwischen ihn und die Erde nicht!“ Denn das verargen Bartsch und sein Held dem Juden am meisten, daß sie nicht eins zu werden vermögen, mit der Mutter Erde, daß sie die Natur nicht anders betrachten können, denn aus der Ischler Esplanadenperspektive.

Auch Gretel, die Ausnahmejüdin, ist Jüdin geblieben oder sie wird es vielmehr wieder im Laufe des Romans. Zu Beginn wird ihr zugestanden, sie sei keine Jüdin mehr, sei aufgesogen und arisiert. „Hunger nach arischem We­sen“ bilde den Grund zu ihrer Natur. Mädchenhaft wird sie genannt und oft beinahe traurig bescheiden. In der Ehe freilich ist sie eine andere. Nachdem sie sich den Mann und nebenher den christlichen Glauben erobert hat, hilft sie dem Gatten Emporsteigen auf der Leiter der Karriere. Bis der Krieg kommt und auch sie der Sensation, der Begeisterung, dem Soldatenzauber jener Tage völlig unterliegt. Da aber die Zeiten des Druckes und der dumpfen Trostlosigkeit nahen, klaffen die seelischen Gegensätze der beiden Ehegatten drohend auseinander. Die Frau schwört dem Erfolg zu, ihr ist es nicht gegeben, die Pfade des mystischen Schusters Jakob Böhme zu wandeln, die Pfade, die zu sich selbst führen und die ihr Gatte eingeschlagen hat.

Rudolf Hans Bartsch ist sichtlich der Überzeugung, daß er beiden Rassen gerecht geworden ist, daß vollgültige, unanzweifelbare Vertreter des Semiten und des Ariertums auf der Romanbühne stehen, die jetzt Strindbergsche Ehekonflikte, nur ins Konfessionelle übersetzt, durchleben müssen. Die Rechnung kann aber nicht aufgehen, weil sich der Rechenmeister bei der Aufstellung der einzelnen Posten geirrt hat. Christoph, der Eigenbrötler, ist durchaus nicht in jenem Grad die Verkörperung deutschen Wesens, wie es sein Dichter wahr wissen will, und gar erst Grete Lobes, diese Mischung von höchstem Raffinement und einem ins Salonmäßige übertragenen Süßenmädeltum, ist nicht allein unjüdisch, sondern unwirklich überhaupt. Darum ist es höchst gleichgültig, ob dieser Hans seine Grete findet, gleichgültig vor allem für die entscheidende Frage, ob jene Assimilierung möglich ist, die mit öder Gleichmacherei und Entwurzelung des einen oder des andern Teiles nicht verwechselt werden darf. Eines steht jedenfalls fest: Es wäre schlecht bestellt um die Zukunft des Deutschtums, wenn es, nicht nur bildlich gesprochen, in dumpfer Schusterwerkstätte auf die Entthronung des Menschen als Weltbeherrscher warten würde.

In: Moderne Welt, H. 10/1922, S. 16.

Ernst E. Stein: Leo Perutz (1925)

(Eine Betrachtung über den historischen Roman.)

Der Dichter muß die kleinen Einzelheiten der Geschichte und des Lebens mit größter Treue studieren und wiedergeben, doch nur zu dem Zweck, um dadurch die Echtheit des Ganzen glaubhaft zu machen und selbst die fernsten Winkel seines Werkes mit jenem kräftigen Leben zu erfüllen, durch das seine Gestalten und seine Katastrophen an Wahrscheinlichkeit gewinnen.

Viktor Hugo.

Das Historische ist nicht das Einmalige. Es ist das typische und ausgeprägt Ewig- Menschliche, das immer wiederkehrt; die Atmosphärilien jedes Zeit­ alters können sich in einem andern wiederholen und mit ihnen alle Größe und alles Geschehen der Vergangenheit. Und kein Augenblick, kein Geschehnis ist historisch in einem andern Sinne zu nennen als in dem, daß es beispielgebend für alle späteren Wiederholungen ist. Damit eröffnen sich nicht nur der vergleichenden Forschung neue Ausblicke und Möglichkeiten, sondern auch der Literatur, und diese neue Auffassung knüpft sich, vorläufig, an den Namen Leo Perutz und schafft seine Bedeutung. Sie läßt sich nicht besser illustrieren als durch einen Gedanken, der sein letztes Buch, den Roman Turlupin (Verlag Albert Langen München) einleitet, den poetischen Gedanken, daß die französische Revolution von 1789, die wir als ein Novum von einmaligen Dimensionen, als Ergebnis einer besonderen Konstellation politischer und sozialer Motive, Charaktere und Einflüsse zu sehen ge­wohnt waren, daß diese Revolution bereits anderthalb Jahrhunderte früher, unter dem Kardinal Richelieu, fällig war. Fällig, weil die Ereignisse von 1789, wie alle großen historischen Geschehnisse, allgemein menschliche Motive (hier die von 1642) wiederholten.

Ein andres Beispiel wird die Verwandtschaft, ja Gleichheit der geschichtlichen Momente endgültig er­läutern: Leo Perutz hat in einer Novelle von meister­hafter Knappheit und Unentbehrlichkeit jedes nieder­geschriebenen Wortes die Geschichte zweier Menschen aus den untersten Volksschichten geschildert, als deren Kinder der Antichrist geboren wird. (Die Novelle,die diesen Titel führt, ist im Rikola-Verlag erschienen.) Eine Erzählung von behutsamer Tragik und Spann­kraft spitzt sich zu einem paradoxen Aphorismus der Historie zu: der Name des Kindes wird uns bis zur letzten Seite nicht genannt und in scheinbarer sanfter Harmonie schließt das Buch mit der Prophezeiung, daß der Knabe dereinst in stillem und friedlichem Verlauf seines Lebens als Priester und Seelenhirt seine Ge­meinde auf den Weg des Guten führen werde – und dieser Knabe ist Cagliostro, der große Lügner und falsche Prophet, zu dem die Gläubigen aus aller Welt strömen, der sich als Haupt von Geheimbünden erhebt und dem Reich der christlichen Könige und der Kirche unnennbaren Schaden zufügt.

Schon die paradoxe Fähigkeit, eine historische Persönlichkeit, über die wir uns durch Zeitgenossen und Forschung völlig orientiert glaubten, in so neuem Lichte zu sehen und die gegebenen Fakten durch veränderte Auf­fassung neuzugestalten, ist ein Bruch mit der erstarrten Darstellungsweise und eine Verlebendigung der Geschichte von unabsehbarer Fruchtbarkeit für die Kunst des histo­rischen Romans. Sie wird es noch mehr durch die Überlegung, daß nicht gerade Cagliostro als Antichrist hätte aufgefaßt werden müssen, Wunder wirkend und die Seelen betörend, sondern daß den ewigen Widersacher Gottes und der Menschheit ebensogut – wie es der Dichter auch geplant hatte – Luther verkörpern hätte können, der wider den Papst sich erhob, oder Cromwell, der die Macht der Könige brach, oder der Advokatensohn aus Korsika, dessen apokalyptischer Machtwillen eine ganze Welt zwang. Und in solcher sozusagen intimen Beleuchtung bieten uns die Geschehnisse, die sich an diese Namen knüpfen, eine Fülle von Überraschungen, beinahe Offenbarungen; so im Kunstwerk festgehalten, ist die Geschichte nicht mehr „Material“ – sie wird zum Symbol aller Vitalität. Wir können das eine neue Kunst des historischen Romans nennen und werden ihr nicht mehr als gerecht, wenn wir sie als bedeutendsten Markstein, vielleicht als das Ziel seiner Entwicklung ansehen.

Als eine neue Kunst ebenso auch deshalb, weil sie eine neue Technik bedingt. Wir hatten bisher nicht viele historische Romane, sondern nur Romane mit „historischem Hintergrund“, in denen sich frei erfundene Fabeln vor den Kulissen der Geschichte abspielten und denen das zeitliche Kolorit durch gelegentlichen Bezug auf das historische Geschehen verschafft wurde; etwas Brokat und ein paar Dolche, Plaudereien aus der Schule Leonardo da Vincis und einige Terzinen, dann und wann rasselt die Rüstung eines Borgia vorüber, und ein Renaissanceroman war fertig. Nun, das geht heute nicht mehr; für den neuen historischen Roman, dessen Gesetze wir einstweilen nur den Romanen Leo Perutz‘ entnehmen können, dient die Gestaltung eines erfundenen Themas dazu, die Zeit zu gestalten: aus der Geschichte einer Arkebuse und der Lieb­schaft mit einem indianischen Mädchen erhebt sich das Problem der Unterwerfung Mexikos und der Reformation und des ungeheuren Reiches Karls des Fünften; die armselige Sehnsucht und Einfalt des Narren Turlupin, den eine Wahnidee vor sich her treibt, verhindert eine Revolution, die vielleicht größer geworden wäre als die Revolution von 1789. In diesen Romanen gibt es keine Nebenepisoden, das historische Geschehen fügt sich unlösbar in die Handlung ein und schließt sie ab, die erfundenen Vorgänge sind naturnotwendig mit dem ge­schichtlichen Ereignis verbunden. Historie und Fabel sind eins geworden.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.4.1925, S. 5.

Rudolf Olden: Egon Erwin Kisch, der Reporter (1924)

Der rasende Reporter heißt ein neuer Band von 300 Seiten und enthält Berichte des Reporters Kisch. Warum „rasend“? Da das Buch kein Vorwort enthält, aus dem ich die Erklärung abschreiben könnte, so weiß ich es nicht. Dieser Reporter ist, scheint mir, gar nicht durch irgend welche besondere Raserei, Geschwindigkeit, Eile belastet. Er ist ein langsamer, genauer, breiter, sachlicher Erzähler des Geschehenen. Er sagt, ausführlich und Präzis, „was ist“. Höchstes Lob des Reporters!

Man muß, glaube ich, bevor man weiter redet, Mißverständnisse aufklären. Es gibt zu viele der Zeitung Fern- und Nahestehende, die den Reporter als einen Journalisten minderen Grades ansehen, als einen Vorzimmersitzer, Auskunfteinholer, Unterläufel, der die grobe Arbeit in der Zeitung verrichtet und dafür schlecht bezahlt wird. Diese Ansicht ist ebenso richtig wie sie falsch ist. Das heißt also: der Reporter ist allerdings manchmal äußerlich das, wozu man ihn macht. In Wahrheit aber ist er der König des Journalismus, der ihm erst den wahren Inhalt gibt. Die Herzen, die die Artikel und Feuilletons schreiben, tun das meist deshalb, weil es zu keinem Buch langt. Dem eigentlichen, wirk­lichen Zeitungszweck, den Zusammenhang zwischen Ereignis und Leser herzustellen, die Welt von gestern zu schildern, erfüllt einzig die Reporter.

Die Eigenschaften, die man von ihm ver­langt, sind zugleich minimal, und ungeheuer schwer zu erfüllen. Er muß sehen können, was vorgeht, und erzählen können, was er gesehen hat. Von jedem aufsatzschreibenden Bürgermeister, von jedem Ge­richtszeugen wird dasselbe verlangt. Es ist daher sehr merkwürdig, daß ein fähiger Repor­ter so schwer zu finden ist, einigermaßen häufig nur in den angelsächsischen Ländern vorkommt, und in deutscher Sprache geradezu eine Seltenheit bildet. Ich kenne einen, den man unbedingt anerkennen muß. Das ist eben Egon Erwin Kisch. Vielleicht gibt es mehr Re­porter, aber sie sind keine Journalisten. Unter diesen leben fast nur Dichter, Philosophen und Politiker. Wenn sie eine aufgerissene Straße, einen überfahrenen Hund oder eine über­schwemmte Wiese schildern sollen, so schreiben sie von der Unfähigkeit der Regierung, vom Marxismus oder von ihrem Liebesleben. Sie machen das so, man weiß nicht recht, ob weil sie nicht sehen können; oder weil sie nicht schreiben können, was sie gesehen haben; teils auch deshalb, weil sie sich es so schuldig zu sein glauben. Es ist also schließlich doch kein solches Wunder, das Mißverständnis über den Reporter.

Nun noch etwas. Es gibt auch sehr viele Menschen— ein großer Teil des Lesepublikums —, die meinen, erdichtete Geschichten seien interessanter als erlebte, geschehene. Dieser Irrtum hängt mit der Vernachlässigung des Reporterberufes eng zusammen. Kisch ist nicht nur der erste Reporter deutscher Zunge, sondern auch ein Propagandist seines Gewerbes. Er betreibt seine Propaganda auf die vorzüglichste Art dadurch, daß er seine eigenen Reports gesammelt herausgibt. Sie sind geschrieben, um am anderen Tage durch die Rotationspresse zu laufen. Und dabei sind sie heute, nach zehn Jahren oder nach einem Jahre, noch so frisch, so interessant, so fesselnd, wie sie nur am Tage nach dem Erleben ge­wesen sein können. Man trennt sich nur mit Schmerzen von dem Band und greift gleich wieder danach, wenn eine freie Viertelstunde kommt. Und dabei ist da kein anderer Faden als die offenen Augen des Reporters, die so verschiedene Dinge gesehen haben, wie etwa: die Obdachlosen von Whitechapel, die Ver­haftung des Einbrechers Sternickel, Venedig vom Erkundungsflugzeug aus, das in Brand geschossene Skutari, slowakische Auswanderer­ in Le Havre, Wien bei Nacht vom Stephans­turm aus, das Begräbnis einer alten Zimmervermieterin in Kopenhagen, Schweineschlachten am Roeskilde-Fjord, Hopfenpflücken in Saaz, den Kampf zwischen Reichswehr und Hakenkreuzlern in Küstrin — hundert bunte Dinge der Welt, die nichts mit­einander zu tun haben; die durch nichts ver­bunden sind als durch die Sachlichkeit, Lauterkeit, Helläugigkeit, die Klarheit,  Knapp­heit, Wahrhaftigkeit des Reporters Kisch.

Der Reporter, auch schließlich der mangel­hafte, ist der wahre Lehrer des Volkes. Was, darüber muß man sich klar sein, würden wir eigentlich von der Welt und von unserer Zeit wissen, wenn uns nicht jeden Morgen, Mittag, Abend tausend fleißige Männer erzählten, was sie gesehen haben? Niemand möge einwenden, er lese keine Zeitung. So erfährt er durch Erzählen, was die Reporter geschrieben haben. Die Kinder erfahren es von den Lehrern und Eltern, die Historiker schreiben es in die Bücher — gesehen hat es der Reporter. Aber keiner, der deutsch schreibt, sieht besser als Kisch. Er hat einen anderen Sammelband herausgegeben unter dem Titel Klassischer Journalismus. Er hätte auch diesen, mit eigenen Werken gefüllten so nennen können.

In: Der Tag, 21.11.1924, S. 4.

Otto Koenig: Neue Romane und Erzählungen. (F. Werfel: Der Abituriententag, B. Brehm: Der lachende Gott) (1928)

Der neue Roman Der Abituriententag von Franz Werfel (Paul-Zsolnay-Verlag. Wien) zählt zu den stärksten epischen Werken der Gegenwartsdichtung. Er ist die Geschichte einer Jugendschuld. Durch die Erinnerungen, die einer der üblichen Zusammenkünfte ehemaliger Maturakameraden, ein sogenannter „Abiturrententag“. weckt, wird auch das Er­innern an den Mitschüler Adler, einen Ver­schollenen, einen Abgesunkenen der Klasse, lebendig; der Untersuchungsrichter Sebastian glaubt jenen ehemaligen Mitschüler Adler in einem Untersuchungshäftling wiederzuerkennen, der ihm als eines Prostituiertenmordes verdächtig, eben an diesem Vormittag der Abiturientenzusammenkunft vorgeführt worden war. Er glaubt dies, weil er mit jenem befähigten Adler damals um die Herrschaft in der Klasse gerungen, weil er ihn gedemütigt, verführt und ihn schließlich, um sich selbst vor vernichtenden Gymnasialkonsequenzen seiner Jugendstreiche mit Katalogfälschungen und heimlichem Bordellbesuch zu retten, zur Flucht drängte und verhalf, er glaubt dies, weil er an jenem verschollenen Mitschüler schuldig ge­worden ist. In der Nacht nach dem Erinnerungsabend fiebert und phantasiert der aufgewühlte Richter diese fernvergangene Gymnasialschuldtragödie, aus der er durch Auf­opferung jenes andern heil hervorgegangen ist, noch einmal durch. Am darauffolgenden Morgen, im Amt vor dem Inkulpaten Franz Adler, der aber jener andre Franz Adler gar nicht ist, erfolgt im furchtbaren seelischen Ringen um Entsühnung ein Nervenzusammenbruch und durch ihn seelische Befreiung. Tiefe Zu­sammenhänge zwischen dem ethischen Gott in uns und dem Dämon des Selbsterhaltungstriebes offenbaren sich in dem hocherregten, dramatisch komprimierten Werk hinter der Schilderung und Handlung, die mit fein­fühligster Detailmalerei den  kaiserlich öster­reichischen Beamtenstaat, seine Beamtendrillschulen, die Gymnasien und das Provinzmilieu, naturfarbig illuminiert.

Der lachende Gott.

Mit Altösterreich, seinen Gymnasiarchen, sonstigen Unterrichts- und andern Beamten, mit seinem Militär, seinen Kleinstädtern und der Provinzmoral hat es auch der soeben im Verlag R. Piper (München) erschienene Roman Der lachende Gott zu tun. Sein Dichter, Bruno Brehm, ist ein neuer Mann, der aber wegen seiner in dieser Erzählung frappant in Erscheinung tretenden sicheren Schilderungskraft und reifen Begabung mit Ehren empfan­gen werden muß, obwohl sein lachender Gott — ein Priapus ist, der antike, in spätrömischer Zeit besonders eifrig kultivierte Gott männ­licher Zeugungskraft mit dem symbolisch über­triebenen, ungeheuren Phallus, also in unserer Zeit, da die Erotik offiziell nicht mehr religiös überhöht zu werden pflegt, eine frivole Obszönität. — Dieser grün patinierte römische Bronzepriapus wird von einem Bauern in der Nähe einer altösterreichischen Provinzstadt, die der Verfasser so liebevoll und genau schildert wie Goethe das Städtchen seines Hermann, auf seinem Acker ausgegraben. Der Sohn des Bauern, der Schüler am Provinzgymnasium ist und die Figur dem Direktor überbringen will, wird als unbeliebter Bauernsproß von diesem engstirnigen Unterrichtsbeamten in eine Disziplinaruntersuchung hineingetrieben und ausgeschlossen. Die ehrbar verhohlene Erotik der Spießbürger aber kommt durch den lachen­den Gott außer Rand und Band. Der Einzug der feurigen Offiziere und Mannschaften eines ungarischen Infanterieregiments verstärkt die aufstachelnden Reizungen und Wir­kungen. Die drei „destruktiven Elemente“ des Städtchens mischen sich ins Spiel, der lachende Gott wird aus dem Gymnasium gestohlen; die in verschiedenen Gesellschaftsschichten und Menschen in verschiedenen Nuancen aufflammende Sexualität führt zu Lächerlichkeiten, Komödien, Duellen, Orgien, zu Mord, behördlichen Verfolgungen, Verhaftungen und zum aktiven oder auch passiven Selbstmord der kompromittierten Honoratioren, unter denen die Künstlernatur des Zeichenprofessors RabI die sympathischeste ist. Der Dichter versteht sehr wohl in Spannung zu halten, weiß sein Garnisonsstädtchen zwischen der Thaya und Carnuntum vorzüglich zu zeichnen, prachtvoll echte Offiziers-, Beamten- und Provinzproletariergestalten zu formen, die auch dann lebensecht sind, wenn er nach seiner katholischen Idealismen zugeneigten Art eine Ausnahmefigur wie die des gütigen und weisen Religionsprofessors Pichler schildert. Eine leise und klug lächelnde Satire ist dieser Provinzroman aus der altösterreichischen Provinzgarnisons- und Gymnasialstadtskandalgeschichte, die zwischen unverhältnismäßigen, aber in diesem Milieu wahrscheinlichen Katastrophen eindringlich an­deutet, wie der Schuldige, der Gymnasialdirektor, in allen Würden bleibt, während die einzige Konsequenz, die die Provinzgemeinde öffentlich zieht, die ist, daß die straßenkehrenden Lumpenproletarier und Saufbrüderln, die ohnehin „gemütliche Menschen“ sind, die mit dem Eros keine Beziehungen unterhalten, nicht mehr auf dem Hauptplatz lungern dürfen.—

Und dann geistert noch ein tiefes und großartiges Wissen bedeutsam durch diesen originellen Roman: Das Wissen vom Erschrecken vor einer in die Gegenwart tretenden kultischen Vergangenheit, die Ahnung, daß das Bild des Gekreuzigten, in fernen Tagen zufällig auf­erstehend, auch Grauen, Entsetzen und Ver­wirrung anrichten müßte.

In: Arbeiter-Zeitung, 22.12.1928, S. 6.

Hugo Glaser: Die Kaiserin der Liebe (Über A. J. Koenig: Der heilige Palast) (1922)

Der griechische Geschichtschreiber Prokopius von Cäsaren gibt in seinen Memorien ein geradezu er­schreckendes Bild von der Lasterhaftigkeit der Kaiserin Theodora, die an der Seite Justinians, des oströmischen Kaisers, in Byzanz herrschte. Die jüngere Geschichtsforschung, die zur Beurteilung dieser Zeit, des sechsten Jahrhunderts, auch andre Quellen kennt als die Erinnerungen eines von Haß erfüllten Geheim­schreibers, ist geneigt, den Charakter dieser Kaiserin milder zu beurteilen und von den Übertreibungen Prokops sich loszusagen. Jedoch man begreift, daß sie, deren Laufbahn zweifellos in Zirkustheatern und in jenen Häusern, an denen farbige Laternen die Gäste lockten, Stationen machte, auch nach ihrer Thron­besteigung die Vergangenheit der Hetäre nicht völlig vergessen konnte. Aber historisch beglaubigt ist auch, daß sie nicht nur die zur Augusta erhobene Geliebte Justinians war, sondern auch als Herrscherin auf einem Thron saß, den ihre Klugheit und ihr Mut in schweren Tagen zu stützen verstand. Damals zum Beispiel, als der // berühmte Nika-Aufstand das oströmische Kaisertum zu vernichten drohte, der Kaiser und seine Berater zu ver­zweifeln schienen und sie, die Kaiserin, die An­ordnungen zur Unterdrückung der Revolution klar und zielbewußt, grausam und mutig gab.

Es ist klar, daß in dieser Frau die hervorragendsten Eigenschaften, im Guten und im Bösen, vereinigt sein mußten. Es gab auch andre schöne Mädchen in der Hafengasse, sie aber wurde Kaiserin. Den Roman dieses Lebens künstlerisch zu verwerten, die großen Erlebnisse phantasievoll auszugestalten, hat jetzt eine Wiener Schriftstellerin unternommen (Alma Johanna Koenig, Der heilige Palast. Rikola-Verlag, Wien 1922). Und um es gleich zu sagen: das Ergebnis ist ein Roman von so spannendem Inhalt, von einer derartigen Farbenglut, von solch glänzenden Schilderungen, daß er den besten Romanen, die die Verfallszeit einer alten Kultur zum Gegenstand wählten, beigezählt werden muß. Künstlerisch werden hier die Sternchen zusammen­getragen, aus denen das Mosaikbild besteht, und die die Geschichte nicht bot, werden durch die Phantasie ersetzt, die in alle Kühnheiten der justinianischen Epoche einzudringen vermag. Wo die historische Überlieferung versagt, setzt die Dichtung ein; gibt jene die Wirkungen, so vereint diese die Ursachen, die vielen Ursachen, die aus dem kleinen Zirkusmädchen die große Kaiserin machten, die Kaiserin der Liebe.

Auf der Schwelle des Zirkus Konstantinus fand man das weggelegte Kind mit dem amethystenen Doppel­kreuz über dem Hemdchen. Der ganze Zirkus strömte zu­sammen, um das Kind zu sehen, und man gab ihm den Namen Theodora, da es ja doch ein Geschenk Gottes war. Und dort, wo sie auch ihr Leben empfangen hatte, zwischen Käfigen und Tieren, wuchs sie auf und atmete den Geruch der Löwen und Tiger ein. Sie war noch lange ein Kind, als sie zum erstenmal in die Arena trat und tanzend vor der klatschenden Menge die Schleier zerriß, die ihren kleinen Körper verhüllten. Der Bischof Vigilius, der sie damals sah, sagte es gleich: „Dieser Käfer da wird einmal die größte Dirne von Byzanz.“ Die Zirkusspiele gingen indessen weiter. In Pantomimen, die von den Heroinen der Griechen und von den Mysterien der Bibel die Stoffe nahmen, tanzte sie das Spiel der Liebe und ließ den erblühenden Garten ihres Körpers im Dichte der Arena leuchten. Aber eine Unmut, die sich nie verlor, und ein Stolz ihrer Schönheit, die nicht zu übertreffen war, stellte ihre Leistungen hoch über die der andern Zirkusdirnen. Daran konnte auch Prokop nichts ändern, der sich veranlaßt sah, sicherlich nur über höheren Auftrag, gegen die Ver­wendung biblischer Motive bei solchen Zirkusdarbietungen einen scharfen Erlaß zu richten. Unterdes war Theodora herangereist, und den Lustgreisen der Kinderjahre folgte die Legion der Liebhaber: Hekebolos, der Kaufmann, der wie ein Sieger aussah, viel­leicht der einzige, der von ihr geliebt wurde, Krieger und Sieger, die wie Kaufleute handelten, Matrosen und Sklaven, bis wieder eine neue Welle des Lebens Theodora aus den Niederungen emportrug und sie zur Freundin des Griechen Agathon machte. Ein neues Dasein begann, das Leben einer Hetäre, der nichts versagt wurde. Antonina wird ihre Freundin, die Ge­liebte des Feldherrn Belisar, und vielleicht wurde auf diesem Wege die Beziehung zu Justinian hergestellt, ihrem späteren Gemahl.

Der junge Kaiser mag auch sonst von der berückend schönen Hetäre gehört haben. In einer Szene, die an dramatischen Effekten nicht zu überbieten ist, schildert Alma Koenig das erste Zusammentreffen Justinians mit Theodora. Er verlangte, was auch die andern Männer begehrten, und sie verlangte von ihm, wie stets von jedem, alles, was er zu geben habe, nur daß es diesmal eine Kaiserkrone war. Und in derselben Nacht erfolgte die Komödie der Trauung, die aus ihr eine Kaiserin machte, „die gottgesandte und unantastbare Kaiserin…“. In dem heiligen Palast, in der fürst­lichen Siedlung, die zehntausend Menschen beherbergte, wurde sie nun Herrin. Sie war die geborne Herrscherin, und die neue Rolle fiel ihr nicht schwer. Sie wurde die Beraterin in allen Regierungssachen, sie ließ den Nika-Aufstand unterdrücken, sie pflegte den schwerkranken Kaiser auf das aufopferungsvollste, wußte sie doch, daß sein Sterben auch ihren Tod bedeuten müßte. Groß war die Zahl ihrer Feinde: Prokop, der Geheimschreiber, Narses, der Feldherr, das ganze Volk. Und viele liebten sie. So wie früher. Bloß, daß die Liebhaber kein zweitesmal kamen; der Dolch eines Sklaven sorgte für die Verschwiegenheit der Beschenkten…. Grauenvoll war das Ende dieser Kaiserin. Der Wahnsinn tobte in ihr, und aus den Halluzinationen der vom Irrsinn Gequälten drohte gräßlich der Lerchenkops eines getöteten Liebhabers, des letzten, der im Sterben ihr verkündet hatte, er werde wiederkommen, immer wiederkommen.

In diesem Roman, der so reich an prächtig gezeichneten Nebenfiguren ist, ist der Kaiser an zweite Stelle gerückt. Eiseskälte umgibt ihn, Aszetentum und kühlste Diplomatie macht aus ihm eine Persönlichkeit wie aus einer viel, viel späteren, der Renaissancezeit. Er war aber doch auch etwas mehr als der Gatte der Theodora. In Justinian schätzt man den Begründer des Corpus juris, der Gesetzessammlung, die für viele Jahr­hunderte die Grundlage aller Rechtsprechung wurde. Seine Regierung wurde auch bedeutend durch die Zahl der glänzenden Bauten, die er hatte ausführen lassen. In sechs Jahren emsiger Tätigkeit vollendeten zehntausend Arbeiter die Kirche der heiligen Sophia, die jetzt die Hauptmoschee ist. Aber zu der vielfältigen Liebe der Kaiserin stehen diese Taten Justinians in keiner Be­ziehung, und es ist das Recht des Dichters, die Stoffe der Geschichte frei zu gestalten. Auch die Theodora des Romans ist nicht die Theodora der Geschichte. Die Er­innerungen Prokops beeinflussen ihre Wertung, und wenn Prokop von seiner Kaiserin wirklich so gestraft wurde, wie es in dem Roman der Alma Koenig geschildert wird, dann begreift man den Haß, den der Geschichtsschreiber gegen Theodora hegte und der ihn später veranlaßt, ihr in seinen Denkwürdigkeiten das Zeugnis abzugeben, daß sie an Sittenlosigkeit nicht mehr zu übertreffen war. Aber es handelt sich, wie bei allen Romanen, die man als historische oder als kultur­geschichtliche wertet, auch hier nicht darum, die Grenzen zwischen geschichtlicher Ueberlieferung und phantasie­voller Ergänzung zu ziehen. Interessanter wäre die Frage, warum in Romanen aus der Römerzeit immer wieder nur die Epoche des Niederganges geschildert wird, die Zeit, in der die Fäulnis des Reiches, des Westens wie des Ostens, Zustände schuf, aus deren Sumpf eine Theodora eigentlich doch nur als groß­artige Blüte hervorwachsen konnte. Aber die ganze vor­christliche Zeit römischen Heldentums mit ihren so großen Menschen und bedeutsamen Taten hat zuweilen Tragödiendichtern, nie aber zu einem großen Werk einem Romanschriftsteller Interesse geboten. Vielleicht hängt dies mit den Neigungen der Dichter zusammen — oder noch mehr mit denen jener, die ihre Bücher lesen.

In: Neues Wiener Tagblatt, 24.5.1922, S. 2-3.

Ernst Fischer: Ein Mann ohne Eigenschaften. Ein Roman von Robert Musil (1930)

             Endlich einmal, in dem Tumult der nur-aktuellen, nur-lärmenden, nur-marktgängigen Bücher, ertönt die große Symphonie eines Romans, von dem Manne gedichtet, der den Mut hat, nicht für Analphabeten und andere Liebhaber von Kurzgeschichten, Magazinen und „Tempo-Tempo!“- Reportagen, sondern für intelligente Leser zu schreiben. Das ist allerhand; denn von hundert Schriftstellern verzichten neunundneunzig auf diese schwierigen und unerquicklichen Leser, die sich bei den sozusagen effektvollsten Büchern langweilen, die bei den sozusagen spannendsten Fabrikaten der Literatur kaum ein Gähnen unterdrücken können und bereit wären, die wildeste Handlung von zweihundert Seiten für eine halbe Seite Geist und Gescheitheit herzugeben. Hier aber ist das Erstaunliche geschehen: der Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil ist mehr als tausend Seiten lang (den Leser, der auf das „Tempo der Zeit“ eingeschworen ist, wird das nicht wenig abstoßen), und tausend Seiten lang atmet man die helle, hohe Luft von Geist und Gescheitheit. […]

Der Kollektivroman.

             Robert Musil hat eine neue Form des Romans gefunden; das Suchen nach dieser neuen Form hat begonnen, als die Menschen, die Bücher schreiben, erstaunt und beunruhigt entdeckten, daß in diesem Jahrhundert völlig anders gelebt wird, als in den besten Büchern der besten Autoren. Musil drückt das, nebenbei, präziser aus, als es bisher üblich war: „Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten „Faden der Erzählung“, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht… Die meisten Menschen… lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen „Lauf“ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem „Faden“ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.“ Man könnte, mit einem etwas verschwommenen Wort, sagen, daß unser Leben ein „Kollektiv“ ist; und dieses Kollektivleben, dieses Ineinanderfluten und Auseinanderdrängen der ganzen Welt in jedem Einzelwesen, den Wirbel von Geschichte, Gesellschaft, Atmosphäre, Zweckhaftigkeit, Zwecklosigkeit, Illusion, Zufall, Gestirn und Bazillus unter der Haut der Persönlichkeit darzustellen, ist das leidenschaftliche Bemühen aller Schriftsteller, die dem Geiste und nicht dem Büchermarkt dienen. Der „Ulysses“ des James Joyce, „Manhattan Transfer“ von Dos Pas[s]os, der „Alexanderplatz“ von Alfred Döblin und nun der „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil sind die Bücher, in denen diese durchaus neue Methode der Lebensdarstellung kompromißlos angewendet wird.

                                                      Oesterreich-Ungarn.

             Wie im „Alexanderplatz“ das ungeheure Lebewesen Berlin, ist in Musils Roman das geisterhafte Monstrum Österreich-Ungarn das Kollektiv, in dem die Menschen kreisen wie Himmelskörper in einem Sonnensystem, wie Ionen in einem Molekül. Nie zuvor wurde dieses geisterhafte Monstrum, die mythische Monarchie, so traumhaft-wirklich, so gespenstisch-real heraufbeschworen, kein Historiker, kein Satiriker hat ihr innerstes Wesen mit solcher Intensität durchleuchtet. Ja, durchleuchtet: es ist eine Röntgenaufnahme, exakt und dennoch wolkenhaft zart, das Fleisch wie lockerer Schaum, die Knochen wie magische Schatten, die phantastische Sachlichkeit einer Röntgenphotographie. „Die Tage schaukelten und bildeten Wochen. Die Wochen bleiben nicht stehen, sondern verkränzten sich. Und wenn unaufhörlich etwas geschieht, hat man den Eindruck, daß man etwas Reales bewirkt… Stelle Eins schrieb, Stelle Zwei antwortete; wenn Stelle Zwei geantwortet hatte, mußte man Stelle Eins davon Mitteilung machen, und am besten war es, man regte eine mündliche Aussprache an; wenn Stelle Eins und Zwei sich geeinigt haten, wurde festgestellt, daß nichts veranlaßt werden könne; es gab unaufhörlich etwas zu tun. Es gab außerdem unzählig viele Nebenrücksichten zu beachten. Man arbeitete ja mit allen verschiedenen Ministerien Hand in Hand; man wollte die Kirche nicht verletzen; man mußte gewissen Personen und gesellschaftlichen Beziehungen Rechnung tragen; mit einem Wort, auch an Tagen, wo man nichts Besonderes tat, durfte man so vieles nichts tun, daß man den Eindruck großer Tätigkeit hatte.“ Wurde je das Wesen der Habsburgermonarchie, das legendäre „Oesterreichertum“, in eine bessere Formel gebracht?

                                                      „Etwas muß gescheh’n!“

             Folgendes „geschieht“ in dem Roman: Im Jahre 1913 erfährt man in Österreich, daß Deutschland im Jahre 1918 das dreißigjährige Regierungsjubiläum Wilhelm II. großartig feiern will. Was soll man da tun, erstens, um zu zeigen, daß Österreich ebenfalls da ist, und zweitens, um die Preußen zu ärgern? Also, man beschließt, eine Parallelaktion vorzubereiten, das siebzigjährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josef I. soll noch großartiger gefeiert werden. Aber wie? Dem Grafen Leinsdorf, dem Anreger der Aktion, fällt nichts Konkretes ein. Jedenfalls soll es eine „glanzvolle Lebenskundgebung Österreichs“ werden, ein „Markstein“ auf dem Wege zu einem „Ehrenplatz in der Familie der Völker“, und das alles mit dem Besitz eines achtundachzigjährigen „Friedenskaiser“ verknüpft. Das schwebt dem Grafen vor; alles andere ist Aufgabe eines Komitees, das sich in viele Komitees teilt, aus denen wieder ein Zentralkomitee gewählt wird usw. Das funktioniert fabelhaft; nur eine Idee fehlt. Künstler und Wissenschaftler, Beamte und Organisationen werden befragt, tausend Ideen tauchen auf, nur die eine Idee fehlt nach wie vor. Irgendetwas Pazifistisches wäre gut, das paßt zum „Friedenskaiser“, zur „Familie der Völker“ usw., man könnte eine Friedenskonferenz oder eine Spende für den Friedenspalast in Haag…, aber auch dagegen werden Bedenken laut, und auf eine behutsame Anfrage erwidert Seine Majestät mit delphischer Weisheit: „I laß mi net vordrängen!“ So durfte man vieles, nein alles, nicht tut; neue Ideen, neue Widersprüche, achselzuckend lächelt das Österreichertum: „Man kann die Forderungen der Kaiser-Franz-Josef-Jubiläum-Suppenanstalt oder die des Schutzverbandes der Hauskatzenbesitzer verwirklichen, aber gute Gedanken kann man so wenig verwirklichen wie Musik! Was das bedeutet? Ich weiß es nicht. Aber es ist so.“ Es ist so. Immerhin: Die Tatsache, daß ein Komitee in Österreich etwas für das Jahr 1918 vorbereitet, erregt überall Aufsehen. Die Außenministerien ziehen Erkundigungen ein. Die Diplomaten haben zu tun. Die Slawen wittern etwas Deutschfreundliches, die Deutschen etwas Antideutsches, Demonstrationen und Gegendemonstrationen werden veranstaltet, alles in allem: „Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen und man läßt ‚Befehl weitersagen‘ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorn: ‚Der Wachtmeister soll voranreiten‘, so kommt hinten heraus: ‚Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‘ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.“ Schließlich kommt das Jahr 1914. Man weiß noch immer nicht, was 1918 geschehen soll. Aus einer pazifistischen Kundgebung wird wohl nichts werden. Aber General Stumm v. Bordwehr, der in das Komitee hineingeraten ist, niemand weiß genau, wie, hat einen guten Einfall: Wenn man schon keine Weltfriedenskonferenz einberuft, könnte man wenigstens die Armee und die Flotte aufrüsten; das wäre ja auch etwas. Der Roman endet ohne Ergebnis. „Etwas muß gescheh’n!“, davon sind alle überzeugt. Aber was? Das weiß keiner, 1914. Im September wußten es alle. Das liegt wie ein Riesenschatten über dem ganzen Roman. Riesenschatten der Ironie und des Untergangs.

                                                                   Unser Leben – Ein Experiment.

             Ja, dieser Roman, in dem auf tausend Seiten nichts und zwischen den Zeilen Phantastisches geschieht, ist viel mehr als der Roman der untergehenden Monarchie. Dieser „Mann ohne Eigenschaften“ ist der denkende, kalt-leidenschaftliche, skeptisch-abenteuerliche, unruhig-passive Mensch einer unterminierten, von rationalisiertem Wahnwitz durchfieberten, von exaktem Aberglauben durchflackerten Welt. Der Mensch im Höllenbetrieb einer Wirklichkeit, die wahrzunehmen und wahrzuglauben schwieriger ist, als die Zukunft der Menschheit aus den Sternen wahrzusagen. Der Mensch, der „die Wirklichkeit abschaffen“ und sie durch Ideen ersetzen will, der Mensch, der sich selber durchsichtig und sich selber unglaubwürdig geworden ist, der Mensch „ohne Eigenschaften“, weil die sogenannten Eigenschaften Rückstände der Vergangenheit sind, sonst nichts, leere Hülsen, entkernte Schalen, Schlagworte, Redensarten, weil unterirdische etwas völlig Neues, etwas Namenloses und Überwältigendes beginnt, weil wir nicht mehr fühlen, was wir zu fühlen meinen, weil wir keinen Kontakt mit unserem eigenen Ich haben, aber tausend rätselhafte Kontakte mit allem, was um uns vorgeht. „Etwas muß geschehen!“, das jagt die Menschen in diesem Roman von Leben zu Leben, das jagt sie Zielen zu, die verhüllt sind, das läßt sie alles als provisorisch, als Experiment, als Laboratoriumsversuch betrachten. „Etwas muß geschehen!“ Es ist als bröckle das „Ich“, der Mörtel der Eigenschaften, der Kalk der Vorurteile, die Stukkatur der Konventionen, von uns ab und unser Unterirdisches, bisher unausgesprochen und unausprechlich, taucht nackt und kraß ans Licht. „Etwas muß geschehen!“ Die alte Ordnung ist nur mehr eine dünne Kruste von Staub, Spinnweb, Erinnerung, die neue Ordnung besteht noch nicht, unser Leben ist ein Experiment. Unsere große Leidenschaft ist die Neugier, die Gier nach dem Neuen. Unsere große Tugend ist die Tapferkeit der Erkenntnis. Unsere große Sehnsucht ist die Synthes aller Widersprüche zu einer klaren, präzisen und ordnenden Idee.

             Das alles auf tausend Seiten in einzigartiger Vollkommenheit der Sprache und des Gedankens gesagt, kann nicht auszugsweise wiedergegeben werden. Man muß dieses Buch lesen und wieder lesen; bisher gibt es kaum ein zweites, das unser geistiges Schicksal, das den Aufbruch unseres Lebens ins Unbekannte mit ähnlicher Größe und Leuchtkraft erzählt.

In: Arbeiter-Zeitung, 9.12.1930, S. 8.