Martina Wied: Reportage (1929)
Das ist nun der letzte Schrei der literarischen Modenwelt, Anwendung des Begriffes „neue Sachlichkeit“ auf das Gebiet des Schrifttums, sprachlicher Bauhausstil mit der Nebenlösung, alle geistige Existenz in die Unwohnlichkeit eines Wartesaals zu verbannen, sie ambulant zu machen, unstät, zum Aufbruch bereit, in eine Vorläufigkeit geschoben, die Rückblick nicht verstattet und Behagen an der Gegenwart nicht aufkommen läßt; — ja, es manifestiert sich darin recht eigentlich ein heroischer Entschluß zur Unbehaglichkeit, ahasverischer Zwang zum Wandern, weil der wegmüden Kunst die Ruhestätte verwehrt wurde.
Dieser Wille zur Reportage entspricht, wie alles Heutige, einer Negation. Es steckt Auflehnung dahinter gegen jegliche Art von Impressionismus und Expressionismus, gegen alle stilisierende Vergewaltigung des Seienden,— die Willkür von Dada und Surrealisme mit eingeschlossen; — Respekt vor der Realität lebt darin und der demütige Wunsch, sie, die alle künstliche Schöpfung an Großartigkeit, Wandelbarkeit übertrifft, unverändert festzuhalten.
Das Schriftentum der nächsten Epoche wird sich also, nach diesem Programm, die Leistungen des photographischen Apparates und des Mikrophons zum Beispiel nehmen und sich ihnen anzugleichen versuchen. Ein höchstes Maß von Entpersönlichung, ein Ausschalten des Berichten den zugunsten des von ihm Geschauten und Beobachteten, das Streben des Reporters, seinen Blick ungetrübte Klarheit einer Linse — die nicht zufällig auch „Objektiv“ heißt — seiner Hand unbeirrbare Sicherheit eines Registrierapparates zu geben, ist hier Voraussetzung. Wir wissen nun aber recht genau, daß für das Zustandekommen einer guten Photographie oder einer vollkommen klaren phonetischen Übertragung außer Lichtstärke der Linse und Empfänglichkeit der Membran noch einige andere Momente in Betracht kommen: die Einstellung beispielsweise und, vielleicht auch ein klein wenig, der künstlerische Geschmack der Person, die den Bildausschnitt mit technischen Mitteln abgrenzt; der Wohlklang und die Tragkraft der Stimme, die vor dem Mikrophon spricht oder singt. Die angestrebte vollkommene Entseelung und Entpersönlichung läßt sich also nicht einmal in Bezug auf technische Hervorbringungen, nicht einmal in Hinsicht auf die Leistungsfähigkeit einer Maschine, die Geschwindigkeit eines Aeroplans, ganz durchsetzen; es bleibt ein Erdenrest von Individualität zu tragen peinlich, auch die Reportage wird sich mit ihm einrichten müssen, sie kann sich nicht auf die Plattform aus Asbest zurückziehen, um allen menschlichen Gebrechen entrückt zu sein.
Nehmen wir nun einmal irgend ein Ereignis unter das Objektiv des Reporterauges: Beispielsweise den Brand einer Fabrik. Es bestehen da zwei Formen der sprachtechnischen Aufnahme— entweder die Möglichkeit, das Ereignis auf sein Typisches, immer Wiederkehrendes, auf sein Skelett zu reduzieren: dann genügt eine sachliche Feststellung, die alle anderen erübrigt (wie unter dem Fascio das Regierungsorgan alle anderen Journale überflüssig macht), oder, als zweite Möglichkeit, das Einmalige, nie Wiederkehrende des Ereignisses festzuhalten; das ergäbe nun, bei sechs verschiedenen Berichterstattern, sechs gänzlich verschiedene Berichte, die vielleicht daran zweifeln lassen könnten, ob es sich jedesmal um das gleiche Ereignis handelt? Je scharfsichtiger nämlich, je eindrucksfähiger, je wachsamer der Reporter ist, um so weniger wird, was er sieht, dem von Andern Gesehenen gleichen! Und dabei handelt es sich hier um ein Elementarereignis, dem nichts unterschoben, das durch keine politische, religiöse, philosophische Überzeugung des Betrachtenden in seiner Erscheinung und Auswirkung verändert und verfälscht werden kann — wohl aber durch ein paar ganz primitive Tatsachen: ob der Betrachtende gut geschlafen, ausreichend gefrühstückt hat, ob er nicht durch den Rauch der Brandstätte in seiner physischen, nicht durch private Erlebnisse in seiner geistigen Sehkraft beeinträchtigt war — weil, all seinen Anstrengungen zum Trotz der Reporter doch immer — wenn diese Neubildung gestattet sein möchte — durch ein Subjektiv blickt!
Der geneigte Leser, der ja weit voraussehender ist, als die Mehrzahl der Schreibenden es je wort [Orig!] haben möchte, wird längst erkannt haben, wo hinaus ich mit alledem will: daß es mir darum geht, begreiflich zu machen, es gäbe kein romantischeres, kein Don Quichote-ähnlicheres, kein tollkühnerer Unterfangen, als die Bemühung um eine sachlich einwandfreie Reportage! Es sei, vom Herodot bis zu den Novellen von Paul Ernst, immer Absicht des guten Auges und der sicheren Hand gewesen, Wirklichkeit wiederzugeben, so genau, so leidenschaftslos, so unpersönlich, wie es gerade die große Persönlichkeit in ihrer Schöpferhaftigkeit sich am ehesten vornehmen darf. So betrachtet sind ja die Werke der italienischen Novellisten, der Robinson Crusoe, der Grimmelshausensche Simplicius, sind die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter, Stendhals Novellen, Manzonis Promessi sposi, der Michael Kohlhaas und das Erdbeben in Chile, Madame Bovary, das Gesamtwert Marcel Prousts — Reportage; die Reihe gestattet viele Ergänzungen, ja, alle Dichtung entstammt vielleicht nur dem verzweifelten Bemühen um vollkommene Wiedergabe des Wirklichen, also um vollkommene Reportage; eine Bestrebung, die schließlich doch illusorisch bleibt durch die unüberwindliche Eigenkraft des Individuums, die ungebrochene Lichtstärke des „Subjektivs“.
Wir brauchen uns also nicht allzusehr vor dem literarischen Bauhausstil zu graulen. Reportage hat ihr Gutes, sie ist Wille zur Säuberung des geistigen Haushalts von Staubfängern, Brokatbehängen und aus Stilblüten gebundenen Makartbuketts. Wille zur sprachlichen Nüchternheit, zur Ehrlichkeit, Genauigkeit, Treue gegen das Wirkliche — das ist eine adelige Absicht, der gerade der revolutionäre geistige Mensch seine Anerkennung nicht versagen wird.
Nun kann aber freilich irgend einer von den jungen Leuten kommen, die das Wort Reportage in Kurs gesetzt haben und mir erklären, ich hätte seinen Sinn und seine zeitgemäße Bedeutung völlig mißverstanden: Reportage sei nichts anderes, als was die „New- York Sun“ oder die „Chicago Tribune“ ihren Lesern vorzusetzen für gut befinden! Das soll mir auch recht sein, denn in diesem Fall brauche ich mich an keiner Apologie des neuen Schlagwortes mehr zu versuchen und darf, wenn ich mich durchaus am amerikanischen Muster bilden soll, wieder einmal Edgar Allan Poes „Phantastische Geschichten“ lesen: die zuverlässigste Reportage über das unzuverlässige Wesen des Genies.