Martina Wied: Reportage (1929)

Das ist nun der letzte Schrei der literari­schen Modenwelt, Anwendung des Begriffes „neue Sachlichkeit“ auf das Gebiet des Schrifttums, sprachlicher Bauhausstil mit der Nebenlösung, alle geistige Existenz in die Unwohnlichkeit eines Wartesaals zu verbannen, sie ambulant zu machen, unstät, zum Aufbruch bereit, in eine Vorläufigkeit geschoben, die Rückblick nicht verstattet und Behagen an der Gegenwart nicht aufkommen läßt; — ja, es manifestiert sich darin recht eigentlich ein heroischer Entschluß zur Un­behaglichkeit, ahasverischer Zwang zum Wan­dern, weil der wegmüden Kunst die Ruhestätte verwehrt wurde.

Dieser Wille zur Reportage entspricht, wie alles Heutige, einer Negation. Es steckt Auflehnung dahinter gegen jegliche Art von Im­pressionismus und Expressionismus, gegen alle stilisierende Vergewaltigung des Seienden,— die Willkür von Dada und Surrealisme mit ein­geschlossen; — Respekt vor der Realität lebt darin und der demütige Wunsch, sie, die alle künstliche Schöpfung an Großartigkeit, Wandel­barkeit übertrifft, unverändert festzuhalten.

Das Schriftentum der nächsten Epoche wird sich also, nach diesem Programm, die Leistungen des photographischen Apparates und des Mikrophons zum Beispiel nehmen und sich ihnen anzugleichen versuchen. Ein höchstes Maß von Entpersönlichung, ein Ausschalten des Berichten­ den zugunsten des von ihm Geschauten und Be­obachteten, das Streben des Reporters, seinen Blick ungetrübte Klarheit einer Linse — die nicht zufällig auch „Objektiv“ heißt — seiner Hand unbeirrbare Sicherheit eines Registrier­apparates zu geben, ist hier Voraussetzung. Wir wissen nun aber recht genau, daß für das Zu­standekommen einer guten Photographie oder einer vollkommen klaren phonetischen Übertragung außer Lichtstärke der Linse und Empfäng­lichkeit der Membran noch einige andere Mo­mente in Betracht kommen: die Einstel­lung beispielsweise und, vielleicht auch ein klein wenig, der künstlerische Geschmack der Person, die den Bildausschnitt mit technischen Mitteln abgrenzt; der Wohlklang und die Tragkraft der Stimme, die vor dem Mikrophon spricht oder singt. Die ange­strebte vollkommene Entseelung und Entpersönlichung läßt sich also nicht einmal in Bezug auf technische Hervorbringungen, nicht einmal in Hinsicht auf die Leistungsfähigkeit einer Ma­schine, die Geschwindigkeit eines Aeroplans, ganz durchsetzen; es bleibt ein Erdenrest von Indi­vidualität zu tragen peinlich, auch die Reportage wird sich mit ihm einrichten müssen, sie kann sich nicht auf die Plattform aus Asbest zurückziehen, um allen menschlichen Gebrechen entrückt zu sein.

Nehmen wir nun einmal irgend ein Ereig­nis unter das Objektiv des Reporterauges: Bei­spielsweise den Brand einer Fabrik. Es bestehen da zwei Formen der sprachtechnischen Aufnahme— entweder die Möglichkeit, das Ereignis auf sein Typisches, immer Wiederkehren­des, auf sein Skelett zu reduzieren: dann genügt eine sachliche Feststellung, die alle anderen erübrigt (wie unter dem Fascio das Regierungs­organ alle anderen Journale überflüssig macht), oder, als zweite Möglichkeit, das Einmalige, nie Wiederkehrende des Ereignisses festzuhalten; das ergäbe nun, bei sechs verschiedenen Bericht­erstattern, sechs gänzlich verschiedene Berichte, die vielleicht daran zweifeln lassen könnten, ob es sich jedesmal um das gleiche Ereignis handelt? Je scharfsichtiger nämlich, je eindrucksfähiger, je wachsamer der Reporter ist, um so weniger wird, was er sieht, dem von Andern Gesehenen gleichen! Und dabei handelt es sich hier um ein Elementar­ereignis, dem nichts  unterschoben, das durch keine politische, religiöse, philosophische Überzeugung des Betrachtenden in seiner Erscheinung und Auswirkung verändert und verfälscht werden kann — wohl aber durch ein paar ganz primitive Tatsachen: ob der Betrachtende gut geschlafen, ausreichend gefrühstückt hat, ob er nicht durch den Rauch der Brandstätte in seiner physischen, nicht durch private Erlebnisse in seiner geistigen Seh­kraft beeinträchtigt war — weil, all seinen An­strengungen zum Trotz der Reporter doch immer — wenn diese Neubildung gestattet sein möchte — durch ein Subjektiv blickt!

Der geneigte Leser, der ja weit voraussehen­der ist, als die Mehrzahl der Schreibenden es je wort [Orig!] haben möchte, wird längst erkannt haben, wo hinaus ich mit alledem will: daß es mir darum geht, begreiflich zu machen, es gäbe kein romantischeres, kein Don Quichote-ähnlicheres, kein tollkühnerer Unterfangen, als die Bemühung um eine sachlich einwandfreie Repor­tage! Es sei, vom Herodot bis zu den No­vellen von Paul Ernst, immer Absicht des guten Auges und der sicheren Hand gewesen, Wirk­lichkeit wiederzugeben, so genau, so leidenschaftslos, so unpersönlich, wie es gerade die große Persönlichkeit in ihrer Schöpferhaftigkeit sich am ehesten vornehmen darf. So betrachtet sind ja die Werke der italienischen No­vellisten, der Robinson Crusoe, der Grimmelshausensche Simplicius, sind die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter, Stendhals No­vellen, Manzonis Promessi sposi, der Michael Kohlhaas und das Erdbeben in Chile, Madame Bovary, das Gesamtwert Marcel Prousts — Reportage; die Reihe gestattet viele Ergänzun­gen, ja, alle Dichtung entstammt vielleicht nur dem verzweifelten Bemühen um vollkommene Wiedergabe des Wirklichen, also um vollkom­mene Reportage; eine Bestrebung, die schließ­lich doch illusorisch bleibt durch die unüberwind­liche Eigenkraft des Individuums, die un­gebrochene Lichtstärke des „Subjektivs“.

Wir brauchen uns also nicht allzusehr vor dem literarischen Bauhausstil zu graulen. Reportage hat ihr Gutes, sie ist Wille zur Säuberung des geistigen Haushalts von Staubfängern, Brokatbehängen und aus Stilblüten ge­bundenen Makartbuketts. Wille zur sprachlichen Nüchternheit, zur Ehrlichkeit, Genauigkeit, Treue gegen das Wirkliche — das ist eine adelige Absicht, der gerade der revolutionäre geistige Mensch seine Anerkennung nicht versagen wird.

Nun kann aber freilich irgend einer von den jungen Leuten kommen, die das Wort Reportage in Kurs gesetzt haben und mir erklären, ich hätte seinen Sinn und seine zeitgemäße Bedeutung völlig mißverstanden: Reportage sei nichts an­deres, als was die „New- York Sun“ oder die „Chicago Tribune“ ihren Lesern vorzusetzen für gut befinden! Das soll mir auch recht sein, denn in diesem Fall brauche ich mich an keiner Apologie des neuen Schlagwortes mehr zu versuchen und darf, wenn ich mich durchaus am amerikanischen Muster bilden soll, wieder ein­mal Edgar Allan PoesPhanta­stische Geschichten“ lesen: die zuverlässigste Reportage über das unzuverlässige Wesen des Genies.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 22.10.1929, S. 6.

Karl Tschuppik: Goethe, ein Zwischenfall ohne Folgen (1932)

Es wird heute und morgen nicht an tausenden Versuchen fehlen, die sich darum bemühen, das Bild Goethes zu dem Bilde der deutschen Gegenwart in eine praktisch-politische Be­ziehung zu setzen. So grob dies Beginnen scheinen und jeden zarteren ästhetischen Sinn verletzen mag, so darf es doch fordern, ver­standen und als Zeichen einer allgemeinen Not und vielleicht auch Scham erkannt zu werden. Wie anders könnte sich auch die um­fassendere Anteilnahme an dem Gedenken ausdrücken, als durch ein Verlangen, welches in die Frage mündet, ob es eine Berührung mit dem Geiste Goethes gibt und wie weit sie reicht?

Als vor dreiundachtzig Jahren die hundertste Wiederkehr des Geburtstages Goethes den deutschen Kalender schmückte, ging dieses Datum an der Nation fast spurlos vorüber; es versank in der Grabesstille der Gegenrevolution, die eben mit dem Versuche der Europäisierung des deutschen Bodens er­barmungslos aufgeräumt hatte. Der hundertundfünfzigste Geburtstag fiel in eines der üppigen Jahre des wilhelminischen Zeitalters. Es war ein Fest der Würden, bei dem der Optimismus der neudeutschen Reichsherrlichkeit Goethes Büste bekränzte. Es war eine Huldigung vor der deutschen Bibliothek, der man den Gruß nicht verweigerte, die aber als Requisit aus Kindheitstagen in dem Glanz der Gegenwart entbehrlich schien. Die angstvolle Ahnung, daß der Mißbrauch des Erfolges nach 1871 die Absage an den deutschen Geist zur Folge haben werde, hatte sich erfüllt. Dem Gebildeten genügte es, Goethe als Besitz zu empfinden; er suchte das Kleine und Alltägliche aus dessen Leben, um seiner eigenen Kleinheit und Alltäglichkeit eine Weihe zu geben, er verniedlichte ihn und paßte ihn dem eigenen Behagen an, womit er meinte, den Sinn der Goetheschen Har­monie gefunden zu haben.

Es wäre nicht das schlechteste an dieser Zeit, wenn Goethes Todestag den Anreiz dazu gäbe, die Frage nach seiner Geltung in der deutschen Gegenwart ohne Selbstbelügung zu beantworten. Jede solche Betrachtung // wird von einem Gedanken ausgehen müssen, den am besten Nietzsche in Worte gefaßt hat, als er den Begriff „deutscher Klassiker“ auf dessen Lebendigkeit prüfte. Ihm schien es, daß die deutsche literarische Begabung nur dreißig Jahre tot zu sein und als erlaubte Beute öffentlich dazuliegen brauche, um unversehens plötzlich als Klassiker die Trompete der Auferstehung zu hören. Er sah in dieser Totenverklärung das eigentliche Begräbnis, gestand aber den Deutschen zu, daß sie, ohne sich dessen schämen zu müssen, von den sechs großen Stammvätern ihrer Literatur fünf als veraltet ansehen dürfen: Klopstock, der schon bei Lebzeiten auf ehrwürdige Weise ver­altete; Herder, der das Unglück hatte, daß seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; Wieland, der als kluger Kopf dem Schwinden seiner Geltung durch den Tod zuvorkam; Lessing, der vielleicht noch unter jungen und immer jüngeren Gelehrten lebt; und Schiller, der aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben geraten ist. Nietzsche schreibt es gewissen Tugenden zu und er hat darin vor den philologischen Schönfärbereien recht! —, daß diese Fünf in der Gunst zurückgedrängt worden sind: das bessere Wissen und die größere Achtung vor dem Wirklichen, also Tugenden, welche gerade durch diese Fünf erst wieder in Deutschland angepflanzt wurden, haben auch zu deren Vergessen beigetragen; sie stehen als hoher Wald über den Gräbern der Fünf und breiten neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit darüber.

Nur von Goethe sieht er ab, nur ihn nimmt Nietzsche aus; Goethe gehöre, so sagt er, in eine höhere Gattung von Literaturen, als „National-Literaturen“ sind: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts, als eine Fanfare der Eitelkeit, die man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüber bläst. Goethe ist, so faßt Nietzsche sein Urteil zusammen, in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen.

Das ist die Wahrheit, die kein Ännäherungsbedürfnis zu trüben vermag. Wer wäre auch imstande, in der deutschen Politik der letzten hundert Jahre ein Stück Goethe aufzuzeigen; wem gelänge es, in der Gestaltung des deut­schen Lebens dieser Zeit einen Hauch Goetheschen Geistes aufzuspüren? Bei solchem Be­mühen wird jede Kunst, jede Deutung ver­sagen. Es genügt, sich das Bild der deutschen Geschichte vor Augen zu halten, um zu ver­stehen, daß Goethes Haus abseits von jenem Wege stand, den sein Volk zu gehen gezwun­gen war. Als der junge Goethe in seiner Hei­matstadt das altfränkische Schaugepräge der Kaiserkrönung schaute, war die Herrlichkeit des alten Reichs eine farbenreiche Täuschung, hinter der sich die nackte Tatsache verbarg, daß die Deutschen seit dem Westfälischen Frieden aus dem Wettkampf der großen Mächte aus­geschieden waren. Noch immer empfing der kaiserliche Oberlehnsherr die Huldigung seiner knienden Untertanen und übte die Gerichts­barkeit durch seinen Reichshofrat; noch immer schwenkte der Herold bei der Krönung das Kaiserschwert nach allen vier Winden, als ge­horche die Christenheit dem Befehl des Doppel­adlers; noch sprach das Reichsrecht mit feier­lichem Ernst von den Lehen des Reichs, die auf den Felsterrassen von Genua und in Toscana lagen. Die ganze zeremonielle Herr­lichkeit des deutschen Kaisertums war aber, wie es Treitschke sagt, ein Mummenschanz, ebenso lächerlich, wie das Schwert Karls des Großen, das den böhmischen Löwen auf der Klinge trug. Es gab keinen deutschen Staat, es gab keine deutsche Nation. Das Reich be­stand aus einer Unzahl souveräner Landes­obrigkeiten, Königen, Fürsten, Reichsrittern, Grafen, Bischöfen und kleinen Stadtrepubliken, aus einem Chaos von Widersprüchen, in welchem jede Institution des Reichs ihren Sinn, jedes Recht seine Sicherheit verloren hatten. Außerhalb des Reichs, auf dem Bo­den eroberten Slawenlands, wuchs die neue Macht Brandenburg-Hohenzollern.

Es gibt eine borussische Literatur-Legende, die sich auf eine beiläufige Bemerkung Goethes beruft, wonach die deutsche Dichtung ihren ersten und wesentlichen Auftrieb von Friedrich dem Großen und den Schlachten des Sieben­jährigen Krieges empfangen habe. Es ist müßig, darüber zu streiten, wie Goethe jene berühmt gewordene Stelle gemeint hat. Da Friedrich die deutsche Literatur verachtet und auch Goethe nicht mit abfälligem Urteil verschont hat, bleibt nur die Deutung, daß diese königliche Verachtung sich als ein förderndes Element erwiesen habe. Daran ändert auch Lessings Minna nichts, und gerade die geborenen Preußen, Klopstock, Herder und Winckelmann, suchten je eher, je lieber den Staub der Heimat von sich zu schütteln; Klopstock floh nach Dänemark, Herder nach Rußland, Winckelmann rettete sich nach Sachsen und von dort nach Rom. Nur die Unkenntnis der deutschen Geschichte und die spätere Glori­fizierung Friedrichs haben den Glauben er­zeugt, daß dieses eigenartigen Mannes Taten der Auftakt gewesen seien zu einem sinnvollen Lauf der Preußischen Historie, der in die Siege von 1866 und 1870, endlich in die Grün­dung des Hohenzollernschen Kaiserreiches mün­dete. In Wahrheit war die Schöpfung Fried­richs II. von kurzer Dauer; sie verfiel nach einem Tode und zerbrach völlig auf dem Schlachtfelde von Jena und Auerstädt. Das andere Preußische Heer, das vom Geiste Scharnhorsts und Gneisenaus belebt, vom Mißtrauen des Königs begleitet, später dazu beiträgt, die Macht Frankreichs zu beugen, hat mit der Schöpfung Friedrichs allenfalls die alten Märsche gemein, sonst aber nichts.

Nach der Französischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen schreitet eine Gestalt durch die deutsche Welt, die Goethes Blick ganz anders angezogen hat, als Friedrich II.: Napoleon. Goethes Verehrung für Napo­leon, nicht erst vom Tage der Begegnung in Erfurt an, ist eine so unumstößliche, durch Aufzeichnungen und Gespräche belegte Bestimmtheit, daß es vor ihr nur eine Ent­scheidung gibt: sie zu begreifen und zu be­jahen, oder sich entrüstet abzuwenden. Und hier scheiden sich denn auch die Geister. Nicht zwar, als ob auf der einen Seite der Patrio­tismus und seine Geschichtschreibung, auf der andern der dem Westen zugewandte Radika­lismus stünden: hier finden sich Ludwig Börne und der Turnvater Jahn, Humboldt und Ernst Moritz Arndt, Mundt und Menzel auf einer Linie. Hätte Goethe an Napoleon „den größten Verstand gelobt, „denn je die Welt gesehen“, oder ihn „einen der produktivsten Menschen“ genannt, „die je gelebt haben“, es wäre ihm verziehen worden: auch die unpazifistische Gesinnung in dem Gedicht Politika, in dem Gott die Verlesung der Sünden Napo­leons mit den Worten abschneidet:

„Wiederhol’s nicht vor göttlichen Ohren!
Du sprichst wie die deutschen Professoren.
Wir wissen alles, mach‘ es kurz!
Am Jüngsten Tag ist’s nur ein …“

Es war nicht dies und war nicht Goethes Abkehr vor der patriotischen Erhitzung, was Humboldt zu dem Tadel verleitete, „Egois­mus. Kleinmut und zum großen Teil Menschenverachtung“ trügen zu „Goethes Gleich­gültigkeit für alles Deutsche bei“. Goethe trennte von seinem Volke der unbeirrbare Blick in die Wirklichkeit der deutschen Welt. Er sah an Napoleon den „do­minierenden Genius“ und die „Tyrannis wirklicher Kulturforderungen“ bei seinem Volke ein heroisches Bemühen, ohne die Aussicht auf ein wirkliches Ziel. Es ist trotz der eifrigen Pflege und der ansehnlichen Entfal­tung des „historischen Sinns“ bis heute noch nicht geglückt, ein nur halbwegs wahres Bild der deutschen Befreiungskämpfe zu erhalten, ihrer treibenden Kräfte, dem klaren und dem unklaren Wollen, das aus dem Prügelsoldaten von 1806 den freiwillig kämpfenden Land­wehrmann von 1813 gemacht hatte. Es war eine deutsche Revolution. Verwunderlich in ihrem Widerstreit rumorender Gedanken und Gefühle, rührend in der Einfalt und Ver­trauensseligkeit des deutschen Menschen, trostlos am Ende bei dem Betrug, der an den Kämpfern begangen wurde: „die größte Zech­prellerei der Geschichte“. Wie die Reform des preußischen Staates auf halbem Wege steckengeblieben war, so blieb der König alle Ver­sprechungen schuldig, die er in dem Aufruf von Kalisch feierlich gegeben hatte. Goethe war während dieser Zeit in die Geschichte des chinesischen Reiches vertieft.

Ist es ersprießlich weiter zu denken und danach zu fragen, was Goethe hundert Jahre später gesagt, was er getan hätte? Die Ver­ächter der Wirklichkeit haben der deutschen Katastrophe ihre Deutung gegeben. Sie prei­sen die Verschwommenheit des Denkens als heilige „Anti-Ratio“; das höchste Gut, die Vernunft, mißachtend, folgen sie, scheuen Pfer­den gleich, ihrem dunklen Drang. Sie nennen’s „faustisch“. Nicht wissend, daß Goethe diesen Typus noch in der subtilsten Ausgabe gehaßt, und wie die Pest gemieden hat.

Goethes Auge sucht noch immer die Aufhellung Deutschlands.

In: Der Tag, 19.3.1932, S. 1-2.

Oskar Ewald: Kulturperspektiven (1921)

Zu den am meisten gelesenen neuesten Büchern in deutscher Sprache gehört das Reisetagebuch eines Philosophen, dessen Verfasser Hermann Keyserling ist. Neben Spenglers Untergang des Abendlandes hat es wohl in Deutschland die stärkste und allgemeinste Wirkung geübt. Aber nicht allein aus diesem äußerlichen Gesichtspunkt des Erfolges werden beide Werke so häufig in Verbindung gebracht; es mangelt auch nicht an inneren Zusammenhängen. Beide stellen große Kulturperspektiven auf. Spengler spricht vorwiegend als theoretischer Geschichtsphilosoph, dem es freilich auch nicht an Phantasie und Intuition mangelt; Keyserling spricht in seinem Reisetagebuch aus unmittelbarer Anschauung. Keyserling, ein baltischer Graf, in dessen Familie einst Kant eine Hauslehrerstelle versehen hatte, ist in der philosophischen Literatur keine neue Erscheinung. Eine Reihe interessanter, wenn auch in vielen Punkte anfechtbarer Schriften ist bereits aus seiner Feder hervorgegangen. So: Das Gefüge der Welt, Unsterblichkeit, Schopenhauer als Verbilder, Prolegomena zu einer Naturphilosophie. Scheinbar hat sich Keyserling erst in seinem letzten Werk so recht gefunden. Auf der ersten Seite des zweibändigen Werkes lesen wir als Motto das geistreiche Paradoxon: „Der kürzeste Weg zu sich selber führt um die Welt herum.“ Sehr schön erzählt der Verfasser im ersten Kapitel, was ihn zu der Weltreise veranlaßt hat, deren Haupteindrücke er in tagebuchartigen Aufzeichnungen festhält.

„Seitdem ich erwachsen bin, bedeuten Eindrücke als solche mir wohl nichts mehr; mein Geist gewinnt nicht mehr durch bloße Stoffaufnahme. Dafür reagiert er jetzt als Ganzes verschieden, je nach den Umständen, innerhalb deren er sich befindet, und dieses Verschiedenwerden erschließt mir Seiten der Wirklichkeit, zu denen mir früher jeder Zugang fehlte. Dem Unwandelbaren kann die Welt, seitdem er erwachsen, allerdings nichts nützen. Je mehr der sieht, erlebt, erfährt, desto oberflächlicher wird er, weil er mit Organen, die bloß auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit zugeschnitten sind, nun vielen gerecht werden will und so notwendig falsche Eindrücke gewinnt; dem ist es besser, er bleibt in seiner Sphäre. Der Plastische hingegen, den jedes neue Milieu, dessen Eigenart entsprechend, verwandelt, kann nimmer genug erleben, denn er geht aus jeder Metamorphose vertieft hervor. – So trete ich denn eine Weltreise an. Europa fördert mich nicht mehr. Zu vertraut ist mir schon diese Welt, um meine Seele zu neuen Gestaltungen zu zwingen. Und dann ist sie auch zu beschränkt. Ganz Europa ist wesentlich eines Geistes. Ich will in Breiten hinaus, wo mein Leben ganz anders werden muß, um zu bestehen, wo das Verständnis eine radikale Erneuerung der Begriffsmittel verlangt, wo ich möglichst viel von dem vergessen muß, was ich ehedem wußte und war. Ich will das Klima der Tropen, die indische Bewußtseinslage, die chinesische Daseinsform und viele andere Momente, die ich gar nicht vorausberechnen kann, umschichtig auf mich einwirken lassen und zusehen, was aus mir wird.“

Es muß gesagt werden, daß die Erwartungen, die diese Sätze wecken, in dem Inhalt des Buches größtenteils ihre Erfüllung finden. Keyserling besitzt eine außerordentliche Gabe der Einführung, er besitzt jene Mischung künstlerischer Anschauung und philosophischer Reflexion, die ihn befähigt, vieles und verschiedenartiges zu erleben und sich zugleich über das Erlebnis Rechenschaft zu geben. Es ist staunenswert, wie er sich in die uns so fernen und fremden Atmosphären des Orients, Indiens und Chinas hineinzuversetzen vermag. Diese Begabung ist nicht völlig einwandfrei; man kann sich zuweilen des Eindrucks nicht erwehren, als entgleite einem in diesen unaufhörlichen Verwandlungen alles Feste und Allgemeingültige; als sei die Fähigkeit, so viele Milieus zu verstehen, so viele Kostüme zu wechseln, mit dem Preise einer einheitlichen, in sich gegründeten Persönlichkeit bezahlt. Gleichwohl ginge man fehlt, wenn man in dem Verfasser lediglich einen differenzierten Stimmungsmenschen, einen genialen Impressionisten sehen wollte. Er ist ein wirklich universaler Mensch, der um den Kern seines Wesens eine Mannigfaltigkeit von Lebensgeschichten zu bauen weiß, an denen alle mögliche Kulturen und Weltansichten ihren Anteil haben. Im Grunde aber bleibt er sich und seiner Welt treu. Vor dem Durchschnitt philosophischer Systembildner, in deren Spuren zu treten er verzichtet, hat er vieles voraus: vor allem das Vermögen, hinter die Systeme zu blicken, die Gesetze ihrer Bildung zu erforschen. Er weiß, daß der menschliche Geist ebenso wie die Natur zu reich ist, um sich auf eine Form, auf eine Methode des Denkens und Lebens festlegen zu können. Und er findet im Orient, zumal in Indien, eine Mannigfaltigkeit von Anschauungen, die bloß dem einseitigen Theoretiker widerspruchsvoll erscheinen, in Wahrheit aber jener tropischen Fülle der Natur entspringen, die sich im Innern wie im Äußern, in der Vegetation wie im Gedanken kundgibt. Daher die Toleranz, mit der die Inder selbst die verschiedenartigen religiösen und philosophischen Standpunkte gelten lassen. Sie sehen darin bloß Ausdrucksmittel oder Symbole, und was hat es für einen Sinn, sich dem Unergründlichen gegenüber an ein einziges Symbol zu binden? Wir sind im Abendland noch recht weit von dieser Weisheit entfernt; es hat Jahrhunderte gedauert, bevor sich die Idee der Duldung hier durchsetzen konnte. Man könnte sagen, daß Keyserlings Reisetagebuch ein wertvoller Beitrag zu der Literatur der Aufklärung ist, die auch heute noch keineswegs abgeschlossen ist; umsoweniger, als der Weltkrieg einen furchtbaren Rückfall in die Finsternis früherer Zeiten bedeutete. Hat doch in ihm die Unduldsamkeit, der mangelnde Sinn für fremde Art und Ausprägung einen Höherpunkt erreicht! Um so bedeutungsvoller erscheint es, daß jetzt Bücher die Öffentlichkeit beherrschen, die diese Enge der Perspektiven sprengen und ganz ins Weite einer Universalkultur streben. Spengler und Keyserling sind bei aller sonstigen Verschiedenheit hierin einig. Beiden erscheint die Kultur des Abendlandes nicht als die Kultur schlechtweg, sondern als eine mögliche Form neben anderen Möglichkeiten. Der Eigendünkel des Europäers erhält von ihnen eine gründliche Zurechtweisung und seine angemaßte Stellung im Mittelpunkt der Welt wird durch die Tiefe und Unerschöpflichkeit des Orients widerlegt. Wir können darin wohl ein Zeichen der Zeit erblicken. Hoffentlich ist dergestalt wenigstens in den Kreisen der Ernstzunehmenden endgültig nun jene Stimmung überwunden, die so intensiv den Krieg gefördert hat und einen besonders wirksamen Ausdruck in Chamberlains weitverbreiteten Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts erhält, einem Buch, das bekanntlich die geistige Produktivität als alleiniges Rassemerkmal der Indogermanen hinstellt. Bezeichnend genug hat der Verfasser in seinen Kriegsschriften diese Theorie noch mehr verengt und allen höheren Wert der deutschen Nation vorbehalten. Keyserling, der ursprünglich von Chamberlain ausging, ist weit über ihn hinausgewachsen; man kann sagen, daß er dessen Wegrichtung geradezu umgekehrt hat. Er besitzt viel mehr vom alten Klassizissmus nd bleibt der echten, ungefälschten deutschen Bestimmung, sich verstehend in fremde Art einzusenken, treu. Der mit der modernen Geistesgeschichte einigermaßen Vertraute weiß, wie innig sich hier auf Schritt und Tritt Eigenes mit Fremden verbindet. Seit der Renaissance bilden französische, italienische, englische und deutsche Kultur mehr und mehr ein untrennbares Ganzes, dem sich nunmehr auch der skandinavische und slavische Geist einzuschmelzen beginnt. Weniger bekannt ist der Anteil, den Ostasien besitzt. Längst, ehe die chinesischen und japanischen Malereien das Auge der europäischen Impressionisten entzückten – schon vom siebzehnten Jahrhundert an – waren Jesuitenmissionen im Fernorient tätig und lernten dort die gewaltigen Werke Laotses und Konfutses kennen. Ihre Berichte erregten in Europa viel Aufsehen und gewannen einen starken Einfluß auf die großen Schriftsteller der Aufklärung, zumal auf Montesquieu und Voltaire, in deren Werken wir zahlreichen Hinweisen auf chinesische Verhältnisse und Einrichtungen begegnen. Ein moderner, in England herangebildeter Chinese, Ku-Hung-Marg, hat in einer anregenden Schrifte Chinas Verteidigung gegenüber europäischen Ideen diesen Zusammenhang hervorgehoben und erwartet auch für die Zukunft eine wachsende Einflußnahme seiner Nation auf die Westkulturen. Er meint, daß die europäischen Versuche, in China Fuß zu fassen, zu diesem entgegengesetzten geistigen Ergebnis führen würden. Dies ist sicherlich einseitig geschaut, aber der Wahrheitsgehalt ist nicht in Abrede zu stellen. Die Harmonie zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen ist im fernen Orient besser verwirklicht als bei uns, weil der Pflege des Lebens dort eine größere Sorgfalt zugewendet wird. Hieraus ergibt sich ein besseres Gleichgewicht von Zivilisation und Kultur. So ist es begreiflich, daß in Zeiten allgemeinen Zusammenbruchs wir nach diesen so wesentlich anders gearteten Menschen und Lebensformen als nach neuen Vorbildern ausschauen. Das endgültige Resultat solcher Ausgleiche und Verbindungen läßt sich nicht annähernd vorausbestimmen; genug, daß sie vollzogen werden. Es besteht keine Gefahr, daß irgend eine Eigenart zu kurz komme. Es ist vielleicht nicht so sehr ein Sieg der Weißen über die Gelben oder umgekehrt zu befürchten, aber ein Sieg der Menschheitsidee, die bisher hinter jeder großen Leistung stand, zu hoffen.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.3.1921, S. 10.

D[avid] B[ach]: Revolutionskabarett. (1921)

Jedesmal am Wendepunkt der Zeiten bilden sich eigen Ausdrucksformen für das, was dem Masseninstinkt gesagt sein will und seine abgeschlossene, der Aktualität entrückte Kunstform noch nicht gefunden hat, vielleicht auch gar nicht finden kann. Heute nennt man all das, was nirgends sonst untergebracht werden kann, Variété, Kabarett und glaubt was Besonderes zu tun, wenn man das Wort „Künstler voranschickt. Aber das bürgerlich-freiheitliche Studentenlied vor hundert Jahren war auch etwas, was in seine Kunstrubrik passen sollte und doch seine großen Werte besaß, auch künstlerische, sicherlich agitatorische. Wenn das schönste Freiheitslied jener Zeit, das uns heute sehr philisterhaft ledern dünkt verboten wurde, so war’s ein Attentat gegen die Kunst, wenn man will, vor allem jedoch ein Angriff gegen seine unerwünschte agitatorische Kraft. Die moderne Großstadt hat seine Volkslieder mehr, wohl aber Hunderte von Liedern, die das Volk – leider – singt, und einige ganz wenige, die es singen könnte oder die es zumindest anhören müßte, weil sie der unverdorbenen Empfindung des Volkes entsprechen. Solche Lieder gedeihen nicht im Konzertsaal; sie kommen von der Gasse, von der politischen Versammlung und gehören als Kunstprodukt auch in ein Lokal, das dem Zusammenhang mit der Unmittelbarkeit des täglichen Lebens nicht ganz entrückt ist. Solche Lokale sind heute fast nur auf das Bedürfnis des Schieberpublikums zugeschnitten. Doch manchmal passiert etwas Seltsames…

Wirkliche Künstler aus Berlin nämlich bilden jetzt im „Pan“ das Kabarett „Größenwahn“. An sich will dies noch nichts besagen, denn eine berühmte Iphigenie Wiens ist monatelang in einem Nachtcafé aufgetreten, um in einer Nachtcaféausgabe der jetzt ohnehin nicht übermäßig hoch stehenden Operette zum Entzücken aller Schieber das Wort „Rebbich“ auszusprechen. Doch was die Berliner Gäste – sie sind fast alle schon in Wien bekannt, Rosa Valetti (ehemals Volksbühne), Jakob Tiedtke (ehemals Burgtheater), auch Sita Staub – bringen, das macht ihre Besonderheit aus. Da singt die Valetti ein Lied Warum sind wir arm? und die Revolution steigt drohend auf, dann das Rote Lied – und die Revolution marschiert. Der zahlungsfähige Spießer, der sich soeben an einem trotz Tiedtke und den anderen höchst unbedeutenden, vom üblichen Variétéschema kaum abweichenden Einakter höchlichst ergötzt hat, rutscht bei diesen Liedern verlegen hin und her und weiß nicht, wie ihm wird. Denn die Zeiten, da sich eine untergehende Gesellschaft an den Gesängen ihres Unterganges ergötzte, wie die französischen Aristokraten an Beaumarchais, sind noch nicht wieder da; dazu fehlt es den Herrschern von heute denn doch zu sehr an Kultur, und wäre es auch nur die des Absterbens. Besser scheinen sich diese Variétébesucher mit einem zweiten Einakter abzufinden, der Die Ohrfeige heißt. Der ist nun freilich an sich schon höchst lustig und hat für dieses Publikum manche Zugänge, da er anfänglich der „Partie Klabrias“ ein wenig ähnlich schaut. Aber in Wahrheit ist er eine blutige Verhöhnung des feigen Spießer- und Schiebertums und so wird er insbesondere von Tiedtke und Frau Valetti ganz bewunderungswürdig gespielt.

Das ist noch nicht alles. In diesem Kabarett – es heißt übrigens „Größenwahn“ nur deshalb, weil es in Berlin im Café des Westens auftritt, in der Berliner Nachfolge des Wiener Cafés Griensteidl -, hier also werden Lieder gesungen, welche für Deutschland die Entdeckung des Lumpenproletariats bedeuten. Ja, auch hier sind Menschen, und unter aller Verkommenheit zuckt ein menschliches Herz. Die Franzosen kannten solche Lieder längst, Aristide Bruant, die Yvett Guilbert haben sie gesungen, jener auch gedichtet. In deutscher Sprache gab es dergleichen nicht; ein großer Ahnherr dieser neuen Reihe ist übrigens Wedekind, dessen Lieder die Wiener Polizei natürlich verboten hat, wahrscheinlich, um ihn vor dem Schieberpublikum zu retten. In Wien gibt’s dergleichen Lieder gar nicht, wie wir ja auch keinen Zeichner wie Zille haben, der als Maler den Rand der Großstadt entdeckt hat. Wir sind zu prüde, zu zimperlich; war doch mancher Arbeiter schon erstaunt, als Arbeitervorstellung eine Dichtung Liliom zu sehen, deren Held ein dem äußeren Anschein nach nicht gerade übermäßig edler Lumpenproletarier ist. Die Berliner greifen ganz unsentimental zu. Das „Dornröschen vom Wedding“ ist wahrhaftig sein „süßes Mädel“, aber ein Menschenkind, gruselig erheiternd in ihrer nach ein bißchen Glück schmachtenden Verkommenheit. Eva Brock singt diese und ähnliche Lieder ganz prachtvoll. Daneben wirken die Lieder, die Käthe Kühl sehr nett vorträgt, weit schwächer, sie schmecken doch zu sehr nach dem Lumpenproletariat im Literaturcafé.

Aber als Ganzes müßte dieses Kabarett, das als solches ebenfalls ein Ausdruck der Revolution ist, in der wir leben, vor allem Widerhall bei den Arbeitern finden. Es muß möglich sein, den Künstlern hierzu die Gelegenheit zu schaffen.

In: Arbeiter-Zeitung, 15.5.1921, S. 4-5.

O.M. Fontana: Werden der Dichtung. Versuch einer Selbstanalyse (1929)

Die neuere, wieder aus Spezialfertigkeiten und Einzelwissen zu einer geistigen Zusammenfassung strebende Medizin hat für das rätselhaft Bestimmende und Beharrende im Menschen den Ausdruck: Tiefenperson gefunden. Was macht nun den Dichter? Daß diese Tiefenperson, die im sogenannt normalen Menschen taubstumm bleibt, im Dichter zu hören und zu reden vermag. Wie diese Tiefenperson wird und ist, ergibt sich aus der Konstitution des Individuums und ist aus ihr wissenschaftlich eindeutig abzuleiten. Aber unableitbar, ein Geheimnis – warum die Tiefenperson in jenem taubstumm bleibt, in diesem hört und spricht. Auch so: ich (oder mir lieber: ein anderer) vermag zu sagen, aus welchen Lebensvorgängen heraus, kurz: wie ich dichte und in welcher Weise dieses Gedichtete dem

Ganzen meiner Person entspricht. Aber warum ich dichte, gerade ich in der Reihe meiner Ahnen – wer kann das sagen, besonders im Westen der Kultur, wo jeder glaubt, glauben muß, mit ihm beginne das Leben neu.

Soviel über die Gründe des Dichtens, über sein Geheimnis. Seinen Erscheinungen läßt sich mehr und auch mehr an der Oberfläche Liegen­des abgewinnen. Etwa die Frage: was ist zuerst beim Dichten da – das Gesicht eines Menschen oder seine Seele? Ich kann darauf nur ant­worten: je nachdem, einmal ist es dieses, das andere Mal jenes. Ein Gesicht, dem ich begegne, vermag mich zu verstören und tagelang zu be­schäftigen. Es geht in mir unter, um in neuer Form, mir unbewußt, wieder zu erstehen. So entstand mein Roman Erweckung. Begegnung eines Verlorenen war seine erste Keimzelle. Einen seelischen, einen geistigen Inhalt bis an sein Ende durchzugehen – ich weiß weniges, was für mich verlockender ist. So wurde der Roman, an dem ich jetzt arbeite und der Weiter leben heißt. Er wurde aus der Erkenntnis und dem Durchdenken jener Situation und jenes Lebens­inhalts, die mich und meine Gefährten des Schick­sals bestimmten und bestimmen: unsere Jugend und unser Mannestum.

Wie aber Darstellung immer Gestalt werden muß – das ist der Kampf des Dichters. Ein langer zäher Krieg, in dem große Siege oder Durchbrüche sehr selten sind, in dem es um ein kleines Grabenstück Welt oder Mensch geht. Ich möchte sagen: an seinen inneren Niederlagen wächst der Dichter. Er wird von ihnen nicht er­drückt, er muß sie überwinden. Das gibt ihm Kraft der Erneuerung, das ist seine Wintererde. Dichter ohne diese Inneren Niederlagen gehören jenem Jungentypus an, in dem der Frühlingssaft dichtet und der mit 35 Jahren vertrocknet, erledigt ist.

Wie einer Gestalt, einer Vision, einer Er­kenntnis Welt zuwächst, wie sich dieses Absolute der Tiefenperson mit der Vielfalt der Er­scheinungen mengt, die wir beglückt Leben nennen – das ist das Erlebnis des Dichters. Und auch: wie das von ihm Gedichtete Eigenleben gewinnt, wie sein fiktiver Mensch irgendwohin zu gehen beginnt, wo ihn der Dichter überrascht wiederfindet, und wie eine Idee sich zu ihrer letzten Konsequenz durchringt und den Dichter mit sich reißt. Das sind Dinge, die der Dichter mit sich selbst auszutragen hat, die den Betrachter nicht küm­mern, die aber über Glück oder Unglück, über Gelingen oder Mißlingen eines Werkes ent­scheiden.

Der Kampf des Dichters geht nach zwei Fronten, nach einer geistig inhaltlichen und nach einer formalen. Das Gehörte und Geschaute muß nicht nur Leben bekommen, es muß auch die Grenzen des Lebens erhalten, in denen es jenseits des Chaos, der Anarchie sich erfüllen kann. Ich glaube nicht, was sehr viele und sehr anerkannte Dichter glauben, es gebe feste Formen, in die alles gegossen werden könne. Es genüge zum Bei­spiel in der Epik bei A zu beginnen, um in der Reihe des Alphabets notwendig Z zu erreichen. Ich glaube, daß jedes Leben anders ist und daß darum jeder Roman, jede Geschichte anders sein muß. Ein Baumblatt ist ein Baumblatt, aber jedes ist anders gewachsen. Von innen her. Auch die Form einer Dichtung kann nur vom Inhalt her bestimmt sein. Ich habe darum in meiner

Erweckung dem Aufbrechen verhärteten Menschenseins die knappe große Sinnbildlichkeit

zu geben versucht, die jener ewige innere Vorgang beansprucht. Ich habe in dem Roman von der Insel Elephantine (Katastrophe am Nil) eine Gesellschaft innerhalb ihres Zusammenbruchs an­schauen wollen und sie darum in eine flackernde, nervöse Bilderfolge gestellt. Ich habe in dem Roman Gefangene der Erde den Weg eines Menschen, der den der Menschheit wiederholt, den Weg von der Schönheit des Barbarentums über den Zwiespalt der Zivilisation bis zur Schönheit seelischer Menschhaftigkeit durchschreiten wollen. Wie konnte ich den anders erzählen, als indem ich di« Stationen dieses Wegs, die Unbefriedigung, das Sucherische bis zur letzten Mündung immer wieder und in vielen Spielarten sichtbar machte!

Wann ist eine Dichtung fertig? Ich glaube: nie. Wie die Erde, die Welt, der Mensch ja auch nie fertig ist. Nur die schlechte Dichtung ist fertig. Der Schöpfung fehlt immer der i-Punkt. (Der Wahn, ihn setzen zu können, macht alles Menschenwerk so glückhaft und tragisch zugleich.) Die Schöpfung ist niemals und nirgendwo Kalli­graphie. Die Dichtung sollte es auch nie sein wollen. Wenigstens ich hüte mich davor. Ich glaube: die Dichtung, die wirklich Dichtung ist, bleibt immer im feurig flüssigen Zustand. Nur das erhält sie am Leben, nur das läßt die späte­ren Zeiten zu ihr wiederkehren und, sich in ihr spiegelnd, sich selber wiederfinden. Darum ist nicht der Staub der Bibliotheken, nicht die Literaturkritik oder Professorengeschichte, nicht die Klassikerausgabe jüngstes Gericht des Dichters und der Dichtung, sondern nur das Leben selber, das der Dichter, so er einer ist, immer will und

bis an seinen Grund erlebt. Nichts scheint mir lächerlicher als der Versuch, für „gesammelte

Werke“ zu schreiben.

Ich liebe die Zeit, weil ich in ihr schwebe wie eine winzige Mücke im Licht. Ich liebe die ewigen Dinge, weil sie allein dem Menschen die Kraft zum Höchsten geben: zu lieben. Im Ersten und im Letzten glaube ich, nicht das Individuelle macht den Dichter groß und gültig, sondern das Anonyme.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 16.4.1929, S. 5.

Stefan Zweig: Der Weg Hermann Hesses (1923)

Jede erreichte Höhe wird immer Wiederkehr eines Anfangs: so ist gerade der berühmte, der allbeliebte Künstler ähnlich und vielleicht noch mehr als der unbekannte in eine Art von Anonymität eingeschlossen; er lebt umkrustet, petrifiziert innerhalb des glatt-handlichen Begriffes, den sich die Welt von seiner Eigenheit geschaffen hat, und seine tiefsten Wandlungen und Verwandlungen gehen unter dieser Fläche gleichsam geheimnisvoll und für die anderen un­bemerkt vor sich. Die Öffentlichkeit starrt immer nur auf den Schatten, den der Frühschein ersten Erfolges von einem Dichter in die Welt geworfen hat, lange merkt sie es nicht, daß inzwischen der lebendige Mensch — bergan oder bergab — seiner einstigen Form entwandert ist. Eines der zeitgemäßesten Beispiele solchen ungenauen Sehens scheint mir die Wertung Hermann Hesses, über dessen allgemeiner, breiter, wohlgefälliger, ja bis ins Familienpublikum hineingewärmter Beliebtheit die merkwürdige, erstaunliche und bedeutende. Wandlung und Vertiefung seines dichterischen Wesens beinahe unbemerkt geblieben ist. Und doch weiß ich in der neueren deutschen Literatur kaum einen gleich sonder­baren, mit allen Windungen im letzten doch geraden Weg der inneren Entfaltung als den seinen.

Hermann Hesse hat vor etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren begonnen, ganz wie ein württembergischer Pastors­sohn zu dichten beginnt: mit Versen, mit sehr weichen, ver­sehnten Versen. Er saß damals als Buchhandlungsgehilfe in Basel, war bitter arm und allein: aber wie immer bei solchen sehnsüchtigen Dichtern, je bitterer das Leben, um so süßer die Musik und die Träume. […] //

Dann kam der Krieg, der — es brennt einem der Mund, ihm ein Verdienst nachsagen zu müssen — durch den Überdruck der Atmosphäre aus so viel Menschen das Entscheidende herauspreßte: er hat auch in Hesse den inneren Durchbruch gefördert. Sein ganzes Leben geriet damals aus­ einander: das eigene, helle Haus war längst verloren, die Ehe geendet, die Kinder in der Ferne; allein inmitten einer stürzenden Welt, zurückgestoßen in seiner zerschmetterten, romantischen Gläubigkeit an Deutschland und Europa, mußte er sich wieder wie ein Unbekannter, ein neuer Anfänger an das Werk stellen. Und aus einem prachtvollen Gefühl für diese tiefe Umackerung seines Wesens, für die vollkommene Erneuerung seines Schicksals, für den nochmaligen Lebensbeginn hat damals Hermann Hesse etwas getan, was seit absehbarer Zeit in Deutschland kein Dichter von Rang gewagt hatte (und jeder einmal in seinem Leben versuchen sollte): er hat das erste Werk seiner neuen Epoche nicht unter der gesicherten Flagge seines Namens, sondern in strengster Anonymität eines gleichgültigen Pseudonyms in die Welt geschickt. Plötzlich machte in literarischen Kreisen der Roman eines unbekannten Emil Sinclair Aufsehen: Demian hieß das sonderbar dunkle, tiefgründige Buch, das von einer Jugend in einer merkwürdig verästelten, bis in das Dunkel der Seele hinabgreifenden Art erzählte. Als ich es las, dachte ich an Hesse dabei, Mex ohne Vermutung, er könnte der //Autor sein: ein Schößling seiner Art schien mir dieser Sin­clair, ein junger Mensch, der Hesse viel gelesen, aber ihn doch an seelischem Wissen, an seltener Aufrichtigkeit weit überwachsen hatte. Denn hier fehlte gänzlich dies Aus­weichende, dies Zaghafte in der Psychologie, im Gegenteil, hier bohrte sich mit einer ahnungsvollen Überwachheit ein gesteigerter Sinn an das Geheimnisvolle des Lebens heran, die Wasserfarben der seelischen Erlebnisse, die früher mit zarten Pinselstrichen über die dunklen Schicksale hinzitterten, waren hier sinnlichen, warmen Tönen gewichen. Und mein Erstaunen war Respekt, als ich zwei Jahre später erfuhr, daß Emil Sinclair Hermann Hesse sei, aber ein neuer Hermann Hesse, der an sich selbst herangelangte, der wirkliche, der Mann Hermann Hesse, nicht der Träumer mehr.

Diese Grenze ist heute ganz deutlich und sie reicht tief hinab bis in das innerste Wurzelwerk seines Wesens. Nicht nur daß die Problematik des einst so sanften Betrachters eine tief hinabdrängende, dem Dunkel sich ansaugende ge­worben ist, daß von einem inneren Sturm seinen Menschen jeder sentimentale Hauch vom sprechenden Munde weggeweht ist – ganz im Unfaßbaren, im Schauen, in der Pupille waltet nun ein anderer, ein wissenderer Blick. Ge­heimnis umwaltet ja von je das unsichtbare Fortschreiten eines Künstlers in sich selbst hinein, dem Worte nicht beikommen: bei Malern ist es offenbarer, da sieht man geradezu sinnlich, wie ihnen mit einem Male – etwa, wenn sie nach Italien kommen oder zum erstenmal einen neuen Meister schauend erleben – nach langen Versuchen urplötzlich das Geheimnis des Lichtes oder der Luft oder der Farbe aufgeht, wie eine Epoche in ihrer Kunst beginnt. Bei dem Dichter ist solche Verwandlung minder tastbar, nur der Nerv kann sie erfühlen. Wenn Hesse heute einen Baum beschreibt oder einen Menschen oder eine Landschaft, so vermag ich’s eigentlich nicht zu erläutern, warum dieser sein Blick, sein Ton nun anders ist, voller, sonorer, klarer, vermag es nicht zu sagen, warum da alle Dinge um einen Grad wahrer und näher bei sich selber sind. Aber man lese doch selbst gerade jene ganz zufälligen Bücher nach Sinclair s Notizbuch (bei Rascher & Co., Zürich), und die Wanderung (S. Fischer), die beide mit seinen eigenen Aquarellen geschmückt sind und vergleiche sie mit seinen jugendlich-lyrischen Schilderungen. Hier ist alles Saft und Kraft in der Sprache und jene große Sparsamkeit, die sich nur die Fülle gestatten darf: noch wogt die alte Unruhe darin, nur jedoch gleichsam mit tieferem Wellengang. Aber das Reifste, das Reichste, das Eigen­artigste, was dieser neue Hesse bisher gegeben, ist sein Novellenbuch Klingsors letzter Sommer (S. Fischer), ein Werk, das ich mit bewußter Wertung zu dem bedeutendsten der neuen Prosa zähle. Hier ist eine seltene Verwandlung erreicht: das Sehen ist magisch geworden, es schafft gerade im Dunkel einen zitternden phosphoreszierenden Schein aus eigener Seelenkraft, der das Geheimnis der wirkenden Kräfte erhellt. Nichts umfängt es mehr flächenhaft und lau, dieses geballte funkelnde Licht, ihm wird das Leben schicksalshaft und dämonisch, eine elektrische Atmosphäre, die aus ihren eigenen Kräften sich ein abgründiges Leuchten schafft. In dem Lebensbilde des Malers Klingsor sind bewußt Van Goghsche Farben in Prosa umkomponiert, und nichts zeigt deutlicher den Weg, den Hermann Hesse gegangen – von Hans Thoma, dem schwarzwäldischen, idealistischen, flachlinigen Malerpoeten zu jener besessenen Magie der Farben, zu dem ewig leidenschaft­lichen Disput von Dunkel und Licht. Und je unfaßbarer, vielfältiger, geheimnisvoller, je magischer, verworrener und auflösender er nun die Welt empfindet, um so sicherer, um so klarer steht der Wissende nun in sich selbst; die merkwürdige Reinheit der Prosa, die Meisterschaft des Aussagens gerade dieser unsagbarsten Zustände gibt Hermann Hesse heute einen ganz besonderen Rang in der deutschen Dichtung, die sonst nur in chaotischen Formen oder Unformen, im Schrei und der Ekstase das Übermächtige zu schildern und zu reflektieren sucht.

Von dieser Sicherheit, dieser Sparsamkeit ist auch Hesses letztes Werk erfüllt, seine indische Dichtung Siddhartha (S. Fischers Verlag). Bisher hat in seinen Büchern Hesse immer über sich sehnsüchtig hinausgefragt in die Welt: hier versucht er zum erstenmal zu antworten. Seine Parabel ist nicht hochmütig oder weise-lehrhaft, sie ruht in einer gelassen atmenden Betrachtung: niemals war sein Stil klarer, durch­sichtiger, unbeschwerter als in dieser beinahe sachlichen Dar­stellung der geistigen Pfade eines Menschen, der ungläubig-gläubig immer näher an sich selbst gelangt. Nach den düsteren Melancholien, den purpurnen Zerrissenheiten des Klingsor-Buches schwingt sich hier die Unruhe zu einer Art Rast: eine Stufe scheint hier erreicht, von der Ausschau weit in die Welt verstattet ist. Aber man spürt: es ist noch nicht die letzte. Denn das Wesentliche des Lebens ist nicht seine Ruhe, sondern seine Bewegtheit. Wer ihm nahe bleiben will, muß in ewiger Wanderschaft des Geistes, in ewiger Unruhe des Herzens ver­harren, jeder Schritt dieser Wanderschaft ist gleichzeitig ein Nahekommen zu sich selbst. Selten habe ich das im Umkreis unserer deutschen Literatur stärker bei einem gegenwärtigen Dichter empfunden als bei Hermann Hesse. Ursprünglich gewiß minder begabt im Sinn von Begnadung als andere und weniger durch eingeborne Leidenschaft an das Dämonische des Daseins hingedrängt, ist er allmählich durch diese tiefe Ruhelosigkeit näher an sich selbst, tiefer an die wahre Welt gelangt als alle Gefährten seiner Jugend, und weiter über seinen eigenen Ruhm, die allgemeine Beliebtheit hinaus: seine Sphäre ist heute noch nicht ganz zu umgrenzen und ebenso­wenig seine letzten Möglichkeiten. Aber dies ist gewiß, daß alles dichterische Werk, das heute nach solcher innerer, gleich­zeitig entsagender und beharrender Verwandlung von Her­mann Hesse ausgeht, Anspruch auf äußerste moralische Geltung und unsere Liebe hat, daß man hier einem mehr als Vierzig­jährigen, bei aller Bewunderung für das meisterlich Getane, noch die gleiche Erwartung wie einem Beginnenden entgegenbringen darf und soll.

In: Neue Freie Presse, 6.2.1923, S. 1-3.

Edwin Rollett: Der Heimatdichter und sein Erfolg. Zu J. C. Heers 70. Geburtstag (1929)

Eine Betrachtung der schriftstellerischen Persönlichkeit J. C. Heers rollt zweierlei Probleme auf. – Und jede Betrachtung eines nicht in der ersten Reihe der Literatur stehenden Schriftstellers vier Jahre nach seinem Tod kann, wenn sie nicht rein philosophisch ist, nur durch die Bedeutung der an ihn gebundenen und in ihm ausgedrückten allgemeinen Fragen und Probleme gerechtfertigt werden, ja wird wohl geradezu nur durch sie veranlaßt und um ihretwillen angestellt. – Sich mit J.C. Heer beschäftigen, heißt mit anderen Worten die Frage der Heimatliteratur aufwerfen, Sinn, Grund, Bedeutung von Stoff, Gegenstand, Hintergrund und Milieu des Romans beleuchten, es heißt aber auch, und das kaum weniger, der Psychologie des Erfolges der schriftstellerischen Publikumswirkung, dem Magnetismus des Romans nachzuspüren, wobei gleich gesagt sein soll, daß zwischen diesen beiden Fragen ein gewisser Zusammenhang besteht. 

Es ist ein Ästhetenmärchen, ein ausgesprochener Aberglaube, daß der Gegenstand des Romans Nebensache ist. Gewiß kann eine geniale Künstlerhand jeden ihr gemäßen Stoff zum Gegenstand formen, kann auf der Entdeckungsfahrt in die Füße des Lebens Gebiete entdecken, deren Vorhandensein bisher als belanglos ignoriert wurde. Das Findergenie des großen Erzählers fährt ja mit jedem wirklich künstlerischen Roman derart die Columbus-Reise über den westlichen Ozean nach Ostindien und erschließt einen neuen Erdteil. Was neben den Genialen und nach ihnen segelt, das lebt aber nicht durch die Tatsache der Entdeckung, sondern von den gewonnenen Kolonialprodukten, nicht durch die Genialität der erstmaligen Tat, sondern durch die Tüchtigkeit der Verwertung des Gefundenen.

Columbusnaturen waren, um auf dem Gebiet der Heimatkunst zu bleiben, unbedingt etwa die Geschwister Brentano, das war im anderen Sinn Fritz Reute, war auch Rosegger, der anfangs seine Entdeckung nicht einmal einzugestehen wagte, und seinen Waldschulmeister irgend wohin nach Tirol verlegte, weil ihm seine Fischbacher Alpen und Mürztaler Berge zu unansehnlich, zu unbekannt erschienen, und er meinte, einen populären Namen als Vorspann benützen zu müssen. Columbusnaturen waren in der Schweiz ganz besonders Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller, der Berner Bauer und der Züricher Bürger, die jeder selbst Ergebnis und Träger der Kräfte ihrer schweizerischen Heimat, mit dem Selbstbewußtsein der Söhne eines jahrhundertelang republikanischen Stammes, dessen Eigenart ohne Beschönigung und ohne Beschränkung einbekannten, darstellten, künstlerisch ausformten, so kräftig und überwältigend, daß Schweizertum und Schweizer Volk literarische Mode wurden. 

Auf solchen Fundamenten baute die Schweizer Heimatkunst am Jahrhundertende weiter, begünstigt durch den realistisch naturalistischen Zug, der zu jener Zeit die gesamte europäische Literatur beherrschte und allenthalben dazu verleitete, gewissenhafte Ortsangaben und Zeitbestimmungen durch detaillierte, spezialisierte Schilderung, durch Nachzeichnung wohlbekannter und vertrauter Charaktere zu ergänzen, begünstigt endlich durch die geläufig gewordene Popularität Kellers, begünstigt endlich durch den zunehmenden Fremdenverkehr, der jeden schweizerischen Heimatroman für so viele nicht nur zu einer durch die dargestellten Ereignisse, Schicksale und Stimmungen anregenden, sondern durch Landschaft und Milieu an Sommerfrische, Bergpartie und Erholung erinnernden, also von vornherein angenehm und willkommenen Lektüre machte, weil es sich darin doch um die bekannten Schweizer Berge und Schweizer Herzen handelt. 

So ungefähr stellte sich die literarische Konjunkturlage dar, als der Winterthurer Bauernsohn, spätere Volksschullehrer und damalige Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung mit seinem Erstling hervortrat, und was an Material, an Elementen und Ingredienzien zu einem guten Heimatroman nötig ist, das war in // diesen „Heiligen Wassern“ schon reichlich enthalten: das Bauerntum mit echtem Erdgeruch bieder (manchmal bis zur Borniertheit), fromm (oft bis zum Aberglauben), naturhaft (selbst bis zur Unmenschlichkeit) und bodenständig (bis zur erbitterten Feindschaft gegen Besserung des Lebens).  Dieses Bauerntum wurzelt ausschließlich und unausreißbar angeklammert in seinem Boden, auch wenn er furchtbar mit ihm umgeht, auch wenn die Heimat zum Fluch wird und ihre Kinder einem Blutbann unterwirft, wie der, der dem Dorf Sankt Peter, hoch oben an der Gletschergrenze, von Zeit zu Zeit immer wieder ein oder ein paar Menschenopfer abfordert, ähnlich dem Lindwurm, der den Städten der Sage solchen Tribut auferlegt hatte. Das Bauerntum der Berge also mit all seinen Mühsalen und Schwierigkeiten ist sozusagen das Rückgrat seiner Romane, jenes harte Bauerntum, das im Sommerfrischler ein so wohltuendes Gruseln erzeugen kann. Daneben Landschaft, sehr viel Landschaft. Darin war Heer ja seit jeher groß, man kann sagen, als Meister vom Himmel gefallen. Durch seine Fähigkeit, eine Landschaft in ihrer Eigenart, ihrem Reiz, ihrem speziellen Charakter zu erfassen und das Erfaßte in Worten festzuhalten, hatte er zu allererst auf sich aufmerksam gemacht. Als der Reisende in den Adriagegenden und als Schilderer von Ballonfahrten und den dort gewonnenen Eindrücken, als der Beschreiber der Landschaft aus der Vogelschau war er bekannt geworden. Das alles ist mit großer Solidität und ausgesprochener Tüchtigkeit, ohne Extravaganz, allerdings auch ohne besonderen Schwung in diesen Roman gegeben und schließlich fehlt auch noch der Fremdenverkehr nicht, der Schutzpatron der ganzen schriftstellerischen Richtung, der dem Alpental sogar gegen dessen Wunsch neue, frische Impulse und endlich doch eine Lebensverbesserung zuführt. 

Es ist wie ein Rezept, wonach der erste, wonach aber auch so ziemlich alle anderen seiner Romane gebaut sind, selbst sein nachdrücklichster Erfolg Joggeli und sein ausgebreitetster Der Wetterwart. Das Handwerkliche steht im Vordergrund und auch damit ist Heer der typische Vertreter der ganzen Heimatdichter.

Nicht nur ihrer Abstammung nach, die sich ja von bahnbrechenden Genialitäten herleitet, sondern ebenso in ihrer Wirkung ist diese Heimatskunst aber eine gute, löbliche und gesunde Erscheinung, mag sie auch oft in allzu weitgehender Überschätzung des Stoffes diesen zum Selbstzweck erheben und schwelgerisch in ihm verweilen, mag sie auch mitunter das persönliche Interesse des Autors und das erhoffte des Lesers durch übertriebenes Entgegenkommen auszeichnen. Eine gewisse, wenn auch beschränkte Garantie gegen die Gefahr allzu papierenen Literatentums liegt doch in ihr. Hie Kaffeehaus – hie Sommerwohnung! So stellt sich der literarische Antagonismus von Stadt und Land, genauer besehen, dar, so kann man (auch heute noch) das deutsche Schrifttum halbieren, soweit nicht die ganze dünne Schicht in Frage steht, die wirklich Kunst zu schaffen vermag. Und es ist eine Angelegenheit des Geschmacks, nach welcher Seite man sich schlagen will. 

Das deutsche Lesepublikum hat seine Entscheidung getroffen: die psychologische Konstruktion der Kaffeehausliteratur bucht manchen Sensationserfolg für sich. Sie lockt mit den Mitteln des Unbekannten, des Seltsamen, des Pathologischen, des Abenteuers, das sich freilich hier meist nicht in geographisch, viel mehr in psychologisch und sozial fremden Regionen vollzieht. Diese Fremde übt gewiß ihre Anziehungskraft. Aber dauerhafter, solider ist jener andere Magnetismus, der von der Assoziation des Bekannten und Geläufigen, vom Wiederfinden eigener Stimmungen und Empfindungen ausgelöst wird. Er beherrscht jene sehr breite Sphäre, in der nicht der abenteuerliche Reiz (allerdings auch nicht die Adelung und Selbsterneuerung durch wahrhafte Kunst), sondern die gegenständige Solidität, die Bürgerlichkeit maßgebend sind. Dieser weit ausgedehnte Kreis des deutschen Bürgerhauses sucht sich die zu ihm passenden Bücher.

Es ist Gebrauchsliteratur, die da gefordert wird, so wie man von Gebrauchslyrik oder Gebrauchsmusik spricht, eine Literatur, die alle Kultur-,// Sozial- und Religionsprobleme nicht in ihrer voller Wucht und Größe erfaßt, sondern in den Regionen des Unterhaltungsbedürfnisses verharren bleibt, die, soweit es sich um Heimatdichtung handelt, einer im Grunde genommen intellektualistischen Neigung huldigt, nach welcher sich die Wechselbeziehungen zwischen Volk und Kunst nicht als ein gewiß beschränkter, aber  natürlicher Widerhall eines machtvollen Klanges in mehr oder minder taubem Gestein vollziehen, nicht als das Spiegelbild eines Gipfels im See darstellen (wie es bei Keller war), einer Neigung vielmehr, die meint, über eine hier und dort auf der halben Höhe des Entgegenkommens gespannte Konzessionsbrücke den Wechselverkehr bequem vollziehen zu können. Es ist der Standpunkt, des Sommerfrischlers, des unbeteiligten zufriedenen Beschauers, der hier ganz augenscheinlich dominiert. 

Dieses deutsche Bürgerhaus aber beherrscht als der Hauptkäufer den Markt, trägt das Buch, macht seinen Erfolg und bestimmt das Geschäft von Autor und Verleger. Würde denn das Trommelfeuer der Verlagsprospekte, Annoncen und Affichen, würde der Ertrag der glänzenden Abonnentenspekulation, die sich Buchgemeinschaften nennt, würde die nahezu undurchdringliche, sicher unausrottbare Organisation der Freundschafts- und Gefälligkeitskritik auch nur halb den Umfang haben, wenn es anders wäre?

Nicht das Buch als geistige Kraft und  geistige Macht ist dabei zu betrachten, sondern das Buch in seiner kaufmännischen Realität, als Ware, deren Werk sich ausschließlich nach der Nachfrage, also nach einer, nicht durch die absoluten Maße der Idee, sondern durch das höchst subjektive Element der Bequemlichkeit bestimmten Skala richtet.

Das Bedürfnis der Käufer bestimmt die Art der Ware, Das leicht faßliche mußte über das ideentiefe Werk triumphieren, das bequem zugängliche über jedes eigenartige und originelle, das nur anschauliche über das symbolische und gedankenstarke, das stofflich reiche über das gegenständlich hochwertige. Dabei ist ein gewisser nicht zu reichlicher ideeller Gehalt als Gewürz höchst willkommen. Zu viel Gewürz aber verdirbt den Braten. Ohne Theatralik der Aufmachung geht es auch nicht ab. Sie muß das ideelle Rückgrat vortäuschen, wo es fehlt, oder die Idylle so lange verkünden, bis sie geglaubt wird. Rein künstlerische Fragen treten in den Hintergrund. Die Gestaltung des lebendigen Sprachorganismus wird unwesentlich verglichen mit dem Gegenstand, der aus leicht zu bearbeitendem Sprachmaterial geformt wird. Daß auch die Literatur eine bildende Kunst sein muß, ist in Vergessenheit geraten.

Mit der Bevorzugung des. Gegenstandes. Hängt aber auch eine andere Erscheinung eng zusammen, die fast erfreulich scheinen möchte und als ein Zeichen der Gesundheit gelten darf: unter all den Büchern, die sich deutsche Heimatliteratur nennen, ist nicht ein einziges, das im Sinne bürgerlicher Sittlichkeit anstößig, das seiner Tendenz nach nicht gut zu heißen wäre. Mag man auch feinen menschlichen Wert noch so sehr in Zweifel ziehen, irgendwo glimmt in jedem Heimatdichter ein Funken echten Idealismus.‘

Nach all diesen Seiten hin kann I. C. Heer als Typus und Vertreter einer ganzen Richtung gelten, als der Dichter der deutschen Bürgerfamilie mit höheren Ambitionen. Das ist vom Standpunkt höchster Kunstkritik aus gesehen nicht eben viel. Das ist aber um so mehr, betrachtet man die Funktion des geschriebenen und gedruckten Wortes im Lebensganzen einer breiten Volksschichte. Es ist im wesentlichen eine Lehreraufgabe, die zu bewältigen ist, um so schwieriger, als sie von den Belehrten nie bemerkt werden darf, auch undankbar, insofern kein ideeller Erfolg sichtbar wird. Es ist die Kleinarbeit des Zwischenhändlers der Kunst, der, in der Mitte des Weges vom Genie zum Banausen stehend, jedem, der beiden die Hand reichen möchte, ein Volksbildneramt, wie so viele andere, nur daß dabei etwas mehr Ertrag abfällt, bei dem es gar sehr auf die Menge des Gebotenen und die Menge der Aufnehmenden ankommt, damit nur irgend etwas vom Guten hängen bleibt.

In: Wiener Zeitung, 18.7. 1929, S. 1-3.

Eugen M. Kogon: Theater- und Buchzensur – eine kulturreaktionäre Einrichtung? 

Ohne Kampf gegen das Schlechte geht es nicht ab in unserer Welt, also auch nicht ohne Zensur. Alle sind wir wahrscheinlich eins in der Überzeugung, daß es besser wäre, wenn zensurwürdige „Kunst“objekte nicht entstünden oder unmöglich bestehen könnten. Von diesem Ideal, welches anzustreben bleibt, auch wenn es nie völlig erreicht wird, sind wir weiter entfernt denn je. Es muß einer schon Walter von Molo heißen und Präsident der Preußischen Dichterakademie, gleichzeitig auch Leitartikler des Berliner Tageblatts sein, um das nicht zu sehen.

Worum geht der Streit, hervorgerufen durch den Antrag im Preußischen Parlament, die Regierung Preußens möge die Reichsregierung veranlassen, gegen Auswüchse im Theaterwesen einzuschreiten? Um die Frage, ob vieles von dem, was man heute Kultur oder Zivilisation nennt, den Namen Kultur verdient; wenn nein, ob es dann, damit Kultur wieder entstehen, der Errichtung eines Dammes gegen die zerstörerischen Kräfte bedarf. Daß der Damm seine Nachteile hat, z.B. die Aussicht versperrt, verkennt niemand. 

Eine Schar bürgerlich-freisinniger Herren (das gibt es immer noch!) hat sich in Berlin zusammengetan und ein Manifest „an das Volk“ erlassen. „Der Kampfausschuß von 17 Verbänden lehnt jede kulturwidrige Absicht ab, die freie Entwicklung der Kunst, des Schrifttums und der Wissenschaft durch Wiedereinführung eines auch nur verschleierten Zensursystems zu hemmen.  – Er wird über den heutigen Abend hinaus eine dauernde Schädigung intellektueller Interessen zu verhindern wissen. – Der Kampfausschuß gegen die Zensur bleibt in Permanenz.“ Preußische Heeresbefehle sind ein Schmarren gegen die Entschließungen preußischer Literaten. Erinnerte der Name des Vorlesers, Ludwig Fulda, nicht an Schilda und der eines Mitredners, des Filmregisseurs Lupu Pick, nicht an den Jammer dieser Republik, man könne den Zwang verspüren, die Hände an die Hosennaht zu legen und in ehrfürchtigem Gehorsam zu ersterben. Die Zensur, jede Zensur wird also von unseren Dichter-Vorgesetzten abgelehnt. Warum? Erstens, weil es keinen sicheren Maßstab zur Unterscheidung von Kunst und „Kunst“ gebe; zweitens, weil die Zensoren nicht objektiv seien (also müßte man auch auf jede Regierung verzichten? Man gewöhne sich doch einmal an, aus seinen Behauptungen die Folgerungen zu ziehen!); drittens, weil die Zensur nichts ausrichten werde (woher wissen die Herren das? Zensuren haben im Lauf der Geschichte sehr viel Gutes und sehr viel Böses bewirkt!); viertens, weil die Öffentlichkeit selbst entscheiden könne und keine Bevormundung nötig habe; fünftens, weil die Freiheit des Künstlers nicht eingeschränkt werden dürfe; sechstens überhaupt, denn „die ganze Richtung paßt uns nicht!“  

Der letztgenannte Grund ist der tiefste. Herr von Molo hat das in einer Rede vor der Preußischen Akademie der Künste ausgiebig abgewandelt, hoffentlich in besserem Deutsch als dem der Presseberichterstatter, die, zugunsten des Dichterpräsidenten sei’s angenommen, von seinen Halb und Viertelgedanken benebelt, offenkundig die Herrschaft über ihren Bleistift verloren. „Wir wollen offen sein,“ meinte er sympathischerweise, „es geht den Freunden für Einführung einer neuen Zensur gar nicht darum, ob ein Werk ein Kunstwerk ist oder nicht. Es handelt sich heute, von niemandem zugegeben, aber jedem Einsichtigen klar, darum, daß eine Gruppe die Werke als Nichtkunst bezeichnet haben will, die ihr nicht in den Kram passen! Das ist die größte Gefahr für den Staat, und darum stehen wir gegen dieses Verlangen… Kein Staat kanndie volle Freiheit der schöpferischen Menschen entbehren.“  […]

Kram! Da von einer Gruppe die Rede ist und wir zu ihr gehören, müssen Sie auch uns meinen Herr von Molo. Unser Kram nun ist die christliche Auffassung von Welt, Leben und Menschen. Eine kaum übersehbare Schar von Heilen, Heiligen und Künstlern ist uns im Lauf von 2000 Jahren mit diesem Kram vorangegangen. Wir werden ihn also nicht aufgeben, weil ein Molo behauptet, „Weltanschauungen sind Anschauungen, sie gegen nicht den Besitz des Steins aller Weisheit, sie sind Einseitigkeit; Einseitigkeit kann nicht über Kunstwerke zu Gericht gesetzt werden. Ein Kunstwerk ist ein Ganzes, das nicht von dem begriffen werden kann, dessen Finger nur zu einem Stückchen heranreichen.“ Haben Sie schon einmal einige kunstkritische Briefe von Claudel oder etwas über die Freiheit des Künstlers von Chesterton gelesen? Verengung, Einseitigkeit…, so schwatzen Sie doch nicht so ausgelaugtes Zeug! Die ganze Welt steht dem Künstler zur Gestaltung offen, alles Gute und alles Schlechte, wir verlangen nur, daß das Gute gut, das Schlechte schlecht erscheine, nicht umgekehrt; und daß der Künstler sich nicht darauf kapriziere, sich im Dreck zu suhlen. Wahrhaft grenzenlos ist die Freiheit des katholischen Künstlers, sie reicht von Unendlichkeit zu Unendlichkeit Gottes, der alles Geschaffene erhält, selbst das Schlechte in seinem Sein. Ist Dante von seiner katholischen Weltanschauung behindert worden? Der Herr von Molo weiß es freilich besser, Er spielt zwar darauf an, daß er ein Christ sei oder wenigstens eine Ethik habe, die doch, wenn sie wirklich eine ist, im Grunde christlich sein muß, weil der Logos spermatikos auch in den Heiden wirkt, aber er nennt den Kampf gegen das Böse doch Rückschrittlichkeit, denn der Hasenclever hat es partout auf die Gotteslästerung abgesehen (Motto: Das woll’n wir doch sehen, ob ich den Tempel nicht bedrecken darf, vonwejen Freiheit des Künstlers!), und den Berliner Literaten möchte ich kennen, der ich nicht lieber Arm in Arm mit Hasenclever sehen ließe, als an der Seite eines Dante! Das Maß dieses Riesens würde nämlich selbst dem Romanischen Café plötzlich klar machen, daß es doch Maßstäbe zur Beurteilung von Kunst und „Kunst“ gibt. 

Ist das Romanische Café überzeugt, daß unsere Weltanschauung ein Kram ist, so weiß das Café des Westens genau, daß wir „den schöpferischen Geist knebeln“ wollen. Fürs Knebeln sind wir aber nicht, nur für einen eisernen Besen, der ersetzt, was die väterliche Zuchtrute bei den Literaturschwengeln unserer Zeit, den jungen und den alten, versäumt hat. Für die Aufführung von Anja und Esther z.B. hätte ich den noch nicht stubenreinen Kleckser auf ein paar Jahre in eine Besserungsanstalt, statt nach Amerika geschickt, von wo er nur noch frecher und eingebildeter zurückgekommen ist. Wenn Gerhart Hauptmann eine Dorothea Angermann schreibt, so wünschen wir, auch wenn wir sie ablehnen, nicht ihr Verbot, weil wir wissen, daß das Stück nicht die Kunst eines Großen erschöpft, der auch Hanneles Himmelfahrt gedichtet hat. Wenn aber Klaus Mann oder Hasenclever oder sonst einer von dem Gewimmel –, da verwandelt sich unser einheitliches Maß sofort in ein doppeltes, und beide werden zur Peitsche, die wir am liebsten in der Hand eines weisen Zensors sähen. Aber wer macht denn diese Öffentlichkeit aus? Die Marktschreier, die Händler, die Verantwortungslosen. Und das Volk läßt sich immer wieder beschwatzen, in deren Theater zu gehen, statt ihnen endlich einmal die Hosen zu stäuben. Woher denn das ganze Theater- und Literaturelend, über das die Brüder vom Freisinn selbst immer wieder ihre Feuilletontränen vergießen? Generalintendant Jessner lehnte Probeaufführungen vor einem Zensorenparkett (die wir übrigens gar nicht verlangen, weil die Zensur viel früher einzusetzen hat) ab, denn ein solches Zensorenkollegium könne nicht über die öffentliche Meinung entscheiden. Als ob der Koofmich vom Kurfürstendamm, der für Jessner schwärmt („Sin Se jewesen bei de letzte Prämiär bei Jessner? Was? Ham Se nich jesehn? Müßn Se anschaun gehen, das Stück, kolossal sar’ch Ihnen!“), als ob sowas öffentliche Meinung wäre, jene aber, die es tatsächlich ist, nicht längst entschieden hätte! Sind die Theaterpleiten kein Beweis? Der Herr Regisseur Emil Lind indes hob bei der Kundgebung im Preußischen Herrenhaus, ohne daß ihm schallendes Gelächter zum Verstummen ge-//bracht hätte, hervor, alle Bühnenkünstler seien die ersten im Kampf um die Lebensinteressen des Geistes und der Kunst. Das sagt er, anno 1929, gegen die Zensur, nicht für sie! Welch groteske Situation: In Berlin, wo nach dem Urteil aller dortigen und dortgewesenen Kulturmenschen die Musen nicht etwa bloß auf den Hund gekommen, sondern in manchen Theatern geradezu unter die Säue geraten sind, soll ein Regisseur von diesen seinen Bedrängern befreit werden. Was tut er? Atmet er beglückt auf über die nahende Hilfe? Feuert er die Helfer zu rascherer Arbeit an? Nein, er macht den Versuch, die Säue und die Perlen, die andere mit ihnen verdient haben, zu schützen! Man höre gut und mißverstehe nicht: zu schützen! 

Der Präsident der Dichtersektion, Herr von Molo, geht noch weiter, wenn es auch nicht möglich zu sein scheint. Er leugnet die Existenz des ganzen Schweinestalls. Man soll erst die Wohnungsnot beseitigen, rät er, die Arbeitslosigkeit, meint er, den politischen Kuhhandel, schreit er, dann könne man erst feststellen, ob schädliche Literatur überhaupt Schaden stifte. […]

Man sollte von unserer Seite die Frage: „Für oder wider eine Zensur?“ nicht auf den Schutz der Jugendlichen einschränken. Nicht nur meine Kinder will ich beschützt wissen, mich will ich bewahrt und geschont sehen vor dem Geblödel, das mir blasphemischen Schleim entgegenhustet und die Frechheit besitzt, den Auswurf seiner geistigen Unzucht auf dem literarischen Jahrmarkt auch nur feilzubieten! Daß ich den Brüdern vom dunklen Gewerbe des Freisinns weder für Pofel noch Dreck etwas zahle, versteht sich von selbst. Aber sie sollen auch nicht hausieren dürfen, weil sie die Kultur verpesten. Wenn die Abzugskanäle als Volksküchen aufgetan werden, appelliere ich heute und allezeit an die Ordnungsgewalt. Wir opfern unsere Steuergelder schließlich nicht nur zum Schutz der „Errungenschaften“ liberaler Literaturkaufleute, welche die Probleme der Zeit so lange schinden, bis diese notgedrungen die erpreßten Prozente herausgeben. Und Leute, die Dichter, Leute, die Künstler sein wollen, versichern uns zeternd, daß es kein Merkmal gebe, sie unter Schwindlern als Gottgezeichnete zu erkennen! 

Es gibt die Merkmale schon, Herr von Molo! Wenn einer z.B. den Mut aufbringt, vom hohen Pult der Preußischen Akademie der Künste, als Präsident den Dichtersektion überdies, so erbarmungswürdiges Geschwätz über Religion und Kirche […]vorzutragen, dann brauche ich seinen Luther-Roman gar nicht gelesen haben, um zu wissen, daß der einstmalige Augustinermönch, lebte er heute, die Zensur nicht nur gefordert, sondern so streng gehandhabt hätte, daß es zu Resolutionen sog. Kampfausschüsse von Literaten, G’schaftlhubern und G’schäftlemachern gar nicht gekommen wäre. Denn er eher von ihnen auch nur ein Wort hätte vorbringen können, wäre ihm der Junker von Wittenberg übers Maul gefahren. Und wie, Herr von Molo!

In: Schönere Zukunft, 7.4. 1929, S. 565-566.

Oskar M. Fontana: Der Kampf um das Buch (1928)

             Eine Zeitlang schien es, als sterbe der „liebe Leser“ in Deutschland langsam, aber unerbittlich aus, als bauten die Verleger am Bücherturm nur aus Gewohnheit weiter. Wer nicht Fußball spielte, tanzte. Wenn schon etwas gelesen werden mußte, weil man nicht einschlafen konnte, las man Magazine. Die vermehrten sich wie die Fliegen. Für ein Novellenbuch war und ist kein Käufer zu finden, aber für ein Magazin mit Kurzgeschichten, also auch Novellen, waren und sind tausende Leser zu finden.

             Es ist gesund und erfreulich, daß der Mensch endlich wieder einmal gemerkt hat, daß er einen Körper besitzt und daß er ihm ein Daseinsrecht geben muß. Aber es ist ungesund und unerfreulich, daß er darüber ebenso den Geist vergessen hat so wie ein früheres Stubenhockergeschlecht den Körper. Oberflächlichkeit ist ebensowenig ein Ziel wie Ästhetizismus.

             Was geschah von „Amts wegen“, um dieser drohenden Abwanderung der Heutigen ins belanglose Banale einer zu nichts verpflichtenden Magazinswelt zu begegnen? Nichts geschah. Der Staat hielt und hält ein paar Theater aus in der lächerlichen Überschätzung der Kulissen. Damit glaubt er seinen Verpflichtungen gegenüber der Dichtung und der Literatur erfüllt zu haben. Er deckt das Defizit, sorglos kann also „Alt Heidelberg“ oder „Das Duell am Lido“ gegeben werden. Denn die Theater, auch die Staatstheater, müssen gefüllt werden und so zahlt der Staat dafür, daß Publikumsstücke gespielt werden können. Deutschland gibt für seine fünf oder sechs Staatstheater jährlich 15 Millionen Mark aus. Diesen Millionen stehen 10.000 Mark gegenüber als jährliche Gesamtsumme der Aufwendungen für Literaturförderung.  (Österreich wiederholt dieses groteske Verhältnis im Kleinen.) Der Staat, mit den Repräsentationspflichten und Lasten des Theaters beladen, merkt gar nicht, daß das Buch und damit die geistige Spannkraft seines Volkes bedroht ist. Es kümmert ihn nicht.

             Merken es die Parteien? Kümmert es sie? Nicht im mindesten. Sie haben keine Zeit für solche „Kleinigkeiten“. Sie verurteilen die Kräfte, die innerhalb des Parteigefüges für eine Erhaltung des lebenden alten Schrifttums und einen durchsetzenden Vorstoß der neuen Autoren sorgen könnten, zur Einflußlosigkeit. Und so kommt es, daß eine Wiener sozialistische Wochenschrift für Frauen einen Roman von der Marlitt bringt. Widerspruchslos. Wo hört die Bourgeoisierung des Geistes auf? Wo beginnt sie?

             Die Not des deutschen Buches wird nur von den Verlegern bekämpft. Nicht aus Idealismus natürlich, sondern aus Wirtschaftsgründen. Sie kämpfen damit um ihre Existenz. Der Schriftsteller, als der ökonomisch Unselbständige, konnte diesen Kampf gar nicht aufnehmen, selbst wenn er ihn ahnte, außerdem blieb ihm der rettende Ausweg in die Zeitung offen. Der Verleger aber hat keine anderen Möglichkeiten, als die im Kapital und im Buch enthalten sind. Das Mißverhältnis zwischen beiden wurde in den letzten Jahren immer größer. Der Verleger begann das sehr heftig, sehr unangenehm zu spüren. Er mußte sich aus Selbsterhaltungstrieb dagegen zur Wehr setzen und wurde dadurch der einsame Schützer des Buches.

             Von der einen Seite her geht der Kampf um die Bewahrung der feinsten, gebrechlichsten und am „überflüssigsten“ scheinenden Literatur, das heißt um Lyrik und um jene Form von Epik die aus einem inneren Gesetz oder einem inneren Mangel – gleichviel – sich nur an wenige wenden kann und die doch das Recht hat, gehört zu werden, und der gegenüber die Gesellschaft die Verpflichtung hat, sie am Leben zu erhalten. Hans Martin Elster, der nicht nur Verleger ist (Horen-Verlag), sondern auch Schriftsteller, kommt diesem am meisten bedrohten Flügel der Literatur mit der Forderung nach seiner Schaffung einer Notgemeinschaft deutschen Schrifttums zu Hilfe. Er verweist als Beispiel auf die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die glänzend arbeitet und durch die Beistellung von Geldmitteln Publikationen ermöglicht, die sonst nicht hätten ediert werden können.

             Mit Recht scheint ihm ein Zustand absonderlich und unwürdig, der wohl den über den Dichter Schreibenden schützt, den Dichter selbst aber für sich allein sorgen, also verkommen läßt. Eine Notgemeinschaft des deutschen Schrifttums kann, indem sie einen Teil der Herstellungskosten übernimmt, bewirken, daß wieder Lyrik, daß wieder sucherische oder abseitige Dichtung gebracht werden kann, und daß ihre Autoren wieder zu leben vermögen. Die Widerstände gegen eine solche Notgemeinschaft kommen von Beamten, von Administrativen, die ihre Schreibtische für wichtiger halten als eine ganze Generation von Schriftstellern. Dennoch scheint mir eine Notgemeinschaft des Schrifttums nicht mehr aufzuhalten. Sie ist notwendig. Sie wird sich durchsetzen.

             Von der anderen Seite wird der Kampf um das Buch mit der Idee der Demokratisierung des Buches geführt. Es ist zu teuer geworden, es steckt in seinen Kalkulationen, in seiner Produktions- und Verkaufsweise noch immer in der Postkutschenzeit. Auch das Verlagswesen hat erkannt, daß es „Massen“ gibt, und daß diese mit ihren eigenen Mitteln erfaßt werden müssen. Organisierung der Kaufenden versuchten die Buchgemeinschaften. Ihre Gefahr: Sattheit, Schwerfälligkeit, Zaghaftigkeit haben sie bisher nicht überwunden. Die Organisation wurde ihnen letzten Endes wichtiger als der Geist.

             Die Demokratisierung des Buches macht erst der Verlag. Th. Knaur Nachf. in Berlin zur Wirklichkeit. Er ging von dem Gedanken aus, daß das deutsche Buchwesen im Gegensatz zum französischen nicht auf Broschüren, sondern auf dem gebundenen Buch beruhe, daß also dieses zum billigsten Preis hergestellt werden müsse, wenn Deutschland wieder für das Buch erobert werden solle. „Die Romane der Welt“ begannen im Vorjahr in diesem Sinne zu erscheinen und jetzt läßt der Knaur-Verlag ihnen die Standard-Bücher folgen, das sind Romane und wissenschaftliche Werke dauernder, klassischer Art. Hier wie dort ist das auf gutem Papier klar gedruckte Buch in Ganzleinen gebunden und kostet einheitlich 2 Mark 85 Pfennig (nicht ganz 5 Schilling). Den Romanen der Welt konnte Ungleichheit des Niveaus und Favorisierung der Ausländer vorgeworfen werden (trotzdem: sie brachten Joseph Hergersheimer, O’Flagerty, Walter Mehring, Sinclair Lewis – mutige und kühne Werke). Die Standard-Bücher sind dem Streit der Meinungen entrückt. Sie bringen Ewiges wie Dante und Dostojewski, ein deutsches Volksbuch wie Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit, sie versuchen Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance, bisher nur unter den „Gebildeten“ berühmt und geliebt, auch unter die Massen zu bringen – es ist der erste Versuch, nach Haeckels Welträtseln, ein wissenschaftliches Werk zu popularisieren – ein sehr ernster Versuch, dem entscheidende Bedeutung zukommt.

             Die Standard-Bücher bringen auch den ganzen Konrad Ferdinand Meyer, der bisher auf dem Ehrenfriedhof des deutschen Buchhandels ruhte. Diese vier Einzelbände, deren erster den Jürg Jenatsch und Angela Borgia, deren zweiter die Gedichte Huttens letzte Tage und Engelberg, deren dritter die Novellen und deren vierter den Heiligen und die Versuchung des Pescara bringt, sind eine sehr große Leistung. Im Wirtschaftlichen: jeden der Bände dieser vorbildlichen Art zu dem billigsten Preis herauszubringen und ohne den Zwang, alle vier gleichzeitig abnehmen zu müssen. Im Geistigen: weil hier ein großer deutscher Schöpfer endlich die Stoßkraft erhält, die ihm gebührt.

             Der Verlag Th. Knaur Nachf. hat zur Verbilligung seiner Ausgaben von Ford das Produktionsprinzip des rollenden Bandes übernommen, aber auch die Grundidee. Dem amerikanischen Motto: „Jedem sein Auto“ entspricht hier: „Jedem sein Buch“. Amerikanismus, ins Deutsche umgebogen. Es ist dadurch bewiesen, daß Bücher von innerer und äußerer Qualität zu billigstem Preise hergestellt werden können und daß dann die Leser, die es fast nicht mehr gab, wieder da sind. Und das ist das sehr Wichtige an dem Versuch des Knaur Verlages. Daß 400.000 Bände seines Konrad Ferdinand Meyer innerhalb einer Woche vom deutschen Buchhandel und seinen Käufern verschluckt wurden, ist mehr als ein persönlicher Erfolg – der bekümmerte die Allgemeinheit kaum –, vielmehr der in der Wirklichkeit vollzogene Beweis einer bisher geleugneten billigen Herstellungsweise, und die Tatsache des Erfolges wird die deutschen Verleger zur Umstellung ihrer Produktion zwingen. Es gibt ihn wieder. Er ist da. Jede Schlacht um den Leser ist aber ein Sieg des Buches. 

In: Der Tag, 4.3.1928, S. 3.

Franz Eichert: Eine neue Revolution für die Literatur (1918)

Daß die Entwicklung des modernen Geisteslebens nicht mehr in ruhiger, gerader, auf- oder absteigender Linie, sondern in fieberhaften Zuckungen und Umschlägen von einem Extrem ins andere, in unberechenbaren Zickzackbewegungen erfolgt, das ist aus der Umsturzbewegung, die sich soeben in unserer deutschen Literatur vollzieht, überaus klar ersichtlich. Bis jetzt haben freilich nur diejenigen, die sich berufsmäßig mit der Literatur befassen, die volle Erkenntnis von der Tragweite der Umwälzung, die sich allerdings laut genug, unter großem Lärm und Geschrei, ganz wie ein Kurssturz auf der Börse und ganz wie dort unter semitischer Führung und Prägung vollzieht. Wenn trotz dieses aufdringlichen Geschreis die Mehrzahl der Nichtliteraten, auch der auf anderen Gebieten geistig schaffenden Oberschicht, vom Umfang und Wesen dieser Umwälzung noch keinen klaren Begriff hat, so ist das leicht zu erklären. Die Literatur ist nämlich längst nicht mehr wie in jenen Zeiten, die nach Goethe allein schaffend und fruchtbar sind, eine Angelegenheit des ganzen Volkes, sondern eines verhältnismäßig sehr kleinen Kreises, der den Ton angibt und durch die Presse die lauttönenden Tagesbefehle ausgibt, die den Massen der Nichteingeweihten ihr literarisches Glaubensbekenntnis vorschreiben. Nur der alleinberechtigten Kritikerkaste ist heute das Recht vorbehalten, sich über literarische Neuerscheinungen ein eigenes Urteil zu bilden – die anderen bekommen das fertige Meinungsragout in der Morgenzeitung vorgesetzt und haben nur die Aufgabe, es dann gelegentlich wieder von sich zu geben und dadurch jene „kompakte“, von einigen wenigen Schlauköpfen geschaffene und regierte literarische Tagesmeinung zu bilden, gegen die anzukämpfen auch das Genie eines Goethe, eines Dante, eines Shakespeare ohnmächtig wäre,  wenn diese Gewaltigen heute lebten und darauf angewiesen wären, ihre Kunst ohne Beihilfe oder gar gegen den Willen der heutigen Macher aller literarischen Berühmtheiten durchzusetzen.

Es ist kein Wunder, daß unter solchen Verhältnissen, wo ein kleiner Kreis literarischer Auguren entscheidet, was die große Mehrheit des Volkes als „einzig wahre“ Kunst hinzunehmen hat, was ihr gefallen, was sie lesen soll, die lebendige Anteilnahme der Nation am literarischen Leben immer mehr verflacht und sich immer mehr und mehr auf die tägliche Massenfütterung mit saft- und kraftloser Unterhaltungsliteratur beschränkt, die keinen anderen Nutzen hat, als daß sie die Zeit totschlagen hilft, dafür aber unberechenbaren Schaden stiftet. So wird es begreiflich, daß auch von der neuesten Revolution, die sich soeben auf dem Gebiete der Literatur vollzieht, die Wenigsten eine richtige, auf eigenes, unbeeinflußtes Urteil gegründete Vorstellung haben.

Daß es keine Übertreibung ist, von einer sich vollziehenden „Revolution“ in der Literatur zu sprechen, ähnlich derjenigen, die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sich vollzog — nur noch einschneidender in ihren Folgen — bestätigt u. a. ein so gewissenhaft und ruhig urteilender Fachgelehrter wie Oskar Walzel. In der Zeitschrift „Deutscher Wille“ (früher „Kunstwart“) fällt er das schwerwiegende Urteil: „Mag die neue Kunst Expressionismus oder wie immer heißen, Tatsache ist, daß sich seit dem Beginn der naturalistischen Bewegung keine gleich entschiedene Umkehr eingestellt hat. Es fragt sich, ob nicht heute ein noch viel größerer Gegensatz von einst und jetzt waltet als um 1830…“ Er mißt dann die Größe dieses Gegensatzes an seiner notwendigen Folge, an der völligen Umwertung der Werte, die sich in unserer Literatur vollzieht und in der gänzlichen Verwerfung und Geringschätzung der literarischen Größen von gestern, namentlich des Hauptvertreters der Eindruckskunst. Gerhart Hauptmann, endlich in der Wiedergeburt fast gänzlich Vergessener, wie in der Entdeckung und Ausrufung ganz neuer Talente ihren naturgemäßen Eindruck findet.

Es ist beinahe unmöglich, in einem räumlich so beschränkten Rahmen, wie hier, den Wesensunterschied zwischen der Kunst von gestern und von heute, zwischen „Impressionismus“ und „Expressionismus“, zwischen Eindruckskunst und Ausdruckskunst — mit diesen Schlagworten wird der Gegensatz für die Wissenden gewöhnlich bezeichnet — allgemein verständlich darzulegen. Um aus dem, was mit ein paar Worten gesagt werden kann, die richtigen Schlüsse zu ziehen und die richtigen Begriff abzuleiten, muß man eben mit dem Gange der literarischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ziemlich vertraut sein; man muß davon nicht bloß das wissen, was die einzelnen „Richtungen“ und Parteien in ihren volltönenden Programmschriften verkündigten, was die Zeitungen gelegentlich über irgend eine literarische Teilerscheinung berichteten, man muß wenigstens eine Ahnung von den inneren Zusammenhängen und tieferen Gründen der Einzelerscheinungen haben, deren Vielheit und Gegensätzlichkeit unser literarisches Leben äußerlich als ein unentwirrbares Chaos erscheinen läßt.

Das Beste wird Wohl sein, sich nicht in spitzfindigen Untersuchungen des Wesens und des Gegensatzes beider Kunstrichtungen zu erschöpfen, sondern lieber die praktischen Forderungen reden zu lassen, die sich daraus ergeben und in ihrer völligen Gegensätzlichkeit am besten den Abstand beider Richtungen kennzeichnen.

Auch solchen, die sich um literarische Streitfragen bisher sehr wenig kümmerten, drängt sich gewiß eine Erinnerung auf: an den ausdauernd auf allen Linien mit größter Erbitterung geführten Kampf gegen die Zweck-, wie man mit einem höhnischen Unterton gewöhnlich sagte: „Tendenzkunst“. Die Lehre, daß die Kunst sich Selbstzweck sei und keinen außer ihr liegenden Zweck, keine „Tendenz“ haben dürfte, das Grunddogma der modernen Ästhetik; und mit einer solchen Sicherheit, mit einem so außergewöhnlichen Aufwande von Stimmitteln wurde diese Lehre als eins selbstverständliche, mit Anrecht auf immerwährende Geltung auftretende Forderung, ja als der Angelpunkt einer geläuterten Kunstlehre hingestellt, daß der suggestiven Wirkung dieses Behauptens auch ein Großteil der katholischen Intelligenz erlag und der Kampf gegen die Tendenz ebenfalls auf seine Fahne schrieb. Man muß freilich zugeben, daß bei der außerordentlichen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit des Wortes über das Wesen und den Begriff der „Tendenz“ zwischen den katholischen und nichtkathoIischen Wortführern in diesem Kampfe erhebliche Unterschiede festzustellen waren — aber es war doch unzweifelhaft ein Eindringen von ursprünglich fremden, auf einem ganz anderen Boden erwachsenen Ideen in den Bereich des katholischen Geisteslebens. Gewiß, auch die katholische Kunstlehre kennt den Begriff einer wirklich kunstfeindlichen, unter allen Umständen zu bekämpfenden Tendenz; aber die Ursache der aus diesen Kämpfen sich ergebenden Schwierigkeiten und Mißverständnisse dürfte darin zu suchen sein, daß einerseits die katholischen Wortführer nicht immer ganz unmißverständlich den Begriff der tatsächlich kunstfeindlichen, deshalb zu bekämpfenden Tendenz klarlegten, während anderseits, auf nichtkatholischer Seite, der Kampf gegen die Tendenz in seiner tatsächlichen praktischen Auswirkung immer ausschließlicher zu einem Kampfe gegen die gesunde, ethisch und religiös aufbauende, also gegen die positivchristliche und namentlich die katholische Literatur sich auswuchs. Tatsache ist es, daß auch während der Zeit des größten Tendenzgeschreis auf der anderen Seite eine ausgesprochene antichristliche, antikatholische Tendenzliteratur nicht nur blühte, sondern auch von den größten Schreiern gegen die Tendenz gehegt und gepflegt wurde und daß es niemandem einfiel, ihren Vertretern den durch laute Reklame billig erworbenen Künstlerruhm zu schmälern oder streitig zu machen.

Die neue, im Werden begriffene Kunst, der „Expressionismus“, hat nun mit dem Glauben an das allein seligmachende Dogma, daß ein Kunstwerk keinen andern als den in sich selbst ruhenden Zweck verfolgen dürfe, gründlich aufgeräumt. Einer der Wortführer der neuen Richtung, Hans Natonek, erklärt klipp und klar in der Frankfurter Zeitung:

 „In der Literatur und Kunst äußert sich die neue Zeitströmung in der Überwindung jener Anschauung, die das Kunstwerk als Selbstzweck wertet. Kunst ist mehr als ein Spiel ästhetischer Gesetze, mehr als ein schönes, unterhaltendes Kaleidoskop der Formen. Auch die Kunst soll etwas wollen. Die Nachahmung der Wirklichkeit (Naturalismus) und die psychologisch feine Wiedergabe von Eindrücken (Impressionismus) blieben ohne gestaltende Wirkung auf das Leben. Die Kunst unserer Zeit hat, wie nie zuvor, ethische Ziele. Der Schaffende, ein paradiesisches Menschheitsglück vor Augen, leidet unendlich an der Verirrung der Welt; er weiß tiefinnerst um das Übel; aus diesem Wissen bricht ohne Hemmung der Schrei der Seele. Dies etwa ist ungefähr das Wesen des vielgenannten Expressionismus.“

Und diese jungen Dichter — das muß man ihnen lassen — packen mit anerkennenswertem Mute den Stier gleich bei den Hörnern an — sie stürzen sich über Hals und Kopf in den Strom der Tagespolitik, wo er am wildesten tobt — sie wollen die Welt „durch den Geist“ umgestalten und zu diesem Zwecke bedienen sie sich, wie Theodor Seidenfaden im Gral ausführt, der Dichtkunst, „um politisch zu wirken, um den Menschen zur Tat fortzureißen, ihn gegen sich selbst aufzuwiegeln“.

Ja, man geht so weit zu behaupten: Die Tendenz, die Durchdringung des Kunstwertes mit entschiedenstem Zweckbewußtsein, seine gewollte Einstellung auf ethische, religiöse, politische Wirkung ist nicht nur erlaubt, sie ist sogar notwendig und die Kunst, die davon absieht, ist keine wahre Kunst, ist überhaupt keine Kunst, sondern leere Spielerei ohne Lebenszweck und ohne wirklichen Wert.

Um diese völlige Umkehr der bislang als unantastbar geltenden Kunstbegriffe zu verstehen, muß man wissen, daß die neue Kunst von ihren Aposteln und Jüngern als der schroffste Gegensatz zu der bisher alleinherrschenden Kunst des Materialismus, der nur durch die Sinne wirkenden Eindruckskunst, aufgefaßt wird. Also eine Kunst des „Psychismus“. — „Die Kunst schreit nach dem Geiste“, sagt einer ihrer Vertreter, das ist der Expressionismus.“ Und weiter: „Der Expressionismus will (im Gegensatz zum Impressionismus) nicht mehr das vorüberhuschend Sinnliche, sondern das Ewige, das Wahre, das Geistige erfassen.“ Also keine bloße Formkunst, sondern Inhaltskunst; keine müde, versonnene, blasierte Ästhetenkunst, sondern tatkräftige, „aktivistische“, stark ins Leben eingreifende Kunst der Starken, der Wirkenden: der Ethiker, Politiker und Religionsstifter. Nicht Kunst der Dekadenz, sondern — wenigstens dem Wollen nach — Kunst des Aufstieges, der Erhebung.

 Da werden nun manche Leser sagen: das klingt ja ganz schön, ganz ähnliche Worte und Anschauungen haben wir ja des öfteren von katholischer Seite gehört, namentlich von jenen, die sich mit dem materialistischen, dekadenten, hauptsächlich sinnlichen Genuß suchenden und fördernden Zuge im Kunstleben der letzten Jahrzehnte nie so recht befreunden wollte. Das ist unzweifelhaft richtig. Namentlich Kralik und feine Freunde haben immer mit größter Entschiedenheit behauptet, daß die Kunst etwas zu wollen habe, daß sie nicht bloß ästhetisches Gefallen, sondern darüber hinaus ethische, religiöse, bis zu einem gewissen Grade auch politische Ziele anzustreben habe; daß wahre Kunst nicht bloße Formspielerei, sondern Inhaltskunst sein müsse, daß sie nicht bloß der Erde, dem Diesseits, sondern ewigen Ideen, letzten Endes der Verherrlichung Gottes und der göttlichen Weltordnung zu dienen habe, also nicht im Materialismus versinken, sondern Innen-, Seelen-, Ewigkeitskunst sein müsse.

Nun stehen wir aber am entscheidenden Wendepunkt. Der Geist, nach dem die neue Kunst schreit, von dem sie sich erfüllen lassen, dem sie dienen, den sie in ihren Schöpfungen Ausdruck verleihen will — es ist nicht der Geist Gottes, der ordnend und gestaltend über dem Chaos schwebt, sondern der Geist seines Widersachers, der Geist, der stets verneint.

Davon spreche ich in einem später folgenden Aufsatze.

In: Reichspost, 7.8.1918, S. 1-2.