Ernst Lothar: Väter und Töchter. Ein Prozeß.
Gottlob, um die Vatermörder ist es still und das Wort wieder geworden, was es war: ein Kragenname. Jene militanten Söhne, die noch vor kurzem zahlende Zuschauer zu ihren häuslichen Kalamitäten luden, indem sie diese zu Dramen machten und das Tischtuch zwischen sich und den Vätern zerschnitten, nachdem sie es befleckt hatten, sehen sich nach andern abendfüllenden Komplexen um; ihre Zugkraft hat aufgehört. Hinter der messianischen Attitüde, die man darin fand, daß Maturanten Fünfzigjährige prüften und Komödianten einen Vater lehrten, rauscht längst nicht mehr die Fahne der Befreiung, sondern raschelt nur noch das Papier, auf das man vergleichen drucken ließ. Man hat sich den Schaum vom Munde der Lieblosigkeit gewischt, weil es mit dem Haß allem nicht mehr ging und zeigt sich bereit, mit denselben Lippen, die „crucifige!“ schrien, melodisch abzublasen. Patres peccavimus. Die Antivätermode ist vorbei. Und die mörderischen Stücke, die die Söhne wegen der Verweigerung des Hausschlüssels schrieben, sind vorbei, weil die Schreiber befürchten müßten, auf ihnen ausgepfiffen zu werden. Seit das Überscharfe schartig wurde, wurde der Kampfplatz zum Gemeinplatz. So hat man ihn verlassen. Spät genug wurde zur Selbstverständlichkeit, daß Gegensätze nicht geringer werden, wenn man ihnen mit Messern zu Leibe, statt mit Nachsicht zur Seele geht. Jetzt ist es endlich so weit. Die Söhne drängen die Väter nicht mehr in die schwarze Rolle der Tyrannen, diese die Söhne nicht mehr in den Kerker der Rebellen. Man begann sich zu suchen. So wird man sich finden.
Man findet sich noch nicht, man kämpft, man leidet noch, wo es nicht nur um den Unterschied der Generationen, sondern überdies um den der Geschlechter geht. Da der Waffenstillstand zwischen Vätern und Söhnen so gut wie geschlossen ist, beginnt und dauert ein anderer Prozeß um so zäher. Man führt ihn verbissen, leidenschaftlich, erbittert. Man führt ihn dogmatisch. Das Problem von heute heißt nicht mehr: Väter und Söhne, sondern, da die Töchter, innerlich und äußerlich, Männerrechte reklamieren: Väter und Töchter. Jener Auseinandersetzung gehört die Vergangenheit: dieser die Zukunft
Wie in jedem Prozeß hat man auch hier vorerst die Klagelegitimation zu prüfen und die Fakten außer Streit zu stellen. Kläger sind die Väter. Beklagte die Töchter. Streitgegenstand: Entartung der jungen Mädchen. Klagebegehren: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Ehe da? Verfahren beginnt: so viel über den Streitgegenstand gesagt wurde, die Wahrheit hat man nicht gesagt. Man versuche, das Für und Wider probater Schlagworte zu vergessen und sich parteilos, das heißt fachlich vor Augen zu halten, was zu sehen ist. Man sieht zweierlei: Die Vermännlichung des Weiblichen; die Verkennung des Weiblichen. Das junge Mädchen hat sich vermännlicht. Mit einem radikalen Entschluß hat es an sich gerissen, was ihm vorenthalten war: Beruf, Partei, Besitz. Mit einem radikalen Entschluß hat es von sich geworfen, was es dabei aushielt: Gestalt, Erscheinung, Meinung. Das junge Mädchen sieht aus wie ein Jüngling; das junge Mädchen tritt auf wie ein Jüngling; das junge Mädchen denkt wie ein Jüngling. Mithin: das junge Mädchen sieht sehr oft gegen seine Art aus; das junge Mädchen tritt gerne gegen seine Art auf; das junge Mädchen denkt manchmal gegen seine Art. Dies ist das Faktum, und es könnte zur Tatsache, die es ist, nicht geworden sein, folgte es nicht aus dem zweiten Faktum: der Verkennung des Weiblichen. Denn indem das Mädchen mit aller Vehemenz die Vermännlichung anstrebt, leistet es zugleich auf das dominierende Weibliche Verzicht. (Hier ist eine reguläre Falschmeldung richtig zu stellen: Man behauptet zumeist, daß die Vermännlichung nicht auf Kosten des spezifisch Weiblichen erfolgen, nicht zwanghaft jene Entanmutung herbeiführen müsse, deren Zeugen wir geworden sind. Wer das behauptet, verbindet sich die Augen, oder weiß nicht was Anmut ist.) Auf dem Wege ins andere Lager, so viel steht fest, hat das Mädchen gewonnen und verloren. Es gewann den Mut, sich zu ändern, es verlor die Anmut, zu sein. Das ist diesen Verlust leichten Herzens trägt, beweist, daß es verkennt, worauf es verzichtet. Man hat ihm seine Art so lange verschwommen himmelblau gemalt, bis es die scharfen Linien der Abart für die Konturen der Erfüllung hielt.
Das ist der Tatbestand.
Er fordere zur Abhilfe heraus, sei zur Katastrophe geworden, sagt im eröffneten Verfahren der zur Klagebegründung verhaltene Anwalt der Väter. Der Klageanwalt sagt: Was sich heute junges Mädchen nennt, ist ein Pasquill. Denn das ist weder Jugend noch Mädchentum; das ist frühaltes Raffinement und desolater Illusionsverlust. Zynisch ist es. Schamlos. Sehen Sie, wie die Beklagten vor Gericht erschienen sind? Sind diese überroten Lippen nicht Beweis? Diese Sprache der kalten, nackten, infamen Worte? Dieses respektlose Lachen? Diese lächerliche Tracht, die die Röcke kindlich kürzt, um die Gesichter greisenhaft zu altern? Beweist es nichts, daß diese Neunzehn- und Zwanzigjährigen, deren eine wie die andre, jede wie aus einem Tanzhaus aussieht, vom tollen Ehrgeiz gepackt sind, alle Farben der Natur geniert auszulöschen und die Schminke aller Unnatur triumphierend aufzutragen? Dieser Zwittergeneration, der auf dem Irrweg zum Männlichen der Rückweg zum Weibe verloren ging, sind die Begriffe verloren gegangen, die den Inbegriff des Weibes bedeuten und erhöhen: Scham, Demut. Scham? Wo finden Sie sie? Auf überroten Lippen, die gewohnt sind, Gespräche zu führen, Scherze zu erzählen, Zweideutigkeiten zu ermuntern, deren Allgemeinheit nur ihrer Gemeinheit gleichkommt? Auf geschminkten Wangen, in berechnenden Blicken, in der ganzen willkürlichen Preisgegebenheit, in der sich das Geben nach dem Preise richtet? In diesem allem Zurschau-, zu allem Bereit-, von allem Berührt-, von nichts Ergriffensein? In dieser schnöden Ausflucht, die den Mantel der Kameradschaft über die Blöße des Zynismus hängt? Scham? Sie finden sie nicht. Denn sie fiele allzu lästig an den geweihten Stätten, wo die Altäre dieser Generation stehen: auf den Fußballplätzen, bei den Niggertänzen: in der Welt, die der Ingenieur gemacht, der Intellekt geheiligt, die Spekulation bezahlt hat. Scham ist ein Defekt geworden, dessen man sich schämen muß. Habe ich Demut gesagt? Wo in aller Welt sind Sie ihr begegnet? „Entgötterung“ heißt das Stück, das das Welttheater täglich vor ausverkauften Saale spielt und das die Menschen so zum Lachen, weil es die Götter und die Gottheit bringt. Siehe da, der Heiligenschein ist ein Rundstreifen Goldpapier, die Größe eine Machination der hohen Stöckel, die Ewigkeit das Manöver einer falsch gestellten Uhr. Herunter mit der Draperie! Werdet unseresgleichen! Werdet klein! Da klatschen die Zuschauer Beifall. Sie sind entzückt von der Komödie, die ihnen beweist, daß es absurd ist, zu verehren. Schiller ein Phänomen? Hört ihr von Bombast seiner Rede, das Oberlehrerpathos seiner Phrase? Wagner grandios? Dieser tückische Intrigant? Bismarck ein Staatsmann? Laßt euch erzählen, was er ans Varzin bei Tische sprach! Und Jesus Christus – Mensch, haben Sie denn nicht gelesen, daß es ihn nicht gab? Unwiderleglich bewiesen, daß jene Stelle bei Josephus Flavius apokryph ist? Verehrliches Publikum! Das Hohe hat nie gelebt; das Große ist klein; das Venerabile ein Schwindel. Hereinspaziert, bei uns sehen sie alles, wie es ist, wir lassen uns nichts vormachen, wir jungen Menschen von heute, wir bewundern nicht, wir respektieren nicht, wir pfeifen auf den Humbug, wir jungen Menschen von heute…. wir stehen nicht mehr Spalier. Denn wir haben zu viel Intellekt! Wir haben zu viel Witz! Und mit Intellekt und Witz wird ein Apostel zur Kabarettfigur. Demut? Sie finden sie nicht. Nicht Scham, nicht Demut. Zynismus statt dieser, Intellekt statt jener. Das ist fürchterlich. Aber derselben jungen Generation, der nichts heilig ist, wird morgen das Heiligste überantwortet sein: diese jungen Mädchen sind die Mütter, sind die Erzieherinnen von morgen. Alles oder nichts der Zukunft hängt von ihnen ab. Deshalb haben wir die Klage erhoben. Deshalb beantragen wir, daß ihr stattgegeben werde…
Jetzt ist es an den Beklagten, zu antworten. Sie führe ihre und der andern Sache selbst, erwidert eine von ihnen, steht auf, tritt vor und spricht. Blaß unter dem Puder, schmal, straff steht sie da. Entschlossen schaut die aus erregten, großen, wissenden Augen. Kein Blick seitab. Keiner nachgiebig. Ganz wenig zittert ihre Stimme, als sie zu reden beginnt. Dann redet sie sich frei. Sie wolle offen reden, sagt sie. Schonungslos. Man muß, sagt sie, die Wahrheit sagen… endlich! Wir jungen Mädchen sind anders geworden, ja. Deshalb klagt man uns an. Warum aber – warum sind wir anders geworden? Darauf hat sich der Advokat unserer Väter mit keiner Silbe eingelassen. Ich will es sagen: Wir sind anders geworden. Weil es, wie es gewesen ist, nicht länger zu ertragen war. Weil es unmenschlich war! War das, was zu leben man uns ansann, denn Existenz? Wir sind erzogen, sind in Watte gewickelt, sind herangebildet worden, gewiß. Wir haben Englisch gelernt und Kunstgeschichte. Oder Buchhaltung. Oder Kochen. Und wir haben Tennis gespielt. Und man hat uns zu Konzerten geführt. Aber wir sind im Zimmer gewesen. Achtzehn oder zwanzig Jahre im Zimmer. Das Zimmer war weiß und hatte nette, blanke Möbel und nette, lichte Vorhänge und possierliche weiße Teddybären gehabt. Gewiß. Wenn aber draußen wer vorbeigegangen ist, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn draußen wer geredet hat, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn etwas gestehen ist, irgendetwas außerhalb des Zimmers mit den netten, blanken Möbeln, hat man „Pst!“ gemacht… achtzehn oder zwanzig Jahre. Und diese achtzehn oder zwanzig Haftjahre mußten doch einem Zweck gedient haben? Diese Vorsicht und Kerkermeisterschaft mußte doch an ein Resultat gewendet worden sein? Sie hat auch einem Resultat gedient: der Heirat. Eines Tages zeigte man uns wen und verlangte: Den wirst du heiraten. Ob er einem mißfiel oder nicht, ob er einem innerst entgegen war oder nicht: Den wirst du heiraten. Und dann lehnte man sich auf. Und dann wurde man der Auflehnung müde. Und dann wollte man aus dem Zimmer mit den netten, blanken Möbeln, so oder so! Und so wurde man verkuppelt. So wurde man Frau. So wurde man jämmerlich hintergangen. Vorher: Nichts. Nachher: Qual. Alles Lüge, was man einem vorgeredet hatte. Lüge der Elternliebe, die einen schließlich feilbot. Lüge das Versprechen von den „glücklichen Ehen“, das einen gefügig machen sollte. Glückliche Ehen? Und wo gab es sie? War das glücklich, was man vor Augen hatte? Sind die Ehen unserer Eltern glücklich? Verrat sind diese Ehen, Mißbrauch, Demütigung, Enttäuschung, Maske und Verzicht. Und dafür wurde man herangezogen. Für nichts sonst. Für einen Bankrott.
Aber… dann wurde es draußen zu laut, als daß man immer noch „Pst!“ hätte machen können. Dann kam der Krieg, und man konnte uns brauchen. Wir, die Menschenalter hindurch zu nichts zu gewesen waren, wurden plötzlich Gehilfen. Wir traten nahe hin. So sahen wir. Wir sahen leben. Wir sahen sterben. Wir sahen, wie ungeheuer viel zu tun war und wie ungeheuer schlecht man es tat. Da fühlten wir, wie stark wir waren! Wie viel Kraft man in uns zurückgedämmt, an wieviel Leistung man uns verhindert, wieviel Versäumnis man unverantwortlich an uns verschuldet hatte. Es gibt keine Privilegien des Geschlechts. Nur der Kraft. Wir hatten die Kraft. Mit einem Schlage, herrlich begierig, herrlich entschlossen, traten wir hervor und zeigten die Kraft. Wir halfen. Wir bewiesen, daß man uns unterschätzt hatte. Wir leisteten. Wir vegetierten nicht mehr. Wir sind anders geworden.
Wir sind anders geworden. Rosenrot und Himmelblau sind unsre Farben nicht mehr. Selbstverständlich. Wir haben zuviel Schwarz gesehen. Und die Augen niederzuschlagen, haben wir verlernt. Selbstverständlich. Wir mußten sie ja zu lange offen halten. Und Respekt zu haben, fällt uns schwer. Selbstverständlich. Zu viel Kleinheit, zu viel Niedertracht ist an uns herangekommen. Respekt vor den Männern, die uns brotneidig wegdrängten und denen wir, was uns gebührte, wie eine Gnade Schritt um Schritt abringen mußten? Respekt vor den Männern, die uns hinter einem weißen Gitter einsperrten, damit wir ihnen zu Willen, nicht zur Konkurrenz seien?
Wir sind, wie wir werden mußten. Wir haben uns kraß vermännlicht, weil man uns kraß verweiblicht hat. Wir tragen die Schminke der Zeit, weil wir sonst unterlägen und weil man uns so will! Wir sind keine Gänschen mehr, weil die Epoche nicht reicht genug ist, mehr Gänschen und weniger Gehilfen zu besitzen! Wir sind, wie wir sind.
So können wir nicht Rücksicht nehmen. Auf niemanden und auf nichts. Nicht auf Scham, die durch und durch steril ist, nicht auf Demut, die immer zurück zeigt. Wo auf der einen Waagschale die Existenz, auf der andern die Konvenienz liegt, darf keiner etwas anderes wollen, als: sich. Unbeirrt. Ungezwungen. Jeder ist Mensch. So will er selbst sein. So will er sich entwirken. So will er nicht verzichten müssen. Keiner will sich opfern… wer lehrt denn noch solch eine lächerliche Lüge! Und wer einem die Fußbank des Gottgefallens, der Moral, des Ideals – dieses alte, wurmstichige, von jedem Betrug abgescheuerte Requisit unterschiebt, lügt nicht nur, sondern lähmt! Lähmen lassen wir uns nicht mehr. Wir wollen unsern Anteil. Den Anteil Leistung, den Anteil Lust. Die Rechnung stimmt, es bleibt kein Rest. Deshalb beantragen, nein, deshalb verlangen wir, daß die Klage abgewiesen werde…!
Das sind die Standpunkte.
Was an diesen Standpunkten ist wahr? Es ist wahr, daß der Existenzkampf, den die junge Mädchengeneration führt, notwendig, unaufhaltsam und gerecht ist. Es ist wahr, daß eine Zeit, die sich behauptetermaßen der Menschenrechte an- und den Mund von sozialen Pflichten vollnimmt, an der primitivsten Gemeinschaftspflicht: der absoluten, unverkürzten Gleichstellung der Geschlechter nichts mehr zu belächeln finden darf. Den Artikel 7 unserer Verfassung müßten alle Männer solange memorieren, bis sie begriffen haben, daß er nicht Juristen-, sondern Menschengesetz ist: Die Frau hat dieselben Rechte wie der Mann. Kein Spott, kein noch so witziges Argument, keine Ironie, keine Infamie kommt dem bei. Da die Frau, die gereifte wie die junge, sich bewiesen hat: exemplarisch bewiesen; bewiesen als Entbehrerin; bewiesen als Lehrerin; bewiesen als Leisterin, ist ein Gegenbeweis nicht mehr anzutreten, weil es keinen gibt. Wo immer die Frau ihren Platz gesucht hat, sie hat ihn behauptet: Wenn also nicht ihr Menschenrecht, so spricht die Leistung für sie. Die Leistung spricht sie frei. Es ist unwidersprechlich wahr, daß die jungen Frauen um ein Erbe kämpfen das ihnen längst hätten eingeantwortet sein müssen.
Und es ist unwidersprechlich wahr, daß sie diesen Erbprozeß schlecht führen; es ist unwidersprechlich wahr, daß sie vielfach die Scham, daß sie vielfach die Demut verloren oder vernachlässigt haben. Aber wenn Gleichberechtigung das Sittengesetz des Geschlechts der Menschen, so ist Scham und Demut das Sittengesetz des Geschlechts der Frau: Scham ist die Fruchtbarkeit des Erkennens, Demut die Fruchtbarkeit des Gefühls. Was an Widerstand, an pharisäischem wie ein überzeugtem, sich der jungen weiblichen Generation noch entgegenwirft, rührt ausschließlich aus ihrer Verleugnung. Hiemit drapiert sich die Konkurrenzpanik der in der Leistung Minderwertigen, dies legitimiert die Vätergeneration, ab-, statt freizusprechen. Die jungen Frauen kämpfen um sich selbst. Doch indem sie sich finden, verlieren sie sich. Indem sie dem Berufe zueilen, verlassen sie ihre Berufenheit. So kehrt man ihre Waffen gegen sie. Warum haben sie sie vergiftet? Warum verführen sie die Welt zu der abgrundfalschen Meinung, daß sie einem nichts gebe, ehe man sich preisgab? Warum? Aus demselben Grunde, der die Wortführerin der jungen Generation behaupten ließ, ihre Rechnung stimme ohne Rest.
Die Rechnung stimmt. Bleibt wirklich kein Rest? Er bleibt, bleibt schmerzhaft. Hat man nicht gehört, wie präzis und streng die Klage war? Wie exakt und streng die Antwort? Streng. Streng. Die Welt hat die Wärme verlernt. Staatsanwälte alle, Anwälte der Entherzung. Alle klagen an. So bleibt ein Rest. Ein ungeheurer Erdenrest Sehnsucht, ein ungestillter, innerster, stürmischer Wunsch nach Versöhnung. Väter und Töchter. Klingt da nicht eine Saite? Schwingt sie nicht mit einem vollen, klaren, bluttiefen Ton? Väter! Fordert nicht Privilegien, gebt und fordert Herzrecht! Töchter! Laßt euer Wissen Ahnung werden! Ahnung der ungeheuren Sehnsucht einer beschmutzten, frierenden Welt nach Wärme, nach Reinheit. Ahnung, daß ihr zu wenig Liebe habt, um genug Scham und Demut zu haben. Und daß ihr geschaffen seid, aus Scham, Liebe und Demut die Zukunft zu gebären, in der ihr sein sollt, was ihr wollt: Berechtigte, und was ihr müßt: Mütter. Dann wird der Prozeß, den man gegen euch führt, keine Rechts-, sondern ein Entwicklungsprozeß, mithin für euch unverlierbar sein.
Das ist das Urteil.
In: Neue Freie Presse, 17.10.1926, S. 1-4.