Leo Lania: Das Kapital und die Wissenschaft. (1924)

(Zum neuesten Werk Upton Sinclairs: Parademarsch)

Im Jahre 1901 verließ ein einundzwanzigjähriger Jüngling die Universität Kolumbia in den Vereinigten Staaten. Es war das ein junger Mann aus „guter bürgerlicher Familie“, sein Vater und Großvater hatten hohe Stellen in der amerikanischen Beamtenschaft bekleidet und wenn die Familie auch keineswegs mit Glücksgütern gesegnet war, so hatte doch der Junge Elend und Not, Hunger und Armut nicht kennengelernt. Nach Absolvierung der Volksschule und der städtischcn Hoch­schule (eine Art Gymnasium) bezog der Jüngling eine

der vornehmen Universitäten des Landes, um sich literarischen und philosophischen Studien zu widmen. Von einem glühenden Ehrgeiz beseelt, durch eine rasche Auffassungsgabe und gute Lernfähigkeiten ausgezeichnet, stürzte sich der Jüngling mit Eifer und Idealismus ins

Studium — eine furchtbare Enttäuschung riß ihn schon nach wenigen Wochen aus allen Träumen und Illusionen. Den wahren Quell der Bildung hatte er hier zu finden gehofft— eine gähnende Leere und eine öde Langweile fand er in Wirklichkeit. Die ganze große Institution war eine hohle Nuß, ein seelenloser Körper, eine Masse aus Stein und Ziegel, zusammengehalten vom Bureaukratismus … Die Vorlesungen nichts anderes als ein schlechtes Resümee irgendeines trostlos trockenen Lehrbuches, die Professoren ehrgeizige Streber, die Studenten eitle Hohlköpfe, die im Sport, im Flirt, im Saufen und „Kot…leben“ völlig aufgingen. Und das Seltsamste: jeder, der wirklich etwas zu lernen hatte, wurde auf irgendeine Art von der Universität Kolumbia verbannt. Nur die Stumpfen oder die Schlauen blieben übrig, die Guten mußten gehen.

Angewidert von dieser kalten, seelenlosen Mechanik des Universitätsbetriebes, verließ der Jünglig nach einigen Monaten die Universität und zog in die Welt hinaus. Er hatte insgesamt neun Jahre dem Studium geopfert und glaubte daher, „ein vollkommen gebildeter

Mensch“ zu sein. Doch nach kurzer Zeit mußte er die schmerzliche Entdeckung machen, daß er die langen Jahre völlig nutzlos vertan hatte. „Ich wußte nichts über Hygiene und Gesundheit,“ so erzählt uns der junge Mann, „ich wußte nichts von Frauen, kannte außer

meiner Mutter noch drei oder vier weibliche Wesen, ahnte nicht, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Von geschlecht­lichen Dingen wußte ich ebensoviel, wie die alten religi­ösen Asketen, aber nichts über die modernen Entdeckungen und Theorien auf diesem Gebiet. Ich wußte auch nichts von der modernen Literatur der verschiedenen Sprachen. Was die Weltgeschichte anlangt, so endete sie für mich mit dem Deutsch-Französischen Kriege vom Jahre 1870; seither schien sich überhaupt nichts ereignet zu haben. Freilich gab es Tageszeitungen, doch wußte ich nicht, was diese Zeitungen waren, wer sie beherrschte, in welchem Verhältnis sie zu mir standen. Ich wußte, daß unsere Politik korrupt sei, doch kannte ich nicht die Ursache der Korruption, noch aber wußte ich, was gegen sie unternommen werden konnte, vom Geld. dem Lebensblut der Gesellschaft, und von der Rolle, die es im Leben des modernen Menschen spielt, ahnte ich nichts. Und was das Proletariat betrifft, so hatte ich mich mit einigen aus Zeitungen geholten Vorurteilen begnügen müssen. Was aber für mich das Allerbedeutsamste war: ich ahnte gar nicht, daß eine moderne revolutionäre Bewegung existiere. Die Namen Marx und Lassalle hatte ich gehört, stellte sie mir als unheimliche Menschen vor, die in Hinterzimmern von Bierkneipen zusammen kamen, Ver­schwörungen anstifteten und Bomben verfertigten, sich außerdem der freien Liebe hingaben. Daß sie irgendwie auch mit meinem Leben in Verbindung standen, mich etwas lehren konnten, daß sie eine Bewegung begründet hatten, die die ganze Zukunft umfaßt — darüber wußte ich ebensowenig wie über die Zivilisation des Negerstaates Dabome oder die Topographie des Mondes.“

Der junge Mann hatte schon frühzeitig Proben ausgesprochener literarischer Begabung abgelegt — keiner seiner Lehrer und Professoren hatte sie einer Förderung für wert befunden; niemand es als seine Aufgabe angesehen, die in dem Jungen schlummernden Kräfte und Fähigkeiten zu wecken. Und mit bebender Angst hatte dieser den Zeitpunkt herannahen sehen, da auch ihn wie die meisten seiner Kameraden „die Walze des Schulapparats endgültig zermalmen“ würde. Da war er von der Universität geflohen.

***

Der junge Mann ging nach Chikago. Und da er ein Jüngling war, dessen Augen scharf und klar in die Welt blickten und dessen Ohren zu hören verstanden und dessen Herz am rechten Fleck saß, so sah er in Chikago nicht nur die Marmorpaläste der Konservenkönige, sondern auch die Hinterhöfe der Fabriken, er hörte nicht nur die tönenden Reden er Direktoren, sondern auch das Weh- und Jammergeschrei der Frauen, Mütter und Kinder, deren Söhne und Ernährer zu Tausenden von dem gräßlichen Vielfraß Kapital zu Krüppeln geschlagen, verstümmelt, getötet wurden, bloß weil die Unternehmer das Geld zur Anlage von Schutzvorrichtungen sparen wollten und ihren Arbeitern den letzten Blutstropfen aus den Adern preßten. Der junge Mann hatte in die grausigste Schlachtkammer des Kapitals geblickt, er hatte voll Schauder gesehen, wie die Konservenkönige, die Herren von Chikago, trichinöses, giftiges Fleisch in die Konserven verarbeiteten, um mehr und noch mehr Profit herauszu­schlagen, und wie sie dadurch Leben und Gesundheit von Millionen Menschen diesseits und jenseits des Ozeans aufs Spiel setzten. Und das Furchtbarste: da war niemand, der den Mut hatte, aufzustehen und diese Schand­taten an die Öffentlichkeit zu bringen, niemand, der den Mut hatte, den Kampf gegen die Mächtigen von Chikago aufzunehmen. Unser Freund war jung genug, um den Kampf zu wagen; er konnte, er wollte nicht schweigen. Er legte alle seine Beobachtungen in einem Buch nieder, verarbeitete sie zu einem Roman, den er The jungle (Der Sumpf) nannte. Sein Erscheinen wirkte wie eine Bombe. Der junge Mann war in wenigen Monaten eine amerikanische, eine europäische Berühmtheit. Aber noch mehr: er war in Chikago Revolutionär, er war Sozialist geworden. Den Königen und Fürsten der amerikanischen Börse, den Herren von Stahl und Eisen, den Beherrschern des Weizens und Petroleums war ein erbitterter und unversöhnlicher Feind erstanden: Sein Name ist Upton Sinclair.

                                                                       ***

Es sind nun mehr als zwanzig Jahre her, daß Sinclair jenen berühmten Roman erscheinen lieh. Eine ganze Bibliothek von Romanen, Novellen, Studien und Theaterstücken hat er seither veröffentlicht:[1]) ein nie er­müdender Kämpfer für Freiheit und Recht der Unterdrückten und Geknechteten. Die Mächtigen der Ver­einigten Staaten kennen und hassen ihn — doch sie sind ihm widerstandslos ausgeliefert. Denn in diesen langen zwanzig Jahren hat Sinclair jeden Trick, jeden Winkel des Gehirns der Fürsten und Herzoge Amerikas bloßgelegt und da ist niemand, der so die Maschinerie des industriellen und finanziellen Lebens, den „Geldtrust“ kennt wie er. Da tritt er jetzt mit einem neuen Werk // auf den Plan: Der Parademarsch (ebenfalls im Malik-Verlag erschienen). Kein Roman— „Eine Studie über amerikanische Erziehung“ nennt er das Buch. Es gibt nur ganz wenige Romane, die so spannend zu lesen sind, wie diese „Studie“, wenige Werke überhaupt, deren Kenntnis für alle Werktätigen dieser Erde, insbesondere für die jungen Kämpfer in den Reihen des Proletariats von solcher Wichtigkeit ist.

Sinclair erläutert den Zweck seines jüngsten Buches, das in den nächsten Wochen in deutscher Übersetzung gedruckt vorliegen wird, wie folgt: „Unser Schulsystem ist nicht dem Dienst der Allgemeinheit geweiht, sondern das Spezialwerkzeug des Privilegs: es bezweckt nicht die Förderung des Allgemeinwohls, sondern die Erhaltung des amerikanischen Kapitalismus. Diese Tatsache zu beweisen ist der Zweck meines Buches …“ Und warum er diesen Titel gewählt? „Wir verausgabten etwa dreißig Milliarden Dollar, ver­nichteten Hunderttausende von jungen Leben, um die deutsche Autokratie zu zerstören, glaubten allen Ernstes, dadurch von der Erde jenes Uebel zu verbannen, das den Namen „deutsche Kultur“ trägt. Diese „Kultur“ war nicht nur etwas Körperliches, war nicht nur der Drill eines ganzen Volkes, der die Macht der Militärkaste vergrößern sollte, sondern auch eine geistige Sache: das Regime des autokratischen Dogmatismus… und nun sollt ihr selbst sehen, ob ich mit meiner Behauptung recht habe, daß wir, indem wir den Parademarsch aus der Welt zu schaffen glaubten, weiter nichts taten, als ihn in unser eigenes Land zu verpflanzen und uns unter seine Herrschaft zu bringen… ihm unsere Gedanken und, was noch weit ärger ist, die Erziehung unserer jungen Generation zu unterwerfen.“

Und Sinclair führt lückenlos den Beweis, den er erbringen will. Und führt ihn so, daß wir in atemloser Spannung lauschen, während er von unseren Augen den Schleier hebt, mit dem der amerikanische Kapitalismus seine Knechtungsmethoden und die Seelenvergiftung, die er so großzügig betreibt, kunstvoll zu mas­kieren versteht. Sinclair „will nicht in diesem Buche seine Ansichten über Erziehung unterbreiten, will nicht erläutern, wie das System sein könnte oder sollte“ — er gibt Tatsachen, er erzählt uns schlicht, ohne Pathos, aber mit Ingrimm und kaltem Spott, was auf den Universi­täten vor sich geht. Über ein Jahr lang hat er das amerikanische Erziehungssystem studiert, hat zu diesem Zwecke das ganze Land bereist, hat Tausende von Menschen – Lehrer, Rektoren, Studenten — ausgefragt, Bücher und Statistiken verarbeitet, um uns enthüllen, zu können, wie die amerikanischen Hochschulen, die 600.000 jungen Menschen Bildung und Wissen vermitteln sollen, jene „Festungen der Plutokratie“, die Munitionsfabriken der herrschenden Klassen geworden sind, die die geistigen Bomben und Giftgase für den Klassenkampf gegen das Proletariat herstellen.

Die zehn bis zwanzig Könige der amerikanischen Hochfinanz und Industrie sind die Kuratoren der amerikanischen Universitäten, die Rektoren und Professoren sind ihre Angestellten. Die Universitäten besitzen Ver­mögen, Aktien von Unternehmungen, die jenen gehören, die im Kuratorium der Hochschulen entscheidenden Sitz und Stimme haben. Da gibt es also eine Universität des Bauholztrustes, des Petroleums, des Weizens, des Kupfers, der Gas- und der Elektrizitätsgesellschaft. Ein dichtmaschiges, riesiges Netz ist über ganz Amerika ausgebreitet, dem niemand entrinnen kann. Fällt es einem Professor, einem Rektor ein, gegen den Willen der Kuratoren die Studenten zum selbständigen Denken, zum Erkennen der Wahrheit zu erziehen — er verliert un­fehlbar seinen Posten. So blüht die „reine Wissenschaft“: „Ihr Sklaven des großen Bostoner Warenhauses, von dem die Harvarder Universität fünfundzwanzighundert Aktien besitzt, findet euch ab mit der langen Arbeitszeit, den niederen Löhnen und der Tuberkulose, zu der ihr verdammt seid, denn für den von euch erzeugten Reich­tum hat ein gelehrter Mann die Menschheit über „die Anwendung der starken Konjugation bei Chaucer“ auf­geklärt! Ihr Polizisten, deren Streik durch die Harvarder Studenten abgewürgt wurde, findet euch ab mit eurem Hungerlohn, hat doch einer dieser Studenten die Menschheit über die „Syntax des Infinitivs bei Shakespeare“ aufgeklärt! Ihr Mädchen, die ihr in den Textilfabriken schuftet, die ihr in den „Weiberstädten“ Neuenglands auf den Strich geht und euren Leib für ein belegtes Brot verkauft, frohlockt, denn ihr habt es ermöglicht, daß die Menschheit etwas über den „Konjunktiv in Layamons Brut“ weiß! Ihr Männer, die ihr zwölf Stunden täglich vor den glühenden Hochöfen Bethlehems, Midvales und Illinois Steel front, seid fröhlich, packt die Schaufeln fester an, denn eure Arbeit ermöglicht der Menschheit, sich genau über den „Ursprung des Romans in Briefform“ zu unterrichten. Ihr Berg­leute, die ihr, jeden Augenblick von Tod und Verstümmelung bedroht, in den Eingeweiden der Erde schuftet, findet euch damit ab, daß die große Universität keine Schutzvorrichtungen anbringen konnte, die euer Leben zu retten vermöchten, hat sie doch das dazu bestimmte Geld ausgegeben, um die „während Sir Robert Walpoles Regierungszeit geschriebenen politischen Balladen“ zu sammeln und zu veröffentlichen!“

Sinclair erzählt uns die Geschichte der zwanzig Hochschulen in den Vereinigten Staaten von ihrer Gründung bis auf den heutigen Tag. Eine Geschichte, die sich wie eine Verbrecherchronik liest, die sich in phantastischen Steigerungen überbietet — eine Geschichte des gigantischen Siegeszugs des amerikanischen Kapitalismus —, Verbrechen, Korruption, Mord und Totschlag bezeichnen ihren Weg. „Das sind doch typisch amerikanische Zustände!“ ist vielleicht mancher im ersten Augenblick auszurufen versucht. „Bei uns in Europa…“

Nun, die Perspektiven, die Sinclair für die nächsten zehn Jahre aufzeigt: „Die Universität wird auch eine Abteilung für Streikbrecher, für das Hand­haben des Gummiknüppels und die Anwendung des „dritten Grades“ besitzen. Beredte Artikel werden schildern, daß die Geschäftsleute ihre Zeit dazu verwenden, Agitatoren von ihren Betrieben fernzuhalten, wobei der Geheimdienst der großen Körperschaften eine gewaltige Rolle spiele, und deshalb sei die Universität im Begriff, eine Fakultät für Spitzel zu gründen.“

Amerika, du hast es besser! In zehn Jahren? Europa hat bewiesen, daß es mit der Zeit zu gehen ver­steht: Streikbrechergarden, „Technische Nothilfe“, Geheimbünde, Korruption, Juden- und „Marxisten“- verfolgungen… Sinclairs Prophezeiungen für das Jahr 1933 sind in Europa im Jahr 1923 schreckliche Wirklichkeit geworden.

Und dennoch: Selbst in Harvard gab es im Krieg einen Studenten, dem es gelang, sich aus der Gletscher­welt der kultivierten Vorurteile einen Ausweg zu bahnen. Er ging nach Rußland und gab sein Leben für die Revolution, seine großmütige Persönlichkeit wird in der russischen Geschichte alle von den Kapitalisten der amerikanischen Regierung gegen Rußland be­gangenen Verbrechen auslöschen… John Reed!“

In memoriam John Reeds und aller jener, die drüben in Amerika den schweren, ungleichen Kampf gegen die Könige des Geldsacks gewagt haben, ist diese Schrift Sinclairs entstanden. Kein blutloses, erklügeltes „Kunstwerk“ — eine Kampf-, eine Tendenzschrift im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Pamphlet? Ja, aber eines, das uns alle angeht, wo immer wir wohnen, welche Sprache wir auch sprechen: denn diese „Studie über amerikanische Erziehung“ ist in ihrer Allgemeingültigkeit in Wahrheit eine Studie über den Kapitalismus, über die bürgerliche Erziehung überhaupt.

In: Arbeiter-Zeitung, 24.1.1924, S. 9-10.


[1] [Orig.FN] Der Malik-Verlag, Berlin, gibt jetzt die Werke Sinclairs gesammelt heraus.

N.N.: Die Rote Garde gegen das Parlament. Sturmszenen und Panik (1918)

[…] Hierauf verläßt der Staatsrat die Rampe und zieht sich ins Parlament zur weiteren Tagung der Nationalversammlung zurück. Die Tore schließen sich. Während die Massen vor dem Parlament sich zum Abzug anschicken, fällt plötzlich, es ist etwa 5 Minuten vor halb 5 Uhr, ein Schuß. Doch die Ruhe in den nächsten Minuten läßt Zweifel darüber aufsteigen, ob es wirklich ein Schuß war. Bald aber hört man Salven und ununterbrochen Schuß auf Schuß fallen. Des unzähligen, durcheinander gewürfelten Publikums bemächtigte sich eine ungeheure Panik. Einige Beherzte versuchen, die Ruhe herzustellen. Es geht aber nicht. Es beginnt eine wilde Flucht nach allen Nebenstraßen des Franzensringes. Viel schlimmer noch ist die Panik, die auf den der Bellaria zu gelegenen Seiten entsteht. Tausende von Menschen laufen in Angst und wildschreiend zur Oper zu, wo sich ein unentwirrbarer Knäuel von Menschen gebildet hat. Wie in äußerster Todesgefahr drängte jeder vorwärts. […]

Gewehrfeuer gegen das Parlament.

            Kein Mensch weiß, was eigentlich geschehen ist, niemand kennt die Ursache der furchtbaren Szenen. Dann aber heißt es: Die Rote Garde will das Parlament stürmen! Die unmöglichsten Gerüchte durchschwirren die Luft, und erst nach geraumer Zeit klärt sich die Situation. Die tatsächlichen Vorgänge waren folgende: Nachdem Präsident Seitz seine Ansprache beendet hatte, zog er sich mit den Mitgliedern der Nationalversammlung in das Abgeordnetenhaus zurück. In diesem Momente drängte die Rote Garde nach, um in das Parlament zu kommen. Dies wollte man verhindern und die Gardisten bedienten sich daher der Gewehrkolben. Nun entstand ein noch ärgeres Gedränge, da alle die schützende Säulenhalle erreichen wollten. Präsident Seitz gab den Auftrag, die Tore auf keinen Fall zu öffnen und die Lichter in der Vorhalle abzudrehen, was auch sofort durchgeführt wurde. In den nächsten Augenblicken hörte man heftige Schläge gegen das große Gittertor und das Klirren der Scheiben hallte in den weiten Räumen wider. Die massiven Tore gaben jedoch nicht nach. Unter dem Publikum, das von den Galerien in die übrigen Räume des Parlaments gelangt war, entstand große Aufregung. Die Leute stoben nach allen Richtungen auseinander. Bald darauf hörte man eine heftige Schießerei. Es war sofort erkennbar, daß auf das Parlament geschossen wird, und der Aufenthalt in der Säulenhalle und in den vorgelagerten Räumen war lebensgefährlich. Das Gewehrfeuer dauerte etwa zehn bis fünfzehn Minuten, die manchen Leuten zu einer Ewigkeit wurden. Die Mitglieder des Staatsrates bewahrten vollkommene Ruhe. Der Preßleiter Ludwig Brügel wurde durch einen Kopfschuß schwer verletzt, ein Projektil war oberhalb seines linken Auges eingedrungen. Mittlerweile war bekannt geworden, daß die „Rote Garde“ alle Tore des Gebäudes besetzt hatte. Nach einer Pause von einer halben Stunde wurde die Sitzung der Nationalversammlung, die anläßlich der Ansprache an die Menge unterbrochen worden war, wieder aufgenommen und die restliche Tagesordnung in aller Ruhe und ohne jeden Zwischenfall erledigt. Im Hause waren auch eine Reihe nichtdeutscher Abgeordneter anwesend, die längere Zeit das Gebäude nicht verlassen konnten; sie äußerten ihr schärfstes Mißfallen und Bedauern über diese Gewalttat. Unterdessen waren vor dem Parlament die Stadtschutzwache und Volkswehr aufgezogen. Staatssekretär Mayer empfing ein Mitglied der „Roten Garde“. Es stellte sich heraus, daß es sich angeblich nur um ein Mißverständnis gehandelt habe. Die ganz unsinnige Behauptung, daß aus dem Parlament scharf oder auch nur blind geschossen worden war, konnte durch nichts erhärtet werden. Die Roten Gardisten räumten sodann das Feld.

[…]

Die Rote Garde in der Redaktion der „Neuen Freien Presse“.

            In den Abendstunden erschienen Mitglieder der Roten Garde in der Redaktion der „Neuen Freien Presse“ in der Fichtegasse. Sie besetzten das Gebäude und erklärten, daß sie von nun an die Leitung des Blattes in die Hand nehmen würden. Diese Tatsache wurde durch ein Extrablatt bekannt gemacht, in dem es heißt: In Ausführung eines Beschlusses der kommunistischen Partei wurde heute nachmittags das Redaktionsgebäude der „Neuen Freien Presse“ durch Volkswehr und Rote Garde besetzt. Die „Neue Freie Presse“ wird bis auf weiteres unter der Kontrolle kommunistischer Redakteure erscheinen. Für vollkommenen Ruhe wird verbürgt. Die Gerüchte, daß die Rote Garde an der Schießerei beim Parlament, welche eine furchtbare Panik hervorgerufen hat, teilgenommen hätte, sind vollkommen erlogen. Es wurde aus dem Parlament blind geschossen. Gezeichnet: Osternig, Koniakowsky, Rote Garde, Hoffmann, Lux, Infanterie-Regiment Nr. 4.

            Zu einem späteren Termin wurden Verhandlungen mit den Gardisten eingeleitet. Volkswehr und Sicherheitswache war inzwischen aufmarschiert und die Rote Garde bewogen, das Haus zu verlassen. Bald darauf erschien eine zweite von der Roten Garde herausgegebene Extraausgabe, in der erklärt wird, die ganze Besetzung des Redaktionsgebäudes sei nur als warnendes Beispiel anzusehen, als Beweis dafür, daß die Soldaten und Arbeiter imstande seien, wenn sie wollten, die Macht an sich zu reißen. Das hätten sie der Polizei mitgeteilt und seien dann ruhig abgezogen.

            Ein kleines Aufgebot von Sicherheitswache ist zum Schutze des Redaktionsgebäudes zurückgeblieben.

In: Fremden-Blatt, 13.11.1918, S. 5.

N.N.: Der Umsturz (1918)

            Die Bevölkerung von ganz Österreich ist von fieberhafter Gärung ergriffen. Im Norden und im Süden erschallt befreiender Jubel über die Schaffung der neuen nationalen Staatsgebilde. Er ist nur zu begreiflich, sind doch die Tschechen und Südslawen der Unterstützung von seiten der siegreichen Entente sicher. Deutschösterreich hat sich viel zu spät auf sich selbst besonnen, und der Moment, da es von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch macht, findet es in der denkbar gefährlichsten Situation. Unsere unmittelbaren Nachbarn sind uns recht wenig freundlich gesinnt. Die Absperrung der Lebensmittelzufuhren ist ein sichtbarer Beweis hiefür. Hinter diesen Nachbarn steht aber der Feind, mit dem wir seit fünfviertel Jahren im mörderischesten aller Kriege stehen. Die unglückliche Politik einer k.u.k. Regierung hat uns so weit gebracht, daß wir nun darauf angewiesen sind, unser Schicksal vom Gegner bestimmen zu lassen. Wie es beschaffen sein wird, ist noch in Dunkel gehüllt.

            Düsterer als die Zukunft ist aber die unmittelbare Gegenwart. Die Berichte aus dem Kriegspressequartier verkünden, daß das italienische Gebiet geräumt wird. Was das zu bedeuten hat, vermag die üppigste Phantasie kaum auszumalen. Der Verlust der besetzten Landstriche wäre noch das wenigste. Wir können ihn um so leichter verschmerzen, da ja die Freigabe der nichtdeutschen Provinzen bereits eine ausgemachte Sache ist. Dagegen ist zu befürchten, daß der Rückzug der Armee Erscheinungen auslösen wird, welche die Sicherheit und Ordnung des Hinterlandes aus das Schwerste bedrohen. Was wird geschehen, wenn für die zurückflutenden Soldatenmassen keine Nahrungsmittel vorgesehen sind? Die Zivilbevölkerung hungert sich von einem Tag zum anderen hinüber. Sie kann den durchziehenden Heeresmassen so gut wie gar nichts bieten. Der Hunger treibt aber den Gutmütigsten zu Taten der Verzweiflung…

            Wie eine drohende Gewitterwolke naht das Unheil immer näher. Wir vernehmen, daß die „Grünen Garden“ das Feld ihrer Schreckenstaten bis nach Steinbrück ausgedehnt haben. Auf den südlich gelegenen Bahnstrecken spielen sich schon jetzt furchtbare Szenen ab und in den allernächsten Tagen dringt die Welle der Auflösung aller ordnenden Bande vielleicht bis zu uns, wenn es uns nicht gelingt, ihr rechtzeitig einen Damm zu setzen. Es werden geradezu übermenschliche Anforderungen an die Spannkraft unserer Nerven gestellt werden. Wir werden ihnen nur gerecht werden können, wenn jeder einzelne kaltes Blut bewahrt und seine ganze Persönlichkeit in den Dienst des Gemeinwohls stellt.

            Der von den Vertretern aller Bevölkerungskreise eingesetzte Wohlfahrtsausschuß steht mit den militärischen Stellen in Verhandlungen, um entsprechende Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. Jedermann, der die Stimmung unserer Soldaten und Offiziere kennt, weiß, daß sie mit Begeisterung bereit sind, sich der Sache des Volkes zur Verfügung zu stellen. Die k.u.k. Armee ist im Begriffe, sich in eine Volkswehr im vollsten Sinne des Wortes umzubilden, und wenn sie für ihre Aufgabe zu schwach sein sollte, sind die Arbeiter selbstverständlich bereit, ihre Reihen zu verstärken. Ihre Aufgabe ist es aber nicht, etwa einen auswärtigen Feind zu bekämpfen, sondern für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern in diesen schweren Tagen Sorge zu tragen.

            Damit dies aber möglich sei, müssen alle Versuche von einzelnen Leuten, auf eigene Faust vorzugehen, mögen sie dabei auch von den besten Absichten geleitet sein, mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Wir sind sonst keine Freunde allzu weitgehender Ordnungsmacherei. In dieser ernsten Zeit hängt aber alles davon ab, daß sich jedermann dem Willen derjenigen unterordne, die von dem Vertrauen der Bevölkerung getragen sind. Niemand soll sich durch die unruhige Zeit zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. Durch solche Handlungen schaden wir uns nur selber. Die Bevölkerung möge wissen, daß trotz der eruptiven Erscheinungen, welche die Gründung des südslawischen Staates begleiten, nicht alle Fäden nach dem Süden abgerissen sind. Es zeigt sich vielmehr, daß auch die verantwortlichen Führer der Südslawen sich dessen bewußt sind, daß sie auch in Zukunft unsere Nachbarn sein werden und daß sie deshalb auch in ihrem Interesse handeln, wenn sie in ihren Handlungen möglichst einvernehmlich mit uns vorgehen. Über alle auftauchenden Differenzen kann und wird verhandelt werden, und der Bürgermeister von Marburg hat ein treffendes Wort ausgesprochen, als er in einer Aufrufe sagte: „Es ist unsere heiligste Pflicht, Ruhe und Ordnung zu halten und allen Hader und Zwist, welcher geeignet ist, die Verhandlungen zu hindern, zu bannen, da dieselben nur geeignet sind, der Bevölkerung den längst ersehnten Frieden vorzuenthalten.“ Darum noch einmal: Kühles Blut wie, wenn es sein muß, kühne Entschlossenheit, sind heute notwendiger denn je.

In: Arbeiterwille (Graz), 1.11.1918, S. 1.

Ludwig Hirschfeld: Herr ohne Beschäftigung (1933)

Ein Zeittypus, der zuviel Zeit hat.

Hat es draußen nicht schon wieder geläutet? … Bevor man noch durchs Guckloch sieht, weiß man, wer vor der Tür steht. Eine Gestalt, die den traurigen Refrain dieser Zeit aufsagt: Arbeitslos, ausgesteuert, bitt’ schön, gnä Herr. Manche flüstern bloß oder strecken stumm die zur Bitte verkrampften Hände vor… Eingelernte Pose, routinierte Berufsbettelei? Kann auch sein. Aber bis einer so weit kommt, daß er vor jeder Tür diese Verzweiflungspantomime aufführt, wieviel echte Verzweiflung muß er vorher zur Abhärtung durchgemacht haben… Auf der Straße ist der Elendsbetrieb noch intensiver. Hier flüstert er nicht, hier singt und musiziert er an jeder Ecke und im Stadtbahnzug heischt er die täglich kleiner werdende Kleinigkeit mit der Mundharmonika. Und wenn man spät abends nach Hause geht, dann schleicht einem im Dunkeln eine Stimme nach: „Nur fünf Groschen…!“ Und je geringer der geforderte Betrag, desto drohender wird die Stimme…

Arbeitslosigkeit… das ist die sichtbare, die demonstrativ zur Schau getragene Not primitiver Menschen. Es gibt aber auch eine andere, eine unsichtbare und diskrete Not im guterhaltenen Rock. Keine Arbeitslosen im Sinn des Gesetzes, nur Beschäftigungslose, die noch etwas haben und dennoch arme Menschen sind. Denn wir arm einer heute ist, das hängt ja nur davon ab, was er gestern war und hatte. Was war er gestern? Fabrikant, Kaufmann, Bureauchef, Ingenieur. Und heut ist er ein Herr ohne Beschäftigung. Noch immer, so lange es geht, ein Herr, und das ist eben die Verschärfung. Ein neuer, täglich häufiger werdender Typus dieser im Unproduktiven so produktiven Zeit. Der Herr ohne Beschäftigung ist gewöhnlich ein Mann zwischen vierzig und fünfzig. Also jenes Alter, das man in besseren Zeiten die // besten Jahre genannt hat. Jetzt sind es die miserabelsten Jahre, rüstig, arbeitsfähig, in seinem Beruf erfahren und tüchtig und plötzlich von einem Tag auf dem anderen ausgeschaltet, kaltgestellt. Ein Müßiggänger wider Willen, ein Ruhestand ohne Ruhe. Denn wenn man auch einige hundert Schilling Pension, Rente oder Zinsen hat, daß es auf Wohnen, Essen, auf Kaffeehaus und Zigaretten reicht – ist das ein Leben, wenn man gerade zu leben hat? Die Illusion, die man anfangs hatte, ist längst zerstört: die berühmte Nebenbeschäftigung, die gelegentliche Arbeit. Unmöglich, als Mann in den besten Jahren irgend etwas zu finden, auch nur etwas gering Bezahltes, wo die Jugend keinen Platz findet und graue Schläfen die schlechteste Empfehlung sind. Jeder von uns kennt diesen Herrn ohne Beschäftigung in so und so vielen Exemplaren. Man begegnet ihm auf der Straße, im Stadtpark, im Prater und er wird uns nie etwas vorjammern, weil er sich ungern in sein Schicksal hineinblicken läßt. Und es wäre doch ganz interessant, sich diesen Zeittypus, in den jeder von uns sich vielleicht schon morgen verwandeln kann, einmal näher anzusehen. Wie er seinen leeren Tag ausfüllt, womit er sich in seiner ziellosen Beschäftigungslosigkeit beschäftigt. Suchen wir einige leichtere und schwerere Fälle auf und geben wir ihnen, da sie sonst nichts annehmen, eine kleine Gabe von Verständnis und Mitgefühl. Wie meinen Sie: Warum sich die Sorgen der anderen machen? Noch immer besser, als die eigenen…

Der muntere Großpapa.

            Er ist noch lange nicht im richtigen Großvateralter. In diese Würde ist er vorzeitig hineingeraten, weil er so jung geheiratet hat: mit vierundzwanzig. Und die erste Tochter war auch schon mit neunzehn Mama, so hatte er Ende Vierzig bereits eine kleine Enkelkollektion. Aber wenn man fortwährend im Beruf steckt, fortwährend geschäftliche Sorgen hat, das erhält irgendwie jung und elastisch. Aus jeder Krise, aus jedem Ausgleich schien der Herr Präsident der Familien A.G. um soviel Prozent fescher hervorzugehen, als die angebotene Quote betrug. Bis plötzlich nichts mehr auszugleichen war, weil es nur noch Passiven gab. Schluß mit dem ganzen Werkel, Liquidation durch eine Bank gegen eine bescheidene Abfertigung. Kein fescher Präsident mehr, der mit seinen gemütlichen Scherzen über die ungemütlichen Aufsichtsratssitzungen hinwegkam, sondern ein Privatier. Genauer gesagt: ein Großpapa im Ausgeding. Denn natürlich muß er jetzt bei der verheirateten Tochter wohnen, was schon in wirtschaftlicher Hinsicht das beste für ihn ist. Aber wie wird es das aushalten, was wird der unruhige alte Herr den ganzen Tag anfangen? Ein Mensch, dem man plötzlich die jahrzehntelange Geschäftigkeit und Tüchtigkeit weggenommen hat. Er hat wenigstens immer so getan, ununterbrochen präsidiert, konferiert, disponiert. Immer war er Mittelpunkt und jetzt soll er sozusagen bescheiden im Winkerl stehen – das muß doch einen gesunden Menschen vor der Zeit alt und krank machen. Diese Familienbesorgtheit hat der Großpapa rasch und gründlich widerlegt. Er nimmt sich seinen finanziellen und kommerziellen Sturz nicht übermäßig zu Herzen. Man kann nicht einmal behaupten, daß ihm die gewohnte Arbeit fehlt. Seitdem er unterbeschäftigt ist, hat er nämlich enorm viel zu tun, bedeutend mehr als früher. Frühstück, Zeitungslektüre, Rasieren und Bad erfordern allein schon zwei Stunden. Auch Gutangezogensein ist ein Ding, das Weile braucht. Die Schuhe dürfen je nach der Tagestemperatur nicht zu leicht, nicht zu schwer sein, die Krawatte muß zur Bewölkung passen. Spaziergang mit dem Hund, Bekannte treffen, ihnen wertvolle Ratschläge geben, damit vergehen auch wieder zwei Stunden. Höchste Mittagszeit, zu der er nicht nur den kräftigen Hunger des Unbeschäftigten mitbringt, sondern auch eine Fülle von Lebensweisheit. Beim Tischgespräch, da kann er wieder nach Herzenslust präsidieren und disponieren, indem er die schwebenden Angelegenheiten mit folgenden Sätzen löst: „In einem solchen Fall hätte ich… Ich würde ganz einfach… Du kannst dem Kerl von mir sagen…“ Worauf er sich befriedigt zurückzieht, zum Leihbibliotheksschlaf mit Radionebengeräusch. Ab sechs Uhr ist er hauptsächlich guter Vater und Großvater, indem er die Tochter beim Wirtschaftsbuch und die Enkel bei den Aufgaben stört. Manchmal versucht er in Arithmetik zu helfen, aber es ergeht ihm genau so wie bei seinen Bilanzen: ein Rechenfehler nach dem anderen. Allen Versuchen, ihn durch Aufträge oder Wege irgendwie zu beschäftigen, weiß er sich durch den Hinweis auf einen plötzlichen Rheumatismus oder Schnupfen geschickt zu entziehen. Auch seine Vertretung der Eltern beim Sprechtag im Gymnasium hat sich nicht bewährt, da er die Professoren durch sein eigenes Beispiel davon überzeugen wollte, daß Lernen ganz überflüssig sei, um es im Leben zu etwas zu bringen. Seine Enkel haben ihn auch beschworen: „Großpapa, wenn du noch einmal nachfragen gehst, fallen wir bestimmt durch…“ So besteht die einzige Hoffnung der Familie darin, daß vielleicht doch wieder einmal eine geschäftliche Konjunktur kommt. Dann wollen sie dem Großpapa sofort eine A.G. einrichten…

                                    Der Langschläfer.

            Das ist schon ein ernsterer Fall von Beschäftigungslosigkeit. Weil es der Fall eines älteren Junggesellen ist. Wenn man Frau und Kinder hat, da ist man nie völlig im Ruhestand, denn Familienleben nimmt den Menschen immer reichlich in Anspruch. Aber so ein Junggeselle, der die beste Nachtmahljahre hinter sich hat, mit kleinen Liebschaften verzettelt, dem bleibt schließlich nur eine große Liebe: der Beruf, die Stellung. Ob Direktor, Abteilungsvorstand, Oberingenieur, das ist egal. Die Hauptsache, daß man von neun Uhr früh bis sechs Uhr abend wer ist, daß man an einem Schreibtisch amtiert, daß im Vorzimmer die Parteien, die Angestellten warten, daß man das Schicksal von soundsovielen Menschen dirigiert, daß man das Mittagessen gehetzt hinunterschlingt, keine Zeit hat, zum Schneider zu gehen. Telephonieren, diktieren, unterschreiben, tausend Sachen im Kopf haben, bis man dieser unmöglichen Existenz verzweifelt flucht, weil ja ein bißchen Verzweiflung zu jeder echten großen Liebe gehört. Und auf einmal ist alles aus. Von heute auf morgen Pensionierung, Abbau, ganz kaltblütig und selbstverständlich. Wo er sich fünfundzwanzig Jahre lang geschunden und aufgeopfert hat, wie für eine eigene Sache, wo er tatsächlich im Dienst ergraut ist? Oh, das ist heute kein Milderungsgrund. Im Gegenteil: das ist ein Verschulden… Und dann umgibt den Abgebauten plötzlich die große Stille, die völlige Isoliertheit. Von früh bis abends nichts als Privatleben, das man nie gekannt, nie geübt hat. Der Vormittag vergeht ja noch irgendwie, aber diese entsetzliche Endlosigkeit der Nachmittage. Der Herr Abteilungsvorstand war nie ein Kaffeehausbesucher, er begreift das Vergnügen nicht, drei, vier Stunden mit Karten und Witzen hinzubringen. Er geht also fleißig spazieren, weil das sehr gesund ist, bis er sich davon krank fühlt, bis ihm die schönsten Plätze verhaßt sind. Wochenlang hat er es mit dem Lesen versucht, jeden Tag zwei, drei Bücher, wahllos durcheinander, Literatur und Kriminalschund, bis er es nicht mehr unterscheiden konnte, bis ihm alle gedruckte Weisheit sinnlos erschien. Und dann gab er den Kampf auf und flüchtete sich in den Schlaf. Bis zehn Uhr vormittags, nachmittags wieder und abends um neun. Er ist in diesem Training schon so weit, daß er fast zu jeder Stunde einschlafen kann. Anfangs hat er oft vom Bureau geträumt, vom wirbelnden Betrieb des Telephonierens und Diktierens. Jetzt träumt er gar nichts mehr. Er schläft in die Nacht und in den Tag hinein, mit einem völlig abgebauten Seelenleben. Er ist erst fünfundvierzig, vollkommen gesund, und bei seinem Pech kann er auch achtzig werden…

            Hat’s nicht schon wieder draußen geläutet?… Das ist ja zum Verzweifeln. Kaum daß man sich in unangenehme Dinge vertiefen will, wird man dabei gestört. Man kann doch nicht fortwährend aufmachen, fortwährend in die Tasche greifen, bis nichts mehr drin ist. Gewiß, lauter arme, bedauernswerte Menschen. Aber sie können wenigstens laut fordern, singen, musizieren. Doch wer hört die, die nur leise ächzen, flüstern oder sich schweigend verkriechen? Und sie werden immer zahlreicher. Täglich schwemmt der unerbittliche Geschäftsstrom seine Opfer ans Ufer und aufs völlig Trockene. Dem einen ist’s so un dem anderen so passiert, aber alle haben das gemeinsame Schicksal: daß sie unter dem ärgsten Überfluß leiden, den es geben kann: zuviel Zeit. Und noch dazu von einer Zeit, von der wir alle schon genug haben.

In: Neue Freie Presse, 30.4.1933, S. 9-10.

N.N.: Die Rote Garde im Redaktionsgebäude der Neuen Freien Presse. (1918)

                                                                                              Wien, 12. November.

            Heute Dienstag gegen 4 Uhr nachmittags sind Angehörige der Roten Garde und vom Infanterieregiment Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 im Redaktionsgebäude der „Neuen Freien Presse“ erschienen. Sie erklärten dem anwesenden Sekretär des Blattes, daß die „Neue Freie Presse“ unter der politischen Kontrolle der kommunistischen Partei erscheinen solle. Der Sekretär des Blattes fragte den Offizier, auf Grund welcher Berechtigung diese Verfügung getroffen wurde und ob er sich durch die Legitimation eines Vorgesetzten beglaubigen könnte. Der Offizier antwortete, daß er keine Legitimation habe und den Vorgesetzten heute noch nicht nennen könne. Der Sekretär verwahrte sich entschieden gegen die Maßregel, für die weder ein Rechtsgrund noch eine Beglaubigung des in Österreich regierenden Staatsrates, von dem die Sicherheit der Person und des Eigentums verbürgt worden ist, vorliege. Der Offizier antwortete, daß es sich allerdings um eine Maßregel der Gewalt handle.

            Die Räumlichkeiten und die Treppen des Hauses wurden besetzt, ein Maschinengewehr wurde vor dem Haustor auf der Straße aufgestellt und eines im Hof postiert. Die Fichtegasse, wo sich das Redaktionsgebäude befindet, war gegen den Kolowratring und gegen den Beethovenpark von den Soldaten abgesperrt und nur Angehörige des Blattes durften passieren. Mit den Truppen waren auch Vertreter der kommunistischen Partei aus dem Zivilstande erschienen. Von Seiten des Staatsrates wurde eingegriffen und nach einigen Stunden war der Zwischenfall beendigt. Die Rote Garde hatte gleich nach dem Eintritt in das Haus verlangt, daß eine Extraausgabe über die Vorfälle beim Parlament veranstaltet werde, was unter entschiedener Verwahrung der Redaktion geschah. In einer zweiten Extraausgabe wurde mitgeteilt, daß die Partei durch ihre Anwesenheit in der „Neuen Freien Presse“ eine kommunistische Kundgebung habe veranstalten wollen, daß der ganze Vorgang nur demonstrative Zwecke gehabt habe und daß sich nach deren Erfüllung die Offiziere und die Truppen zurückziehen wollen.

            Wir möchten an dieses Eindringen in unser Haus die Bemerkung knüpfen, daß die Achtung vor der Preßfreiheit die oberste Pflicht jeder Partei sei. Eine Demokratie, welche das Recht auf Urteil bedrücken und Meinungen verfolgen und sich der Kritik entziehen will, ist eine Verfälschung der wahren und echten Volksherrschaft. Auch während der Anwesenheit der Roten Garde in unserem Hause hatten wir die Überzeugung, daß in Deutschland nie die Zeit kommen werde, in der die Freiheit solcher Gewaltsamkeit ausgeliefert sein werde. Die vorliegende Nummer erscheint ohne jede fremde Kontrolle als freie Meinungsäußerung der Redaktion.

In: Neue Freie Presse, 13.11.1918, S. 1.

Hans Tietze: Die Krise der Gegenwartskunst. (1931)

Von Krisen in der Kunst ist oft die Rede gewesen. Jedesmal, wenn eine Generation ihre Leistungsfähigkeit erschöpft hatte und eine neue mit unterirdisch lang vorbereiteter Opposition hervor­trat, gab es im Faden der Kunstentwicklung einen Knoten, der sich dem nachsichtigen Blick der unmittelbar Interessierten zu einer richtigen Revolution vergrößerte; immer wenn wir nicht weiter können, glauben wir, daß die Kunst zu Ende ist. Als an der Jahrhundertwende der letzte müde Wellenschlag des Impres­sionismus verebbte, schien ein neues Kapitel anzuheben; Expres­sionismus, Kubismus, Futurismus, die die geheimsten Triebkräfte drei großer europäischer Nationen, des deutschen, französischen, italienischen Volks, in eine künstlerische Formel spannten, prokla­mierten ihr Lebensrecht; der elementare Ausbruch dreier in ihrem Grundwesen verschiedener, dennoch in ihrer Leugnung alles Vorangegangenen einmütiger Ausdrucksweisen rechtfertigte die neue Kunst als die Sprache der dem Krieg geweihten Generation.

Auf jene erschütternde Kundgebung, mit der die Kunst das angstvoll gehütete Ereignis der nahenden Katastrophe voraus­ahnend herausschrie, ist tiefe Ernüchterung vieler Einzelner und der Allgemeinheit gefolgt; jener von ungeheurer Ergriffenheit zuckende Taumel will nun als ein Feuerwerk erscheinen, in dem eine von ihren Wurzeln gerissene Kunst ihre letzten Lebenskräfte verbrannte. Als Reaktion gegen die geflissentliche Unsachlichkeit von gestern ist eine nicht minder gewollte Sachlichkeit als Aus­druck einer Ermüdung entstanden, an der Erschöpfung und schöpferische Pause in unberechenbarem Verhältnis Anteil haben. In dieser Metamorphose macht die Plötzlichkeit stutzen, mit der die Kunst aus dem Extrem der Unverständlichkeit ins Extrem der Verständlichkeit taumelt. Das Gefühl, das sie, um sich zu retten, sich preisgibt, beherrscht nicht nur die Ästheten von gestern, für die eine Kunst ohne Dunkel und Heimlichkeit immer eine banale bleibt; auch unverbrauchterer Instinkt erwartet von der Kunst, daß sie ausspreche, was die Allgemeinheit braucht und wünscht, aber selbst nicht weiß. Das Opfer künstlerischer Feinfühligkeit, das die neue Sachlichkeit gebracht hat, hat die Kunst nicht po­pulärer gemacht; es hat sich nichts geändert, als daß es eine Kunst­richtung mehr gibt.//

Damit ist aber der Kern der heutigen Krise der Kunst nicht getroffen; nicht wie diese sein soll, sondern ob sie sein kann, ist brennend geworden. Der wirtschaftliche Zusammenbruch hat alle Schleier von dem Zustand gerissen, in den sie durch ihre ausschließliche Ästhetisierung im Lauf von Jahrhunderten ge­raten war: zur Befriedigung eines ideellen und materiellen Luxus­bedürfnisses. Solange nun die Wirtschaft über Überschüsse ver­fügte, kamen diese den an sich unnötigen künstlerischen oder wissenschaftlichen Zwecken — denn die Selbstzwecklichkeit der Wissenschaft hat sich ganz parallel zum l’art pour l’art entwickelt — zugute. Was zulässiges Wohlleben gewesen war, ist dann — wie manches andere — unerlaubter Luxus geworden; die Kunst, die als gesellschaftliches Tun von den überschüssigen Energien gespeist wird, die sich nicht im nackten Lebenskampf verbrauchen, sie stirbt ab, wenn diese Kräfte versiegen.

Wir haben hundertmal darüber gesprochen, wieso diese tief­gehende Entfremdung zwischen Kunst und Allgemeinheit ent­standen ist; wir wissen, daß die soziale Umschichtung, die außer­halb der bisherigen Tradition stehende Kreise zu Macht und Ein­fluß erhob, dabei ebenso mitgewirkt hat wie die Veränderung der Produktion aus einer handwerklichen in eine maschinelle oder das Vordringen materieller Gesinnung auf allen Gebieten. Alle diese, seit dem Ende des XVIII. Jahrhunderts ausschlaggebend gewordenen Faktoren haben mitgeholfen, aber sie sind gegenüber der Hauptursache, der Tendenz der Kunst zur Selbständigkeit und Selbstherrlichkeit, sekundär. Kunst wurde in langen Jahrhunder­ten europäischer Geschichte in engstem Zusammenhang mit dem religiösen Leben erzeugt; als Schmuck des Gotteshauses, als Be­lehrung der Gemeinde, als Bestätigung und Bekräftigung herr­schender Gläubigkeit. Daneben und später, um dem Glanz des Fürsten zu dienen, um patriotische oder humanitäre — in beiden Fällen soziale — Empfindungen zu fördern, um das Andenken bestimmter Personen festzuhalten oder um Kenntnisse zu ver­mitteln; um der Bildung, dem Schmucktrieb der Erotik zu dienen. Die dieses Bündel von Zwecken zusammenfassende Tendenz zum Ästhetischen hat sich nachmals emanzipiert. Die Kunst wurde eine selbstherrliche Weltdeutung, sie setzte ihren Ehrgeiz mehr als in die Erfüllung jener anderen Zwecke in die Lösung der im engsten Sinn des Wortes künstlerischen Probleme; sie wurde Selbstzweck und geriet dadurch immer mehr in eine glänzende und schließlich verderbliche Isolierung.

Dadurch hat die Kunst die feste äußere Bindung verloren, von der sie sonst ihre Stütze erhielt; sie war ein bürgerliches Hand­werk und ist eine Mission geworden. Der äußere Beruf des Künst­lers hat sich in eine innere Berufung umgewandelt, seit in seinem Tun nur mehr das Schöpferische galt; man hat ihn zum Hüter des der Menschheit geschenkten prometheischen Funkens gemacht// und ihm dadurch den Sparherd bürgerlichen Daseins verwehrt. Seine Ausbildung, seine Produktionsweise, seine ganze soziale Existenz ist auf ein Künstlertum zurechtgeschnitten, das verein­zelten Genies entspricht, aber den Durchschnitt zugrunde richtet; „alles oder nichts“, auf dem seine Wirksamkeit beruht, ist seine Glorie und sein Todesurteil. Denn eigentlich hat in der heutigen Auffassung der Kunst, jeder, der nicht das Höchste erreicht, seine Existenz verfehlt. Dies gilt auch im materiellen Sinn. Da der Künstler nicht für Auftraggeber arbeitet, sondern für Sammler, sich nicht an die Allgemeinheit wendet, sondern an die Kenner, eine Erfüllung außerkünstlerischer Zwecke als Prostitution emp­findet, ist seine wirtschaftliche Basis zu schmal geworden. Er hat als Abnehmer nur die verschwindende Minderzahl jener, die im Kunstwerk nichts suchen als ästhetische Befriedigung, während er dem unvergleichlich größeren Kreis jener völlig entfremdet ist, die vom Kunstwerk in der ästhetischen Form die Erfüllung ganz anderer Bedürfnisse erwarten.

Kunst ist genialer Eingebung entwachsende Schöpfung und die professionelle Ausübung bestimmter Tätigkeiten; Künstler ist der einsame Deuter der tiefsten Geheimnisse und der Hersteller von irgendwelchen Bildern, Plastiken und graphischen Blättern — wie von Abendlektüre und musikalischer Unterhaltung. In einen Begriff faßt die Armut der Sprache zusammen, was in Art und Rang von Grund aus verschieden ist. Die ästhetische Terminologie unterscheidet zwar gelegentlich zwischen „Hochkunst“ und „Niederkunst“, aber diese Scheidung ist zu schwach, im Sprach- und Denkgebrauch verfließen im Namen der Kunst: Kunst und Nichtkunst, polare Gegensätze, die unendliche Übergänge ver­binden. Im Verschwimmenlassen dieser Grenzen liegt der Grund des Chaos, in dem wir stecken; wir vergewaltigen die Kunst mit den Maßstäben der Hochkunst, aber auch diese mit den Maßstäben jener.

Und hier könnte der Punkt sein, von dem aus sich die letzte Wandlung in der Kunst grundsätzlich anders darstellte als frühere; vielleicht ist die fragwürdige Primitivität der neuen Mode doch ein Symptom tieferer Umkehr; schließlich haben doch die falschen Schäferinnen der Eremitagen die Herrschaft der echten Fisch­weiber vorbereitet. Die Radikalen an der Jahrhundertwende hatten um der Selbstherrlichkeit der Kunst willen alle Tradition des Sehens und Gestaltens über Bord geworfen; die Modernen von heute unterwerfen sich der solidesten Tradition, geben aber die besondere Mission der Kunst preis. Sie wollen etwas machen, was so aussieht wie die Kunst von früher, aber doch nicht Kunst mit dem Anspruch des Selbstzwecks ist. Dieser Prozeß ist gewiß kein bewußter, da zuviel vom Gestern noch ins Heute hereinhängt, aber er enthält ein in die Zukunft weisendes Element. //

Der Künstler wird, wofern er überhaupt weiter bestehen soll, auf die Ausnahmestellung, die ihm das neunzehnte Jahrhundert als trügerischen Ersatz für seine geminderte Bedeutung im sozialen Leben zuerkannt hat, verzichten und versuchen, seine Tätigkeit wieder zu einer als notwendig empfundenen zu machen. Er wird nicht mehr an dem prahlerischen Begriff eines dem Göttlichen sich nähernden Schöpfertums, der an den vereinzelten Genies höchsten Banges gebildet worden ist, zu schmarotzen brauchen, sondern im Rahmen anderer menschlicher Verrichtungen der seinigen nach­gehen; ein Handwerker, der die Bedürfnisse seines Publikums an­erkennt und befriedigt, ein notwendiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Daß er dabei vielleicht das meteorhaft unerrechen­bare Genie sei, das eine ganze Menschheit zu bereichern vermag, wird immer noch die heimliche Sehnsucht bleiben, die sein Tun befeuert, aber es wird nicht mehr die stillschweigende Voraus­setzung seines Daseins bilden, deren Nichterfüllung ihn ins Nichts des Überflüssigen stößt.

Die Krise der Gegenwartskunst ist möglicherweise ein Ansatz, aus der gespannten und übergespannten Situation hinauszufinden, in die unsere nur ästhetische Einstellung die Kunst gebracht hat. Diese soll wieder ein Handwerk werden, nicht so sehr in ihrer Technik wie in ihrer Gesinnung; eine Produktion, die sich wie jede andere an dem Bedarf des Konsumenten regelt; eine Tätig­keit, die der Raschheit und Beweglichkeit unseres Daseins entspricht, deren Ergebnisse sich in der Regel mit dem Tag ver­brauchen, für den sie entstanden und aus der, ausnahmsweise, ein oder das andere Mal das große Kunstwerk herauswachsen mag. Durch all dieses ein Tun, das auch wieder seine verlorene wirt­schaftliche Grundlage zurückgewinnen könnte.

In: Das Tage-Buch, H. 28/ 1931, S. 1103-1105.

Dr. J[osefine] W[idmar]: Tanz und Spiel in der Mittelschule. Allerhand Bedenklichkeiten. (1928)

Der Beginn des neuen Schuljahres bedeutet in vieler Hinsicht ein denkwürdiges Datum in der Entwicklung der österreichischen Mittelschule: Die Durchführungsbe­stimmungen für die neuen Lehrpläne unserer Mittel­schulen, die im Juni dieses Jahres bekanntgegeben wurden, umschließen tatsächlich für die studierende Jugend ein neues Bildungsprogramm. Auf den Erfahrungsgrundlagen alterprobter Bildungsgüter auf­gebaut, ragt die neue Mittelschule stolz und zukunftsfroh in das Neuland pädagogischer und didaktischer Errungenschaften hinein, mit denen die Erziehungs­wissenschaft aller Länder in den letzten Jahren bereichert wurde. Im Vordergrund unter den pädagogischen Reformgedanken der neuen Mittelschule steht die starke Hervorhebung der körperlichen Erziehung. In einer kürzlich erschienenen Verlautbarung des Unterrichts­ministeriums wurde ausdrücklich auf jenen Teil der neuen Lehrpläne hingewiesen, die sich mit den nunmehr

obligatorisch gewordenen Leibesübungen an den Mittelschulen befassen. Die jungen Mittelschüler und Mittelschülerinnen werden in Hinkunft zu der Erlernung von Schwimmen, Ski- und Schlittschuhlaufen, zu rhythmischem Turnen und Tanzspielen ebenso verpflichtet sein wie zu der Einprägung lateinischer Vokabeln und geometrischer Formeln. Zweifellos steht Österreich mit dieser Neueinführung beispielgebend unter den übrigen mitteleuropäischen Ländern da.

Es ist nun interessant, daß gerade dieser Programm­punkt der neuen Lehrpläne in vielen Eltern- und Pädagogenkreisen, die sonst dem Reformwerk des Unterrichtsministeriums mit Anerkennung und Interesse gegenüberstehen, mit einer gewissen Zurückhaltung auf­genommen wird. Namentlich aus den Bundesländern werden Bedenken und Zweifel laut: Es wird da die Befürchtung geäußert, die stärkere Betonung körperlicher Bildungswerte könnte die schon ohnehin stark gefährdeten geistigen Bildungsgüter an der Mittelschule noch mehr in den Hintergrund rücken, die Mittelschule zu einer Sport- und Unterhaltungsstätte herabdrücken. Mit unangebrach­ter Schärfe wurde sogar von „Harlekinaden“ und Tanzkränzchen an den Mittelschulen gesprochen.

Der letzte Grund dieser sachlich keineswegs gerechtfertigten Ablehnung gegen diesen Programmpunkt der neuen Mittelschule liegt wohl in dem Mißtrauen, das man auf dem Lande allen Wiener Schulerneuerungsbestrebungen ohne Unterschied entgegenbringt. Die maß­losen, nur von politischer Zielstrebigkeit diktierten Experimente der roten Schulreformer, der Raubbau, der gerade von dieser Seite an dem Bildungserbe unserer Mittelschulen getrieben wurde, hat dieses Mißtrauen gesät. Aber es darf nicht übersehen werden, daß gerade das Reformwerk des Unterrichtsministeriums diesem verderblichen Experimentieren und der Politisierung der Mittelschule ein Ziel gesetzt und ihre aus den Zeitverhältnissen gebotene Weiterentwicklung in fest um­schriebene Bahnen gelenkt hat.

Dieser Weiterentwicklung gehört nun sicherlich auch die stärkere Beachtung der Sport- und Bewegungspflege im Lehrplan der mittleren Bildungsanstalten. Es ist voll­kommen unrichtig und zwecklos, das Streben nach körper­licher Ertüchtigung und Leistungsfähigkeit, wie sie Sport und Spiel in der freien Natur gewähren, in Bausch und Bogen zu verdammen und in scharfen Gegensatz zu geistiger und seelischer Bildung zu stellen. Sport im weitesten Sinne ist heute ein Erfordernis des modernen Lebens geworden, auf das die Jugend nicht mehr verzichten kann und will. Er stellt den nötigen Ausgleich zu den immer mannigfaltiger und schwieriger sich gestal­tenden Aufgaben des Arbeitslebens dar, das erhöhte Spannkraft und Nervenstärke verlangt. Es ist Aufgabe aller Volkserzieher, darüber zu wachen, daß diese an sich gesunden Bestrebungen nicht in Rekordpsychosen und in  einen unsittlichen rein materialistischen Körperkult aus­arten, wie leider heute vielfach die Ansätze dazu vorhanden sind. Wenn die Schule den Sport und die Körperpflege in ihr Bildungsprogramm aufnimmt und in vernünftige Bahnen leitet, so leistet sie damit eins sehr zweckmäßige Vorbeugearbeit und gräbt zahlreichen Ausschreitungen von vornherein den Boden ab. Haben die jungen Leute von der Schule aus Gelegenheit zu schwimmen, zu rodeln, Skilaufen unter der Leitung und Überwachung eines tüchtigen Lehrers, so haben sie es nicht notwendig, diese Künste in Kursen und Gesellschaften zu betreiben, die, wie jedermann weiß, oft von nichts weniger als er­zieherischem Einfluß auf das Seelenleben der Mädchen und Jünglinge sind. Und wenn in Zukunft in unseren Mittelschulen die Weisen der alten lieben Tiroler und Kärntner Volkstänze und die Melodien Mozarts und Schuberts aufklingen und die jungen Menschen zum rhythmischen Gestalten und Bewegen einladen, so ist dies wohl ein Teil höchst notwendiger künstlerischer Jugenderziehung, das beste Gegen­mittel gegen die hemmungslose Hingabe an Jimmy, Jazz und Niggertänze! Vergessen wir es nicht, daß dieser Kulturschande von einer Gesellschaft Raum gegeben wurde, die, allzu einseitig intellektuell gebildet, ihr kein Bewußtsein bodenständiger Sport- und Bewegungskultur entgegenzusetzen hatte. In dieser Hinsicht ist eine schulgemäße maßvolle Sportbildung unserer Jugend nur zu begrüßen.

Es ist wohl auch nicht zu befürchten, daß die körper­lichen Übungen an den Mittelschulen eine Gefahr für den Lerneifer der Schüler und Studienresultate darstellen.

Dafür bürgt die ganze Anlage der neuen Lehrpläne, die die Erwerbung und Einübung von Wissensgütern in allen Lehrfächern auf das genaueste und strengste regelt. Übrigens sind die Grundsätze für eine moderne Körper­bildung, wie sie durch die Lehrpläne nunmehr gesetzlich normiert erscheinen, schon seit längerer Zeit an vielen Knaben- und Mädchenmittelschulen geübt worden, ohne daß irgend eine Schädigung des Bildungsniveaus be­merkbar geworden wäre.

In diesem Zusammenhang sei auch an die alten Militärakademien und k. u. k. Kadettenschulen der ehe­maligen Monarchie hingewiesen. Niemand wird heute diesen Anstalten überstürzten Reformeifer und revolutionäre Schulden vorwerfen. Dennoch hatten sie in ihrem Lehrplan Tanzen und Anstandslehre aufgenommen aus der vernünftigen Erkenntnis heraus, daß für jeden jungen Menschen, der einmal auch zu der bescheidensten Führer­rolle berufen ist, Beherrschung des Körpers und seiner Bewegungen notwendig ist. Umso weniger darf man es der modernen Mittelschule verargen, wenn sie diese alte Erkenntnis weiterführt. Sie öffnet damit nur die Bahn zur zeitgemäßen Erfüllung des alten humanistischen Bildungsideals, das Plato in seiner Politeia für die Ertüchtigung der Jugend. aufstellte.

Eltern und Kinder können mit aller Beruhigung dem Beginn des neuen Schuljahres entgegensehen. Die jungen Leute werden bald erkennen, daß trotz Ski, Tanzen und Rodeln das Gymnasium eine ebenso ernste und vielfordernde Lehr- und Lernschule geblieben ist wie bisher. Die Eltern aber werden sich freuen, daß ihre Kinder Sport und Spiel unter Schutz und Leitung der Schule betreiben und nicht auf abseitigen Nebenwegen!

In: Die Reichspost, 4.9.1928, S. 6.

Artur Ernst Rutra: Das Weltbild meiner Generation (1928)

Im folgenden versucht Artur Ernst Rutra, der Autor der Tragödie Vom Kronprinzen, deren Erstaufführung im Burgtheater bevorsteht, die Grundlagen aufzuzeigen, auf denen das Weltbild der Generation zwischen Dreißig und Vierzig sich aufbaut, und die zugleich der geistige Hintergrund sind, vor dem sein Werk sich abspielt.

Natürlich liegen alle Hintergründe eines Werkes, das Bestimmtes zu sagen sich vornimmt, in dem Weltbild beschlossen, das sich in dessen Urheber in den Jahren und Jahrzehnten gebildet hat, die er sehend, denkend und leidend erlebt hat. Sie liegen hier, im besonderen Falle, im Blickfeld einer bestimmten Generation, der Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen, in deren Mitte ich stehe, von der ich im allgemeinen sprechen zu dürfen glaube, wie selbstverständlich ein jeder aus ihr, der sich geistig mit der Zeit auseinandersetzt. Ich bin mir dessen bewußt, daß meine Betrachtung nur einen Ausschnitt aus einer mannigfaltigen darstellen kann, aber ich glaube, daß viele zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sein müssen.

Nach einer Zeit von zehn Jahren alter Welt, die mit dem Kriegswahnkollaps ihr Leben beschloß, und nach zehn Jahren des Zusammenbruchs und verfluchter Aufbauarbeit suchen wir uns Rechenschaft zu geben über diese zwei Jahrzehnte, die gerade in unserem Leben deutlichere Spuren eingezeichnet haben, als in irgend einem anderen gegenwärtigen vor oder nach uns. Die Jugend, die nachkommt, hat es leichter, und die heutige gerade, die sich manifestiert, macht es sich zuweilen, wenn auch hoffentlich nicht in ihren gültigen Vertretern, besonders leicht; sie operiert bereits mit dem Vorwurf an die Adresse der Alten und nimmt bedenkenlos die alten Formen auf, um sich nicht besser zu bewähren, als es den gescholtenen Vorfahren gegeben war. Eine merkwürdig alte Jugend mit zuweilen vergreisten, gewiß jedoch fertiggestellten Zügen, sehr bewußt, aber auch sehr geschickt, ohne Elan, doch von unleugbarem Talent in der Verwaltung des Sprachguts, ohne Einfälle – aber auch ohne Einfalt. Ein Geschlecht von Mechanikern und Konstrukteuren, das stolz darauf ist; es mögen die Vordringlichen sein, die es eilig hatten, denn es tauchen bereits die Anzeichen auf, daß andere, verantwortungsbewußtere, sie abzulösen sich anschicken. Die Generation vor uns: die einen haben es schwerer, weit schwerer als wir, und werden sich nie mit dem Verlorengegangenen abfinden können, oder sie haben so viel Boden unter ihren Füßen hinübergerettet, daß sie unangefochten und unbekümmert darauf stehen können. Sie sehen die Abgründe, die sich aufgetan haben, aber ihr Blick ist elastisch genug, darüber hinwegturnen zu können, oder er kehrt befriedigt zu sich selbst zurück. Vereinzelte Gipfel sind da, um die es gewittert, und solche, auf denen es der Sonne gut geht, die sie bescheint.

             In jeder Reihe von Generationen ist immer eine, die vom Fluch des Wissens getroffen ist. Sie hat nicht Gott, noch Götzenbild, sie hat nicht einmal sich selbst. Die eine, die es diesmal im Ablauf der Folgen ist, ist das Geschlecht des Krieges. Was ihr blieb von sich selbst, ist das Geschenk einer furchtbaren Gnade, die ihrem Leben das Mal von Toten auf Urlaub eingebrannt hat; aus dem Leben fraß es sich in Denken und Fühlen und in die Gestalten und Erscheinungen der Phantasie. Diese Generation schleppt auf ihrem Rücken ihre Toten mit sich, und vor sich sieht sie die lächerliche Fratze der Wohlfahrt, die um das eigene Wohlergehen besorgt ist. Sie sieht die Lüge, die hinter dem trainierten Muskel, der Schönheit oder Geste bedient, die Geste hinter der Tat, und keine Tat im Tun. Diese Generation, der kein Pardon gegeben wurde, ist nicht geneigt, Pardon zu gewähren. Sie kennt nur ein Gebot, klar zu sein und gerecht, und nur eine Verantwortung: die vor sich selbst. In einer Reihe von Büchern der letzten Zeit, die ich las, finden sich, jedes in seiner Art, die Bekenntnisse dieser Generation. Ich nenne einige Verfasser, die solche Bücher schrieben, die Beispiele von Klarheit, Unerbittlichkeit und gegebener Rechenschaft sind: Josef Roth, Schneider-Schelde, Gläser, von der Vring, Eisenrohr, Sochanczewer. Es sind Werke, die auch Gegner finden mögen, die aber wertvolle Zeugnisse und Dokumente dieser Generation bleiben.

             Ich habe es versucht, in meiner ersten Tragödie Der Kronprinz Erkenntnisse der letzten Jahre Gestalt werden zu lassen, die Zeugnis ablegen wollen, soweit ein Einzelner sich Abgabe eines Zeugnisses anmaßen darf.

             Wenn Gestalten der Phantasie, die das Leben gereicht hat, einmal Leben gewonnen haben, ist es um vieles leichter, ein Drama zu schreiben, als einen Roman. Im Roman darf man die Gestalten Leben gewinnen lassen, oder ein Drama, in dem der Dargestellte nicht von Anfang an lebt, ist kein Drama. Also ist es wieder um das Drama schwerer bestellt als um einen Roman.  Das Drama lebt von der Sparsamkeit, es muß auf vieles verzichten, was der Roman gestattet, der sich im Reichtum entfaltet.

             Ich habe in der Tragödie vom „Kronprinzen“, die vor fünf Jahren zum erstenmal sich mir formte, versucht, einer Welt die Gerechtigkeit der letzten Konsequenz widerfahren zu lassen, die sie sich selbst versagt hat. Das Erlebnis des Verfalls einer historischen mündete in das Gebilde einer phantastischen Welt, die heroische zugrunde geht in einer Zeit, die keinen Platz mehr hat für den Helden antiker Begriffswelt. Diese phantastische Welt hat sich den Tod ersiegt, nur bleibt sie im Bilde und dient ihm und der Legende. Mittelalterliche Welt, die jedoch als unzeitgemäße, in die Gegenwart gerückte Historie, ihren sinngemäßen, heroischen Untergang findet. Eine altgewordene Welt, die den Glauben verloren hat und niemals Liebe hatte. Eine neue Welt und löst sie ab. Sie ist jung und: „sie will Liebe und, um zu reifen, – Fehler und Geduld.“

In: Der Tag, 2.12.1928, S. 21.

Hugo Schulz: Dämon Alpinismus. (1926)

Wenn man vom alpinen Sport spricht, so empfinden das viele Bergsteiger als eine Beleidigung. Sie gestehen nicht gern zu, daß ihr erhabenes Vergnügen ein Sport sei. Übrigens bestreiten auch die eigentlichen Sports­leute, daß der Alpinismus im eigentlichen Sinne als Sport zu qualifizieren ist. Ihnen scheinen nämlich Leistungen körperlicher Kraft und Gewandtheit nur dann die Wesensmerkmale des Sports zu tragen, wenn sie ihre Vervollkommnung im Wettkampf suchen. Das Charakteristische des Sports ist nach dieser Auffassung, daß er Rekordleistungen schafft, die exakte Maßstäbe für die Bewertung des

sportlichen Könnens abgeben. Wenn man nun selbst diese Auffassung, gegen die sich gar vieles einwenden läßt, un­eingeschränkt gelten läßt, kann man dem modernen Alpinismus den Charakter eines Sportbetriebes nicht ab­streiten, denn er trägt das eigentliche Wesensmerkmal des Sports an sich wie irgendein athletischer Wettkampf. Auf keinem Sportgebiet ist das Rekordwesen so vielgestaltig wie beim Alpinismus, nur hat es da die besondere Eigenheit, daß es keinen exakten Ausdruck durch arithmetische Verhältnisformeln gewinnen kann. Die Qualität touristischer Leistungen kann nicht gemessen, sondern nur geschätzt werden, aber die Alpinisten haben aus der Erfahrung allmählich Einheitswerte gewonnen, auf die bezogen sie jede Besteigung vollkommen

zuverlässig sportlich klassifizieren können. Wenn zum Beispiel ein Alpinist hört, daß jemand ohne Führer die Kleine Zinne bezwungen hat, so weiß er sofort genau, welchen Rang er dieser Leistung zuerkennen muß. Er hat ein ganz bestimmtes Bild von den Anforderungen, die diese Tour an die sportliche Leistungsfähigkeit stellt, und ist auch in der Lage, das Bild jeder andern Tour zu diesem in Beziehung zu bringen. In der Vorstellung der Touristen hat sich auf diese Weise ein vollständiges Rekordschema ausgebildet, das sehr feine und sogar subtile Unterscheidungen ermöglicht.

Wenn man nun weiß, daß der Alpinismus ein Sport ist, so hat man ihn deswegen noch lange nicht begriffen. Die moderne Bergsteigerleidenschaft hat entschieden etwas Mystisches, das aller exakten Erklärung zu spotten scheint und das sich nur dem aufhellt, der entschlossen ist, des Rätsels Lösung in den Tiefen des menschlichen Trieblebens zu suchen. Das Bergsteigen ist wohl Sport, aber nur in seinem Betrieb und nicht in seinem innersten Wesen.

Um im Rahmen der Hochalpenwelt Sport zu treiben, braucht man nicht die aussichtsarme Fünffingerspitze zu erklimmen. Eine scharfe Ruderfahrt über den Königssee leistet dem Körper und bei stürmischem Wetter auch der Seele ganz dasselbe wie eine schneidige Gipfeltour, ohne auch nur halb so anstrengend zu sein wie diese. Die Tatsache, daß auch beim Bergsteigen Naturfreude und Sport­freude einander durchdringen, vermag allein den besonderen Charakter des Alpinismus nicht zu begründen – die merk­würdige Lust, inmitten erhabener Schönheit Pfade des Todes zu wandeln, muß viel verborgenere Quellen haben.

Ich glaube, daß es mir gelungen ist. diesen Quellen näherzurücken, indem ich die Leidenschaft für schwierige Berg­touren aus einem Triebe erkläre, der bei vielen Menschen in stärkerem oder schwächerem Grade das Verhalten gegenüber ästhetischen Eindrücken bestimmt. Es gibt je nach dem Vorherrschen oder dem Fehlen dieses Triebes zweierlei Arten von ästhetischem Genuß; die beschauliche passive, die den Willen völlig auszuschalten vermag, und die begehrliche, bei der der Gegenstand des Genusses zugleich ein Gegenstand des Wollens ist. Der beschaulich Genießende gibt sich willenlos dem Eindruck des Schönen hin – „die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht“. Anderseits aber gibt es Menschen, die selbst beim Anblick des Sternenhimmels ihre Begierde, davon auf irgendeine Weise Besitz zu ergreifen, kaum zu zügeln vermöchten, wenn er nicht gar so unnahbar wäre. Das sind die Naturen, die das Schöne nicht anders genießen können, als indem sie zugleich unstillbare Sehnsucht nach dem Besitz hegen. Was ihnen gefällt, wünschen sie ihrem persönlichen Dasein einverleiben zu können, sei es als gemeines Eigentum, sei es als Erlebnis, sei es als Eroberung ihres erkennen­den Geistes. Das Schöne befriedigt sie nicht, solange sie es nicht ganz mit ihrer Persönlichkeit zu durchdringen, es zu gewinnen, zu meistern, von innen heraus zu begreifen oder auf irgendeine sonstige Art zu beherrschen vermögen. Die gemeinste Verkörperung dieses urmenschlichen Triebes sind jene Leute, die ein schönes Weib nicht sehen können, ohne danach zu begehren, seine höchste Verkörperung ist der gelehrte Forscher, der vor der Erhabenheit des Weltalls nicht in stummer Anbetung zusammensinkt, sondern in leidenschaft­lichem Erkenntnisdrang den Weg sucht, der zur Pforte des Allerheiligsten führt.

Wie wird nun der Anblick des Hochgebirges auf ein solcherart sehnsüchtig und schmachtend veranlagtes Menschenkind wirken? Der beschauliche Naturfreund wird sich in stummer, wunschloser Verzückung dem Eindruck hingeben und dann, des Gottes voll, von bannen gehen in seligem Frieden. Den kann nun der begehrliche Naturfreund nimmer finden. Je erhabener sich die Bergwelt vor ihm entfaltet, desto unruhiger wird seine Seele. Eine unsagbare Sehnsucht erfüllt ihn plötzlich, diese wilde Schönheit nicht bloß anzuschauen, sondern auch zu erleben. Eine rauhe Tatkraft erwacht in ihm und jagt ihn hinein mitten in die Wildnis, in das Labyrinth der Gletscherpracht. damit er sich da als Herr fühlen könne, dem all diese Pracht angehört als erworbenes und erobertes Eigentum seiner Persönlichkeit. Dieses Ziel ist unerreichbar, und daher kennt die Sehnsucht des echten Alpinisten keine Be­friedigung und kein Ende. Durch alle Poren sucht er in die Schönheit seiner geliebten Berge einzudringen und wühlt sich förmlich ein in sie, um sie ganz mit seiner Persönlichkeit zu durchsetzen. Auf den schwierigsten und gefährlichsten Pfaden fühlt er sich seinem Ziele am nächsten, er beweist seinen ge­liebten Bergen, daß er sie selbst dort, wo sie  am sprödesten tun, zu meistern vermag. Aber die verführerische Schönheit des Hochgebirges ist nicht auszuschöpfen, immer neue Probleme bieten sich dem wilden Erobererdrang des Ein­dringlings, der im Reich der Klüfte herrschen mochte. So wird das Bergsteigen eine Leidenschaft – eine erhabene Leidenschaft zwar, aber im Grunde doch wesensverwandt der erotischen jener Leute, die den verborgensten Rätseln des Geschlechtslebens nachspüren. Die Hochtouristen sind die Don Juans der Berge. Ihr Tun ist ein heißes Werben um die Gunst jener spröden Gewalten, die den Busen der Geliebten mit Eis und Stein gepanzert haben. Je schwerer der Sieg zu erringen ist, desto heftiger lodert die Sehnsucht. Gerade dort, wo die Hindernisse sich am meisten häufen, lockt am stärksten die Aussicht auf das Ziel des Strebens, sich einmal völlig eins fühlen zu können mit der inbrünstig geliebten Schönheit des Weltalls.

In: Arbeiter-Zeitung, 29.6.1926, S. 12.

Paganus [ ]: Lichtbündlerischer Auftakt. Beginnende Nacktkultur in Österreich. (1927)

Seit einiger Zeit mehrt sich auf meinem Schreibtisch – nein, auf dem Nebentisch – die sogenannte „Nacktliteratur“. Es scheint, daß die Autoren, Verleger und Propagandisten Österreich dieser für uns Terra incognita ent­deckt haben. Oder vielleicht haben sie nur entdeckt, daß ich ihre Nacktkulturei entdeckt habe und betrachten mich nun als Spezialreferenten des Blattes. Jedenfalls wimmelt es seither bei mir von Büchern, Broschüren, Einladungen, Nacktsanatoriumsprospekten, Sonnenbadbildern und so weiter. Großes Geschütz wird von Pro und Kontra aufgefahren. Es ist ein Kampf um Leben und Tod, um Schwimmhose und Epidermis.

Dabei hat die Bewegung schon ihre richtige Geschichte und Geschichtsschreiber, wie mich das im vorkämpferischen „Verlag der Schön­heit“ erschienene Werk Die Nacktkultur-Bewegung von I. M. Seitz belehrt. Und die Geschichte wieder hat neben den hygieni­schen und ästhetischen ihre religiösen, rassi­schen, metaphysischen, juristischen und ethischen „Belange“, was die meisten von uns wohl kaum geträumt hätten. Wer sich darüber – mit dem beruhigenden Imprimatur des erzbischöflichen Generalvikariats zu Köln – orientieren will, wird gut tun, sich die streit­bare Anti-Schrift des Jesuitenpaters Ph. Küble zu Gemüte zu führen, die der Jugendführungsverlag in Düsseldorf zu Nutz und Frommen des bedrohten katholischen Rheinlandes erscheinen lassen hat, ohne ver­hindern zu können, daß ein anderer „Theologus Christianus“ bei I. M. Seitz in München eine Anti-Antischrift drucken ließ, die haarklein, mit ebensoviel religiösen unethischen Argumenten aus dem Alten und Neuen Testament für das sogenannte Recht auf den nackten Leib eintritt. Nacktheit als Verbrechen nennt sich ein im Egestorfer Verlag Robert Laurer erschienenes, gut dokumentiertes, etwas kitschig illustriertes Buch, das die Leiden und Freuden der „Sonnenbündler“, soweit sie beim berühmten großen Nacktkultur-Prozeß zu Lüneburg erlebt wurden, in anklägerischer Breite erzählt und ein merk­würdiges Mentalitätsbild der deutschen Richter und Gerichte vom zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts enthüllt. Paul Isensfels wieder zeigt in seinen Getanzten Harmonien (Dieck & Co.) in prachtvollen Lichtbildern, daß die Nacktkultur als künstlerisches Akzidens bereits in großen Tanzschulen Deutschlands Eingang gefunden hat und nun dort ihren Kampf um die Daseinsberechtigung mit Hartnäckigkeit weiterkämpft. Therese Mühlhause versucht schließlich in ihrer Freien Lebensgestaltung (Verlag Laurer) das Recht auf Hüllenlosigkeit und Sonnenstrahlenmaximum in Weltanschauung und Familiendasein fürsorglich einzubetten, so daß der deutsche Spießbürger kaum mehr merkt, wie ihm geschieht.

Soweit von meinem Schreibtisch, respektive von seinem Nebentisch, dessen Rezensions­exemplare ihre pflichtgemäße Erledigung verlangen. Aber es erscheinen wohl hundertmal mehr Dinge am verlegerischen Nackthimmel Deutschlands, von denen sich Rezensent und Schulweisheit nichts träumen lassen.

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Und nun zu Wien. Langsam, aber sicher vollzieht sich der Nacktkultur-Anschluß an das Deutsche Reich. Die Kämpfe mit Gendarmerie, Gericht, Geistlichkeit und Polizei, die ihr pflichtgemäßes Ärgernis nehmen muß, locken auch hier die Kampflustigen. Zu ihnen gesellt sich die Schar der Naturschwärmer, Natur­heiler, Gesundheitsapostel, Sonnenanbeter. Urzuständler, Weltanschauer, die glücklich sind, auf ein neues, unbekanntes, verheißungsvolles Evangelium schwören zu können. Und die noch größere Schar derer, die nichts wollen, als es auch einmal zu versuchen, wie hundert­prozentige Sonnenstrahlung wirkt, oder die sehen wollen – gemäß den Lehren der Lehre – wie die Nacktheit die zur Last gewordene Erotik abstumpft und naiv macht. Bedenkt man’s recht, man sollte sie ruhig nach ihrer unbekleideten Fasson selig werden lassen und nicht durch überflüssige Kämpfe aus Sektie­rern Märtyrer machen. Was in Rußland, in der Ukraine, in Schweden schon seit langem – ohne Ärgernis Brauch, – wird auch uns nicht in eine Revolution stürzen. Und die Tat­sachen der zahlreichen deutschen Nacktsanatorien, des jüngst beschlossenen Familien-Nacktbades der Gemeinde Berlin, des kürzlich eröffneten Nacktbadestrandes im Seebad Sylt zeigen, daß hier eine Bewegung im Entstehen begriffen, die sich einfach durchsetzen will, die neben vielen komischen Seiten und Auswüchsen aber auch einiges Gute mit sich bringen kann. Ob den nordisch-gymnastischen Neuhellenismus, von dem manche träumen, das allerdings sei heute noch dahingestellt.

Im kleinen Maßstab gibt es bei uns schon seit Jahren so etwas wie Nacktkultur, Sonnenbündlerei, Lichtfreundschaft, Freikörperkultur, die alle nur unterschiedene Varianten des­ selben Themas darstellen. Seit Jahren ziehen kleine Kreise Sonntags in die Donauauen, auf die Lobau, auf den Bisamberg, in ent­legene Täler des Wienerwaldes, um nackt zu schwimmen, zu rudern, Gymnastik zu treiben, die Epidermis zu Pigmentieren, zu spielen oder um den – je nach dem Grade der Kor­pulenz – mehr oder weniger ästhetischen Anblick gegenseitig zu genießen. Hie und da hat es eine der Gruppen schon so weit gebracht, für die Abendstunden ein öffentliches Schwimmbad, für die Feiertage ein abgesondertes Gelände mieten zu können. Im übrigen ist man deutschnational, hakenkreuzlerisch, sozialistisch oder jngendbeweglerisch. Nur christ­lichsoziale Gruppen fehlen noch. Die Öffent­lichkeit hat bisher wenig davon Notiz ge­nommen, das heißt, man ließ sie nicht Notiz nehmen und lebte zurückgezogen. Polizei und Gendarmerie benahmen sich taktvoll und diskret.

Die Jüngsten und Radikalsten der „Sonnen­freunde“ wollen nun den gegenwärtigen latenten Zustand in einen manifesten ver­wandeln. Was von ihnen bisher als in­dividuelle Wohltat genossen und empfunden wurde, wollen sie nun als „Ruf an Alle“ weitergeben, zu einer Volksbewegung um­schaffen. Und sie hoffen, daß wir bereits reif dazu sind.

Selbst der komische Mißerfolg des ersten Auftaktes hat sie nicht abgeschreckt. Die erste Vorbesprechung in einem großen Stadtcafe, die jüngst an einem Sonntag vormittags statt­fand, durfte nicht stattfinden. Nachdem die zu­künftigen Lichtbündler gegessen und getrunken hatten – nicht früher –, erklärte ihnen der erschreckte Cafetier kategorisch, daß es in seinem anständigen Lokal „keine Nacktkultur nicht geben derfe“ und schloß die noch nicht eröffnete Versammlung. Konsequenz: bei der nächsten Einberufung erschienen doppelt so viel Licht­bündler. Zu seinem Erstaunen sah man Ärzte, Professoren, Ingenieure, Advokaten, Künstler, Offiziere, Frauen, Mädchen …, sogar schöne und anmutige. Nach den Berichten aus Deutschland und den sonstigen usuellen Dis­kussionsreden beschloß man den Bund für Freilichtkultur zu gründen und die Statuten einzureichen. Statuten von einer gewissen Rigorosität, die die Allzuneugierigen und Unberufenen fernhalten sollen; zugleich aber beschloß man auch, den Arierparagraphen der Anderen zu stürzen.

Ein Beginn ist gemacht. Ein Stück Anschluß an Deutschland vollzogen. Die Mitglieder strömen, wie man hört, in Menge zu. Gymnastische Kurse sollen demnächst beginnen. Ein Winter-Schwimmbad soll gepachtet wer­ den. Eine Donauinsel für den Sommer. Volksversammlungen werden geplant… Mit einiger Neugierde und Spannung darf man nun auf die Stimme der Gegenseite warten.

In: Der Tag, 21.11.1927, S. 3.