N.N.: Rasse und Wissenschaft. Die fortschreitende Verjudung unserer Hochschulen. (1929)

Wir erhalten folgenden Aufruf:

Deutsche Studenten!

Immer wieder gebot uns die vaterländische Pflicht und das völkische Verantwortungsbewußtsein an der Befrei­ung unserer höchsten Kulturstätten vom fremdrassigen Judentume mitzuarbeiten!

Ebensowenig wie deutsche Professoren an der jüdischen Universität in Palästina lehren, eben­sowenig sollen im deutschen Vaterlande Professoren jüdischer Volkszugehörigkeit die Lehrer deutscher Studenten sein!

Dazu ist vor allem notwendig zu wissen, wer von den Hochschullehrern Jude ist und wer Deutscher, denn es ist nicht nur unser Recht, sondern unsere völkische Pflicht, den deutschen Lehrer zu hören, dem Heimat, Volk, Rasse, Vaterland und Deutschtum heilige Begriffe und für den Heimatschutz und Heimatliebe, Vater­landssinn und Vaterlandsverteidigung ewige und sittliche Werte und angeborene Pflichten eines deutschen Kulturmenschen sind!

Und so tragen wir einem allseitigen Wunsche Rechnung und geben Euch die Namen der Professoren jüdi­scher Volkszugehörigkeit oder jüdischer Abstammung bekannt. Ihr wißt, was Ihr anläßlich der Einschreibung zu tun habt!

Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät:

Adler E., Adler M. (Marxist), Braßloff, Ehrenzweig, Gal Alex., Goldmann, Henrich, Herrnritt, Hupka, Kauf­mann, Kelsen (Marxist), Klang, Kornfeld, Kunz, Lehnhoff, Wenzel, Mises, Petschek, Pisko, Pollak Rud., Pribram Karl, Rappaport, Redlich Josef, Schilder, Schiff, Schlesinger, Schreier, Sieghart, Strisower.

Philosophische Fakultät:

Abel Emil, Arnold, Billiter, Bühler, Ehrenhaft, Eisler, Ewald, Feigl, Figdor, Fischer, Geiger, Grafe, Grienberger, Gal Hans, Hanslik, Helly, Herz, Hock, Jellinek, Jokl, Joseph, Kappelmacher, Kohn, Konstantinowsky, Kubitschek, Lieben, Löwy, Mayer Walt., Menger, Oppenheim, Pollak Jak., Pribram Franz, Przibram H., Reich Emil, Richter, Scarlates, Schlick, Tauber Alf., Tietze, Welesz Egon.

Medizinische Fakultät!

Alexander G., Abels, Adler, Aschner, Bauer, Beck, Mach, Blau, Blum, Bondi Sam., Bondy Gust., Braun, Breuer, Brünauer, Donath, Eisler, Eisler-Terram, Elias, Engelmann, Erben Siegm., Erdheim, Erdheim, Fischel, Fischer, Fleischmann, Fraenkel, Friedjung, Freud Siegm., Freund Ernst, Freund Leop., Fraenkel, Freund, Fröhlich, Fröschels, Fürth, Gerstmann, Glas, Gläßner, Goldschmidt, Gomperz, Hajek, Halban, Hammerschlag A., Hammer­schlag V-, Haudek, Hecht, Herz Albert, Herz Paul, Her­mann, Herschmann, Heß, Hochfinger, Holzknecht, Karplus, Knöpfelmacher, Latzko, Leimdörfer, Lenk, Liedesny, Lipschütz, Löwenstein, Mannaberg, Marburg, Neuburger, Neumann H., Nobel Edm., Nobel Gabor, Oppenheim, Pal, Paschkis, Pauli, Pick, Pick Al., Pineles, Pollak E., Pollak L, Popper, Pordes, Porges, Pribram, Redlich, Rothberger, Sachs, Saxl A., Saxl P., Schacherl, Schilder, Schiff, Schiffmann, Schlesinger, Schlesinger, Schnitzler, Schüler, Schur, Schütz, Schwarz Em., Schwarz G., Schwarz Os., Sgalitzer, Silberstein, Singer, Spiegel, Spitzer, Spitzer, Stein Konr., Stein Rob., Stern Hugo, Stern Rich., Sternberg, Sternberg, Strasser, Strisower, Tandler, Wagner R., Wechsberg, Weinberger, Weiß, Weltmann, Wiesel, Wilhelm, Zappert, Zweig.

Fast 40 Prozent der Lehrkanzeln an den höchsten deut­schen Kulturstätten wurden durch den Geist des fluch­beladenen Liberalismus von einem rassen- und wesens­fremden Volke erobert, das kaum 10 Prozent des boden­ständigen deutschen Volkes erreicht! In letzter Stunde sollen die deutschen geistigen Verwaltungsstellen durch den Geist der Abwehr und Verteidigung dem deutschen Volkstume zurückgewonnen werden! Wir wissen

uns eins mit der deutschen Professorenschaft, deren aka­demisches Oberhaupt

Hofrat Professor Karl Diener

einst mit folgenden Worten an Pflicht und Gewissen aller Verantwortlichen appellierte:

Der Abbau der Ostjuden muß heute im Programm jedes Rektors und Senates einer Deutschen Hochschule einen hervorragenden Platz einnehmen. Der Fort­schreitenden Levantinisierung muß wenigstens an den Hochschulen Einhalt geboten werden. Hier müssen die Rektoren und Senate aller österreichischen Hochschulen eingreifen und dieser Veröstlichung des besten Gutes unseres Volkes einen Riegel vorschieben, damit unsere deutschen hohen Schulen das bleiben, was sie uns bisher waren:

Ein Hort deutschen Geistes, deutscher Wissenschaft und deutschen Wesens.“

Deutsche Akademiker! Wahret das geistige Erbe Eurer deutschen Vorfahren durch die Tat!

In: Ostdt. Rundschau, 13.10.1929, S. 5.

Max Ermers: Monarchische und republikanische Kunstpolitik (1925)

            „Ja, aber was die Kunstpflege und das Kunstverständnis anlangt, da muß wohl auch jeder Republikaner zugeben, daß die Monarchie uns weit voraus war.“ So hört man nicht selten Menschen sprechen, die zwar schon im Herzen vollwertige Republikaner geworden, immer aber noch vom Glanz der höfischen Feste, vom Reichtum der kaiserlichen Sammlungen, von der Pracht der Spanischen Reitschule, von den Galavorstellungen in Oper und Burgtheater, von den reichen Dotierungen durch die kaiserliche Schatulle träumen. Sie sprechen dann vom Mäzenatentum der alten Aristokratie, von den Sammlungen des Fürsten Liechtenstein, von den Galerien Lanckoronski, Czernin, Harrach, Schönborn, von Wleceks Prachtburg Kreuzentein, von der Miniaturensammlung der Bourgoings, von der Albertina und von den mehr oder weniger reichen Sammlungen des Bürgertum, das, wie überall, auch im Aufspeichern von Bildern, Skulpturen, Miniaturen, Waffen, Keramiken mit einem hohen Adel wetteiferte. Gewiß, und das kann niemand leugnen, auch das 19. Jahrhundert und das Zeitalter Kaiser Franz Josefs I., an das die sehnsüchtig zurückblickenden Lobredner zumeist denken, hat seine Kunstgeschichte gehabt, hat seine Talente hervorgebracht. Gewiß, Monarchie und Aristokratie wußten sich ihrer manchmal zu bedienen. Quantitativ vielleicht sogar ausgiebiger, denn irgendwann. Aber die Kunst dieser Zeit, soweit sie in höfische Dienste treten kann, war von jener tiefinnerlichen Funktion, die sie Jahrtausende ausüben durfte, zu einer ganz äußerlichen dekorativen Angelegenheit herabgesunken, gerade gut genug, um der alternden Monarchie und der absterbenden Klasse der Feudalität die Blößen zu decken und den Abstand zum aufsteigenden Bürgertum noch einigermaßen zu wahren.

            In Wirklichkeit aber fehlte den oberen Hundert und Tausend jene Sicherheit des Spürsinns in der Wahl der Künstler, die der Epoche äußeren Glanz verleihen durften, und das unterscheidet sie gründlich von ihren Vorläufern in den vorigen Jahrhunderten. An die Stelle von Versailles und Schönbrunn, die noch voll des echten Glanzes, treten die romantischen Kitschburgen von Neuschwanstein und Laxenburg. An Stelle der Hofmaler Raffael, Holbei, Dürer und Rubens treten die Hof- und Fürstenmaler Anton v. Werner, Winterhalter, Blaas und Angeli, Gerade bei uns in Österreich hat dieser äußere Kunstprunk die größten Verwüstungen angerichtet und es ist interessant, wie sich, auch ohne den Niedergang der Monarchie, d.h., vor ihr und innerhalb ihrer Anhängerschaft, das Urteil über jene Kunstpolitik geändert hat, die noch zu Lebzeiten ihre begeisterten Soldschreiber hatte. Von der Ringstraße, seinerzeit als Glanzstück der franziscojosefinischen Kunstpolitik angesehen, schweigt man gern still. Die Städtebauer wissen, daß sie eine verfehlte Prunk- und Auffahrtstraße war, die Architekten betrachten sie mit Recht als ein kunsthistorisches Raritätenkabinett, in dem sich die vier „Baubarone“, wie jene Zeit bezeichnenderweise Ferstel, Schmidt, Hansen und Hasenauer nennt, griechisch-gotisch-renaissancisch austoben durften. Dabei hat diese Epoche, trotz ungeheurer Geldmittel aus dem Stadterweiterungsfonds, nicht einmal die moralische Kraft gehabt, ihre Projekte auszuführen. Votivplatz, Museumsplatz, Heldenplatz sind als Plätze Torsi geblieben.

An Stelle wirklicher Museen, die die Schätze der Vergangenheit bergen und sichtbar machen konnten, hat man uns Prunkpaläste hingestellt, bei denen die monumentalen Treppenhäuser die Hauptsache waren. Für diese Treppenpracht riß man den Canovaschen Theseus aus dem Tempel, mobilisierte Makart und Munkacsy für Deckenmalereien, die ihnen nicht zur Ehre gereichen. Ob die Museumsräume brauchbar seien, diese Frage stand an dritter Stelle— mit welcher Kon­sequenz. das weiß man. Gerade über dieses Kapitel monarchischer Kunstpolitik sollte man einmal die jüngste Schrift des Grafen Lanckoronski vornehmen, um zu wissen, wie selbst ergebene Anhänger des monarchischen Re­gimes über dessen Kunstpolitik denken. Das Maria- Theresien- Denkmal zwischen den Museen setzte dieser Kunstpflege die Krone auf. Fast noch schlimmer ist dann alles, was im neuen Burgtrakt geleistet wurde, vor dessen Vollendung uns ein glückliches Schicksal bewahrt hat. Aber die Riesensummen des Stadterweiterungsfonds wurden für diesen Riesenkitsch vertan, ohne daß auch nur ein Berufener die Stimme zu erheben gewagt hätte. Den würdigen Schlußstein dieser Bautätigkeit bildete dann das Kriegsministerium. «Nicht anders erging es der Malerei. Von der gestrichenen Pension des Realisten Waldmüller bis. zur von Franz Ferdinand gestrichenen Professur Egger-Lienz („weil nach Anblick solcher Bilder niemand mehr einrücken würde“) führt ein direkter Weg. Nur die Schlachtenmaler hatten ihre gute Zeit.

Und was Franz Josef selbst, dieser ansonsten so liebenswürdige Ausstellungseröffner, von seinen Bilderjagden heimbrachte, war niemals geeignet, die Kunst zu fordern. Unvergeßlich seine entrüstete Abwendung von Segantinis Bild: Zwei Mütter. Der unglück­liche Maler hatte es gewagt, die Kuh, die gekalbt hatte, und die arme Häuslerin als Mütter nebeneinander zu stellen. Und nun gar erst die Bildhauerei.

Von den großen österreichischen Plastikern wurde keiner herangezogen. Von Metzner bis Mestrovic— blieben sie ohne Aufträge. An allen Denkmälern darf sich nur die Mittelmäßigkeit und Untermittelmäßigkeit breit machen. Und das Kunstgewerbe? Einmal kam einer an der Jahrhundertwende, der die Gesundung versuchte. Der Hofrat Scala. Ein Erzherzog hat ihn hinausintrigiert und unser Kunsthandwerk krankt noch heute an seiner Hinausintrigierung.

Nein und nochmals nein. Es war keine Heldenepoche höfischer Kunstpflege, die Habsburgerzeit des 19. Jahrhunderts. Die großen Sammlungen des Adels, Erbgut aus früherer Zeit, blieben für das große Publikum ohne Zugänglichkeit und ohne Bedeutung, das Bürgertum kopierte schlecht und recht die Sammelpolitik der Aristokraten, indem es kaufte und verkaufte, im übrigen aber den leeren Prunkwahn der Monarchie nach­zuahmen suchte. Das Wiener Rathaus und der berühmte Makartsche Festzug sind die ungewollte bürgerliche Parodie der großen Vorbilder. Das große Volk ging leer aus. An keinem einzigen Punkte setzte die Monarchie die breiten Massen mit der lebendigen, taufrisch sprudelnden Kunst ihrer Zeit in lebendigen Kontakt. Diese existierte für den Monarchen nicht, er wußte nichts von ihr, und wenn ja, dann war sie für ihn „Rinnsteinkunst“. Soweit die Kunstpflege oder — wie man eigentlich sagen müßte der Kunstbetrieb und die Kunstausnützung in der Monarchie. Und nun zur Republik.

„Was würden Sie für dis Kunst tun, wenn Sie in Ihrem Lande Minister der schönen Künste wären?“ fragte man einmal Ferruccio Busoni. „Ich würde die Wasserkräfte aus­bauen“ war die lakonische Antwort. Diese Einstellung zum Kunst- und Massenerziehungsproblem ist für eine ganze Reihe von Päda­gogen und Künstlern charakteristisch. Alles, was einer künstlichen Überfütterung des großen Publikums mit billigen Symphoniekonzerten, mit Musteroperettenaufführungen, mit Museumsführungen, Verpflanzung moder­ner Kunstwerke in proletarische Elendswohnungen, kunstgeschichtliche Vorträge und dergleichen ähnlich sieht, erscheint ihnen verfehlt und gefährlich. Die Gesundung des Gesamtzustandes eines Volkes und insbesondre seiner Wirtschaftsverhältnisse erscheint ihnen als der einzig mögliche Weg, um an Stelle eines künstlerischen Firnisses zu einer wahrhaft künstlerischen Durchdringung der Volks­massen zu kommen. Kein Zweifel, der Weg, der gleichzeitig der Weg zur sozialen Republik ist, ist ein guter, und irgend einmal wird er schon zum Ziele führen. Aber wer hat genügend Geduld, ihn zu gehen? Wer genügend Gemütsruhe, die Häßlichkeiten, die teils als Verfalls­erscheinungen des alternden Europa, teils als Amerikanisierungserscheinungen unseres Kontinents täglich auf uns einströmen, zu ertragen? Schließlich: der.Kunstminister kann nicht alleSorge dem Volkswirtschaftsminister über­lassen.

Gewiß: eine große republikanische Kunst­epoche, die das ganze Leben der Gemeinschaft und der einzelnen bis ins tägliche Leben künst­lerisch verklärt, kann nicht mit Rezepten irgend welcher Art verwirklicht werden. Dazu bedarf es jener großen künstlerischen Individualitäten, die wie in einem Brennpunkt das ganze Leid und die ganze Sehnsucht ihrer Zeit in sich konzentrieren und durch die Fülle hinreißender Werke die Gefolgschaft der Nation erzwingen. Ein Zeitalter Phidias oder Michelangelos kann nicht aus dem Boden gestampft werden.

Was aber geschaffen werden kann, das sind die äußeren Vorbedingungen. Solange die Menschen in schmutzigen Städten, in elender Luft und an trüben Flüssen leben, meinte ein­mal Englands großer Kunstreformator, John Ruskin, solange sind alle Bestrebungen, ihr ästhetisches Niveau zu heben, illusorisch. Er hätte noch weitergehen können in seiner prophetischen Verkündigung. Solange die Menschen in ihren sonnenlosen, überfüllten, schlecht gereinigten mit Urvätergerümpel angestopften Wohnungen leben werden, ist jede Kunsterziehung unmöglich. Solange unsere Kinder in den monotonen Zwangsgefäng­nissen unserer Schulräume ihre disziplinier­ten und bewegungslosen Jahre absitzen müssen, Arbeitslosigkeit und Daseinssorge um die Familie ihr Gleichgewicht erschüttert, so­lange sie sich einem ungewissen Alter der Ver­armung entgegenschreiten sehen, solange sind sie für Kunstgenüsse unzugänglich… es sei denn, das Kunstwerk spiegle ihre eigene Not,ihre Probleme, ihre Leiden, ihre Hoffnungen wider… In diesem Falle stürzen sie dann meistens von der Skylla in die Charybdis, erleben statt Kunst und Dichtung politische Karikatur und gereimte Leitartikel. Wie gering der erzieherische Wert der Kunst ganz allgemein veranschlagt wird, in Europa und Amerika, das zeigt sich am besten daran, daß eigentlich kein einziges Land, mit der halben Ausnahme von Rußland, systematische Kunstpolitik treibt, ja an sie kaum denkt. Kunststellen aller Parteien und Kunstwarte der Gebietskörperschaften tauchen zwar allerorten auf, ober von keinem hat man schon ein systematisches Programm erblickt.

Man verhütet das Allerschlimmste und wurschtelt im Traditionellen fort. Alle Städte des alten und des neuen Kontinents wachsen mit rasender Schnelligkeit. Aber hat man davon gehört, daß ihr Wachstum durch irgend welche künstlerischen Prinzipien planvoll nach bestimmten kunsterzieherischen Zielen diri­giert werde? Ohne Übertreibung darf man sagen, daß man das kunsterzieherische Wollen einer Stadt von ihrem Generalregulierungsplan mit seinen Straßenführungen, Platz­gestaltungen, lichten, schmutzlosen Gartenvororten, Grünflächen, Sonnenbädern, Strandbädern, Kindersiedlungen usw. ablesen könne. Aber welche Stadt hat sich schon zu solchem planvollen Zukunftswollen aufgerafft? Wohnreform ist der zweite Pfeiler einer vorbereitenden Kunsterziehung, die heute schon einsetzen kann. Aber welche Stadt, welches Land hat seine Wohnungspolitik auf äußere Schönheit der Architektur, auf innere Schön­heit der Bequemlichkeit, der guten Brauchbarkeit, der Gesundheit, des sinnvollen, erzieheri­schen Mobiliars, der zwangsläufigen Sauberkeit abgestellt? Welche Stadt ergänzt ihre Wohnungspolitik durch schön gebaute, geschmackvolle Erholungsheime und Klubhäuser, die die Kraft-, Zeit- und Geldvergeudung der Wirtsstuben völlig paralysieren? In Letchworth und Welwyn, die aus dem jungfräulichen Ackerboden gestampft wurden, kann man solche Heime finden, aber sonst…? Die sinnvolle Schule ist der dritte Pfeiler der Kunstvorbereitung. Die neue Methode, die die Kinder Hand anlegen läßt an alles, was lern­bar ist, die in Ton und Buntpapier und Pastell arbeiten läßt, ist gewiß ein guter Anfang. Aber so lange nicht die gesamte Jugend durch die gewaltigen Revolutionen der sinnerwecken­ den, aktivierenden Montessori-Schulen und freien Schulgemeinden hindurchgegangen ist, ist sie für künstlerische Erlebnisse nur höchst primitiv vorbereitet. Mit der Jugend muß be­gonnen werden, wenn das Alter schon nicht mehr zu retten ist, diese tiefste Erkenntnis aller Kunsterziehungspolitik müßte an der Spitze jedes Kunsterziehungsprogramms zu lesen sein.

Körperliche Entfaltung— der vierte Grundpfeiler: Hier haben die Franzosen, die Schweizer und Amerikaner schon alles vor­bereitet, was geeignet ist, durch harmonische Entfaltung zu neuer Werteinschätzung des sich fühlenden menschlichen Körpers zu kommen. Unsere Körper sind durch Schulbank, Bureau und Werkstätte verkümmert und nur mehr aus Antikensammlung und Gipsmuseum ersehen wir ahnend entschwundene Möglichkeiten. In der harmonischen Körper­kultur bereitet sich eine neue künstlerische Revolution der Menschheit vor, die der Malerei, der Plastik, dem Drama, dem Tanz und dem öffentlichen Fest unerhörte Entwicklungen sichert. Wir aber drillen noch an tausend Orten die Weisheiten des Turnvaters Jahn. Für Schulreform und Kinderfreunde eröffnen sich hier außerordentlich« Perspek­tiven der Kunsterziehung, denen wir mit unseren wenigen Arbeiterstrand- und Sonnenbädern nur sparsam vorgetastet haben. Soweit die Vorbereitung unserer Sinne, unserer Körper, unserer Seelen, deren wir heute schon fähig sind.

Und vollends muß man sich darüber ins Klare kommen, daß unsere heutigen Scheidun­gen im Kunstschulwesen völlig veraltet sind. Eine Künstlergeneration wächst auf der Aka­demie heran, die dem Kunstleben unserer Ge­neration völlig entfremdet ist, und Rettung ist hier nur durch einen Zusammenschluß der niedrigen und hohen Kunstschulen, des Kunst­gewerbes und der reinen Künste in eine ein­heitliche Erziehungsanstalt möglich. Dem Museumsbetrieb, der gewöhnlich mit Führungen, Umhängungen, Sonderausstellungen ins Zentrum der Kunsterziehung der Republik ge­stellt wird, gebührt lange nicht diese Aufmerksamkeit. Gewiß, was vorhanden ist, soll konserviert und zugänglich sein, auch erweitert werden. Ein Museum für Antiken, für Plasti­ken, für Naturvölkerkunst, für die städtischen Sammlungen und vor allem für die schaffende Gegenwart werden wir auf die Länge der Zeit nicht entbehren wollen. Aber, immer müssen wir uns vor Augen halten, daß Museumsbetrieb Wissenschaft ist und das musealisierte Kunstobjekt sich niemals an Wirksamkeit mit den Werken vergleichen kann, die an lebendigen Orten zeitgemäßen Seins und Erlebens aus­genommen werden. Hier klaffen Welten.

Wie Dichtung und Theater, Musik und Kino helfen können, das Leben der Massen künst­lerisch zu durchdringen, mögen Berufenere sagen. Das meiste, was auf diesem Gebiete unternommen wurde, erscheint als tastender Versuch, der fehlschlug. Republikanische Kunstpolitik großen Stils, die diese gewaltigen Kräfte nicht als bloßen dekorativen Aufputz eines Volkes gelten lassen will, sondern als Mittel der Erhöhung des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens, ja als Mittel, die fehlende innere Gemeinschaft von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk erst zu schaffen, republikanische Kunstpolitik, wird diesen großen soziologischen Funktionen ihren rechten Platz anweisen. Alles, was heute auf diesem Gebiete versucht wird, ist gutgemeinter Dilettantismus und Mißverständnis.

Unsere Sehnsucht aber geht dahin, daß es gerade unserer Stadt mit ihrer alten Kultur und ihrem politischen Fortschritt vergönnt sein möge, auch für das neue Verständnis, das einer republikanischen Kunstpolitik gegenüber überall in Europa wird einsetzen müssen, die Vorbedingungen zu schaffen.

In: Der Tag, 25.12.1925, S. 28-29.

Franz Eichert: Eine neue Revolution für die Literatur (1918)

Daß die Entwicklung des modernen Geisteslebens nicht mehr in ruhiger, gerader, auf- oder absteigender Linie, sondern in fieberhaften Zuckungen und Umschlägen von einem Extrem ins andere, in unberechenbaren Zickzackbewegungen erfolgt, das ist aus der Umsturzbewegung, die sich soeben in unserer deutschen Literatur vollzieht, überaus klar ersichtlich. Bis jetzt haben freilich nur diejenigen, die sich berufsmäßig mit der Literatur befassen, die volle Erkenntnis von der Tragweite der Umwälzung, die sich allerdings laut genug, unter großem Lärm und Geschrei, ganz wie ein Kurssturz auf der Börse und ganz wie dort unter semitischer Führung und Prägung vollzieht. Wenn trotz dieses aufdringlichen Geschreis die Mehrzahl der Nichtliteraten, auch der auf anderen Gebieten geistig schaffenden Oberschicht, vom Umfang und Wesen dieser Umwälzung noch keinen klaren Begriff hat, so ist das leicht zu erklären. Die Literatur ist nämlich längst nicht mehr wie in jenen Zeiten, die nach Goethe allein schaffend und fruchtbar sind, eine Angelegenheit des ganzen Volkes, sondern eines verhältnismäßig sehr kleinen Kreises, der den Ton angibt und durch die Presse die lauttönenden Tagesbefehle ausgibt, die den Massen der Nichteingeweihten ihr literarisches Glaubensbekenntnis vorschreiben. Nur der alleinberechtigten Kritikerkaste ist heute das Recht vorbehalten, sich über literarische Neuerscheinungen ein eigenes Urteil zu bilden – die anderen bekommen das fertige Meinungsragout in der Morgenzeitung vorgesetzt und haben nur die Aufgabe, es dann gelegentlich wieder von sich zu geben und dadurch jene „kompakte“, von einigen wenigen Schlauköpfen geschaffene und regierte literarische Tagesmeinung zu bilden, gegen die anzukämpfen auch das Genie eines Goethe, eines Dante, eines Shakespeare ohnmächtig wäre,  wenn diese Gewaltigen heute lebten und darauf angewiesen wären, ihre Kunst ohne Beihilfe oder gar gegen den Willen der heutigen Macher aller literarischen Berühmtheiten durchzusetzen.

Es ist kein Wunder, daß unter solchen Verhältnissen, wo ein kleiner Kreis literarischer Auguren entscheidet, was die große Mehrheit des Volkes als „einzig wahre“ Kunst hinzunehmen hat, was ihr gefallen, was sie lesen soll, die lebendige Anteilnahme der Nation am literarischen Leben immer mehr verflacht und sich immer mehr und mehr auf die tägliche Massenfütterung mit saft- und kraftloser Unterhaltungsliteratur beschränkt, die keinen anderen Nutzen hat, als daß sie die Zeit totschlagen hilft, dafür aber unberechenbaren Schaden stiftet. So wird es begreiflich, daß auch von der neuesten Revolution, die sich soeben auf dem Gebiete der Literatur vollzieht, die Wenigsten eine richtige, auf eigenes, unbeeinflußtes Urteil gegründete Vorstellung haben.

Daß es keine Übertreibung ist, von einer sich vollziehenden „Revolution“ in der Literatur zu sprechen, ähnlich derjenigen, die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sich vollzog — nur noch einschneidender in ihren Folgen — bestätigt u. a. ein so gewissenhaft und ruhig urteilender Fachgelehrter wie Oskar Walzel. In der Zeitschrift „Deutscher Wille“ (früher „Kunstwart“) fällt er das schwerwiegende Urteil: „Mag die neue Kunst Expressionismus oder wie immer heißen, Tatsache ist, daß sich seit dem Beginn der naturalistischen Bewegung keine gleich entschiedene Umkehr eingestellt hat. Es fragt sich, ob nicht heute ein noch viel größerer Gegensatz von einst und jetzt waltet als um 1830…“ Er mißt dann die Größe dieses Gegensatzes an seiner notwendigen Folge, an der völligen Umwertung der Werte, die sich in unserer Literatur vollzieht und in der gänzlichen Verwerfung und Geringschätzung der literarischen Größen von gestern, namentlich des Hauptvertreters der Eindruckskunst. Gerhart Hauptmann, endlich in der Wiedergeburt fast gänzlich Vergessener, wie in der Entdeckung und Ausrufung ganz neuer Talente ihren naturgemäßen Eindruck findet.

Es ist beinahe unmöglich, in einem räumlich so beschränkten Rahmen, wie hier, den Wesensunterschied zwischen der Kunst von gestern und von heute, zwischen „Impressionismus“ und „Expressionismus“, zwischen Eindruckskunst und Ausdruckskunst — mit diesen Schlagworten wird der Gegensatz für die Wissenden gewöhnlich bezeichnet — allgemein verständlich darzulegen. Um aus dem, was mit ein paar Worten gesagt werden kann, die richtigen Schlüsse zu ziehen und die richtigen Begriff abzuleiten, muß man eben mit dem Gange der literarischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ziemlich vertraut sein; man muß davon nicht bloß das wissen, was die einzelnen „Richtungen“ und Parteien in ihren volltönenden Programmschriften verkündigten, was die Zeitungen gelegentlich über irgend eine literarische Teilerscheinung berichteten, man muß wenigstens eine Ahnung von den inneren Zusammenhängen und tieferen Gründen der Einzelerscheinungen haben, deren Vielheit und Gegensätzlichkeit unser literarisches Leben äußerlich als ein unentwirrbares Chaos erscheinen läßt.

Das Beste wird Wohl sein, sich nicht in spitzfindigen Untersuchungen des Wesens und des Gegensatzes beider Kunstrichtungen zu erschöpfen, sondern lieber die praktischen Forderungen reden zu lassen, die sich daraus ergeben und in ihrer völligen Gegensätzlichkeit am besten den Abstand beider Richtungen kennzeichnen.

Auch solchen, die sich um literarische Streitfragen bisher sehr wenig kümmerten, drängt sich gewiß eine Erinnerung auf: an den ausdauernd auf allen Linien mit größter Erbitterung geführten Kampf gegen die Zweck-, wie man mit einem höhnischen Unterton gewöhnlich sagte: „Tendenzkunst“. Die Lehre, daß die Kunst sich Selbstzweck sei und keinen außer ihr liegenden Zweck, keine „Tendenz“ haben dürfte, das Grunddogma der modernen Ästhetik; und mit einer solchen Sicherheit, mit einem so außergewöhnlichen Aufwande von Stimmitteln wurde diese Lehre als eins selbstverständliche, mit Anrecht auf immerwährende Geltung auftretende Forderung, ja als der Angelpunkt einer geläuterten Kunstlehre hingestellt, daß der suggestiven Wirkung dieses Behauptens auch ein Großteil der katholischen Intelligenz erlag und der Kampf gegen die Tendenz ebenfalls auf seine Fahne schrieb. Man muß freilich zugeben, daß bei der außerordentlichen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit des Wortes über das Wesen und den Begriff der „Tendenz“ zwischen den katholischen und nichtkathoIischen Wortführern in diesem Kampfe erhebliche Unterschiede festzustellen waren — aber es war doch unzweifelhaft ein Eindringen von ursprünglich fremden, auf einem ganz anderen Boden erwachsenen Ideen in den Bereich des katholischen Geisteslebens. Gewiß, auch die katholische Kunstlehre kennt den Begriff einer wirklich kunstfeindlichen, unter allen Umständen zu bekämpfenden Tendenz; aber die Ursache der aus diesen Kämpfen sich ergebenden Schwierigkeiten und Mißverständnisse dürfte darin zu suchen sein, daß einerseits die katholischen Wortführer nicht immer ganz unmißverständlich den Begriff der tatsächlich kunstfeindlichen, deshalb zu bekämpfenden Tendenz klarlegten, während anderseits, auf nichtkatholischer Seite, der Kampf gegen die Tendenz in seiner tatsächlichen praktischen Auswirkung immer ausschließlicher zu einem Kampfe gegen die gesunde, ethisch und religiös aufbauende, also gegen die positivchristliche und namentlich die katholische Literatur sich auswuchs. Tatsache ist es, daß auch während der Zeit des größten Tendenzgeschreis auf der anderen Seite eine ausgesprochene antichristliche, antikatholische Tendenzliteratur nicht nur blühte, sondern auch von den größten Schreiern gegen die Tendenz gehegt und gepflegt wurde und daß es niemandem einfiel, ihren Vertretern den durch laute Reklame billig erworbenen Künstlerruhm zu schmälern oder streitig zu machen.

Die neue, im Werden begriffene Kunst, der „Expressionismus“, hat nun mit dem Glauben an das allein seligmachende Dogma, daß ein Kunstwerk keinen andern als den in sich selbst ruhenden Zweck verfolgen dürfe, gründlich aufgeräumt. Einer der Wortführer der neuen Richtung, Hans Natonek, erklärt klipp und klar in der Frankfurter Zeitung:

 „In der Literatur und Kunst äußert sich die neue Zeitströmung in der Überwindung jener Anschauung, die das Kunstwerk als Selbstzweck wertet. Kunst ist mehr als ein Spiel ästhetischer Gesetze, mehr als ein schönes, unterhaltendes Kaleidoskop der Formen. Auch die Kunst soll etwas wollen. Die Nachahmung der Wirklichkeit (Naturalismus) und die psychologisch feine Wiedergabe von Eindrücken (Impressionismus) blieben ohne gestaltende Wirkung auf das Leben. Die Kunst unserer Zeit hat, wie nie zuvor, ethische Ziele. Der Schaffende, ein paradiesisches Menschheitsglück vor Augen, leidet unendlich an der Verirrung der Welt; er weiß tiefinnerst um das Übel; aus diesem Wissen bricht ohne Hemmung der Schrei der Seele. Dies etwa ist ungefähr das Wesen des vielgenannten Expressionismus.“

Und diese jungen Dichter — das muß man ihnen lassen — packen mit anerkennenswertem Mute den Stier gleich bei den Hörnern an — sie stürzen sich über Hals und Kopf in den Strom der Tagespolitik, wo er am wildesten tobt — sie wollen die Welt „durch den Geist“ umgestalten und zu diesem Zwecke bedienen sie sich, wie Theodor Seidenfaden im Gral ausführt, der Dichtkunst, „um politisch zu wirken, um den Menschen zur Tat fortzureißen, ihn gegen sich selbst aufzuwiegeln“.

Ja, man geht so weit zu behaupten: Die Tendenz, die Durchdringung des Kunstwertes mit entschiedenstem Zweckbewußtsein, seine gewollte Einstellung auf ethische, religiöse, politische Wirkung ist nicht nur erlaubt, sie ist sogar notwendig und die Kunst, die davon absieht, ist keine wahre Kunst, ist überhaupt keine Kunst, sondern leere Spielerei ohne Lebenszweck und ohne wirklichen Wert.

Um diese völlige Umkehr der bislang als unantastbar geltenden Kunstbegriffe zu verstehen, muß man wissen, daß die neue Kunst von ihren Aposteln und Jüngern als der schroffste Gegensatz zu der bisher alleinherrschenden Kunst des Materialismus, der nur durch die Sinne wirkenden Eindruckskunst, aufgefaßt wird. Also eine Kunst des „Psychismus“. — „Die Kunst schreit nach dem Geiste“, sagt einer ihrer Vertreter, das ist der Expressionismus.“ Und weiter: „Der Expressionismus will (im Gegensatz zum Impressionismus) nicht mehr das vorüberhuschend Sinnliche, sondern das Ewige, das Wahre, das Geistige erfassen.“ Also keine bloße Formkunst, sondern Inhaltskunst; keine müde, versonnene, blasierte Ästhetenkunst, sondern tatkräftige, „aktivistische“, stark ins Leben eingreifende Kunst der Starken, der Wirkenden: der Ethiker, Politiker und Religionsstifter. Nicht Kunst der Dekadenz, sondern — wenigstens dem Wollen nach — Kunst des Aufstieges, der Erhebung.

 Da werden nun manche Leser sagen: das klingt ja ganz schön, ganz ähnliche Worte und Anschauungen haben wir ja des öfteren von katholischer Seite gehört, namentlich von jenen, die sich mit dem materialistischen, dekadenten, hauptsächlich sinnlichen Genuß suchenden und fördernden Zuge im Kunstleben der letzten Jahrzehnte nie so recht befreunden wollte. Das ist unzweifelhaft richtig. Namentlich Kralik und feine Freunde haben immer mit größter Entschiedenheit behauptet, daß die Kunst etwas zu wollen habe, daß sie nicht bloß ästhetisches Gefallen, sondern darüber hinaus ethische, religiöse, bis zu einem gewissen Grade auch politische Ziele anzustreben habe; daß wahre Kunst nicht bloße Formspielerei, sondern Inhaltskunst sein müsse, daß sie nicht bloß der Erde, dem Diesseits, sondern ewigen Ideen, letzten Endes der Verherrlichung Gottes und der göttlichen Weltordnung zu dienen habe, also nicht im Materialismus versinken, sondern Innen-, Seelen-, Ewigkeitskunst sein müsse.

Nun stehen wir aber am entscheidenden Wendepunkt. Der Geist, nach dem die neue Kunst schreit, von dem sie sich erfüllen lassen, dem sie dienen, den sie in ihren Schöpfungen Ausdruck verleihen will — es ist nicht der Geist Gottes, der ordnend und gestaltend über dem Chaos schwebt, sondern der Geist seines Widersachers, der Geist, der stets verneint.

Davon spreche ich in einem später folgenden Aufsatze.

In: Reichspost, 7.8.1918, S. 1-2.

Alfred Markowitz: Eroberung der Kunst (1928)

             Die Ansicht ist weit verbreitet, daß ein echtes Werk der bildenden Kunst nur ein solches sei, das auf alle gleichmäßig dieselbe starke Wirkung ausübe. Wenn diese Ansicht aus dem sozialen Gefühl stammt, das instinktiv verwirft, was anscheinend nur für wenige Auserwählte berechnet ist, so macht sie ihren Verfechtern alle Ehre. Wenn sich aber hinter ihr das Unvermögen verbirgt, ein über das Triviale hinaus reichendes Kunstwerk zu erfassen, so wird sie geradezu gefährlich, weil sie geeignet ist, die Allgemeinheit davon abzuhalten, sich die Kunst zu erobern, die ja tatsächlich nicht nur für wenige Auserwählte geschaffen wird, aber sich nicht ohne weiteres hingibt.

             Einen Schein von Berechtigung hat jene Ansicht allerdings. Es hat nämlich wirklich Zeiten gegeben, da die Kunst Gemeingut aller war. Das waren aber immer Zeiten, in denen sie sich auf die Darstellung eines verhältnismäßig kleinen Kreises bestimmter, allen gleich wertvoller, zumeist religiöser Gegenstände beschränkt hat; in dem Maße, als diese Gegenstände einem weiteren Kreis der mannigfachsten Gegenstände wichen, hörte die Kunst auf, Gemeingut aller zu sein. Daraus ist zu schließen, daß es in jenen Zeiten nicht so sehr die Kunst als solche, die Art ihrer Darstellungen, als vielmehr deren Gegenstand es war, der sie mit der Allgemeinheit verbunden hat. Freilich hat man immer gewisse Unterschiede gemacht zwischen den einzelnen Darstellungen desselben Gegenstandes; es mag wirkliches Gefühl für Kunstwerte gewesen sein, das manchen Darstellungen den Vorzug vor anderen gegeben hat. Aber dieses Gefühl reichte nicht hin, sich später über den Stoff zu erheben und sich Darstellungen jeglichen Inhalts zuwenden zu können.

             Vielleicht wird mancher hier denken, daß dies nicht zu bedauern sei, weil es eben gar nicht Aufgabe der bildenden Kunst sei, Gegenstände jeglicher Art, sondern nur solche darzustellen, die die Anschauung des Volkes verkörpern. Abgesehen davon, daß jeder Gegenstand, also auch einer, der die Ansichten des Volkes verkörpert, umso stärker wirkt, je mehr an Gefühl für seine künstlerische Gestaltung ihm entgegengebracht wird, ist dieser Gedanke schon aus dem Grund abzuweisen, weil sich die Kunst heute nicht mehr in die verhältnismäßig engen Grenzen einer Auffassung zwängen läßt. Die religiöse Weltanschauung von dereinst wurde gesprengt, weil die vielen, dem aufblühenden Geistesleben entspringenden neuen weltanschaulichen Ideen nicht mehr Platz in ihr fanden. Gewiß darf der Sozialist hoffen, daß der Sieg des Sozialismus an Stelle der längst verblühten religiösen Weltanschauung eine alle ergreifende, auch im Stofflichen sozialistische Kunst setzen wird. Allein die sozialistische Weltanschauung als die reife Frucht jener geistigen Bewegung // muß Platz gewähren allen wertvollen Ideen, die ihr zufließen aus der steigenden Erkenntnis der Natur und des Geisteslebens. Sie kann sich ihnen nicht verschließen, wie es die religiöse getan hat.

             Kunst ist Verkörperung von Weltanschauungen. Aber es ist auch Ausdruck einer Weltanschauung, wenn sie uns lebendes und totes Sein aller Art der gefühlsmäßigen Erkenntnis erschließt. Damit erfüllt sie eine Mission, die ihr erst recht im Rahmen des Sozialismus zukommt. Und darum kann sich unsere Kunst nicht mit der Darstellung jener Gegenstände bescheiden, die nur der politischen sozialistischen Gedankenwelt Ausdruck verleihen. Sie darf das auch nicht, weil glücklicherweise das Volk selbst nach immer größerer Bereicherung seiner Weltanschauung strebt.

             Eine Kunst, die nicht von vornherein durch ihren Gegenstand anzieht, sondern umgekehrt, mit ihren Ausdrucksmitteln erst zum Gegenstand führt, indem sie sein Wesen offenbart, ist nicht geeignet, ohne weiteres auf jedermann dieselbe Wirkung auszuüben. Das seelische Organ für die Aufnahme künstlerischer Ausdrucksformen bringt so gut wie jeder mit auf die Welt. Aber es funktioniert nur unzulänglich, wenn es nicht durch Übung geschult, ausgebildet und verfeinert wird. Die Kunst kann nicht mehr zurückkehren zu einem eng begrenzten, jedem von vornherein nahestehenden Stoffkreis. Soll sie wieder Gemeingut aller werden, so kann das daher nur geschehen durch eine Stärkung des Gefühles für die künstlerische Form, in der Gegenstände welcher Art immer dargestellt werden. Wie früher der Gegenstand zur Kunst, so muß nun die Kunst zum Gegenstand führen. Die Bereicherung der Weltanschauung  – das Wort in seiner buchstäblichen Bedeutung genommen – wird der Gewinn sein.

             Kunst wendet sich nicht an wenige Auserwählte. Jeder kann sie erobern, wenn er guten Willens ist. Es gehört nicht einmal allzuviel dazu. Jeder hat heute die Gelegenheit dazu. Auch die Sozialdemokratische Kunststelle bietet sie reichlich in ihren Ausstellungen »Kunst ins Volk«. Die Führung, die sie in diesen Ausstellungen veranstaltet, können die Selbstaneignung der Kunst nicht ersetzen, aber sie sind geeignet, Vorurteile zu zerstreuen und die Wege ins Reich der Kunst zu weisen.

In: Kunst und Volk, H. 2 (Okt.) 1928, S. 12-13.

Robert Müller: Die Geistrasse (1918)

             Der Kritiker des Aktivismus muß entweder selbst Aktivist sein oder er muß, um den Inhalt der Sammelflugschrift der Aktivisten zu erschöpfen, sich auf eine lange und geduldige Begleitung vorbereiten und mit seinem Urteil zuwarten („Tätiger Geist! Zweites der Zieljahrbücher“, herausgegeben von Kurt Hiller, Neuer Geist Verlag Leipzig) In einer Vision von Menschheit entrollt sich die nächste geschichtliche Aufwärtsbewegung der Gesellschaft. Der Aktivismus ist eine Emotion seelischer Grundtatsachen wie Gotik oder die Aufklärung. Er zentriert das Leben neu, und zwar nicht ohne seine Wirkungen unkontrolliert zu lassen wie der Dichter, von dem er abstammt, sondern mit einer entschieden undichterlichen Absicht, an Ort und Stelle zu wirken. Das Kunstwerk der Umwelt, die Formgewalt über das soziale Chaos, das sich hinter einem Schein des bürgerlichen Mechanismus zerspielt, sind die an ihm dem dichterischen Menschen entsprechenden Komplexe.

             Woraus entsprang der Aktivismus? Aus der Not der Geistigen an der Zeit. Sie fühlten sich so schlecht regiert wie nie. Da suchen sie selbst sich des Apparats zu bemächtigen. Nichts gefruchtet hat bis heute das Hungern und Hangen der Dichter. Bevor das Buch geschrieben würde, das, gelesen, die Welt ändern und Menschensinn bekehren soll, soll eine Welt entstehen durch das manifestierende Buch, in der Dichterbücher überhaupt richtig gelesen, Zwiesprache zwischen Denker und Denkendem gepflogen wird.

             Der Aktivist opfert sich für den Dichter auf, im besonderen für den Expressionisten. Er ist das fliegende Korps des Expressionismus. Die neuen Bücher werden kaum gelesen, nur besprochen, zuwenigsts nicht richtig gelesen; die neuen Bilder werden falsch gesehen. Um eine Welt zu ermöglichen, in der die Treuherzigkeit des Expressionisten ohne Gefahr für seine Person und sein Werk unbestochen bleiben kann, verzichtet der Aktivist auf das eigene Kunstwerk. Von seiner Resignation genährt, er gießt er sein Temperament in die sichtbarsten und unmittelbaren Formen aktuellen Daseins.

             Die Kunst stellt Tugenden fest. Sie gibt immer, wo sie mehr als Ergötzung, Entwicklungswinke. So stellt auch der Expressionismus Welt Formen dar, die erst nach Zersetzung, Liquidation, Elementararisierung der jetzigen möglich werden (Abbau der Sozialwelt) … der Expressionismus verbraucht zum ersten Male Voraussetzungen, die sich nicht als Änderungen innerhalb dieser bestehenden Weltform durchsetzen können. Er zeigt ein von den tektonischen Begriffen gelöstes Dasein. Politik des Geistes oder Aktivismus nun ist es, Die Welt bessernd so vorzubereiten, daß jene „Weltauflösung-Welt Synthese“, das heißt die Kulturdämmerung alles Heutigen eintreten kann. Die sympathetische Welt kann entstehen, sobald die gegenwärtige mechanische Ordnung, auf ihre Spitze getrieben, wieder unter das Bewußtsein sinkt uind Memnotechnikum wird. Der Expressionismus als die umfassende Erregung, die er ist, und er ist mehr als Bewegung… ist Drittes nach Gotik und Aufklärung…löst die Aufgabe, wie der analytische Typ, zu dem wir wurden, wieder lebens- und darstellungsfähig werden kann. Seine letzte Schlüssigkeit ist der Aktivist.  

Der  expressionistische Schriftsteller „behandelt“ keine Probleme, er hat keine „Psychologie“, keine soziale Formen usw. Er gewahrt alles nur im größten Verhältnis des Kosmos; er kennt die Welt als Welten. Ein Dasein auf dieser geistigen Stufe, wo alles nur Verhältnis sein würde, ist möglich. Aber es ist nicht früher möglich, bevor nicht diese bürgerliche, mechanistische Welt restlos erfüllt ist. Gerade der Expressionist mag vor solchem Mechanon zurückschrecken: der Aktivist wird ihn vor den Folgen feigen Grauens retten.     

             Der Aktivist ist eine Abspaltung des Expressionismus: seine rechte Hand. Er sucht zu vereinfachen, sucht die Politik mit den natürlichen Mitteln des künstlerischen Schaffens auf die Höhe der höchsten schöpferischen Werke zu heben. Der landläufige Berufspolitiker wirft ihm vor, daß er den politischen Apparat durch Forderungen verwickle, die aus der Literatur bezogen sind. Aber er fordert nichts anderes, als daß Politik zumindest ebenso reinlich aus dem Menschen quelle wie Kunst. Er verlangt, unsere Politik sei simpel und klar. Wichtiger ist der Argwohn und Vorwurf seines expressionistischen Bruders, daß er sich dabei versimpele. Der Aktivist antwortet mit Recht zurück, was anderes denn der Expressionismus sei, als die ausgreifendste bisher mögliche Vereinfachung, wenn nicht die Philister über ihn Recht behalten sollen, die ihn konfus und kompliziert schelten. Der Hebel ist zwar später und hirnlicher als der Kraftumweg vor dem Hebel und mag Troglodyten als beängstigend komplizierte Zumutung auf Dauer erschienen sein. Aber niemand leugnet, daß durch diesen Rechenakt eine Vereinfachung eingeführt ist. Jedes Kunstwerk ist ein solcher Hebel, Energieersparnis durch schöpferischen Kraftauswand an der Wurzel, in der Seele. Der Aktivist ist überall für den Hebel. Der Verwahrung einlegende Dichter steht zum Aktivisten im Verhältnis des Philisters zum Dichter.

             Der Aktivist verkündet die Religion des Bewußtseins. Er ist Rationalist. Unterscheide aber genau zwischen der Ratio des Erkenntnisphilosophischen und der Ratio des Willensphilosophischen. Der Rationalist hält es natürlich erkenntnishaft gar nicht mit der Schulweisheit Horatios, sondern mit dem visionären Hamlet. Was ich erkenne, kann Wissenschaft nicht restlos herbeischaffen. Überwelten sind mit dem System von Hierweltorganen unfaßlich. Im zu Wollenden aber den Hang, vor der Tat die roheste Tatnotdurft walten zu lassen, ist Alchymie, leeres Goldsuchen, kurz, eine Sauerei. Bescheiden im Bewerten seiner Kenntnis und Erkenntnis, souverän und alles zwingend im Augenblick formschaffenden Wollens sie die schöne Klarheit des sich verantwortlichen geistigen Menschen.

             Bewußtseinstatsachen mögen Weltausschnitt der Welt sein: so ist die Tatsache des Bewußtseins niemals mehr zu schänden, abzuschwächen, zu diskreditieren.

             Es kündet sich ein Prozeß an, der in einer Arche gleichsam die Überlebenden des Bewußtseins rettet und zu einer neuen Geistrasse verdichtet. Wie die Amerikanisierung, ist einfach ein Prozeß der Vergeistigung auf dem Erdstern möglich, der von dieser Rasse aus der Arche ausgehen soll. Der Aktivist ist es, der diesen Prozeß vorbewußt ahnt und bewußt anspornt. Er müht sich um die Aufforstung des Menschen. Nur zu diesem Zweck schreibt der Aktivist.

             Der Aktivist will: 1. Gut schreiben – Er schreibt ausgezeichnet. 2. Gutes schreiben. Er schreibt Dinge, die ebenso genießbar, erbaulich als herzensfreundlich gemeint sind. Er will das Gute schreiben. – Erst von hier an entsteht in ihm der Widerspruch des Bürgers und dessen Korrelats, des Dichters. Aber der Aktivist will Aktivismus nur so lange schreiben, als es notwendig ist, die Menschen zu erziehen, bis sie Aktivisten sind. Aktivisten untereinander gibt es nicht. Dichter untereinander gibt es. Aktivisten gibt es nur nach außen hin; untereinander sind es Dichter.

             Die aktivistische Literatur ist vor allem eine Lektüre für Politiker und Dichter: also für alle. Denn jeder reine, sittliche, in den Anlagen unverdorbene Mensch ist ebenso Politiker wie Dichter, jeder. Das kleinste Publikum des Aktivisten, der in deutscher Sprache schreibt, ist das deutsche Volk. Aber in Deutschland war Politik bisher die Angelegenheit einer Kaste, einer Herrenrasse. Seit dreißig Jahren sind Deutsche assimilierte Preußen. Es ist ein Kriegsgewinnertypus. Er hat alles im Kriege, auch den Krieg selbst zu gewinnen. Er verliert alles außerhalb seiner. Daß Kampf für die Idee sittlich ist, leugnet nur – der Militär. Diesem ist nur der Gehorsam sittlich. Die Idee ist revolutionär, also unsittlich. Es gibt in Deutschland keinen Zusammenschluß, dessen Programm gegen die herrschenden berüchtigten Zustände so ganz auf integrer Vernunft und allem Gesunden zugänglicher Selbstverständlichkeit ruht wie der Aktivismus. Der Aktivist ist der stärkste Anwärter auf eine erledigte Politikstelle in Deutschland. Seine lose Gruppe ist der inneren Spannung nach die mächtigste Partei eines künftigen Reiches. Die Sozialdemokratie war ihr schwacher Vorabklatsch. Nur die Fabians in England können mit ihm verglichen werden. Die Gruppe ist Reservoir für die politischen Typen der allernächsten Zeit. Die Menschheitstribunen des zweiten Jahrtausends gehen aus ihr hervor. Wir treten in den absoluten Erdkulturkreis der Geschichte ein. Nein, „Weltgeschichte“ war Vorarbeit.

             Die praktischen Forderungen des Aktivismus lesen sich gar nicht deutsch. Sie klingen in ihrem Pathos romanisch. Das ist gut so. An die Stelle des Systemdeutschen wird, wie in aller Kulturwelt, wieder der Mensch der Schwungkraft treten, vermehrt um die deutsche Ratio, Impulsen den strenuosen Akt im Aufstellen von Systemen folgen lassen: um gleich darauf sie zu verwischen, wie man Hilfslinien auswischt. Vergessen, wie man schreiben und wie man Klavier gelernt hat, aber vorher üben und Etüden spielen, bis die Gelenke knacken. Es ist aktivistisch, ein Meister des Menschlichen zu sein, aus dem großen Ungefähr zu schaffen, aber sein Menschheitshandwerk durch und durch zu kennen. An die Stelle der Vorherrschaft einer Herrenrasse soll die umfassende Meisterrasse treten. Die Bestellung der Menschheit erfolge großzügig und nach modernen Betrieben.

             Aktivismus ist Gesetzgebung aus der Seele. Die deutsche Mystik, die deutsche Tüchtigkeit, der deutsche Schneid, die deutsche Musizität können hinfürder keinen Einzelanspruch auf Ethos haben; aber alle diese Tugenden haben in der neuen ihren Platz schon gefunden. Der Aktivismus, zum Schlusse, will eine Universalrasse begründen; sein Elan ist romanisch; das Endergebnis, die Rasse, wird deutsch im guten Sinn aussehen. Immer entsteht Deutsches aus allem anderen; nicht umgekehrt, durch Aufprägung, wie heute der annexionistische Philister in Deutschland meint. Der Aktivismus will, daß die Deutschen wieder deutsch würden. Die Weltrasse ist eine nationale Angelegenheit der Deutschen. Erst in ihr kann Deutschtum sich erfüllen, wenn es sich freilich, wie es heute ist, aufgegeben hat.

In: Daimon, H. 4 (August) 1918, S. 210-213[1]


[1] Anmerkung des Herausgebers (Originalfassung): Hier sei vorläufig festgestellt, daß die folgenden Ausführungen sich nicht mit dem Urteil des „Daimon“ decken. Unter dem Titel „Die Dialektik der Selbstverantwortung“ (An die Bekenner literarischer Religion und die Prediger tätigen Geistes) wird im Oktoberheft zum Aktivisten-Jahrbuch Stellung genommen werden. 

Hermann Bahr: Tagebuch: Dada-Almanach (1920)

             7. Oktober. „Dada-Almanach“, im Auftrag des Zentralamtes der deutschen Dada-Bewegung, herausgegeben von Richard Huelsenbeck (Erich Reiß Verlag Berlin). Darob so großes Entsetzen aller Seriösen, daß sogar dem Verleger selber bange wird und er eilends gelobt, es nicht wieder zu tun und bei diesem einen Anfall von Dadaismus bewenden zu lassen. Warum der Lärm? Ich sehe nicht, weshalb der Dadaismus schlechter sein und weniger Rechte haben soll als irgendein anderer unserer zahllosen Ismen. Er ist nur konsequenter und hat den Mut, bis ans Ende zu gehen, ans Ende der autonomen Vernunft! Wenn Huelsenbeck in seiner Einleitung zu diesem Almanach Dada „die große Parallelerscheinung zu den relativistischen Philosophen dieser Zeit“ nennt und erklärt, Dada sei „kein Axiom, sondern ein Geisteszustand“, Dada sei „der direkteste und lebendigste Ausdruck seiner Zeit“, so spricht er damit ohne jede Renommage ganz einfach die Wahrheit aus. Mir ist ja verwehrt, Dadaist zu werden, weil ich, mich von dieser Zeit abwendend, ein Finsterling geworden bin, weil ich glaube. Wer aber nicht an ein ewiges, übermenschliches, übernatürliches Reich des Wahren, Guten, Schönen glaubt, wer nicht an den lebendigen Gott glaubt, sondern höchstens allenfalls an einen aus menschlicher Vernunft geschnitzten, wer nicht an Vater, Schöpfer Himmels und der Erde glaubt, sondern Himmel und Erde vom Menschengeist erschaffen sein läßt, der ist absurd, wenn er die Notwendigkeit, Dadaist zu werden, verkennt; denn der Dadaist erst hat das Jenseits von Gut und Böse völlig erreicht. „Dada“, fährt Huelsenbeck in seinen Proklamationen fort, „läßt sich nicht durch ein System rechtfertigen, das mit einem „Du sollst“ an die Menschen heranträte. Dada ruht in sich und handelt aus sich, so wie die Sonne handelt, wenn sie am Himmel aufsteigt, oder wie wenn ein Baum wächst. Der Baum wächst, ohne wachsen zu wollen. Dada schiebt seinen Handlungen keine Motive unter, die ein Ziel verfolgen… Dada hat das Reich der Erfindungen entdeckt, von dem Friedrich Nietzsche spricht, er hat sich zum Parodisten der Weltgeschichte und zum Hanswurst gemacht.

Das ist ja wirklich das einzige, was dem Menschen übrig bleibt, sobald er sich von allem Sollen frei, sobald er seine Vernunft souverän erkärt. „Der Dadaist“, sagt Huelsenbeck, „ist der freieste Mensch der Erde. Ideologe ist der Mensch, der auf den Schwindel hereinfällt, den ihm sein eigener Intellekt vormacht, eine Idee, also das Symbol einer augenblicksapperzipierten Wirklichkeit habe absolute Realität.“ Durch den Dadaisten ist also zum erstenmal das finstere Mittelalter wirklich überwunden, die Gegensätze stehen einander nun rein gegenüber, Aug in Aug und jedermann kann wählen, ob er Finsterling oder Dadaist sein will; die feigen Kompromisse sind unmöglich geworden. Wer A sagt, muß auch B sagen: wer autonome Vernunft sagt, muß auch Dada sagen. Die Finsternis des Mittelalters bestand ja nämlich darin, daß es die Vernunft nicht herrschen ließ, sondern dienen, der Wahrheit dienen. Indem sich die Vernunft allmählich diesem Dienst entzog, um einem Knecht der Wahrheit ihr Herr zu werden, anerkennend, sondern fortan nach eigener Willkür dekretierend, was wahr, was schön, was gut sein soll, war es schon eigentlich nur noch ein Atavismus, überhaupt noch eine für alle gültige, für alle verbindliche Wahrheit anzunehmen und bald schaffte sich auch jedermann seine private zum eigenen Hausgebrauch selber an. Aber auch darin blieb noch ein atavistischer Rest: es gibt nämlich durchaus keinen Grund, warum diese von mir nur für mich allen zum eigenen Gebrauch angelegte Wahrheit deshalb nun irgendwie mich selber binden soll: ich kann sie doch jeden Augenblick mit einer neuen nach Belieben vertauschen, was auch viel amüsanter ist. Wenn Weltanschauung nicht Anschauung einer von mir unabhängigen Welt, nicht der Reflex eines Objekts in meinem Subjekt, nicht meine Relation zum Absoluten ist, wenn ungewiß ist, ob es eine solche Welt an sich ohne mich überhaupt gibt, wenn die Welt nur ein Geschöpf meines Intellekts ist, warum soll mein schöpferischer Intellekt sich dann mit einem einzigen Schöpfungsakt begnügen? Warum so faul? Warum nur einmal schaffen? Wenn sie bloß von meinem Intellekt ausgeschwitzt wird, warum dann nur ein einziges Exsudat? Und Dada tut aber auch noch den letzten großen Schritt, indem es den Intellekt zur Selbstbesinnung bringt: der Intellekt fällt jetzt auf den Schwindel, den er sich vormacht, selber nicht mehr herein! Damit ist die höchste Leistung der souveränen Vernunft erreicht, das Ende. Die Denkmöglichkeiten sind erschöpft, aller Dunst ist weggeblasen, ganz rein liegen die beiden Pole bloß: Plato und Dada stehen einander gegenüber und jedermann mag wählen. Der Selbstbetrug, gottlos und zugleich aber auch, als ob vielleicht doch Gott oder etwas Gottähnliches wäre, zu leben, ist unmöglich geworden. Und den braven Leuten, die sich vor dem Dadaismus entsetzt bekreuzigen, bliebe nichts anderes übrig, als damit wirklich Ernst, wirklich das Kreuz zu machen. Vernunft, vom Kreuz befreit, landet bei Dada…

In: Neues Wiener Journal, 31. 10. 1920, S. 6.

Hugo Huppert: Der Sprechchor und die proletarische Kunst (1925)

             Die proletarische Kunst ist ein Ausdruck des proletarischen Kampfes. Aber mehr noch, sie ist ein Mittel, die steht im Dienste dieses Kampfes selbst. Daraus leuchtet ein, daß sie nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre Form und Gehalt dem Charakter des proletarischen Klassenkampfes entlehnt. Was ist nun das Kennzeichen dieses Kampfes, was unterscheidet seine allgemeine Taktik von der Kampfesweisen anderer Klassen und Gruppen? Die einmütige Bewegung der selbsttätigen Masse. Nicht ein Held, Erlöser, Drachentöter, Befreier, „kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“ wird den Kampf der Werktätigen um die Herrschaft und später um die klassenlose Gesellschaft entscheiden, sondern die Klasse selbst als kollektive Kampfformation, organisiert und geführt von der Partei der Revolution. So muß die proletarische Kunst zunächst schon der Struktur (dem Aufbau) der Klasse selbst entsprechen, der Klasse, wie sie lebt, arbeitet und kämpft.

             Wenn wir die Architektur (Baukunst) betrachten, die in ihrer praktischen Verbundenheit mit dem Wohnbedürfnis der Gesellschaftsklassen die Zusammenhänge zwischen dem wirtschaftlichen Unterbau und dem künstlerischen Ausdrucksleben einer Gesellschaftsordnung deutlicher als andere Kunstgattungen aufzeigt, so sehen wir folgendes: Im Wohnparadies der Großbourgeoisie, etwa im Cottageviertel von Währing, stehen ältere und neuere Villen und Einfamilienhäuser neben kleinen Palästen und schloßartigen Gartenhäuchen in ungleichen Abständen mit allerlei Gartenschmuck, wobei aber das Auffallendste die durchgängige Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit dieser Gebäude ist, von denen nicht zwei einander ähnlich sein wollen und im Wettbewerb um Eigenart, Besonderheit und „Apartheit“ zu den geschmacklosesten Mitteln greifen. In diesen Bauformen drückt sich der Persönlichkeitskult und der Individualismus des in der freien Konkurrenz der Einzelnen erzogenen bürgerlichen Denkens und Fühlens aus. Dieses plan- und regellose Durcheinander von Ungleichartigem, oft Widerspruchsvollem ist eben das baukünstlerische Abbild der Anarchie der Produktion, wie sie die kapitalistische Wirtschaft beherrscht. Vergleichen wir damit die ungeheuer gleichförmigen, geradlinig ausgerichteten Mauerblöcke der Vorstädte, diese hausgewordenen Raumquader, in welchen das Proletariat wohnt, so erkennen wir darin den kollektiven Zug und das Massenmaß, welches den Aufbau der Arbeiterklasse, ihre Kampfesweise und damit auch die proletarische Kunst kennzeichnet. Nicht um der Schönheit willen ist die Kunst geschaffen, sondern sie wächst aus der sozialen Not wie die Zinskasernen. Und so wandelt sich „Stil“, Geschmack und Schönheitsbegriff mit dem Wechsel der Gesellschaftsform, welche großen ökonomischen Gesetzen folgt.

             Ebenso wie die Riesenquader, Wolkenkratzer und Bienenhäuser dem sozialen Massenwohnen der Arbeiterklasse entsprechen, so entspricht der Epoche des revolutionären Massenaufzugs, der Straßendemonstration und des Straßenkampfes als sprachliches Ausdrucksmittel der Sprechchor. Die kollektiven Losungen der Partei des Proletariats sind der dem Sprechchor angeborene Stoff. Wie ist diese Kunstgattung entstanden? Wer am 25. März nach der Rote-Hilfe-Versammlung im Demonstrationszug über die Mariahilferstraße mitmarschiert ist und die Parolen des Tages im Marschtakt mitgerufen hat, der kennt durch eigene Erfahrung die Geburt des Sprechchors aus dem Kampf. Und als der erste Polizeikordon durchbrochen war, wie rasch und feurig kam im Rhythmus des anschwellenden Sprechchors wieder Ordnung und Geschlossenheit in den Zug! Wo die Starrheit des Marschliedes der vorwärtsstürmenden Bewegung inhaltlich nicht nachkommt, da ergreift der anpassungsfähigere Sprechchor die neue Parole. Und das der Parole entsteht das revolutionäre Gedicht.

             Eine Masse, in der jeder Einzelne sein Wort und seine Stimme hören will, kann nicht sprechen, sondern nur rauschen wie ein totes Element. Der brausende Wind und das rauschende Meer kann beherrscht werden. Aber eine sprechende, weil wollende Masse kann kein Herr beherrschen. Sprechen kann aber nur ein Chor, eine organisierte Masse. Und hier zeigt sich wieder die Einheit von Kunstform und Kampfesform des Proletariats. Der Sprechchor ist das ausdrucksvollste Musikinstrument der zum Kampf organisierten Masse.

             Wer sehen will, wie die kleinbürgerliche Verknöcherung der Sozialdemokratie bis in die ideologischen Höhen der Kunstteheorie hinaufsteigt, der lese, was Elise Karau in der Arbeiter-Zeitung vom 31. März zu sagen hat. Der Sprechchor, aus der antiken Tragödie hervorgegangen, ist nur da, um „proletarische Feste zu verschönern, ihnen eine neue Weihe zu geben…“, „zu unser aller Freue, frohes Fest mit tiefem Sinn…, ein stück Sozialismus, Festkultur der Zukunft! … wenn das Dichterwort: ‚Nur eine kleine Weile, dann habt ihr Zeit!‘ sich erfüllt haben wird.“ Ja, wir wissen, daß diese Stück-Sozialisten Zeit haben; und da wird’s doch dem Proletariat auf „kleine Weile“, die sie ihm durch „Reigen in schöner Harmonie“, „Schönheit des durchgebildeten Körpers“, „Wohllaut des Klanges“, „mit Geist und Empfindung des freien, bewußten Menschen“ kürzen, nicht ankommen! Auch ein Weg zum Sozialismus, der ja stückweise kommt: Man vertreibe // sich die Zeit bis dahin durch Vorbereitungen zur „Festkultur der Zukunft“! Wir würden der Arbeiterjugend raten, etwas anderes zu vertreiben… Aber weshalb denn? Elise Karau meint: „Ein Stückchen vom Himmelsblau, ein Sonnenstrahl vergoldet auch den kahlen Hof der Zinskaserne (und auch diese sieht heute schon anders aus als vor zwanzig Jahren) …“ Aber gemach! Sprechchöre sind alles, nur kein Einschläferungsmittel. Eine kleine Weile nur, und der überraschten Elise Karau schallt es aus tausenden Proletarierkehlen entgegen: „Hinaus aus der Festkultur der Zukunft! Hinein in die Kampfkultur der Gegenwart!!“

In: Die Rote Fahne, 19.4.1925, S. 6-7.

Leopold Wolfgang Rochowanski: Formwille der Zeit (1922)

Wien 1922 (Auszüge; S. 10-11, 32-33)

[…]

Es gibt keine Arbeit von Cizekschülern, in der nicht der Atem, der Gedanke, die Triebkräfte unserer Zeit zu spüren sind.

             Der Unterricht [o altes Wort!] beginnt mit der Aufforderung, sich hemmungslos, mit der zügellosen Wildheit vorhandener Energien zu geben. Es entsteht: das Chaos. Aber schon die nächste Stunde ruft: Besinnung. Und die nächste Steigerung heißt: Ordnung.

             Schon die einleitenden Aufgaben sind eine prüfende Probe für das vorhandene Kraftvermögen des Schülers.

             Die Expression ist eine Besitzentleerung zum Besitz für andere, sagt Rubiner. Was nun folgt, ist ein gewaltiges fortwährendes Sichentladen. Zuerst kommt das Projizieren bestimmter Gefühle: Freude, Trauer, Neid, Sehnsucht, Erhabenheit, Kälte, Wärme. Alle Superlative von Leidenschaften. Das Ausschöpfen von Bewegungsenergien: Sprießen, Drängen, Treiben, Sprengen, Emporstreben [wobei zugleich die Differenzierung des Sprachgefühls zum Ausdruck kommt und kontrollierbar wird]. Die Empfindungen durchs Auge: Licht, Finsternis. Durchs Ohr: Straßengeräusche, Donner, Musik. Eine Verbindung psychischer, auditiver und visueller Eindrücke: Donner und Blitz. Durch die Nase: Blumenduft, Brand. Aus dem Für und Wider der Kräfte springt: der Kampf. Kampf der Ordnung gegen die Unordnung [Aber beliebter ist: Kampf der Unordnung gegen die Ordnung und das ist begreiflich aus der Zeit, denn auch die Unordnung hat ihre Ordnung und die Ordnung der Ordnung ist uns verhaßt// seit langem! Bei manchen Schülern allerdings wird es – wie Professor Cizek lächelnd feststellt – ein Kampf der Unordnung gegen die Schlamperei]. Ewiges Kräftespiel, Auf und Ab, Überrennen, Überstürzen, Härte gegen Weichheit, Gut gegen Böse, Licht gegen Dunkelheit.

             Rhythmus. Neuer Rhythmus. Bei seiner rein gefühlsmäßigen Gewinnung kommt der Musik dienende Bedeutung zu. Darum fehlt die Musik in dieser Schule fast niemals. Nicht nur, daß Musikstücke gezeichnet und schöne kleine Kapellen aus Geigen, Flöten, Waldhorn und Cellis zusammengestellt wurden, – über jede Unterrichtsstunde fließen die Rhythmen der Töne. Entweder singt einer Volkslieder [oft sehr ernste, traurige, die tiefe Ergriffenheit und Sichbesinnung bringen], oder ein Mädchen zupft lustig die Laute oder einer unterbricht seine Arbeit, setzt sich an das stets bereite Klavier und paraphrasiert seine Arbeit in Tönen zu Ende. Musik. Rhythmus.

[…]

[…] Kinetismus von ϰίνειν = bewegen. Bisher war alles Stilleben, nicht bloß die Rüben, Krautköpfe, Äpfel, Schinken und Weinbecher, die uns noch immer serviert werden, sondern auch der Mensch. Nun soll das Leben, die Bewegung gewonnen werden. Die Bewegung der Objekte: Erdbeben, Sturm, das rollende // Rad. Dann unsere Bewegung durch die Objekte [die sich auch bewegen können] hindurch: die Fahrt durch die Straßen mit eilenden Menschen.

             Wir kommen also zuerst zur Wiedergabe des rhythmischen Ablaufes einer Bewegung. Weiters zur Häufung von Bewegungseindrücken. Schließlich zur Vereinigung beider.

             Hinter dem Kinetismus aber steht noch vielmehr, weit Größeres als das Ausdrücken der Bewegung. Es ist kein Zufall, daß seine Geburt gerade in diese Zeit fiel. Die Gedanken darüber kommen, wenn man sich in die eine Keramik von Georg Kolb oder in die Zeichnung „Erwachen“ von Erika Giovanna Klien vergräbt. Unsere egozentrischen Gedanken [ich spreche nur von Menschen] sind erschlagen, wir leben nicht mehr für uns, unsere Liebe ist ausgezogen, sucht stündlich die anderen da draußen, läuft hinauf nach Hammerfest und hinab nach Feuerland, überallhin, in die entlegensten Hütten und unsere zwei Hände sind zu wenig, sie hinzureichen, wir brauchen mehr, und unsere zwei Wangen sind zu wenig, sie hinzulegen auf die Wunden der andern, wir brauchen mehr, und unsere zwei Augen sind zu wenig, alles zu sehen und zu melden, wir brauchen mehr!

                                        Stehen nicht mehr in Scham

                                        vor Blume und Baum,

                                        vor schweigender Größe.

                                        Gelöst aus endlosem Ängstezaum

                                        geben wir uns,

                                        teilen wir uns

                                        überallhin.

N.N. [ -s]: Junge Kunst (1920)

             Unter dem vielen Neuen und Ungewohnten, das der gründliche Umsturz nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch auf allen Gebieten des Geistes- und Kulturlebens mit sich gebracht hat, stoßen auch die neuen Erscheinungs- und Ausdrucksformen des modernen Kunstwillens vielfach auf starken Widerspruch, der wenigstens im Kreise der Gebildeten durchaus nicht immer einer philiströsen grundsätzlichen Ablehnung alles Neuen entspringt, sondern dem mehr oder weniger deutlichen Gefühle, daß sich unter den neuen Kunstpropheten noch zu viele falsche und solche, die selbst noch nicht wissen, was sie wollen, befinden. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, daß die Gesetze der fortschreitenden Entwicklung alles Seienden auch die Kunst Geltung haben und daß also auch hier ein Wandel möglich, ja notwendig und der neue Geist über den alten zu siegen berufen ist. In diesem Sinn begegnet der Wille zu einer neuen Kunst sicherlich auch im gebildeten Publikum sogar einem latenten Bedürfnis oder mindestens einem mehr oder minder bereitwilligen Verständnis, das viel weiter verbreitet ist, als man gemeiniglich zu glauben scheint. Was trotzdem zu Widerspruch und Ablehnung reizt ist also nicht der in der neuen Kunstrichtung sich offenbarende revolutionäre Geist an sich, sondern vielmehr die oft recht willkürlich scheinende Gewaltsamkeit seiner Ausdrucksmittel, deren Berechtigung oder Richtigkeit von den Künstlern ebenso wenig begründet wie vom Publikum erkannt werden kann. Vorläufig wenigstens. Beide Teile fühlen sich im Rechte und sind es jeder von seinem Standpunkte aus, vielleicht auch. Vom Künstler wie vom Laien verlangt diese neue Richtung ein so radikales Umlernen, daß man sich nicht wundern darf, wenn jener im Ausdruck dessen, was er fühlt und was er uns mitteilen will, selbst noch unsicher und unklar ist, und dieser gar oft das, was ihm als die neue Kunst vorgesetzt wird, noch nicht ohneweiters bejaht, weil er „lange zur stärkster Kultur kondensierte Entwicklungen mit einem Male negiert“ sieht, als wäre sie nie dagewesen.

             Es geschähe aber den ehrlichen Vorkämpfern dieser neuen expressionistischen Kunst ein großes Unrecht, wollte man verkennen, „daß diese Kunst, die so vieles nicht sagt, nicht zu sagen vermag und nicht sagen will, was eben noch hochgehaltenes Gemeingut der künstlerischen Sprache war, daß sie ihrerseits viel Neues, Bedeutsames, in die Tiefe Greifendes zu sagen weiß, das eben diese alte Sprache gar nicht sagen konnte, das gar nicht im Bereich dieser alten Sprache lag.“

             Wir zitieren hier aus einer kleinen Monographie Lothar Briegers über einen der extremsten Expressionisten: Ludwig Meidner, der sich als Maler wie als Schriftsteller in bewußten krassen Gegensatz zur Tradition und Konvention stellt. Das genannte Buch gehört einer Serie von ähnlichen Monographien an, die im Verlag von Klinkhardt & Biermann unter dem Sammeltitel „Junge Kunst“ erschienen ist und noch fortgesetzt werden soll. Diese Bücher stellen einen ebenso interessanten wie dankenswerten Versucht dar, in das Wesen der neuen Kunst, das im Willen zur reinen Geistigkeit und zum freien Schöpfertum beruht, einzuführen, es zu erklären und an der Hand verschiedener Beispiele, die von den verschiedenen Trägern der neuen Ideen gegeben sind, alle seine Ausdrucks- und Deutungsmöglichkeiten darzutun und objektiv zu werten, kurz: sie wollen, wie der Verlag selbst sagt, „dem ungeheuren Bildungsbedürfnisse auch der breiten Massen entgegenkommen und die Werke einer expressionistischen Kunstrichtung, die ihrerseits Niederschlag und Ausdruck einer neuen Weltanschauung sind, dem Bewußtsein der Gegenwart nahebringen.“ Bisher sind außer dem schon genannten noch folgende Bände erschienen: Max Pechstein (von Georg Biermann), Paula Becker-Modersohn (von C. E. Uphoff), Bernhard Hoetger (vom vorgenannten), Cesar Klein (von Theodor Däubler), Franz Heckendorf (von Joachim Kirchner), Rudolf Großmann (von W. Hausenstein), Hugo Krayn (von Karl Schwarz).

[…]

             Als sehr wertvollen einführenden Beitrag hat der Verlag in gleicher Ausstattung eine sehr klug und verständig geschriebene Abhandlung von Prof. Dr. Franz Landsberger über „Impressionismus und Expressionismus“ erscheinen lassen, die sich mit den modernen künstlerischen Fragen, mit den Stärken und Schwächen der jungen Kunst mit vorurteilsloser Sachlichkeit und kritischem Scharfblick auseinandersetzt. Wie viele andere ehrliche Freunde jeder fortschreitenden künstlerischen Entwicklung warnt auch Prof. Landsberger bei aller Anerkennung größter Freiheit vor allzu einseitiger Betonung des Ausdrucks auf Kosten der rein formalen Gestaltung. Er weist darauf hin, daß (wofür die die hier erwähnten Bücher Beispiele geben) die rein formalen Prinzipien, deren sich kein Kunstwerk entheben darf und die näher zu bestimmen Sache der Aesthetik ist, in bedeutenden Werken des Expressionismus ebenso befolgt werden wie in den Kunstwerken aller Zeiten. Aber es besteht, sagt Prof. Landsberger, die Gefahr, „daß ein gar zu ungestümes Ausdrucksverlangen sich nicht mehr die Ruhe zu klarer Gestaltung nimmt, und solcher chaotischer Gesinnung gegenüber ist daran festzuhalten, daß, wenn im Kunstwerk schon der Schrei des Ursprünglichen gehört werden soll, er in unseren Ohren doch wie Musik ertönen muß.“

             Wie überall, so macht sich auch in der neuen Kunst ein unberufenes Mitläuferstum breit, das von einem ernsten Wollen, der Kunst zu dienen, weit entfernt, nur die Modekonjunktur auszunützen und seine Unfähigkeit hinter extremem Bluff zu verbergen sucht. Es mag eine weitere dankbare Aufgabe der genannten Publikationen des Verlages Klinkhardt  & Biermann sein, dem verwirrten Publikum eine Unterscheidung zwischen den wahren und falschen Propheten des Expressionismus, zwischen seinen berechtigten Entwicklungsformen und seinen Auswüchsen zu erleichtern.

In: Innsbrucker Nachrichten, 30.4. 1920, S. 7.

Ernst Fischer: Neue Kunst (1920)

             Bis zum Ekel haben Dichter, Maler, Musiker, Schauspieler, Künstler und Intellektuelle jedes Grades und jeder Schattierung versucht, immer wieder versucht, Kunst an sich, ohne jede Relation, als etwas Wertvolles, für sich Bestehendes, als rein formale Gestaltung, ohne weiteren Zweck, hinzustellen. Diese Tendenzen finden wir bezeichnenderweise immer in Zeiten, die zermürbt, aufgelockert, müde und verfallend sind, fröstelnde Abendröte morschender Kulturen vergehender Gesellschaften. Die Kunst starker latenter Zeitalter, scharfumrissener Gesellschaftsbildung, selbstbewußter Klassen ist nichts anderes als geschlossener, konzentriert geballter Ausdruck der Zeit, ist im Spiegel das Erlebnis der Zeit (denn jede Zeit hat ihr eigentümliches Erlebnis) und, in ihrer höchsten Form, Deutung, Verklärung der Zeit, Ausblick und Überschwang. Dies ist eine historische Tatsache; starke Zeitalter (Griechentum, Gotik, Renaissance in Italien, England, Spanien, Frankreich) haben starken, eigenwilligen Stil, haben eine Kunst, die in ihren Ideen, ihrer Logik, ihrem inneren Aufbau, ihren formalen Ausdrucksmöglichkeiten nichts ist als Information des Zeitalters, eines bestimmten Grundwillens, der sich gleicherweise ausspricht, in Staat, Gesellschaft, Religion, Philosophie, in allem Größten und Kleinsten.

Aus dieser historischen Tatsache erhellen unmittelbar Wesen und Zweck der Kunst. Ein Volk, eine Gesellschaft – oder, noch richtiger: die herrschende Klasse eines Volkes, einer Gesellschaft, die kräftigste, geschlossenste, bewußteste, die der ganzen Zeit ihr Gepräge gibt, will sich selber, ihr Wesen, ihr Wollen, ihren historischen Sinn im vereinfachten Bilde erkennen, aus diesem Erkennen sich selber steigern, sich selber bereichern, sich stärken an ihrem eigenen Wesen, sich entflammen zu dem, was ihre historische Sendung ist.

Wir nehmen ein typisches Beispiel. Die französische Tragödie um die Zeit Ludwigs XIV. Herrschende Klasse war der kriegerische Adel des Landes, der, erst kürzlich seiner unbändigen politischen Macht beraubt, sich allmählich umbildet in einen höflichen Adel. Der Dichter dieser Zeit ist Corneille. In seinen Dramen verherrlicht er alle starken, umgebrochenen Instinkte des Edelmannes, diese Instinkte zu Tugenden verklärend. Das Ideal der Zeit wird uns die Verbindung von Held und Hofmann. Mut, Entschlossenheit, Königstreue, Ritterlichkeit, eine gewisse Erhabenheit der Gesinnung – aus diesen formt sich das typische Erlebnis der Zeit. Man verstehe nun ferner, daß im Künstler stoffliches und formales Erleben untrennbar verbunden sind. An einem Hofe, der um ein Zentrum, den absoluten Monarchen, erst kürzlich gebeugte Fürsten, Grafen und Ritter vereinigt, ihre stolzen und störrischen Instinkte durch ein strenges Zeremoniell bändigend, konnte nur die Tragödie, das Drama herrschende Kunstform werben. Und zwar das klassisch geschlossene, starren Regeln unterworfene Drama, dessen strenge Form die starken Leidenschaften der Handlung bändigt. So fand das Publikum, bestehend aus den Herren des Hofes, sein Schicksal gespiegelt in den Dramen, die vor ihm aufgeführt wurden. Dieses formale Gestalten der Zeit erstreckt sich natürlich bis auf die Sprache, deren ursprünglich saftige Kraft in dem strengen und feierlichen Prunk des alexandrinischen Versmaßes erstarrt. So ergreift uns Ahnung der Lust, die jener Hofstaat angesichts jener Kunstwerke empfand.

Dies Beispiel ist eines von Tausenden. Ich möchte noch, zum besseren Verständnis, auf Zola verweisen, dessen Romane ich als bekannt voraussetze. Dieser gewaltige Künstler steht am Tor einer neuen Zeit, in ungeheuren Visionen ihr tiefstes Wesen erkennend. Das Erlebnis dieser Zeit ist das Eintreten der Urbereitschaft in die Geschichte, die, als innerlich stärkste Klasse, ihre historische Sendung beginnt. Das künstlerische Erlebnis dieser Zeit ist das Erlebnis der Masse, die sinonyme Kunstform der Romane. Nur im Roman ist es möglich, die Masse künstlerisch widerzuspiegeln, formal auszudrücken.

Diese beiden Beispiele mögen genügen, das Wesen einer starken Kunst zu erläutern. Alles andere, das diesen großen, historischen Gesetzen nicht entspricht, ist nur Literatur. Neben den wenigen Künstlern läuft immer das Pack unzähliger Literaten, die dann gefährlich werden, wenn sie Talent besitzen. Sie betrachten ihr Talent nicht als eine Verpflichtung, es der Gesellschaft nutzbar zu machen, sondern als einen Freibrief, ihr auch lästig zu fallen.

Und nun die Frage: Wie stellt sich unsere Zeit bar im Spiegel der Kunst?

Es ist wesentlich leichter, diese Frage für vergangene Epochen der Geschichte zu beantworten. Die Distanz ermöglicht es, zwingt uns sogar, nur das Große, Bedeutsame, Wesentliche zu betrachten, das Überflüssige zu vermeiden. In der Gegenwart kann es uns leicht geschehen, die Kunst über dem Wucherwerk der Literatur zu übersehen. Immerhin sind starke Stimmen vernehmbar, selbst durch das Gebrodel der hundert schwachen hindurch, wenn auch das Katzenkonzert der Literaten uns jedes Zuhören verekeln könnte. Eine weitere Schwierigkeit, ein klares Bild zu gewinnen, liegt darin, daß unsere Zeit überhaupt keine Zeit klarer Bilder ist.

Immerhin: wer sich etwas mit Kunst beschäftigt hat, erkennt zwei wesentliche Faktoren: Masse und Rhythmus. Und ich glaube, wir haben es hier tatsächlich mit den beiden Faktoren zu tun, die das typische Erlebnis unserer Zeit bedingen. Auf einer Seite das rasende Tempo der Schnellzüge, Automobile Aeroplane, der Maschinen und technischen Ungeheuer – der stählerne Pulsschlag fiebernden Blutes – auf der anderen Seite die Tatsache, daß sich die große Masse als Masse fühlt, daß jenes viel mißbrauchte Wort vom „sozialen Gewissen“ Wirklichkeit wird.

Die Arbeiterschaft, das Proletariat, ist die Waffe, die der Zeit ihr Gepräge gibt, die Revolution in jedem Sinne ist das entscheidende Ereignis.

In diesem Zusammenhange muß die moderne Kunst gewertet werden. Ihr Inhalt ist die Revolution, ihre Form ist ebenfalls – die Revolution. Und wenn wir, mit einer gewissen Skepsis vielleicht, das Aufschießen unzähliger neuer Kunstrichtungen beobachten, erkennen wir doch das eine: die Künstler fühlen, es hat eine neue Zeit begonnen. Diese neue Zeit verlangt gebieterisch neuen Ausdruck. Man mag über Expressionismus, Futurismus und wie diese -ismen alle heißen, denken, wie man will – eines darf man nicht unterschätzen: Es ist ein ehrlicher Wille, der hier, oft unter Krämpfen, oft unter Fieberzuckungen, um das Neue kämpft. Es sind die Geburtswehen einer neuen Kunst. Diese Kunst wird und muß, wenn sie erst klar in Erscheinung tritt, Spiegel der Revolution, Ausdruck des Proletariats, Information einer neuen Gesellschaftsordnung sein.

Dies wird geschehen, trotz aller Salonexpressionisten und Kaffeehausmystikern, trotz aller hysterischen Ästheten und Konjunktursozialisten trotz aller Literaten, die sich um neue „Kunstrichtungen“ raufen und sich redlich bemühen, die Kunst in Tinte zu ersäufen – dies wird geschehen, weil es geschehen muß.

Das Proletariat wird seine Kunst haben, wie es seinen Staat, seine Gesellschaftsordnung, seine Welt erkämpfen wird, weil es heute die einzige Klasse ist, die um Gestaltung einer neuen Idee ringt.

In: Arbeiterwille, 9.11.1920, S. 9.