Stefan Zweig: Roman der Inflation. (Robert Neumann: „Sintflut“)
Die phantastischen Tage der Inflation, da Geld wie Gummi sich dehnte,
Werte wegschmolzen wie Eisstücke auf der Herdplatte, da Unten und Oben, Armut
und Reichtum innerhalb weniger Stunden sturzhaft ineinander übergingen – diese
urwitzigen Tage sind den meisten heute nur mehr gespensterhaft gegenwärtig, ein
Alptraum, ein tolles Feuer- und Schattenspiel. Aber andererseits sind sie noch
zeitlich zu nahe, diese Tage, zu gestrig, zu vorgestrig, als dass die Historiker
sich schon wissenschaftlich bewältigt hätten. Noch fehlt, hier in Oesterreich
und überall, das richtige Museum des Krieges und der Nachkriegszeit mit den
Photographien der verfallenden Häuser, der ausgeleerten Auslagen, der
ausgedörrten Menschen, noch fehlt die klinische, wissenschaftliche Analyse
jener Tollwutzeit. Bereits wird es mühsam, sich an jede einzelne Schwankung und
Schwellung zu erinnern, und doch ist es ander[er]seits zu früh, in
Geschichtswerken wie eine fremde Epoche unsere vorgestrige zurückzulernen:
darum bedeutet diese Zwischenzeit ideale Bildnerepoche für den Künstler. Er
kann, ehe die Vergangenheit ganz zum Dokument wird, also papierkalte
Anschauung, noch aus eigener Erinnerung die Epoche zeichnen, einzelne Fälle zum
Typischen erheben, zufällige Wirklichkeit zum gültigen Werk. Und man sieht:
gerade jetzt beginnt in der deutschen Epik der Krieg erst zu sprechen, zehn Jahre nachdem die letzten Kanonen gebellt, die
letzten Mörser Mord in die Welt geschmissen haben, und jetzt auch erst scheint
die Zeit gekommen, seine letzte Folgekrankheit, die Inflation, künstlerisch
aufs Korn zu nehmen. Gestreift im Vorübergehen oder mit der Blendlaterne
angelichtet hat diesen Morbus viennensis schon mancher: unser verstorbener
Freund Paul Zifferer hat in seiner Kaiserstadt
einen solchen Querschnitt durch die Uebergangszeit mit der ihm besonders
eigenen Sorgfalt und Sauberkeit vorgezeichnet, Raoul
Auernheimer in einem Roman einzelne dieser Umschaltungen mit Figuren ironisch
umrissen, Felix Braun in seiner
Agnes Altkirchner manche Krise
lyrisch untermalt, aber keiner von ihnen hat so zentral das Problem an der Wurzel gefaßt,
beim Geld, in der tollwütigen Gier nach dem sich blähenden und schwindenden,
dem plötzlich vom Himmel fallenden und über Nacht in nichts zerfließenden Geld
der Inflation, keiner so ehern und hinreißend bisher das absurde Geschehnis
eingekreist als Robert Neumann in
seinem Roman Sintflut (Engelhorns Verlag, Stuttgart).
Robert Neumann, der diesen harten Griff getan, hatte bisher nur sein
Handwerk legitimiert. Zuerst mit lyrischem Fingerspiel, einem Gedichtband, dann
mit der heitern Stiläfferei Mit fremden
Federn, diesem berühmt gewordenen Parodienbuch. Aber schon in der sehr
gelungenen Rahmennovelle Die Pest von
Lionora spürt man den geborenen Fabulisten und in der zündenden Reportage
seiner Jagd auf Menschen und Gespenster
einen brennend klugen, scharfäugigen Beobachter. All dies ist aber nur Vorbereitung, nur
Fingerspiel; hier in diesem Roman zeigt er zum erstenmal die Faust. Mit einem
klirrenden Stoß zerschlägt er die Matt//scheibe der Vergesslichkeit, mit einem
prachtvollen, unerbittlichen Ruck reißt er die Tür auf zur Kloake jener
Fäulnis.
Er schont dabei nicht unsere Nerven. Gestank schlägt einem entgegen,
grässliche Gärung, schwefliger Geruch von Sodom und Gomorrha. Aber mit festem
Fuß stapft der Erzähler hinein in diesen phosphoreszierenden Sumpf und zieht
uns unerbittlich mit. Bis zu den Knien watet er weiter durch den ganzen Stall
des Augias, den ganzen Unrat fegt er heraus ans Licht,
unnachgiebig, unbarmherzig. Er greift der Zeit bis an die Eingeweide und
schwemmt sie mit der Lauge durch. Sentimentale seien gewarnt: in diesem Buche
geht es durchaus ungemütlich zu, nichts wird verdeckt und verschönert, nichts
verschwiegen und gemildert, nicht eine falsche Gemütlichkeit in die
Schwindelepoche hineingeschwindelt, sondern eher das Phantastische noch
übersteigert, das Fiebrige überhitzt. Mit Aquarellfarben kann man keine
Apokalypse malen; Goya und der Höllenbreughel sind darum die
wahren Vorbilder des Erzählers Robert Neumann für diesen wilden Herrentanz ums
Geld.
Ausgezeichnet schon die rein technische Anlage des Werkes. Eine Kindheit
in einem Vorstadthaus. Vorn die Fabrik, gute, brave Geschäfte, gemächliche
Leute, rückwärts Arme und Aermste. Dies Oben und Unten, Vorn und Rückwärts, Arm
und Reich, Bürger und Proletarier, Jude und Christ natürlich sorgsam
geschieden. Aber auf den Rinnsteinen des Hofes, auf den Bauplätzen nebenan
spielen die Kinder gemeinsam. Sie verbinden die Gegensätze, und dank ihrer
blickt man gleichzeitig in alle Türen, die wohlverschlossenen und locker
angelehnten, in die guten Stuben und in die Mansarden. Das ganze Vorspiel
dieses Romans überwölbt eine Kindheit, und diese dauert bis zum August 1914.
Dann kommt ein Loch. Ein schwarzer Fleck, absolute Leere, ein Nichts:
die fünf Jahre Krieg. Kein Wort über ihn, keine Zeile; erst später wird man
wissen, was diese fünf Jahre verändert und verwandelt haben. Der eigentliche
Roman setzt ein, wie der Eisenbahnzug den Helden (wie schlecht passt ihm dieses
Wort!) im Viehwaggon in zerschlissener Uniform über die Grenze zurückführt. Er
kommt an mit leeren Taschen und einem gallbitteren Herzen, beschäftigungslos,
fremd, ausgeheimatet und starrt das alte Haus, in dem er aufgewachsen, an wie
die Kuh den neuen Zaun. Alles ist anders geworden, die Fassaden, die Geschäfte,
die Menschen. Der kleine Schokoladenhändler im Vorderhaus ist gigantischer
Unternehmer, Marke Omnia, er handelt mit Wolle und Seide, mit Getreide, mit
Papieren und Nicht-Papieren, das heißt, mit wertlosen Aktien. Der wackere
deutsche Beamte, bei dem er aufgezogen war, ist seine rechte Hand, die
Greifhand, der kleine eingewanderte, halbverhungerte Samuel Klein die linke,
die Versteckhand, die Denkhand geworden, ein Trio, das aus der zum Zerreißen
gespannten Saite des Wiener Elends musiziert. Alle drei sind sie, jeder in
seiner Art, aufgestiegen aus den kleinen Verhältnissen ins scheinbar
Gigantische auf Kosten Unzähliger, die ringsum verhungern, alle drei besessen,
betrunken von der Tollgier nach dem Mehr und Mehr. Und nun sieht man, wie diese
Eiterblase (diese vergiftete Jauche aus fremdem Blute) schwillt und
schwillt zu immer kankhafterer Größe, wie der Organismus des ganzen Staates
durch dieses geschwürige Konzerngewächs fiebrig erschüttert wird, bis die Beule
endlich platzt. Aber schon hat ihn selbst, den hundearm Zurückgekehrten, das
Fieber gefasst, er wird mitgerissen, dieser unheldische Held, in eine jener
kartenhaft aufgetürmten Unternehmungen, wo mit allem gehandelt wird und Geld
wieder zu nichts; aus dem Viehwagen, mit dem man ihn heimtransportierte,
schwingt er sich in ein eigenes Auto, saust immer höher die Serpentinen der
Macht und des Erfolges hinauf, bis er plötzlich übe einer zu kühn genommenen
Kurve an die Schranken des Gesetzes anrennt und abstürzt. Aehnliches ist
oftmals erzählt worden, aber niemals so spezifisch die Wiener Inflation
geschildert mit ihren spannweiten Gegensätzen, die gräßliche Nähe
jämmerlichster Entbehrung neben polizeilich verbotenen, frenetisch
verschwenderischen Unterhaltungen bei herabgelassenen Gardinen, die Spannungen
innerhalb derselben Familie zwischen krassen Verdienern, leeren Snobs,
überzeugten Kommunisten, das ganze Auf und Ab, Kreuz und Quer, Hinauf und
Hinunter, die vollkommene Durchmischung und Durchschichtung in der riesigen
Maschine Inflation, die gleichzeitig Geld zerbröselt und Seelen zerquetscht.
Mit einer bewundernswerten Menschen- und Episodenfülle belegt Robert Neumann
zahlenmäßig genau und exakt alle Formen dieser Geistverwirrung und
Wertverwirrung innerhalb der verschiedensten Gesellschaftsschichten, aber schon
selbst ergriffen von jener Besessenheit des Mehr und immer noch Mehr, schaufelt
er in diesen Hexenkessel noch alles Phantastische des letzten Jahrzehnts
hinein, alles was sich an Frechem und Absurdem, an Pathetischem und Perversem
im geschüttelten Gefäß der Zeit herausdestillierte. Die ganzen ‚Fälle’ der
Nachkriegszeit, der Fall Haarmann, die Episode Bekessy, die feisten
Figuren unserer Pseudo-Stinnes, der fünfzehnte Juli, alles das wird in diese schon überfüllte Sphäre noch gewaltsam
hineingedrückt, nur um sie noch irrwitziger, tollwütiger erscheinen zu lassen. Manchmal
werden durch solche Überfülle Gestalten in ihren Dimensionen verzerrt, das
Dämonische der Figuren noch überdämonisiert: der große Schieber Abel wird zu
einem Fedor Karamasow, und sein Sohn Aljoscha, hier Ruben genannt, noch
dazu Homosexueller, Hellseher und Kokainist. Ach, was pelzt er alles hinein:
Häuser gehen in Flammen auf, Menschen werden gemordet, Verschwörungen geplant,
schon spürt man manchmal durch die überhitzten Hitzigkeiten den angebrannten
öligen Geruch der Kolportage, und noch immer schaufelt der Unermüdliche neuen
Chrafit und Dynamit in sein Geschütz. Freilich, er kann sich rechtfertigen, daß
gerade die großen epischen Meister wie Balzac und Dostojewski nur durch
Outrierung, durch Ueberdimensionierung erst rechten Raum für ihre
Riesengestalten fanden, aber von Dostojewski stammt auch das weise
Künstlerwort: „Es gibt nichts Phantastischeres als die Wirklichkeit.“ Wo der
Dichter Erlebnis groß zu sehen berufen ist, bedarf es keiner gewaltsamen
Steigerung mehr und das Zuviel an Wahrhaftigkeit mindert die reine und
endgültige Wahrheit.
Und dabei ist gerade die Darstellung des Wirklichen, die Abschilderung
des Geschäftlich-Sachlichen die Genialität dieses Romans. Nie, auch bei Zola
nicht, ist eine Börsenszene, das Hinaufpeitschen einer wertlosen Aktie durch
Selbstsuggestion und Massensuggestion so hinreißend, so gleichzeitig wahr und
dichterisch geschildert worden; bis in die Nerven hinein hat Robert Neumann in
Geschäfte, Betriebe, Bündelungen, Affären und Seelenschwindeleien der Inflation
gesehen, es ist eine wahre Lust, nachzulesen, wie er eine Bestechung, eine
Schiebung, eine Erpressung schildert – niemals kalt, ironisch, sondern immer
ingrimmig genau, leidenschaftlich beteiligt, wie Dichter sonst nur an ihren
Liebesszenen und geistigen Diskussionen. Gerade diese dokumentarischen
Schilderungen, wo die Zeit nicht mehr im Hohlspiegel verzerrt gesehen, sondern
gleichsam unter die Lupe genommen wird, machen seinen breitströmigen,
tausendwelligen Roman zu einem der wichtigsten Bücher, die wir seit Jahren aus
Wien bekommen haben, halb Epos, halb zorniges Pamphlet der Schieberjahre, reich
an unvergesslichen Einzelheiten und kühn in der Wölbung. An der Größe der
Anlage ist hier ein junger Künstler selbst groß geworden, und schon in diesem
ersten Roman erreicht er durch Ueberlegenheit der Konzeption,
abwechslungsreiche Fülle der Figuren, weitgespannte Kontrastierungen jenes
Welthafte, das wahrhaft wichtigen, epischen Gebilden immer notwendig ist. Und
auch dort, wo er noch ins Maßlose, ins Uebermäßige sich verliert, geschieht es
nur durch Leidenschaft, durch eine gewaltsam zurückgehaltene und doch wieder
feurig vorbrechende Erbitterung über das Verbrecherische jener Zeit und das
Gebrechliche unserer Welt – die einzige Leidenschaft also, die selbst im
Uebermaß immer dem Künstler ziemt und die allein erst jedes literarische Werk
menschlich legitimiert.
In: Neue Freie Presse, 8.3.1929, S. 1-3.