Rudolf Jeremias Kreutz: Nochmals – die Dame

             Emil Lucka, der verehrte Dichter-Philosoph, hat kürzlich an dieser Stelle den Begriff „Dame“ historisch belichtet, kritisch untersucht, und ist nach mancherlei geistwollen Schlüssen zu dem Ergebnis gelangt, daß unsere Zeit dem Typus jenes „zimperlichen Halbwesens, dessen Daseinsinhalt Schönrednerei, Faxen, Toiletten und Tee bedeutet“, feindselig gegenüberstehe. Das weibliche Ideal unserer Epoche sei die Kameradin. Sie lehne schroff die Dame ab, deren Wesensmerkmale Reserviertheit, Umständlichkeit und Aeußerlichkeit seien. Denn sie setze an ihre Stelle Mut, Tatkraft, Zuverlässigkeit bis Selbstopfer.

             Es sei gestattet, das Vorstellungsbild „Dame“ aus einem anderen Blickpunkte zu betrachten, von dorther nämlich, wo Definitionen zwar versagen, aber ein gefühlsmäßiges Etwas, mit Worten kaum erfaßbar, für die Dame zeugt, für ihre seltene, aber um so beglückendere Erscheinung wirbt. Hierzu ist die Vertrautheit mit dem englischen „ladylike“ unerläßlich, einer sprachlichen Formel, die sich restlos ebensowenig verdeutlichen läßt, wie etwa „gentleman“, der mit Ehren- und Edelmann nur höchst obenhin übersetzt ist.

             Ladylike. – Was bedeutet das? Welche Eigenschaften umschließt das Wort? Eine Anzahl, die überall, wo Frauen nach wirklicher Kultiviertheit stehen, nach seelischer und körperlicher Verfeinerung lechzen, stets – gleichgültig, welche „neue Sachlichkeit“ immer das Verhältnis der Geschlechter umformen mag – heiß erstrebt, wenn auch nicht gerade oft vorkommen erworben werden.

             Ladylike: Wollte man damit bloß damenhaftes Benehmen, damenhaftes Auftreten von Fall zu Fall bezeichnen, es wäre reichlich wenig erraten. Was der Engländer meint, beinhaltet eine weit größere Forderung : Stetes damenhaftes Sein. Die Selbstverständlichkeit des tadellosen in seelischer und körperlicher Haltung, die unaufdringliche Harmonie, die Takt heißt, die Unfähigkeit zu brutaler Gebärde, zum schrillen Wort, zu formlosem Außersichgeratens. Die Beherrschtheit in Anmut, die Sparsamkeit der Geste, sei es in Freude oder Leid. Und vor allem: Das völlige Fehlen jedes Konventionellen, Gezierten, Gewollten. Die Frau, in deren Nähe wir sogleich, magisch verzaubert, die Dame erkennen, wirkt immer natürlich. Wir fühlen die Verkehrsformen, die sie zeigt, als mit ihr organisch verwachsen, die sie bestimmt. Womit, weiß Gott, nicht behauptet werden soll, daß die Dame unentwegt Sklavin dieser Distanziertheit sei. Ihr Weibtum folgt keinen „feineren“ Entwicklungslinien als das anderer Frauen, ist ebenso triebbedingt. Aber selbst im Taumel der Sinne, im Ueberschwang der Hingabe, wird ein Wunderbares sie davor schützen, sich dirnenhaft zu übersteigern. Warum sollte sie sich nicht auch zur guten Kameradin eignen? Der Begriff Dame schließt Kameradschaft ebensowenig aus, wie er sie voraussetzt. Er ist weder Hemmung noch Antrieb zu funktionellen Eigenschaften, weil er lediglich ethisch und ästhetisch Gipfelpunkte weiblicher Vollendung umfaßt.

In: Neue Freie Presse, 10.10.1928. S. 1.

Paul Szende: Mode und Klassenkampf

             Welche Verblendung! Welche Einseitigkeit! mag mancher beim Lesen dieses Titels ausrufen. Will man auch schon die weibliche Mode in die Zwangsjacke des Klassenkampfes pressen? Andre werden vielleicht sagen, daß es dem Ernste sozialistischer Prinzipien nicht entspreche, wollte man den Begriff des Klassenkampfes auf den Streit um die Länge der Röcke und der Frisur ausdehnen. Trotz dieser Einwendungen halten wir daran fest, daß der Angriff, den das Proletariat jetzt gegen die bisherige Frauenmoden vom Zaune gebrochen hat, letzten Endes einen Abschnitt desselben  Kampfes bildet, dessen andre Etappen die Klerikalisierung der Schule, der Schmutz- und Schundparagraph, die Schmälerung des Wahlrechtes, die Hetze gegen Einheitsschulen, Schulausspeisung und Kinderfreibäder sind: man will den Aufstieg  und die Befreiung der Arbeiterfrauen und damit der ganzen Arbeiterschaft verhindern oder hemmen. Die bisherige Mode war ein beredtes Symbol dieses Aufstieges, sie führte zu einer weitgehenden Demokratisierung der weiblichen Kleidung. Die frühere Scheidung zwischen höheren und niederen Volksklassen in bezug auf die weibliche Kleidung war größtenteils verschwunden, was das Selbstbewusstsein der arbeitenden Frauen merklich steigerte und ihre Minderwertigkeitsgefühle in hohem Maße beschwichtigte. In den Beziehungen der Geschlechter zueinander ist die weibliche Bekleidung ein wichtiges Mittel der Anziehung und des Wettbewerbes. Je einheitlicher die Mode wurde, desto geringer wurde der Vorrang, den bisher auf diesem Gebiet die Damen der höheren Gesellschaft gegenüber den arbeitenden Frauen genossen.

             Diese Mode war so zugleich das Kennzeichen einer Entwicklung, die mit dem Vorwärtsdringen der Arbeiterklasse untrennbar verbunden ist. Wir können diesen Prozeß als die Rationalisierung des sozialen Lebens bezeichnen. Die Gesellschaftsordnung, die Haupteinrichtungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens werden nicht mehr als von oben her gegebene, für die Menschen unverrückbare Tatsachen betrachtet, die der Kontrolle und der Kritik der untergebenen Massen entzogen sind:  man will wissen, welchen Interessen sie dienen, welche Bedürfnisse sie zu befriedigen vermögen. Dadurch büßen sie ihren früheren mystischen Schein ein. Ein wichtiger Abschnitt dieses Entgötterungsprozesses war auch die Einsicht, daß der Kinderreichtum kein Segen Gottes und daß das Kinderkriegen kein für die Menschen unabänderliches, natürliches Schicksal sei, daß vielmehr die Geburtenregelung möglich, ja sogar notwendig ist. Dieselbe Rationalisierung kam nun auch auf dem Gebiet der Mode zur Erscheinung. Diese Mode war die zwangsläufige Folge der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Emanzipation der Frauen. Beide entrissen die Frauen ihrem ausschließlich häuslichen Wirkungskreis und führten sie der Berufsarbeit und dem Sport zu. Für viele Frauen war die lange, enge, komplizierte Tracht unmöglich geworden. Das glatte, einheitliche, kurze Schlüpfkleid ist eigentlich amerikanischen Ursprungs und entspricht den demokratischen Tendenzen und Uniformierungsbestrebungen des dortigen Lebens, es brachte auch die Machtstellung und die günstige materielle Lage der amerikanischen Arbeiterschaft zum Ausdruck. Diese Mode bedeutet nicht nur eine seelische, soziale und sexuelle Befreiung für die arbeitenden Frauen, sondern auch eine körperliche Befreiung für die Frauen aller Klassen, früherer unsinniger Moden. Zum ersten Male wurde eine Mode liebgewonnen, nicht weil sie von irgendwelchen mystischen Mächten diktiert war, sondern weil ihre praktische Nützlichkeit und ihre einfache Schönheit freiwillig anerkannt wurde. Darin besteht die weltgeschichtliche Bedeutung der kurzen Röcke. Diesem Umstand war es auch zu verdanken, daß diese Mode eine so allgemeine Verbreitung fand und sich so lange hielt; sie drang  in die entlegensten Täler ein, übte dort denselben überzeugenden Einfluß aus und half selbst eine Ursache der Entfremdung zwischen Stadt und Land, die aus der Verschiedenheit äußerlicher Lebensgewohnheiten stammt, zu mildern.

              Das Modekapital, das seinen Sitz in Paris hat, und für das die Kürze oder Länge der Röcke nur eine Frage der Profitrate ist, sah zuerst dieser Uniformierung mit Freude zu, denn durch die Vereinheitlichung der Mode und infolge des Aufstieges der Arbeiterklasse, der den Arbeiterfrauen erlaubte, für Bekleidung mehr als bisher auszugeben, stieg die Absatzmöglichkeiten der Modelle der Pariser Modehäuser ganz beträchtlich. Allmählich aber trat eine Stabilisierung der Mode ein, so wie dies bei den Männerkleidern der Fall ist. Die Aenderungen, die jede neue Saison brachte, waren nicht einschneidend, das Wesen der Frauenmode blieb dasselbe. Zwar hätte dem Modekapital die ständige Erweiterung des Konsums eine mehr als genügende Schadloshaltung geboten. Aber das Pariser Modekapital genoß sei zwei Jahrhunderten eine Monopolstellung, es war gewohnt, zu gebieten, und seine einzige Geschäftsmethode war, durch den stetigen Wechsel der Mode einen schnellen Umsatz der investierten Kapitalien zu erreichen. Dabei will es auch jetzt bleiben. Die Führer der großen Pariser Modehäuser fingen daher wieder an, auf ihre Monopolrechte zu pochen, sie wollten in jeder Saison den Frauen wieder neue kostspielige Moden mit einschneidenden Veränderungen auferlegen. Durch die neue praktische Mode, deren Symbole der kurze Rock, die kurze Haartracht, die fleischfarbenen Strümpfe und die leichte Einheitswäsche waren, war eine gewisse Solidarität der Frauen aller Klassen geschaffen worden. Gegen sie richtete sich der Angriff der Pariser Modehäuser. Ihr Kriegsziel war das Zerreißen der Einheit der Mode.

             Ich will nicht durch die Aufzählung der Merkmale der neusten Mode den falschen Anschein eines Fachmannes erwecken; eine kurze Übersicht ist dennoch notwendig, weil sie zeigt, daß nicht nur die Methoden, sondern auch die Merkmale dieser Mode eine bewußte Anlehnung an das Mittelalter versuchen. Ich habe nicht nur in der Pariser großen Presse, sondern auch in Wiener bürgerlichen Blättern bezahlte Artikel gelesen, die den feudal-mittelalterlichen Charakter der neuen Modeschöpfungen ausdrücklich betonen. Lange, überreiche, wallende Kleider – Verzeihung, nicht mehr Kleider, sie heißen auch in der deutschen Sprache wieder Roben –, komplizierter Schnitt, Prunk wie in den alten Zeiten, überreiche, gold- und silberdurchwirkte Stoffe, Falten und Zipfel, unnützer und verschwenderischer Aufputz, das Prinzeßkleid – schon der Name spricht Bände – mit der höhergerückten Taille und der durchlaufenden Linie und endlich das große feierliche Abendkleid mit der Schleppe. Auch eine ähnliche Umwälzung der Hutmode wird angebahnt: Feder, Schleier, Spitzen werden wiedereingeführt. Alle diese Merkmale haben nicht nur einen feudalen, sondern auch einen plutokratischen Charakter. Die moderne Frau wird wieder in die Dame rückverwandelt, die ohne Kammerzofe sich nicht mehr anzukleiden vermag und nur im Automobil ausfahren kann. Setzt sich diese Mode gänzlich durch, dann ist die Einheit der Kleidung gebrochen.

             Zum Lob der bürgerlichen Frauen muß festgestellt werden, daß die überwiegende Mehrheit diese neue Mode nur unwillig aufnahm und sogar Widerstand leistete. Nun setzte das Trommelfeuer der vom Modekapital ausgehaltenen bürgerlichen Presse ein. Es ist ein wirklicher Erpressungsfeldzug, der in ihren Spalten gegen die bürgerlichen Frauen geführt wird. Wie in der Politik wendet diese Erpressungstaktik zwei Methoden, eine scheinheilige und eine offene, an. Die eine arbeitet mit Phrasen und Lügen, sie erklärt die bisherige Mode für unweiblich und unsittlich – aber die Rolle des Sittenrichters steht den Vertretern des Modekapitals wirklich schlecht zu Gesicht; mögen sich zu diesem Zweck jüdische Modehäuser noch so sehr mit katholischen Bischöfen verbinden. Wo aber diese Mittel versagen, dort wird eine offene Sprache geführt, man spekuliert unverhohlen auf die Klassen- und Besitzinstinkte der Damen, die man mit allen Mitteln wachzurufen bemüht ist. Es wird ihnen in unzähligen Artikeln verständliche gemacht, daß durch die „Weiblichkeit“ die sexuelle Anziehungskraft der nach der neuen Mode gekleideten Damen unbedingt größer sei, und daß daher die Damen den Vorsprung, den sie vor der Einheitsmode vor den übrigen Frauen hatten, wieder zu erreichen vermögen. Es wird ihnen auch versichert, daß sie nicht mehr Gefahr laufen, mit dem Pöbel in Modegemeinschaft leben zu müssen, denn durch die Kompliziertheit des Schnittes wird es unmöglich, die Modelle wie bisher zu kopieren, die Robe aus dem guten Salon wird wieder ein Privileg der Damen sein. Den Schwankenden und Zögernden gegenüber wird die große Drohung ausgestoßen: Die Pariser Häuser werden nicht nachgeben, ein „Zuwarten“ kann nicht helfen, die Dame, die „gut angezogen“ zu sein wünscht, muß schnell ihre Auswahl treffen. An die arbeitenden Frauen ergeht das Ultimatum, sich dem Diktat, wenn auch murrend, doch freiwillig zu fügen oder das Zurückstoßen in den früheren Zustand der Klassenscheidung auch äußerlich zu erdulden. Ich stelle die Frage, ob diese Taktik nicht vollständig identisch ist mit dem Ultimatum mancher bürgerlicher Politiker in der Verfassungsfrage: Annahme der Verfassungsänderungen – wenn nicht, dann Staatsstreich! Die Vertreter des Modekapitals wissen nur zu gut, daß die arbeitenden Frauen nicht in der Lage sein werden, diese Mode mitzumachen. Sie rechnen aber darauf, daß diese Frauen, um einer beschämenden Degradierung zu entgehen, selbst um den Preis größter Entbehrungen und unter Hintansetzung wichtiger  Lebensbedürfnisse, trachten werden, mindestens ein Kleid nach der neusten Mode zu kaufen, um wenigstens bei öffentlichen Anlässen ihre Minderwertigkeit zu verbergen und ihren Platz im sexuellen Wettbewerb wahren zu können. Sie rechnen nicht damit, daß sich genügend aufrechte und selbstbewußte Frauen finden, die nicht nachgeben, sondern diesen Kampf zwischen Demokratie und Aristokratie in der Kleidung aufnehmen und ausfechten!

             Letzten Endes hängt die Entscheidung davon ab, was die sportliebenden und arbeitstätigen amerikanischen Frauen, die die Hauptkundschaft für das Pariser Modekapital abgeben, tun werden. Doch sind auch die proletarischen Frauen nicht ganz wehrlos. Sind sie geneigt, einen Kampf gegen dieses Diktat zu führen, dann können sie des Anschlusses weiter bürgerlicher Frauenschichte sicher sein. Der Kampf um den Mieterschutz brachte große Truppen des Kleinbürgertums und des intellektuellen Mittelstandes in das sozialistische Lager und gab ihnen dadurch Gelegenheit, sich mit den leitenden Ideen des Sozialismus vertraut zu machen; viele unter ihnen sind gute Sozialisten geworden. Ein solcher gemeinsamer Kampf an der Seite der proletarischen Frauen würde manche arbeitende bürgerliche Frau nicht nur dem Einfluß der bürgerlichen Presse entziehen. In diesem Kampfe wird so nicht nur die künftige Mode entschieden, sondern auch ein gutes Stück Menschheitsgeschichte.

In: Arbeiter-Zeitung. Wien, 15.12.1929, S. 4.

Marianne Pollak: Vom Reifrock zum Bubikopf. Revolution und Mode

Die Mode ist seit jeher die besondere Domäne der Frau gewesen. Durch Schminke und Haartracht, durch Halsausschnitt und Faltenwurf haben die Frauen jahrtausendelang verstanden, dem Mann zu gefallen. Die Tracht ist vor allem ein lebendiger und sinnfälliger Ausdruck der jeweiligen  E r o t i k  einer Zeit. Immer haben Revolutionsepochen in der Geschichte strenge Kleiderordnungen gelockert und einer ungezwungenen und freieren Kleidung Raum geschaffen. Denn das Kleid ist zugleich eines der wichtigsten Mittel der  K l a s s e n s ch e i d u n g. Jede neue Mode geht von der herrschenden Schicht in der Gesellschaft aus, die darauf sieht, daß die Masse des Volkes ihr es in Schnitt und Ausführung der Gewänder nicht gleichtue. Die höhere Vernunft der menschlichen Kleidung aber liegt schließlich in ihrer  Z w e ck m ä ß i g k e i t, indem sie den Körper vor Wetterunbill schützt und den Gebrauch der Glieder nicht hemmt.

Als am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts Europa, aus der Enge bäuerlicher und zukünftiger Wirtschaft erwachend, die grandiose Entwicklung zum Welthandel durchmachte, da brach eine Zeit ungehemmter Lebensfreude für die besitzenden Klassen an: die  R e n a i s s a n c e. Die grobe, die Körperformen entstellenden und verhüllenden Trachten des asketischen  Mittelalters waren kein richtiges Kleid für den machterfüllten Handelsherrn, dem die Schätze des Erdballs zuströmten. Die reiche Bürgersfrau der Renaissance – Rubens hat ihr unvergängliches Porträt geschaffen – trug nicht nur bei Festlichkeiten, nein auch daheim, ja auf der Straße und selbst in der Kirche, unter den Augen der Geistlichkeit, den tiefen  B r u st a u s s ch n i t t. Weit ausladende  W u l st e n r ö ck e  verbreiterten die Hüften durch Umlegen von schweren Stoffrollen, die nicht selten bis zu fünfundzwanzig Pfund schwer waren. Obendrein wurde die weibliche Brust mit Hilfe des Mieders, ja oft durch Wattierungen hervorgehoben. Strotzende Kraftfülle war das Schönheitsideal der Renaissance.

Im darauffolgenden Zeitalter der uneingeschränkten Macht des Landesfürsten wurde sozusagen der angedeutete Körper modern. Die Renaissance hat das Starke und Nackte geliebt. Das  R o k o k o  schwärmt für das Zarte und Ausgezogene. Der französische Hof wurde das Modevorbild für ganz Europa, Ludwig XIV., „der größte Komödiant der Gottesgnadenidee“, der erste Geck seiner Zeit. Die Mode spiegelt die ökonomischen Verhältnisse sehr deutlich wieder. Da im  A b s o l u t i s m u s  eine ganz besonders schroffe Klassenscheidung die Masse der arbeitenden Untertanen von der Gesellschaft der herrschenden Genießer trennte, machte die vom Adel ausgehende Mode den Körper zu jeder Art Arbeit völlig untauglich. Die Damen in ihren unnatürlich hohen  S t ö ck e l s ch u h e n, mit ihren  W e s p e n t a i l l e n  und riesenhaften  R e i f r ö ck e n – eine Fortführung des Wulstenrockes der Renaissance – konnten sich nur gravitätisch und tänzelnd fortbewegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Vorbild war ja auch die majestätische Steifheit des Monarchen, und oberstes Sittengesetz jener Tage, da die „Gesellschaft“ dem Abgrund entgegentaumelte, war: Körperliche Arbeit schändet.

Wieder stößt eine große geschichtliche Umwälzung die steifgraziösen Formen des Rokokos um:  d i e  f r a n z ö s i s ch e  R e v o l u t i o n. Die Adeligen in ihren Allongeperücken und edelsteinbesetzen Jabots, die gebrechlichen Luxuspüppchen königlicher Sinnenfreude mußten ihre gepuderten Köpfe auf der Guillotine lassen. In wilden Sturm fegte das Pariser Volk durch die Gassen. Dazu kann man keine Reifröcke brauchen. Die fließenden Gewänder der Antike wurden die Revolutionsmode: das  E m p i r e, die  m i e d e r l o s e  g r i e ch i s ch e  T r a ch t der Tunika, die, unter der Brust abgebunden, in weichen Falten den Körper schmeichlerisch umfließt.

Die regungslosen Jahre des  V  o r m ä r z , vom Wiener Kongreß bis 1848, und nach einem kurzen Revolutionsrausch die  R e a k t i o n  der fünfziger Jahre sind in der Frauenmode die eigentliche  B l ü t e z e i t  d e s  K o r s e t t s. Der weibliche Körper wird – gleich dem menschlichen Geist – in der unsinnigsten Weise eingeschnürt und mißhandelt. So wie der bis oben zugeknöpfte Mann in Zylinder und steifer Halsbinde als das Symbol staatserhaltender Zuverlässigkeit galt, so die Frau mit ihrer eingepreßten Taille und der Unzahl der gestalteten Unterröcke, die endlich zum Ungetüm der  K r i n o l i n e  entarteten: sie sollte in jeder Lebenslage würdig und geruhsam erscheinen.

Was folgt, ist nur eine Änderung im Verunstalten der natürlichen Formen. Als die Krinoline in ihrem grotesken Umfang nicht mehr überboten werden konnte, wurde das Drahtgestell zum alten Eisen geworfen. Aber das Mieder blieb und behauptete seine Macht noch durch mehr als fünf Jahrzehnte. Erbarmungslos mußte jede Frau, die etwas auf sich hielt, in  den Schnürleib, und die Mode verlangte von ihr, sich in der wahnwitzigsten Weise zusammenzupressen. Geraffte Röcke mit der besonderen Pikanterie des Cul de Paris wurden letzte Mode. F e st s i tz e n d e  „T a i l l en“, in denen obendrein noch Fischbeine sonder Zahl eingenäht waren, machten jeden freien Atemzug unmöglich. Die Alltagskleidung war hochgeschlossen; bis zum Hals hinauf quälten Steifheit und Enge. Nur im Ballsaal durfte die Dame im tiefen Ausschnitt erscheinen.

Es ist kein Zufall, daß die niederträchtige Herrschaft des Mieders wieder erst durch eine geschichtliche Epoche des  U m st u r z e s  gebrochen werden konnte. Unser eigenes Geschlecht ist Zeuge und Nutznießer der tiefgehenden  R e v o l u t i o n i e r u n g  d e r  F r a u e n m o d e  geworden.

Noch vor zwanzig Jahren war es im Bürgertum bis tief hinein in die Reihen der Arbeiterschaft gang und gäbe, den Töchtern Stück für Stück eine Ausstattung vorzubereiten und anzuschaffen. Aber wie hat diese  W ä s ch e  ausgesehen! Da wurde meterlang Zacke um Zacke für den Hemdansatz mit der Hand geschlungen, solide schwarze Strümpfe eingekauft, steifsitzende, geschwungene Miederleibchen, die gerade nur den Hals freiließen, zugeschnitten und flaumiger Flanell zu Unterröcken verarbeitet. Man stelle sich nur ein Sportsmadel von heute mit einem solchen Flanellunterrock vor!

Nicht anders ist es um die  F r i s u r  bestell. Nur mit grenzenlosem Staunen kann man der vielen „Einlagen“ gedenken, die für einen ordentlichen Schopf notwendig gewesen sind. Sie waren der letzte Ausklang jenes Perückenmonstrums, das die Damen des achtzehnten Jahrhunderts auf ihren – leeren! – Köpfen spazierengeführt hatten und das mit den verrücktesten Symbolen aller Art schwer behangen war: der „Fontange“. Die Schopfeinlagen um die Jahrhundertwende und später – Kopfmatratzen hat man sie in gerechtem Gott genannt – haben zwar nicht mehr die stattliche Höhe eines Meters erreicht wie ihr Vorbild, aber sie waren darum nicht weniger ungesund und machten das freie Ausatmen der Kopfhaut unmöglich. Jedes Haar mußte bei der morgendlichen Frisur fein säuberlich über den Wulst gelegt werden, um die künstliche Unterlage ordentlich zu verdecken. Und doch verschob sich der Bau bei jeder unvorhergesehenen Bewegung! Wie ungern entschloß man sich in jenen Tagen, das Haar am Nachmittag ein zweitesmal zu frisieren. Es war eine wirklich zeitraubende und schwierige Beschäftigung. In der rhythmischen Frauenturnstunde von heute könnte eine Dame mit auffrisiertem Schopf nicht mittun . . .

Der  K r i e g, der unsere Männer in die Schützengräben zwang, hat der Frau alle Gebiete des Arbeitslebens geöffnet. Sie fand Einlaß im Ministerium und in der Munitionsfabrik, kam zum Schreibtisch und auf den Kutschbock, ins Geschäft und in den Straßenbahnwagen. Überall mußte weibliche Arbeitskraft den eingerückten Mann ersetzen, ja es war die Frauenarbeit allein, die den halbwegs geregelten Fortgang der Wirtschaft möglich gemacht hat. Diese Zeit der unerhörtesten Kraftanspannung, des Hungers und der schamlosen Unterordnung der arbeitenden Menschheit unter das Gesetz des Massenmordes hat die bis dahin schlafenden Frauen zum Erwachen gepeitscht: Sie haben arbeiten müssen – und diese Arbeit hat sie denken gelehrt!

Und wieder hat eine Revolution mit eisernem Besen alte, strenge, steife Modeformen weggefegt. Wieder ist eine Revolutionsmode aufgetaucht. Aber diese letzte grundlegende Wandlung in der Frauenmode mußte sich – obwohl noch immer von Pariser und Londoner Modekönigen ausgehend und von ihnen ausgebeutet – wohl oder übel doch der geänderten gesellschaftlichen Funktion des weiblichen Geschlechts anpassen und  d a s  K l e i d  d e r  a r b e i t e n d e n  F r a u  schaffen: Das beengende Mieder ist verschwunden, der Hals frei, der Rock gekürzt und das lange Frauenhaar geschnitten.

Ist auch das nur ein revolutionärer Augenblickseinfall der wankelmütigen Modegöttin? Gewiß, in der kapitalistischen Wirtschaft wird der gesellschaftliche Geschmack in kurzen Zwischenräumen Extremen zugetrieben, um den Absatz künstlich zu steigern. Aber  k u r z e r  R o ck,  f r e i e r  H a l s,  l o s e  T a i l l e  u n d  B u b i k o p f,  diese vier wesentlichen äußeren Merkmale der modernen Frauenerscheinung, gehen über die gewöhnlichen Modeschöpfungen weit hinaus. Denn zum erstenmal verbindet sich hier der Wunsch nach Schönheit mit wirklicher Zweckmäßigkeit.

Für das Verwurzeltsein der heutigen Frauentracht in dem gesellschaftlichen Prozeß der Revolutionierung, der ganz besonders die Frau erfaßt, ist es bezeichnend, daß heute der  M a n n  auf dem Gebiet der Kleidung rückständiger ist. Er bleibt bei dem dunklen, dicken und dumpfen „Anzug“, dessen Weste, ein sinnlos gewordenes Überbleibsel, überhaupt nur dazu dient, daß sich kein Lufthauch bis zur Haut verirre. Auch der im Kriege aus Sparsamkeitsgründen zeitweilig verschwundene steife Kragen taucht immer öfter wieder auf und ist heute schon wieder das Sinnbild der Respektabilität geworden.

Die Frauen sind in ihrer Kleidung fortschrittlicher. Die heutige Mode entspricht wirklich den Anforderungen der Zeit. Wie herrlich können unsere Mädel in ihren kurzen Röcken laufen und springen! Wie natürlich schön ist es, wenn ihre losen Haare im Winde flattern! Wieviel leichter und gründlicher ist heute die Pflege und Reinigung der Haare! Wie praktisch ist der Bubikopf beim Sport, bei der Arbeit, in der Küche! Wie angenehm für die arbeitende Frau, sich bücken und wenden zu können, ohne daß Schnürbänder ihr den Magen zusammenpressen! Bei allen diesen großen praktischen Vorzügen entbehrt die moderne Frauenkleidung aber keineswegs der Grazie. Sie ist schön, weil sie vernünftig ist. Diese Elemente des Fortschritts wird keine Laune der Mode, kein Interesse des Konfektionskapitals mehr vollständig aus der Frauenkleidung zu tilgen vermögen. Und diese Errungenschaften der Freiheit des menschlichen Körpers soll uns keine Reaktion, die die Frauen zurück in Kirche, Küche und Mieder pressen will, mehr rauben!

In: Arbeiter-Zeitung, 5. Dezember 1926, S. 10.

Ann Tizia Leitich: Girldämmerung

Das neue Ideal: die wissende junge Dame

Wer von Ihnen, meine Damen, hat ein Körpermaß von 155 Zentimeter? Wem gibt der Bubikopf ein lächerliches Aussehen und wird nur getragen, weil man lieber lächerlich wirken als wie seine eigene Großtante aussehen will? Wer hatte seine liebe Not mit diesen Puppen- , diesen Konfirmationskleidchen, die die Mode der letzten Jahre vorschrieb? Wem hat ein Künstler gesagt, daß die sanfte Wellenlinie der Hüften entzückender sei als die erbittert angestrebte hermaphroditische Kurvenlosigkeit der modernen Figur – was Sie natürlich damit beantworten, daß sie die ganze Schönheit mit einem Jumper zu phantasieloser Geradliniegkeit plattdrückten? Welche Frau gefällt sich in der von der Mode verbannten langen fließenden Gewändern mit einer Schleppe? Wer ist der ewigen Filzcloche der Sechzehnjährigen müde? Und wer möchte  – ich bin mir bewußt, daß diese Frage der ganz unmittelbaren Gegenwart etwas vorausgreift, aber sie liegt in der Entwicklungslinie meines Gedankens – wer möchte einmal, statt bloß geistlos zu tanzen, interessant flirten?

Alle diese Damen, deren geheime Wünsche mit den Möglichkeiten im Widerspruch liegen, können frohlocken und einander die Hände schütteln. Für sie bricht eine bessere Zeit heran: sie kommen wieder in Mode, denn – –

Das Girl hat ausgespielt. Wie es in Europa ist, weiß ich nicht, denn die Behauptung gilt nur für Amerika, das Land, wo das Girl die impertinent unschuldigen und je nach Bedarf keck-fröhlich oder sentimental-ergebenen Augen aufschlug. Europa dürfte übrigens, wie in den letzten Jahren gewöhnlich, schleunigst folgen. Es wird natürlich auch nicht gleich ganz verschwinden, das Girl, dazu ist es zu lebenskräftig und zäh; aber es wird Liebe und Sex, Mode, Künstler  und Figurinenzeichner, Männer und ihren Geschmack, Literatur, Theater, Kino, Manieren nicht mehr tyrannisieren können. Es ist ihm nämlich das Fatalste passiert, das einem weiblichen Wesen heute zustoßen kann: es ist uninteressant geworden. Das geschah, als die Intellektuellen und die Snobs es gleichzeitig fallen ließen. Jene taten es, indem sie sich laut und wortreich in ihren Magazines mit den Problemen der verheirateten und erwerbenden Frau befaßten; diese rein geistige, daher langweilige Tätigkeit wäre wahrscheinlich ohne Konsequenzen für die Welt verhallt, wenn die Snobs nicht gewesen wären, die sich in ihren Magazines an blasierten Dialogen erfreuten, in denen die weibliche Partnerin so kühl-überlegen, so raffiniert berechnend, so erhaben über allem und doch lüstern auf jede Sensation, so lässig hingegossen und dabei in jedem Winkel ihres Wesens auf der Lauer gezeichnet war, wie es ein Girl nie und nimmer sein durfte, ein Typus, den man mit dem unübersetzbaren Wort ‚sophisticated‘ bezeichnete. Schon seit geraumer Zeit glorifizieren die Snobs, die in Newyork, dem größten Wettrennplatz der Welt, eine ganz hervorragende Rolle spielen, dem herrschenden Broadway-Geschmack und dem berühmtesten Girlregisseur Flo Ziegfeld zum Trotz die ‚sophisticated woman‘. Wer Vogue, Harpers Bazar oder Vanity Fair je in der Hand gehabt hat, dem wird dies keine Neuigkeit sein.

Das Girl im Leben und auf der Bühne. –

„Baby-stare“

Die Allgemeinheit wurde scheinbar nicht dadurch beeinflußt: Die Girlmode  hielt sich vor allem deswegen, weil sie an einem unerhört  festen psychologischen Haken der Frauen hing, die da glauben, nicht bloß Jahre, sondern Jahrzehnte wegschwindeln zu können, wenn sie sich als Girls gebärden; was bei einigen stimmte, bei vielen aber nicht; was wir aber wieder nicht so bemerkten, weil wir alle den Girlkomplex hatten. Wie in der Mode, behauptete sich das Girl auf der Revuebühne, wo das stehende Heer von Ziegfeld-, Hoffmann-, Tiller-, Albertina-, Rasch-, Duncan- und anderen Girls fortwährend durch neu anmarschierende Bataillone verstärkt wurde. Sein Gesicht lächelt unentwegt und unerschüttert von den Titelblättern und aus den Seiten der populären Magazines; und sein knabenhaft unentwickeltes, schmetterlingsleichtes Figürchen, das dem Mann nicht bis zur Schulter reichen durfte, beherrschte die allmächtige Silberleinwand und damit Millionen von Zuschauern.

Vielleicht ist es hier nützlich, darauf zu verweisen, daß das amerikanische und das europäische Girl sich nicht ganz deckten. Die charakteristischen und wesentlichen Eigenschaften des amerikanischen, also des echten Girls, war die … o nein, nicht die Bubenhaftigkeit. Diese war nur die äußere Würze, die pikant kontrastierende Beigabe, die mit großer Kunst verwendet sein wollte, die die Europäerin meist nicht so gut verstand wie die Amerikanerin; denn das Girl war bei weitem schlauer als es aussah; schlauer zu sein als zu scheinen, war ja sozusagen sein Geschäft; Millionen wurden damit verdient. Daher begegneten nur Imitationsgirls dem Mann burschikos; die echten, unter denen es wahrhaft entzückende gab, wußten, daß sie vor allem ‚sweet‘ (süß) zu sein hatten. Und deshalb war das Girl an der Vermännlichung der Frau unschuldig; diese Vermännlichung gehört in ein ganz anderes Kapitel und ist auch eine Ursache mehr, daß das Girl aufhören muß, Girl zu sein. […]

Das Hauptrüstzeug ihrer Vorgängerin wird samt und sonders in die Abfallkanne wandern und darum ist es wahrlich nicht schade. Das ist nämlich jener süße, unschuldig-einfältige Blick aus weitaufgerissenen, dem Leben namenlos verwundert gegenüberstehenden Augen, mit dem das Girl zum Mann hinaufsah. Diesen Blick bezeichnete der amerikanische slang treffend als „Baby stare“. Jeder kennt ihn aus amerikanischen Filmen; denn wenn die Heldin nicht eine /30/ ausgemachte Verführerin war, so mußte sie über dieses Baby-stare und die Babygestalt verfügen und das Babyliebesgetändel beherrschen, um Helden und Zuschauer dranzukriegen. Demgemäß waren die Straßen, die Geschäfte, die Restaurants von Hollywood mit den hübschesten, gedrilltesten und mustergültig uniformen Girls so angefüllt, daß die ganze Gegend mit Baby-stares förmlich infiziert war und nach kürzerer oder längerer Zeit seinen Verstand verlieren mußte.

Mary Pickford wird entthront

Noch tanzen die Girls auf Broadway – – sie werden es noch lange tun, God bless them. Am Weihnachtstage glühlichterte ein Revuetheater über die unabsehbare Menschenmenge der Theaterstraße: „4 shows today nothing but girls.“ Aber etwas geschah neulich, das man nicht so sehr beachete, da hier täglich Größen fallen und Größen aufstehen. „Darling of America“, Mary Pickfords neuester Film fiel auf Broadway fast durch1. Nicht weil Mary über das Alter der Girls hinaus ist, aber weil sich das Publikum für Mary-Girls nicht mehr interessiert. Mary fiel zum ersten Mal in ihrem Leben ‚flach’ und sie wird ‚fern von Madrid’ jetzt Zeit haben, darüber nachzudenken, wie viele von ihren schauspielerischen Künsten sie dem Filmbaby opferte, das sie kreiert hat. Nachdem dieses Ereignis ohne Kommentar versunken war, wurde ein über der Fünften Avenue schwebender monumentaler Girlkopf, der eine Seife mit den Worten anpries „keep that school-girl complexion“ (Bewahre den Schulmädchenteint), eines Tages durch den schlanken, intelligenten Kopf und das liebenswürdig, aber sehr weltweise dreinschauende Gesicht einer jungen Frau ersetzt, die noch dazu ganz offen eine Frisur trug. Gleichzeitig verschwand auch die „School-girl complexion“. Damals begann ich etwas zu ahnen, denn ein solches Plakat kostet zu viel, als daß man sich dabei Experimente erlauben könnte. Meine Ahnung bestätigte ein Blick in das Schaufenster eines berühmten Modehauses, wo die reizenden Stilkleider, die das Girl mit seiner bekannten Präpotenz sich auch gleich wieder hatte aneignen wollen, indem es durchaus niedliche flatternde Kleidchen daraus zu machen suchte, ladylike verlängert waren. Einzelne rückwärts bis zum Boden, in der Art der Kostüme der andalusischen Tänzerinnen, andere mit seitlicher oder rückwärtiger Schleppe. Ha, eine Schleppe, das geschieht ihm recht, dem Girl.

            Es gab in den Schaufenstern noch allerhand andere interessante Sachen, Schleier zum Beispiel, die aber wahrscheinlich nicht Mode werden dürften, weil die Amerikanerin sie einmal nicht will, und geraffte, fließende Kleider, die für jene hochgewachsenen Frauen geschaffen sind, die sich die letzten Jahre in Mauselöchern verkriechen durften, wenn sie nicht sich selber untreu sein wollten. Und am selben Abend sah ich bei einer fashionablen Premiere alle die Damen, von denen ich wusste, daß ihre blonden, brünetten, grauen, weißen Bobs (geschnittene Haare) unmöglich schon nachgewachsen sein konnten, mit tiefen Knoten im Nacken, mit gedankenvollen, intelligenten, von zu viel Erleben müden Gesichtern – Müdigkeit, die natürlich zu 99 Prozent Imitation war, Gesichter, die zum Mann keineswegs hinauf-, sondern offenbar auf ihn herabsahen, auf denen ein Lächeln nur selten aufflog, aber dann mit allen Anzeichen von Kostbarkeit, Geheimnis und wissendem Locken. Blond, brünett, grau oder weiß – – die Girls waren samt und sonders verschwunden und es gab nur elegant-geschmeidige, unendlich blasierte „sophisticates“.

Die neue Königin und ihre Attribute

Und damit seien auch alle jene getröstet, die um die verlorene Dame die Hände gerungen haben. Es ist nicht mehr notwendig, denn sie ist schon wieder da. Wirklich und wahrhaftig; man darf sich beruhigen. Sie ist zwar nicht ganz die Alte, selbstverständlich nicht, Gott sei Dank nicht, dazu hat sie viel zu viel mitgemacht und zu viel gelernt; aber sie ist Dame. Wenn man es noch nicht glauben kann, so will ich zum Schluß jetzt meinen Trumpf ausspielen: Hollywood ist mit dabei, sein ureigenstes Produkt, das Girl, zur Strecke zu bringen. Das ist ungeheuer wichtig, denn ohne Hollywood könnten wir’s alle nicht ermachen. Sie zweifeln? Aber ich habe es schriftlich. „Hoch, schlank, statuesk, schön, die Personifizierung schlummernder Glut.“ Worte, die vor zwanzig Jahren geschrieben wurden? Mit nichten! Ganz neue Worte, so neue, daß sie noch brennend weiß über Broadway getragen werden. Denn mit ihnen preist Hollywood seinen neuesten Star an, Greta Garbo, die Schwedin, die gegenwärtig in einem Film, „Love“ Triumphe feiert, dessen Personen komischer- oder tragischerweise die Namen von Tolstois Roman „Anna Karenina“ tragen. Auch Pola Negri2 hatte hier Erfolg, aber es war nicht die Art von Erfolg, die so zwingend einen Teil der öffentlichen Mentalität wird, daß die Frauen sich selbst, Mode und Liebe verändern, und die Männer ihr weibliches Ideal von heut auf morgen umkrempeln. Greta kam eben im psychologischen Moment, als Amerika reif war für die hohe, schlanke, wissende, junge Frau, die noch vor zwei Monaten in Hollywood ruhig vor den Toren der Studios hätte verhungern können, selbst wen sie die Duse3 des Films in Person gewesen wäre. Greta bricht übrigens auch die Tradition in anderer Hinsicht, indem zum erstenmal in einem amerikanischen Schlager eine verheiratete Frau zur Liebesheldin gemacht wird.

Was werden nun die Girlarmeen in Hollywood machen? Und wie werden die kleinen Stenos ihr Budget dem neuen Ideal anpassen, das bei weitem teurer kommt? Warum sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen; wer hat uns gefragt, als man uns Kinderkleider zumutete! Ich habe meine Pflicht getan und Ihnen, meine Damen, eine „Advance notice“ zukommen lassen. Und jetzt gehe ich zum Coiffeur, um mir die Haare à la Garbo  – halblang auf die Schulter fallend – frisieren zu lassen, und zur Schneiderin, um mir ein gerafftes Abendkleid mit einer kleinen, blasierten Schleppe zu bestellen.

Newyork, im Januar 1928.    

In: Neue Freie Presse, 22.1.1928, S. 29-30.

  1. Mary Pickford (1892-1979, Star des amerikanischen Stummfilms) siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/Mary_Pickford (Zugriff vom 5.7. 2014)
  2. Pola Negri, 1897 in Lipno, Russland (eigentl. Poln. Stadt) – 1987, San Antonio, USA; Star der Stummfilmzeit, insbes. in der Zusammenarbeit mit Ernst Lubitsch seit 1919 (Madame Dubarry), Hollywood, Rückkehr nach Deutschland 1934, wo sie mit Paul Wegener für die UFA drehte, ab 1941 wieder in den USA.
  3. Eleonora Duse (1858-1924), bedeutende italienische (Theater)Schauspielerin; siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Eleonora_Duse (Zugriff, 5.7.2014)

Helene Tuschak: Die neue Frau.

Nicht durch die Fortentwicklung der Kultur, vielmehr durch den grausamen Rückschlag des Krieges ist die Frau dorthin gelangt, wo sie sein wollte: zur Selbstständigkeit. Man weiß es längst, daß ihr künftig alle Berufe offen stehen werden. Sie wird auch Juristin, Ingenieurin und Handwerkerin sein, sie wird wählen und gewählt werden, man wird ihre Stimme in der Volksvertretung hören – das ist alles nur mehr eine Frage der Zeit, deren geschlossener Weibestypus jedenfalls die intellektuelle, die vergeistigte Frau darstellt.

            In ihrer Vollendung liegt aber schon die Ueberwindung. Man blickt dieser kaum fertig gewordenen Frau in die ernsten Züge und empfindet, daß sie eigentlich nicht glücklich ist. Sie mag zufrieden sein mit jenem inneren Lohn, den Arbeit stets verleiht, vielleicht sogar froh, aber irgendwo scheint es zu fehlen. Es ist, als lebte sie über sich selbst hinweg. Sind Bildung und Wissen ihr zur Hemmung geworden? Hat die dadurch verlernt, das Leben zu seiner naiven Ursprache zu erfassen? Bei all ihrem geistigen Reichtum scheint etwas in ihr leer zu bleiben. Ihr Wesen ist eingedunkelt. Und diese abhanden gekommene Helle mangelt auch ihrer Umgebung, bewußt oder unbewußt.

            Man findet so oft, daß die Männer dieser tüchtigen, klugen, geistigen Frauen sich dem nichtssagenden, oft wertlosesten Uebermut einer andern zuneigen, in der sie etwas von dem verlorengegangenen Licht wiederzufinden wähnen. Und wenn man diese Tatsache auch keineswegs überschätzen will, wissend, daß unter allen Umständen das andre reizt und daß ehedem auch der Gatte der ungeistigen Frau oft zu der geistigen seine Zuflucht nahm, so muß man sich doch fragen, ob diese scheinbaren Gegensätze sich nicht binden ließen, ob nicht aus der Frau von einst in ihrer Entwicklung durch die Frau von heute eine Wesensart entstehen könnte, eine „neue“ Frau, die sich trotz ihres Intellektes den Reiz und den Wert des instinktiven Seins bewahrt hat.

            Von solch einem idealen Frauentypus spricht Fanni Künstler in einer bemerkenswerten „Untersuchung der geistigen Wesenheiten unsrer Gegenwart“, die sie „Die Kulturtat der Frau“ nennt (Wilhem Braumüller, Wien und Leipzig). Sie erblickt in der Frau unsrer Epoche nur einen Uebergangstypus. Gewiß galt es in erster Linie, die Stufe der Geistigkeit zu erreichen. Sie war Vorbedingung für den sozial notwendigen Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung, den man als Frauenemanzipation bezeichnet hat, ein Wort, das jetzt überholt, beinahe veraltet klingt. In diesem Streit hat es anfangs eine Aera der kurzen Haare und der vermännlichten Kleidung gegeben, die rasch überwunden wurde. Was davon im Wesen noch nachwirken mag, wird ebenfalls bald aufgesogen sein. Und in dem Maße, in dem diese Härten sich mildern, dieser ein wenig auftrumpfende Verstand zur Selbstverständlichkeit geworden sein wird, dürfte auch das durch die Unruhe der inneren und äußeren Werdenot gedrosselte Instinktbewußtsein der Frau, die Intensität ihres Fühlens wieder durchbrechen. Dann wird sie Geist und Herz besitzen, aber „der Impuls wird das Primäre sein, das Sekundäre der Intellekt – als Ordner!“

            Das Zentrum der Frau ist und bleibt das Gefühl. Niemals wird sie durch den Verstand das erreichen, was ihr dank ihrer Instinktsicherheit zufällt. Darin liegt ihre Macht und ihre Stärke. Wie oft geschieht es, daß der Mann seine logischen Gedankenreihen baut, um irgendeine Sache oder einen Menschen geistig zu erfassen. Die Frau hingegen spürt nur, worauf es ankommt, und das Urteil, das sie aus dieser Empfindungserkenntnis schöpft, ist nicht selten sicherer als das des Mannes. Und je feiner ihre Instinkte sind, um so wertvoller ist sie selbst, um so wohltuender wird ihre Nähe sein, für alle Menschen, namentlich aber für die geschärften Sinne der Unglücklichen, die deutlich fühlen, daß ihnen etwas Warmes, Gütiges entgegenkommt, etwas, das ihnen gern helfen möchte.

            Unwillkürlich sagt und tut die Frau das, was gerade das Richtige ist. Ihr Instinkt macht sie in jeder Lebenslage anpassungsfähig. Man hat oft mit Staunen gesehen, wie innerhalb der kürzesten Zeit aus einem Kleinbürgermädchen eine große Dame, oder aus einer ungebildeten Frau die kluge Gefährtin eines geistig hochstehenden Mannes wurde. Auch was man gleichermaßen mir Unrecht wie mit Recht das „Komödiantentum“ der Frau nennt, ist im Grunde nichts andres als ihr ungeheures Vermögen des Einfühlens. Sie kann heute Gretchen, morgen Messalina sein und kommt sich selbst, der eigenen Empfindung nach, beidemal echt vor, so sehr ist sie das, was sie sein will, namentlich dann, wenn ihr Gefühlsleben stark beteiligt ist, wenn sie spürt, daß der Mann, den sie liebt, sie gerade so und nicht anders haben will.

            Aber selbst wenn man von dieser Art des Wesensspieles absieht, das den Begriff vielleicht verwirrt, hat nicht gerade die Gegenwart bewiesen, wie intensiv die Frau imstande ist, sich in allen Lagen zurechtzufinden? Sie ist jeglichem Geschäfte ferngestanden und hat plötzlich gelernt, einen Betrieb zu leiten; sie hat nur im Hause gewirkt und wurde zur organisatorischen Begabung.

            Diese Fähigkeit erwächst ihr, wie Fanni Künstler sehr richtig erläutert, aus dem vollkräftigen Durchdringen der Daseinstatsachen. Sie steht der Materie, dem Leben überhaupt weit näher als der Mann, nicht nur in ihrer körperlichen Bestimmung, sondern, daraus folgend, in ihrem ganzen Wesen.

            „Der Mann ist das fruchterzeugende Prinzip Idealität = Geist.

Die Frau ist das fruchtbringende Prinzip Materie = Wirklichkeit.“

            Darum ist sie zur Helferin berufen. Das ist ihre beste und tiefste Aufgabe. Deshalb soll die Frau nicht selbst nach Rang und Macht, nach Ruhm und Reichtum streben, sondern den Mann, dem diese Güter zukommen, dahin geleiten. „Der Mann soll von der Frau geführt seinen Weg gehen.“ In ihrer Nähe sollen seine besten Empfindungen sich regen, an ihrer Harmonie, ihrer inneren Ausgeglichenheit muß sein ins Schwanken geratenes Gleichgewicht sich wieder aufrichten. Wie in einem Spiegel soll der Mann in der Frau sein Selbst verklärt und geadelt finden. Dann wird es ihr möglich sein, ihn nach sittlich großen Zielen zu lenken und die Welt dadurch um ein Stück vorwärts zu bringen dem nächsthöheren menschlichen Standpunkt zu, den es in jeder Entwicklung zu verfechten gilt.

            Das ist „Die Kulturtat der Frau“, von der Fanni Künstler mit jener Leidenschaftlichkeit des Charakters spricht, in dem sie die Voraussetzung der wertvollen intuitiven Frau erkennt. Um diese Kulturtat zu vollbringen, muß die Frau aber, wie bekannt, erst den Intellektualismus überwinden oder, besser gesagt, ihn so zur Selbstverständlichkeit werden lassen, daß er ihr eigenstes, ihr instinktives Sein nicht unterjocht, sondern läutert. „Denn im tiefsten Grunde erschaut und erfaßt, bedeutet es für das Wohl der Menschheit nicht hauptsächlich, daß die Frau als Persönlichkeit verstanden wird, sondern, daß sie – als gotterfüllte Wesenheit – alle andern erfaßt und versteht und führt.“

            Sie soll Meisterin, Künstlerin, mehr als das, Seherin auf seelischen Gebiete sein – das ist die Sendschaft der neuen Frau.

            Fanni Künstler hat ihr Buch vor dem Kriege geschrieben. Aber die Wirren der Welt stoßen ihre Erkenntnis nicht um, sondern vertiefen sie. Die Neuregelung des Lebens, die wie alle erwarten, bedarf der Instinktsicherheit, der geistig gehobenen seelischen Kraft der Frau ganz besonders, und wenn sie uns auch nicht in der hehren Verkörperung werden kann, von der die geistvolle Philosophin träumt, so müssen wir uns mit dem Streben danach bescheiden in jenem Idealismus des wirklich Möglichen, in dem die Daseinsweisheit der Frau wurzelt. Denn „nur das höchste Ideal ist auch am vollsten real“.

In: Neues Wiener Tagblatt, 10.10.1918, S. 2-3.

Elsa Tauber: Neu-Oesterreich und die Frauen

Umgestaltung, wohin man blickt und hört. Alles Alte ist unbrauchbar geworden, der Umsturz hat kommen müssen, nicht weil ihn einzelne oder selbst ganze Völkerklassen gewollt haben, sondern weil er ein Zwang der Notwendigkeit war. Alle traditionellen Begriffe von Herren und Dienern, von niedriger und höherer Bevölkerungsschichte haben ihre Geltung verloren, das Volk läßt sich nicht mehr regieren, will nicht mehr blindlings gehorchen müssen, wenn man das Blut seiner Kinder für imaginäre Werke von ihm fordert. Selber will es sein Schicksal bestimmen und nur seine  seine eigenen Beschlüsse sollen maßgebend sein für die Gestaltung seiner Zukunft. Das Volk – es besteht aus Männern und Frauen. Schon ist an bedeutungsvoller Stelle das Wort ausgesprochen worden, ein von Männern und Frauen gewählter Rat soll Oesterreichs Geschicke steuern. Ob  auch ein von Männern und Frauen zusammengesetzter Rat? Es liegt kein Grund vor, an dieser Annahme zu zweifeln. Der heilsame Sturm, der jetzt durch das Bestehende fährt und alte Traditionen umreißt, daß sie an ihrer Morschheit krachend zusammenbrechen, wird hoffentlich auch die unsinnigen und und unbegründeten Vorurteile gegen die offizielle Bestätigung der Frauen hinwegfegen.

Seien wir ehrlich: Schlechter hätte es auch dann nicht kommen könne, wenn Frauen schon bisher ein mitbestimmendes Wort zu reden gehabt hätten. Auch sie hätten nicht kurzsichtiger und verständnisloser den unausweichlichen Anforderungen des Tages gegenüberstehen können, als es gewiegte österreichische Staatsmänner taten. Wenn es froh macht, nicht mitverantwortlich an schlechten und falschen Maßnahmen zu sein, dann können Oesterreichs Frauen heute jubeln. Aber sie sind viel zu lange schon politisch reif, als daß sie sich darüber freuen könnten, unbeteiligt an dem gegenwärtigen Debacle zu sein. Denn diese Frauen sind auch Hausfrauen, die jetzt mit vorwurfsvollsten Zweifeln fragen: Wäre es so weit mit unserer Ernährung gekommen, wenn wir im Rate der Gemeinde und des Staates eine Stimme gehabt hätten? Diese Frauen sind Mütter, deren verzweifelte Anklage dahin geht, daß sie ihre Söhne widerspruchslos für längst entwertete Phantome opfern mußten.

Das alte Oesterreich ist tot. Niemand wird dem, was damit starb, eine Träne nachweisen, es sei denn jene Kaste, der nun die Führung aus den längst altersschwachen Händen genommen wurde. Aus den Ruinen soll neues Leben entstehen und nun harren die Frauen, ob sich die Erkenntnis Bahn brechen wird, daß auch sie ihren Platz in der Oeffentlichkeit verdienen. Die Erkenntnis besteht eigentlich längst. Aus ihr stammt die immer lauter zum Ausdruck gelangende Sorge, die Frauen würden sich mit dem bescheidenen Platz in der Häuslichkeit nicht mehr begnügen, nachdem sie einmal im Erwerbsleben ihre Kräfte erprobt haben. Nur Böswilligkeit kann der Frauenarbeit Unzulänglichkeit nachsagen. Und wenn nicht jede einzelne ihren Platz musterhaft ausfüllte, so liegt dies daran, daß nicht jeder Mensch ein Muster an Pflichterfüllung ist, die Männer genau so wenig wie die Frauen. Der Beweis aber, daß der Durchschnitt der Frauen ihre Arbeit schlechter versieht als der Durchschnitt der Männer bei gleichem Alter und gleicher Bezahlung – dieser Beweis wäre erst zu erbringen.

Jene Demokraten, die Oesterreichs Verwaltung jetzt hoffentlich in die Hand nehmen und zum allgemeinen Heile durchführen werden, schätzen Frauenarbeit und Frauenverständnis schon lange richtig ein. In ernster Stunde sei es aber in Erinnerung gebracht, daß die Frauen nicht mehr und nichts anderes sein wollen, als das was sie sind. Den Frauen ist es nicht darum zu tun, den Mann vom Arbeitsmarkt zu verdrängen und sich dadurch jede Aussicht auf eine gutfundierte Ehe zu zerstören. Sie will nur nicht als Hausfrau in die vollständige Abhängigkeit vom Manne geraten, und weil die richtige Wertschätzung der Frau offiziell noch nicht besteht, versuchen die meisten instinktiv oder bewußt, sich im Kleinkampf persönlich die Stellung zu erwerben, die ihnen zukommt. Eine politische Anerkennung der Frauenrechte würde daher nicht, wie häufig befürchtet, eine Vernichtung aller vielgerühmten weiblichen Eigenschaften, sondern deren neuerliche Entfaltung bringen. Der Besitz überhebt des Kampfes darum, und eine Selbstverständlichkeit, wie es die anerkannten politischen Frauenrechte in absehbarer Zeit hoffentlich sein werden, verursacht nicht einmal Aufmerksamkeit, geschweige denn Beachtung.

Es widerstrebt beinahe heute schon, die Widersinnigkeit der Verknüpfung politischer Rechte mit dem Geschlecht an dem Analphabeten irgendwo in einer Dorfhütte des Hochgebirges und der akademisch graduierten Frau zu beweisen. Dieses Beispiel hat jedoch im Laufe der letzten Jahre nur an Schlagkraft gewonnen, denn immer größer wird die Anzahl der Frauen, deren geistige Entwicklung steigt, immer größer wird leider auch die Zahl derer, die nicht mehr damit rechnen können, in der Ehe Schutz und Zuflucht zu finden, sondern den Kampf ums Dasein auf eigenen Füßen stehend ausfechten müssen. Sie alle haben ein Recht darauf, als vollwertige Staatsbürger endlich auch in anderer Weise anerkannt zu werden, als dadurch, daß sie die volle Steuer plus 10% für Alleinstehende zu entrichten haben. Sie dürfen in einer Volksvertretung einen Platz für sich fordern, ebenso die Frauen, die in ihren Haushaltspflichten aufgehen, und alle anderen, die einer Kategorie von Männern mit politischen Rechten entsprechen. Das Dienstmädchen, das zur Wahlurne geht, bietet dem logischen Denker nicht mehr Stoff zur Verspottung wie der Hausknecht im gleichen Fall, und schon oft hat eine Sache von der Karikatur in den Witzblättern aus ihren Siegeszug durch die Welt genommen.

Ueber die politischen Forderungen der Frauen wird übrigens schon lange nicht mehr gelacht. Sie sind gewissen Kreisen höchstens so unangenehm gewesen wie die Forderungen der Demokraten. Mit diesen zugleich werden sie hoffentlich jetzt anerkannt werden.

In: Neues Wiener Journal, 26.10.1918, S. 4.