Ann Tizia Leitich: Girldämmerung
Das neue Ideal: die wissende junge Dame
Wer von Ihnen, meine Damen, hat ein Körpermaß von 155
Zentimeter? Wem gibt der Bubikopf ein lächerliches Aussehen und wird nur
getragen, weil man lieber lächerlich wirken als wie seine eigene Großtante
aussehen will? Wer hatte seine liebe Not mit diesen Puppen- , diesen
Konfirmationskleidchen, die die Mode der letzten Jahre vorschrieb? Wem hat ein
Künstler gesagt, daß die sanfte Wellenlinie der Hüften entzückender sei als die
erbittert angestrebte hermaphroditische Kurvenlosigkeit der modernen Figur –
was Sie natürlich damit beantworten, daß sie die ganze Schönheit mit einem
Jumper zu phantasieloser Geradliniegkeit plattdrückten? Welche Frau gefällt
sich in der von der Mode verbannten langen fließenden Gewändern mit einer
Schleppe? Wer ist der ewigen Filzcloche der Sechzehnjährigen müde? Und wer
möchte – ich bin mir bewußt, daß diese
Frage der ganz unmittelbaren Gegenwart etwas vorausgreift, aber sie liegt in
der Entwicklungslinie meines Gedankens – wer möchte einmal, statt bloß geistlos
zu tanzen, interessant flirten?
Alle diese Damen, deren geheime Wünsche mit den Möglichkeiten
im Widerspruch liegen, können frohlocken und einander die Hände schütteln. Für
sie bricht eine bessere Zeit heran: sie kommen wieder in Mode, denn – –
Das Girl hat
ausgespielt. Wie es
in Europa ist, weiß ich nicht, denn die Behauptung gilt nur für Amerika, das
Land, wo das Girl die impertinent unschuldigen und je nach Bedarf keck-fröhlich
oder sentimental-ergebenen Augen aufschlug. Europa dürfte übrigens, wie in den
letzten Jahren gewöhnlich, schleunigst folgen. Es wird natürlich auch nicht
gleich ganz verschwinden, das Girl, dazu ist es zu lebenskräftig und zäh; aber
es wird Liebe und Sex, Mode, Künstler
und Figurinenzeichner, Männer und ihren Geschmack, Literatur, Theater,
Kino, Manieren nicht mehr tyrannisieren können. Es ist ihm nämlich das Fatalste
passiert, das einem weiblichen Wesen heute zustoßen kann: es ist uninteressant geworden. Das geschah, als die Intellektuellen
und die Snobs es gleichzeitig fallen ließen. Jene taten es, indem sie sich laut
und wortreich in ihren Magazines mit den Problemen der verheirateten und erwerbenden
Frau befaßten; diese rein geistige, daher langweilige Tätigkeit wäre
wahrscheinlich ohne Konsequenzen für die Welt verhallt, wenn die Snobs nicht
gewesen wären, die sich in ihren Magazines an blasierten Dialogen erfreuten, in
denen die weibliche Partnerin so kühl-überlegen, so raffiniert berechnend, so
erhaben über allem und doch lüstern auf jede Sensation, so lässig hingegossen
und dabei in jedem Winkel ihres Wesens auf der Lauer gezeichnet war, wie es ein
Girl nie und nimmer sein durfte, ein Typus, den man mit dem unübersetzbaren
Wort ‚sophisticated‘ bezeichnete. Schon seit geraumer Zeit glorifizieren die Snobs,
die in Newyork, dem größten Wettrennplatz der Welt, eine ganz hervorragende
Rolle spielen, dem herrschenden Broadway-Geschmack und dem berühmtesten
Girlregisseur Flo Ziegfeld zum Trotz die
‚sophisticated woman‘. Wer Vogue, Harpers Bazar oder Vanity Fair je in der Hand
gehabt hat, dem wird dies keine Neuigkeit sein.
Das Girl im Leben und
auf der Bühne. –
„Baby-stare“
Die Allgemeinheit wurde scheinbar nicht dadurch beeinflußt:
Die Girlmode hielt sich vor allem
deswegen, weil sie an einem unerhört festen
psychologischen Haken der Frauen hing, die da glauben, nicht bloß Jahre,
sondern Jahrzehnte wegschwindeln zu können, wenn sie sich als Girls gebärden;
was bei einigen stimmte, bei vielen aber nicht; was wir aber wieder nicht so
bemerkten, weil wir alle den Girlkomplex
hatten. Wie in der Mode, behauptete sich das Girl auf der Revuebühne, wo das
stehende Heer von Ziegfeld-, Hoffmann-, Tiller-, Albertina-, Rasch-, Duncan-
und anderen Girls fortwährend durch neu anmarschierende Bataillone verstärkt
wurde. Sein Gesicht lächelt unentwegt und unerschüttert von den Titelblättern
und aus den Seiten der populären Magazines; und sein knabenhaft unentwickeltes,
schmetterlingsleichtes Figürchen, das dem Mann nicht bis zur Schulter reichen
durfte, beherrschte die allmächtige Silberleinwand und damit Millionen von
Zuschauern.
Vielleicht ist es hier nützlich, darauf zu verweisen, daß das
amerikanische und das europäische Girl sich nicht ganz deckten. Die
charakteristischen und wesentlichen Eigenschaften des amerikanischen, also des
echten Girls, war die … o nein, nicht die Bubenhaftigkeit. Diese war nur die
äußere Würze, die pikant kontrastierende Beigabe, die mit großer Kunst
verwendet sein wollte, die die Europäerin meist nicht so gut verstand wie die
Amerikanerin; denn das Girl war bei
weitem schlauer als es aussah; schlauer zu sein als zu scheinen, war ja
sozusagen sein Geschäft; Millionen wurden damit verdient. Daher begegneten nur
Imitationsgirls dem Mann burschikos; die echten, unter denen es wahrhaft
entzückende gab, wußten, daß sie vor allem ‚sweet‘ (süß) zu sein hatten. Und
deshalb war das Girl an der Vermännlichung der Frau unschuldig; diese
Vermännlichung gehört in ein ganz anderes Kapitel und ist auch eine Ursache
mehr, daß das Girl aufhören muß, Girl zu sein. […]
Das Hauptrüstzeug ihrer Vorgängerin wird samt und sonders in
die Abfallkanne wandern und darum ist es wahrlich nicht schade. Das ist nämlich
jener süße, unschuldig-einfältige Blick aus weitaufgerissenen, dem Leben
namenlos verwundert gegenüberstehenden Augen, mit dem das Girl zum Mann
hinaufsah. Diesen Blick bezeichnete der amerikanische slang treffend als „Baby
stare“. Jeder kennt ihn aus amerikanischen Filmen; denn wenn die Heldin nicht
eine /30/ ausgemachte Verführerin war, so mußte sie über dieses Baby-stare und
die Babygestalt verfügen und das Babyliebesgetändel beherrschen, um Helden und
Zuschauer dranzukriegen. Demgemäß waren die Straßen, die Geschäfte, die
Restaurants von Hollywood mit den hübschesten, gedrilltesten und mustergültig
uniformen Girls so angefüllt, daß die ganze Gegend mit Baby-stares förmlich
infiziert war und nach kürzerer oder längerer Zeit seinen Verstand verlieren
mußte.
Mary Pickford wird
entthront
Noch tanzen die Girls auf Broadway – – sie werden es noch lange tun, God bless them. Am Weihnachtstage glühlichterte ein Revuetheater über die unabsehbare Menschenmenge der Theaterstraße: „4 shows today nothing but girls.“ Aber etwas geschah neulich, das man nicht so sehr beachete, da hier täglich Größen fallen und Größen aufstehen. „Darling of America“, Mary Pickfords neuester Film fiel auf Broadway fast durch. Nicht weil Mary über das Alter der Girls hinaus ist, aber weil sich das Publikum für Mary-Girls nicht mehr interessiert. Mary fiel zum ersten Mal in ihrem Leben ‚flach’ und sie wird ‚fern von Madrid’ jetzt Zeit haben, darüber nachzudenken, wie viele von ihren schauspielerischen Künsten sie dem Filmbaby opferte, das sie kreiert hat. Nachdem dieses Ereignis ohne Kommentar versunken war, wurde ein über der Fünften Avenue schwebender monumentaler Girlkopf, der eine Seife mit den Worten anpries „keep that school-girl complexion“ (Bewahre den Schulmädchenteint), eines Tages durch den schlanken, intelligenten Kopf und das liebenswürdig, aber sehr weltweise dreinschauende Gesicht einer jungen Frau ersetzt, die noch dazu ganz offen eine Frisur trug. Gleichzeitig verschwand auch die „School-girl complexion“. Damals begann ich etwas zu ahnen, denn ein solches Plakat kostet zu viel, als daß man sich dabei Experimente erlauben könnte. Meine Ahnung bestätigte ein Blick in das Schaufenster eines berühmten Modehauses, wo die reizenden Stilkleider, die das Girl mit seiner bekannten Präpotenz sich auch gleich wieder hatte aneignen wollen, indem es durchaus niedliche flatternde Kleidchen daraus zu machen suchte, ladylike verlängert waren. Einzelne rückwärts bis zum Boden, in der Art der Kostüme der andalusischen Tänzerinnen, andere mit seitlicher oder rückwärtiger Schleppe. Ha, eine Schleppe, das geschieht ihm recht, dem Girl.
Es gab
in den Schaufenstern noch allerhand andere interessante Sachen, Schleier zum
Beispiel, die aber wahrscheinlich nicht Mode werden dürften, weil die
Amerikanerin sie einmal nicht will, und geraffte,
fließende Kleider, die für jene hochgewachsenen Frauen geschaffen sind, die
sich die letzten Jahre in Mauselöchern verkriechen durften, wenn sie nicht sich
selber untreu sein wollten. Und am selben Abend sah ich bei einer fashionablen
Premiere alle die Damen, von denen ich wusste, daß ihre blonden, brünetten,
grauen, weißen Bobs (geschnittene Haare) unmöglich schon nachgewachsen sein
konnten, mit tiefen Knoten im Nacken, mit gedankenvollen, intelligenten, von zu
viel Erleben müden Gesichtern – Müdigkeit, die natürlich zu 99 Prozent
Imitation war, Gesichter, die zum Mann keineswegs hinauf-, sondern offenbar auf
ihn herabsahen, auf denen ein Lächeln nur selten aufflog, aber dann mit allen
Anzeichen von Kostbarkeit, Geheimnis und wissendem Locken. Blond, brünett, grau
oder weiß – – die Girls waren samt und sonders verschwunden und es gab nur
elegant-geschmeidige, unendlich blasierte „sophisticates“.
Die neue Königin und ihre Attribute
Und damit seien auch alle jene getröstet, die um die verlorene Dame die Hände gerungen haben. Es ist nicht mehr notwendig, denn sie ist schon wieder da. Wirklich und wahrhaftig; man darf sich beruhigen. Sie ist zwar nicht ganz die Alte, selbstverständlich nicht, Gott sei Dank nicht, dazu hat sie viel zu viel mitgemacht und zu viel gelernt; aber sie ist Dame. Wenn man es noch nicht glauben kann, so will ich zum Schluß jetzt meinen Trumpf ausspielen: Hollywood ist mit dabei, sein ureigenstes Produkt, das Girl, zur Strecke zu bringen. Das ist ungeheuer wichtig, denn ohne Hollywood könnten wir’s alle nicht ermachen. Sie zweifeln? Aber ich habe es schriftlich. „Hoch, schlank, statuesk, schön, die Personifizierung schlummernder Glut.“ Worte, die vor zwanzig Jahren geschrieben wurden? Mit nichten! Ganz neue Worte, so neue, daß sie noch brennend weiß über Broadway getragen werden. Denn mit ihnen preist Hollywood seinen neuesten Star an, Greta Garbo, die Schwedin, die gegenwärtig in einem Film, „Love“ Triumphe feiert, dessen Personen komischer- oder tragischerweise die Namen von Tolstois Roman „Anna Karenina“ tragen. Auch Pola Negri hatte hier Erfolg, aber es war nicht die Art von Erfolg, die so zwingend einen Teil der öffentlichen Mentalität wird, daß die Frauen sich selbst, Mode und Liebe verändern, und die Männer ihr weibliches Ideal von heut auf morgen umkrempeln. Greta kam eben im psychologischen Moment, als Amerika reif war für die hohe, schlanke, wissende, junge Frau, die noch vor zwei Monaten in Hollywood ruhig vor den Toren der Studios hätte verhungern können, selbst wen sie die Duse des Films in Person gewesen wäre. Greta bricht übrigens auch die Tradition in anderer Hinsicht, indem zum erstenmal in einem amerikanischen Schlager eine verheiratete Frau zur Liebesheldin gemacht wird.
Was werden nun die Girlarmeen in
Hollywood machen? Und wie werden die kleinen Stenos ihr Budget dem neuen Ideal
anpassen, das bei weitem teurer kommt? Warum sollen wir uns darüber den Kopf
zerbrechen; wer hat uns gefragt, als man uns Kinderkleider zumutete! Ich habe
meine Pflicht getan und Ihnen, meine Damen, eine „Advance notice“ zukommen
lassen. Und jetzt gehe ich zum Coiffeur, um mir die Haare à la Garbo – halblang auf die Schulter fallend –
frisieren zu lassen, und zur Schneiderin, um mir ein gerafftes Abendkleid mit
einer kleinen, blasierten Schleppe zu bestellen.
Newyork, im Januar 1928.
In: Neue Freie Presse, 22.1.1928, S. 29-30.