Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung (1924)

[…]

             Und nun begreifen wir es und erkennen aus tiefstem Grunde, warum Erziehung und Bildung nicht neutral sein können. Alle Erziehung und Bildung, welcher Art und welchen Inhalts immer sie sein mögen, will jedenfalls für das Leben tüchtig machen, ja dieses vollkommener gestalten. Aber dieses // Leben ist, wie persönlich es auch immer gestaltet und empfunden werden mag, durchaus vergesellschaftetes Leben steht unentrinnbar unter der Gesetzlichkeit desselben. Eine Erziehung, die hier neutral absehen wollte von den in dieser Gesetzlichkeit auftretenden Gegensätzen, um sich an deren Stelle eine „allgemeine Menschheitssphäre“ zu konstruieren, wäre eine Erziehung im luftleeren Raume, d.h. eine Erziehung außerhalb jener Atmosphäre, in der nun einmal ihr Gegenstand, das Leben ihres Zöglings, gegeben ist. Es wäre eine Erziehung, die aus Angst, parteiisch zu sein, gerade dort nicht Partei nehmen würde, wo es sich um ihre eigene Sache handelte, um die Entwicklung der Menschheit. Will sie diesem Zweck wirklich dienen, so kann sie unmöglich die notwendigen Entwicklungsrichtungen, wie sie aus der jedesmaligen gesellschaftlichen Situation hervorgehen, ignorieren. Sie muß der Gegensätzlichkeit sozialer Strebungen, die in ihrem Komplexe die konkrete geschichtliche Entwicklung ausmachen, sehenden Auges gegenübertreten, muß unter ihnen eine Wahl treffen, d.h. sie muß sich auf die eine oder andere Seite stellen, also Partei ergreifen. Denn die schier unausrottbare Vorstellung aller Verfechter einer neutralen Erziehung, daß es genüge, anständige Charaktere erzogen zu haben, welche Partei sie auch immer ergreifen mögen, sollte endlich als das erkannt sein, was sie ist, eine gedankenlose Sentimentalität, die noch dazu durchaus nicht ungefährlich ist. Mit solchem Raisonnement muß man es zulassen, daß zuletzt aus dieser neutralen Erziehung ebenso sehr kosmopolitische Menschheitsschwärmer wie nationalistische Hetzapostel hervorgehen, wenn nur jeder persönlich überzeugt von seiner Anschauung ist, und diese ganze vielgerühmte Neutralität der Erziehung endet in ödestem Relativismus und absoluten Kulturdefaitismus. Und dies ist noch das minder schädliche Resultat: viel //ärger, weil nicht zuletzt den unglaublich tiefen Stand der heutigen politischen Bildung und Moral weiter Kreise der Intelligenz ermöglichend, ist eben jene aus der „Neutralität“ entstandene fast gemeinplätzliche Ansicht, daß man ein „ganz anständiger“ Mensch und trotzdem z.B. Rassenantisemit oder Hakenkreuzler sein kann, wenn es nur „mit Überzeugung“ geschieht, daß man also sich noch immer auf Bildung und Erziehung berufen darf, wenn man „aus Überzeugung“ Juden nicht als Menschen betrachtet oder politische Gegner „erledigt“. Eine sonderbarere Anschauung von „Anständigkeit“ und „Charakterbildung“ dürfte es kaum geben, und sie genügt, um uns zu erkennen lassen, welch ungeheurer moralischer Widersinn sich hinter der „neutralen Erziehung“ verbirgt. Nein – ist einmal die notwendige Klassengegensätzlichkeit des heutigen gesellschaftlichen Lebens erkannt und sind die aus ihr sich ergebenden gesellschaftlichen Strebungen in ihrer Auswirkung auf die Ermöglichung einer Sicherung, ja Vervollkommnung des Lebens für alle erforscht – und beides vermittelt die Sozialwissenschaft, der Marxismus – dann muß jede Erziehung, die über ihr Ziel klar ist, Partei nehmen, und es kann gar nicht zweifelhaft sein, wie sie das tun wird. Ist ihr Ziel Lebensentfaltung und Lebenssteigerung eines jeden, dann muß sie sich in den Zug der Entwicklung des sozialen Lebens überhaupt einfügen, d.h. sie muß deren Partei ergreifen und zur Klassenerziehung der revolutionären Klasse werden, kurz, sie muß heute sozialistische Erziehung werden.[1]

[…]

Neue Menschen! – Das also ist das eigentliche Ziel einer revolutionären Erziehung, einer Erziehung, die jene neue Gesell-//schaft auch in den Seelen der Menschen vorbereitet, die sonst in ihrer Vorbereitung durch den ökonomischen Prozeß bloß eine objektive Möglichkeit bleibt. Es kann in der Welt nicht anders und besser werden, wenn jede neue Generation immer wieder in Gedanken und Empfindungen der vergangenen Geschlechter aufwächst, mögen dies auch ihre vernünftigsten und besten sein, mögen es selbst nicht so sehr ihre Laster als ihre Tugenden sein, die der Jugend übermittelt werden. Denn nirgends gilt das Dichterwort „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ in tieferem Sinne als von einer Erziehung, die inmitten der ungeheuren Umwandlung in den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen immer wieder die neuen Inhalte in die unzugänglich gewordenen alten Geistes- und Willensformungen hineinpreßt. Man kann zwar eine Zeit-//lang den jungen Wein in alte Schläuche fassen, aber sind die Schläuche selbst einmal muffig geworden, dann verderben sie nur noch ihren feurigsten Inhalt. Darum haben auch die großen revolutionären Pädagogen seit Rousseau, Kant und Fichte es als den Krebsschaden aller den Menschen fortbildenden Erziehungsarbeit angesehen, daß die Kinder nur immer wieder recht und schlecht gelebt hatten. Besonders eindringlich hat diesen Gedanken Kant in seiner „Pädagogik“ ausgesprochen, wo es heißt: „Ein Prinzip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustand des Menschengeschlechtes, das ist der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden. Dieses Prinzip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger, besserer Zustand hiedurch hervorgebracht würde.

Diese Worte sollten in goldenen Lettern über allen proletarischen Kinderfreundeanstalten stehen. Sie bedeuten den grundsätzlichen Bruch mit der bürgerlichen Erziehung, der es nur darauf ankommt, „daß die Kinder“, wie abermals Kant rügt, „gut in der Welt fortkommen“; sie bedeuten das Ende jener echt bürgerlichen Auffassungm die nach der Anklage Fichtes nur den armseligen Wunsch kennt, mit der Erziehung rasch zu Ende zu kommen, um das Kind recht bald hinter die Maschine zu stellen. Das Ideal der bürgerlichen Erziehung, wie es so oft in offiziellen Kundgebungen sowohl von Staats- wie von Schulmännern verkündet wird, ist, aus den Kindern „nützlcihe Glieder der menschlichen Gesellschaft zu machen“, wobei freilich die eigentliche Meinung ist, nützlich für die Nutznießer dieser Gesellschaft, nützlich, das heißt, tauglich für die Ziele und Zwecke der herrschenden Klasse. Treffend hat bereits Georg Büchner, dieser geniale Jüngling, in dessen Seele schon so viel von proletarischem Empörergeist in ersten Regungen wach wurde, diese heuchlerische Phrase verspottet, indem er seinem nach einem wirklichen Lebensinhalt ringenden jugendlichen Prinzen Leonce auf die Worte: „So wollen wir nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft werden“, sagen läßt: „Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.“ (Leonce und Lena, I. Akt, 5. Szene)

(Berlin 1924, Auszüge aus Klassenkampf und Erziehung bzw. Sozialismus und Erziehung, S. 42-44 bzw. 66-68)


[1] *(orig. Fußnote in der Publ. 1924): Alle große Pädagogik der Vergangenheit von Plato bis Pestalozzi war stets revolutionär. Sie variiert nur auf verschiedene Weise das Grundthema der Erziehung, das Kant einmal als „Prinzip der Erziehungskunst“ bezeichnet hatte: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftigen möglich besseren Zustande des menschlichen Geschlechtes angemessen erzogen werden.“ [Immanuel Kant: Über Pädagogik. Königsberg 1803, S. 17; vgl. dazu die entsprechende Seite in der Erstausgabe gem. DTA: https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/kant_paedagogik_1803?p=17; Zugriff 24.10. 2022, PHK] Daher kommt es, daß die Ideen aller der großen Pädägogen auch heute noch modern sind, und dies hat wieder andrerseits den Wahn einer neutralen Erziehung unterstützt, indem doch Kant oder Rousseau oder Pestalozzi sicher keine Sozialisten waren. Allein sie haben, wie überhaupt die großen Denker des Bürgertums in seiner vorrevolutionären Epoche infolge des soziologischen Gesetzes, daß die Ideologie jeder aufsteigenden Klasse universalistisch oder Menschheitsumfang haben muß, in ihrem Denken den späteren Klassenstandpunkt des herrschend gewordenen Bürgertums noch nicht gekannt. […]

Karl Maria Grimme: Die Kunst in unserer Zeit (1930)

                           Zur derzeitigen Ausstellung im Wiener Künstlerhaus

             Wir können uns die Tatsache, nicht verhehlen, daß die bildende Kunst heute im Bewußtsein der Allgemeinheit nur von geringer Bedeutung ist. Fragen der Kunst berühren innerlich nur einen sehr kleinen Kreis von Menschen, sie belangen nur die Künstler selbst und ein paar ästhetisch Orientierte. Darüber hinaus aber erfassen Malerei und Plastik nicht einmal jene, die wirklich an der Gestaltung des Heute mitarbeiten und somit der Welt etwas bedeuten, geschweige denn, daß sie die breiten Schichten des Volkes in ihren Bann ziehen würden.

Betrachten wir dagegen die Baukunst, so bietet sich ein völlig verändertes Bild. Die Baukunst ist heute ebenso revolutionär, wie es Malerei und Plastik sind, und dennoch hat sie sich durchgesetzt. Von konservativem Festhalten am Überkommenen ist gar keine Rede, wo immer bei uns gebaut wird, ob von Gemeinden oder Privaten, geschieht es im modernen Geist, es fällt niemandem mehr ein, alte Stile zu kopieren. Darüber hinaus aber setzen sich die Prinzipien zeitgemäßen Formgestaltens auch auf allen anderen Gebieten durch. Es kann nur noch ganz wenige Jahre dauern und fast niemand wird sich mehr Stilmöbel anschaffen; schon heute ist dieser Zustand nahezu erreicht. Und betrachten wir die Einrichtungen öffentlicher Lokale, betrachten wir selbst nur die oft verblüffend kühnen. Umbauten von Geschäftsläden, so finden wir, daß man sie sich oftmals gar nicht besser wünschen kann. Die Auftraggeber dieser Architekten sind aber Menschen, die selbst nicht die mindesten künstlerischen Bedürfnisse besitzen, geschweige denn, daß sie bestrebt wären, für ihre Person bewußt mitzuhelfen, den modernen Stil durchzusetzen. Es ist auf diesen Gebieten heute einfach eine Selbstverständlichkeit, nicht mehr vergangenen Zeiten nachzuäffen. Die Arbeiten des modernen Architekten sind also tief im Heute verwurzelt, sein Schaffen ist für die Allgemeinheit tatsächlich eine Notwendigkeit.

Ähnlich steht es um die Erzeugnisse der Technik. Vom Auto, vom Flugzeug kann man heute schon behaupten, daß ihnen hohe ästhetische Reize eignen. Verfolgt man aber auch den Entwicklungsgang anderer technischer Gegenstände, es braucht selbst nur ein Hängelager oder ein Motorzünder zu sein, es ist erst gar nicht nötig, auf die Turbinen oder Lokomotiven zu verweisen, so erkennen wir, daß auch sie nicht nur reine Zweckgegenstände sind, sondern daß ihre Zweckform so gebildet ist, daß sie ästhetischer Wirkungen fähig wird. Dabei verdanken sie aber diese Formen nicht so sehr der Absicht des Entwerfers, stilreinigend zu wirken, sondern vor allem der Erfahrung, daß die ästhetisch ansprechende, formklar gebaute Maschine bei gleicher Leistungsfähigkeit leichter verkauft wird als eine unschöne Maschine. Praktische Erwägungen führen zu einer wertvollen Formgestaltung, das aber zeigt, daß hier ästhetisch hochgrädiges Schaffen ein wirkliches Erfordernis der Zeit darstellt.

Wir sehen also, künstlerische Werte sind für die Allgemeinheit in der Baukunst und in den technischen Erzeugnissen eine Notwendigkeit, auf diesen Gebieten sind sie lebenskräftig, während sie den meisten Menschen in der Malerei und in der Plastik nichts bedeuten. Es drängte sich daher vielen die Vermutung auf – auch so mancher Maler wird durch die bestehenden Verhältnisse in diese Gedankenrichtungen gezwängt – die Vermutung, daß Malerei und Plastik absterbende Künste seien, die für den geistigen Haushalt der Menschen langsam jede Bedeutung verlieren. Diesen Schluß gerade in der heutigen Zeit zu ziehen, hat nun tatsächlich eine gewisse Berechtigung. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß wir möglicherweise am einer Weltenwende stehen, wie sie es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben hat. Was diese Wende bewirkt, ist die Technik. Sie hat in den letzten Jahrzehnten das Leben jedes einzelnen, sie hat das Gesicht unserer Erde von Grund auf verwandelt, mehr verwandelt, als es je in früheren Zeiten Kriegen, Entdeckungen oder Erfindungen gelang. Eine Umwälzung von solch außerordentlicher Gewalt muß aber genau so auch alle unsere Beziehungen zu den geistigen Gütern umstürzen. Noch wissen wir nicht, was abfällt, was bleibt. Noch wissen wir nicht, wie diese neue Zeit aussehen wird, die vielleicht die Menschheitsgeschichte in eine zweite Phase drängt. Man könnte nun auf Grund der vorhandenen Anzeichen zu dem Schluß kommen, daß sich schöpferisches künstlerisches Gestalten in Zukunft auf anderen Gebieten ausspreche, daß es sich von der Malerei und Plastik abwende, um seine Betätigung vor allem in Zweckgegenständen, in Bauwerken und technischen Erzeugnissen zu finden. Ist schon heute die Technik, wie wir gesehen haben, nicht mehr lediglich eine Zivilisationserscheinung, so würde die Zukunft nahezu ausschließlich im Zeichen einer technischen Kultur liegen. So zwingend nun auch diese Vermutungen derzeit auf Grund der vorliegenden Anzeichen erscheinen mögen, so ist dies aber doch – so weit es Malerei und Plastik betrifft – kaum anzunehmen.

Dies darzulegen kann allerdings nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, mancher wird auch sagen, daß hier bindende Schlußfolgerungen heute noch keine Berechtigung haben. Wie dem auch sei, wesentlich ist, daß wir überhaupt einmal diese Dinge in Betracht ziehen, daß wir wenigstens beginnen, uns mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Wir können nicht weiter den Kopf in den Sand stecken. Wir können nicht im Kunstleben ein Als-ob an Stelle von Tatsachen setzen, wir können nicht so tun, als nähme die bildende Kunst noch immer jene bevorzugte Stellung ein, die ihr einst zukam. Sonst spielt die Kunst die Rolle jenes vertriebenen Königs, der sich noch im Exil täglich mit Krone und Zepter auf einen Thronsessel setzt. Dazu ist uns aber die bildende Kunst wahrhaft zu gut. Und mit dem Jammern darüber, daß diese bösen Menschen eben so gar nicht einsehen wollen, welche Glücksgüter ihnen an der bildenden Kunst verloren gehen, ist natürlich gar nichts gemacht. Wir müssen der neuen Zeit die Tore öffnen, und je früher wir dann erkennen, was da kommen will, desto besser ist es.

Nun, der entscheidende Anfang zu dieser Auseinandersetzung geht diesmal von Wien aus. Hofrat Dr. Hans Tietze hat zusammen mit der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst eben jetzt im Wiener Künstlerhaus eine Ausstellung veranstaltet, der es gar nicht darauf ankommt, wieder und wieder einmal Bilder zu zeigen, trotzdem wir hier eine Auswahl der bedeutendsten europäischen Werke der letzten Jahrzehnte versammelt finden. Tietze ist es an Hand dieses Materials viel mehr darum zu tun, Kunst einmal ganz unkünstlerisch auf den Besucher wirken zu lassen, indem er aufzeigt, daß die Kunst vor allem auch allgemein-geistige Inhalte habe. Man soll also in dieser Ausstellung nicht so sehr bewerten, ob ein Bild gut oder schlecht sei, ob das vom Künstler Erstrebte wirklich erreicht wurde, man braucht also von Kunst gar nichts zu verstehen, sondern man soll vor allem den Künstler als Träger außerkünstlerischer Ideen und Strebungen auf sich wirken lassen. Die Bilder werden somit nach Gruppen geordnet, die ihren wesentlichen Inhalt kennzeichnen. Die eine Abteilung zeigt den Künstler als Gestalter übersinnlicher Erlebnisse, die nächste seine Einstellung zur Umwelt, eine dritte weist auf die sozialen Tendenzen einzelner Maler und Graphiker. Neben Gruppen, die in außerordentlich anschaulicher Weise die zeitgeschichtliche Entwicklung der Kunst in den letzten Jahrzehnten dartun, interessiert dann vor allem jene Abteilung, die das Formbilden unserer Zeit auf allen anderen Gebieten, im Fabriks- und Maschinenbau, in der Inneneinrichtung und im Kunstgewerbe, in den technischen Erzeugnissen und selbst in der Mode darlegt. Hier spricht sich ja die Gegenwart am deutlichsten aus.

Wie von Scheinwerfern beleuchtet, zeigt also diese Ausstellung, daß die heutige Kunst tatsächlich Inhalte besitzt, die den Menschen von heute auch dann belangen, wenn er nichts von Kunst an sich versteht. Das ist das unerhört Mutige, das Bahnbrechende. Kunst verbleibt damit nicht mehr auf ihrer fernen Insel der Träume, die aus innerster Nötigung aufzusuchen fast niemand mehr das Verlangen trägt, sondern sie greift ein in das lebendige Leben der Gegenwart. Sie verlangt nicht, daß man ihr nur auf den Zehenspitzen nahe, sie will nicht von Weihrauchfässern umräuchert, sie will nicht anbetend verehrt werden, sondern sie verlangt nur, daß man ihre Stimme höre. Sie zeigt, daß sie jedem etwas zu sagen hat.

Mit dieser Ausstellung Tietzes wird also die Kunst dem Interessenkreis der Allgemeinheit wieder näher gerückt. Die Auseinandersetzung kann beginnen.

In: Die Moderne Welt, H. 15 (1930), S. 14-15.

Hans Markowitz: Die soziale Bedeutung der Kunst (1927)

Es ist sehr zu begrüßen, daß Hans Tietze das Thema „Sozialismus und moderne Kunst“ im Dezemberheft des „Kampfes“ zur Diskussion gestellt hat. Die Wichtigkeit, die Probleme zu erörtern, die es in sich begreift, wird in der Regel unterschätzt, weil man die Kunst im allgemeinen zwar für einen sehr edlen, aber doch nur für einen Luxus hält. Dabei übersieht man aber, daß sie ihren Zweck durchaus nicht mit der Befriedigung höherer geistiger Bedürfnisse erschöpft, sondern daß sie auch eine sehr wichtige soziale Aufgabe zu erfüllen hat.

Die Menschen sind viel mehr Gefühls- als Verstandsmenschen. Der primitive Mensch ist ganz und gar Gefühlsmensch. Er denkt nicht verstandesmäßig, sondern gefühlsmäßig, nicht logisch, sondern emotional. So setzt er nicht nur Dinge einander gleich, die die gleichen objektiven Merkmale besitzen, sondern auch solche, die nur irgend etwas gemeinsam haben, das ihn interessiert und das die gleichen subjektiven Gefühle in ihm erweckt. Ja, er setzt solche Dinge nicht nur einander gleich, sondern er identifiziert sie geradezu. Er glaubt daher, daß Handlungen, die er an dem einen von zwei von ihm identifizierten Dingen vornimmt, ohne weiteres entsprechende Wirkungen in dem anderen nach sich ziehen. Die Widersprüche zwischen seiner objektiven Erfahrung und seinen subjektiven Vorstellungen stören ihn ebensowenig wie die, die sich daraus ergeben, daß er sich zwei Dinge als eines und doch wieder als zwei Dinge denkt. Der Satz vom Widerspruch, der für das logische Denken unverbrüchliches Gesetz ist, besteht für ihn nicht. Aus dieser Art des Denkens ist zunächst der Analogiezauber hervorgegangen. Aus der Fortbildung und mannigfachen Verknüpfung solcher und ähnlich entstandener Vorstellungen haben sich des weiteren die gesamte Magie und im engsten Zusammenhang mit dieser Ritus, Religion, Sitte und Brauch, kurz alle die Vorstellungskomplexe entwickelt, die für das gesellschaftliche Leben irgendwie von Bedeutung wurden. Darum erscheint dem logisch denkenden Kulturmenschen das Leben der Primitiven oft so ungereimt. Dafür hat es allerdings vor dem des seinen manches andere woraus: es ist vor allem ganz und gar von Kunst durchtränkt und das hat seine Ursache in dem innigen Verhältnis, in dem die Kunst zum emotionalen Denken steht.

Was immer der Ursprung der Kunst gewesen sein mag, jedenfalls war sie von jeher Ausdruck von Gefühlen. Da nun alle Vorstellungen des primitiven Menschen ihren Ursprung in seinen Gefühlen haben, so haben sie von vornherein immer auch ihren Ausdruck in der Kunst gefunden. Aus der gemeinsamen Quelle der Gefühle sind auf der einen Seite die Vorstellungen, auf der anderen ihr künstlerischer Ausdruck in sinnlich sichtbarer Form entsprungen.

Man erblickt die soziale Bedeutung der Kunst gewöhnlich darin, daß sie eines der stärksten Bindemittel der sozialen Gemeinschaft sei. Das soll nicht bestritten werden. Das Kunstwerk bringt nicht nur Gefühle zum Ausdruck, es ist nicht lediglich eine Privatangelegenheit seines Gestalters, sondern dieser gestaltet es immer so, daß die Gefühle, die es zum Ausdruck bringt, in allen anderen wiedererweckt werden. So werden Gestaltende und Aufnehmende zu einer Gefühlsgemeinschaft zusammengeschlossen und die sozialisierende Wirkung einer solchen Gefühlsgemeinschaft darf nicht unterschätzt werden. Allein noch mehr als die auf die Gefühlsgemeinschaft überhaupt, kommt es auf die Art der Gefühle an, die ihr zugrunde liegen. Die Kunst erlangt ihre volle soziale Bedeutung erst dadurch, daß sie Gefühle sozialisiert, die selbst soziale Bedeutung besitzen, daß sie also die Gefühle zum Ausdruck bringt, die bestimmte Formen des gesellschaftlichen Lebens aus sich hervorgebracht haben. Wenn die Eingebornenstämme der brasilianischen Wälder ihre totemistischen Maskentänze aufführen, wobei Tanz und Masken in grotesker Weise und daher um so eindrucksvoller das Totemtier nachahmen, von dem sie abzustammen meinen., so umschlingt Ausführende und Zuschauer nicht nur das Band innigen Gemeinschaftsgefühls, sondern es werden auch den Gefühlen verstärkter Impuls verliehen, die zur Totemvorstellung geführt haben. Hier liegt die soziale Bedeutung der Kunst auf der Hand. Denn auf der Totemvorstellung beruht das gesamte soziale System dieser Stämme.

Die totemistischen Maskentänze der Eingebornen Brasiliens sind nur ein Beispiel für viele. Überall ist es bei primitiven Völkern so, daß die Kunst vor allem sozial bedeutsame Vorstellungen in ihrer mächtig zu den Gefühlen sprechenden Art gestaltet und daß sie damit die Gefühle immer wieder neu belebt und verstärkt, die sich zu jenen Vorstellungen verdichtet haben.

Bei den höheren Kulturvölkern ist es nicht viel anders. Auch bei ihnen kann ein Kunstwerk die Gefühle vieler zu einer Gefühlsgemeinschaft zusammenschweißen. Aber es ist bekannt, daß doch namentlich kompliziertere Kunstwerke individuell sehr verschieden aufgefasst werden und daß die Menschen, selbst wenn sie sich wirklich einmal in einem Gefühl begegnet haben, hinterher doch auseinandergehen, als ob sie einander nichts angingen. Auch bei höheren Kulturvölkern gewinnt daher die sozialisierende Wirkung der Kunst erst dann ihre größte soziale Bedeutung, wenn sie sich auf sozial bedeutsame, in jedem einzelnen bereits latent vorhandene und von dem Kunstwerk neu entfachte Gefühle erstreckt. Da scheinen nun die Dinge bei den höheren Kulturvölkern ungünstiger zu liegen als bei den primitiven Völkern, weil bei ihnen die das soziale Leben regelnden Vorstellungen nicht gefühlsmäßige, sondern rein verstandesmäßige Reaktionen auf die tatsächlichen Verhältnisse zu sein und daher auch keine unmittelbare Beziehung zu den Gefühlen und damit zur Kunst zu haben scheinen. In der Tat spielt die Kunst bei höheren Kulturvölkern nicht ganz dieselbe Rolle wie bei den primitiven Völkern. Das hängt aber mehr damit zusammen, daß das Kulturleben höher entwickelter Völker differenzierter ist und nicht alle Volksgenossen in gleicher Weise an allen seinen verschiedenen Äußerungen tätigen Anteil nehmen, als damit, daß bei ihnen das logische Denken das emotionale verdrängt hätte. Denn ganz hat es dieses keineswegs verdrängt. Vor allem haben sich viele ursprünglich aus emotionalem Denken hervorgegangene Vorstellungen mit größter Zähigkeit durch Jahrtausende hindurch behauptet. Vom Aberglauben, dem letzten Rest magischer Denkweise, soll hier nicht weiter die Rede sein. Er spielt keine erhebliche Rolle mehr und hat jedenfalls seine soziale Bedeutung längst eingebüßt. Dagegen hat die Religion ihre Macht über die Gemüter und damit auch ihre soziale Bedeutung sehr lange aufrechterhalten. Zwar hat man bald den Widerspruch entdeckt, in dem das in ihr verdichtete emotionale Denken zu dem die Erfahrung logisch bearbeitenden Denken steht und hat wiederholt versucht, sie zu rationalisieren; daß der Erfolg stets nur sehr gering war, konnte ihr aber erst im Verlauf von Jahrhunderten merklichen Abbruch tun. Diese Erscheinung läßt sich nicht nur aus der Macht der Überlieferung erklären, sondern hat zweifellos ihren Grund auch darin, daß die Menschen, obwohl sie gelernt haben, logisch zu denken, doch immer noch mehr Gefühlsmenschen geblieben als Verstandesmenschen geworden sind und den Verstand in der Regel nur dort gebrauchen, wo es ihre praktischen Interessen gebieterisch erfordern. Gleichwohl hätten sich die aus verhältnismäßig noch sehr primitiven emotionalem Denken hervorgegangenen religiösen Vorstellungen kaum so lange erhalten können, wenn das gefühlsmäßige Denken nicht wie in den Vorstellungen selbst, so auch in der Kunst seinen unmittelbaren Ausdruck gefunden hätte und ihm nicht durch die Kunst immer wieder neue Impulse zugeführt worden wären. Die innige Verbindung zwischen Religion und Kunst ist eine natürliche Folge ihrer gemeinsamen emotionalen Grundlage. Darum hat es niemals Religionen gegeben, die sich nicht wenigstens künstlerischer Symbole bedient hätten. Die meisten haben sogar den Bilderdienst gepflegt. Ursprünglich geschah das eine wie das andere unbewußt. Später mit bewußter Absicht. Das Christentum hat sich zuerst nur symbolischer Ausdrucksmittel bedient. Es war seinem innersten Wesen nach dem Bilderdienst abgeneigt. Überdies hatte es zu befürchten, daß der Bilderdienst zum heidnischen Götzendienst, gegen den es sich durchzukämpfen hatte, zurückführen werde. Als es aber in die breiteren Massen gedrungen war, brach das Bedürfnis nach unmittelbarem Ausdruck der religiösen Vorstellungen mit urwüchsiger Kraft durch, und an die Stelle der Symbole traten Bildnisse Gottes, Christi, Mariä und den übrigen Heiligen. Im vierten Jahrhundert erfolgte die Reaktion gegen den Bilderdienst. Es begann der Bilderstreit. Sehr schlau hat sich damals Karl der Große, dessen geläutertes religiöses Bewußtsein den Bilderdienst verwarf, der aber aus staatspolitischen Gründen eine rasche Ausbreitung des Christentums in seinen Landen wünschte, aus der Affäre gezogen: er verbot die Bilderverehrung, gestattete aber den Bilderschmuck der Kirchen und Klöster, was auf die theoretische Verdammung, aber praktische Zulassung des Bilderdienstes hinauslief. Die byzantinischen Kaiserinnen, die sich für den Bilderdienst erklärt hatten, mögen als Frauen, bei denen das Gefühlsleben eine noch viel größere Rolle spielt als bei Männern, wirklich aus innerem Bedürfnis für ihn gewesen sein; Karl der Große dagegen hatte zweifellos ein sehr klares Bewußtsein von der großen Bedeutung der Kunst für die Religion, als er ihn praktisch duldete, sonst hätte er sich nicht bemüßigt gefühlt, ihn theoretisch zu verwerfen. Der Bilderdienst hat schließlich auf der ganzen Linie gesiegt. Diesem Sieg verdankt das Christentum die lange Behauptung seiner Machtposition. Jedenfalls ist es heute unmöglich, sich die Macht zu vergegenwärtigen, die die Kirche im Mittelalter und bis tief in die Neuzeit hinein auf die Gemüter ausübte, ohne der Hilfe zu gedenken, die ihr dabei die Kunst geleistet hat.

Aberglaube und Religion sind nicht die einzigen Überbleibsel emotionalen Denkens. Alles Denken selbst der logisch Geschultesten baut sich auch heute noch auf emotionaler Grundlage auf. Alle Verbindungen von Vorstellungen erfolgen zunächst gefühlsmäßig und erst hinterher prüft der logische Verstand diese Verbindungen, scheidet die unannehmbaren aus und gibt den annehmbaren die entsprechende Form. Freilich ist logisch Geschulten das logische Denken so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie auch gefühlsmäßig niemals so naive Verbindungen vornehmen, wie die sind, die der Religion oder gar der Magie zugrunde liegen; aber oft genug behauptet sich eine immerhin zweifelhafte gefühlsmäßige Verbindung gegenüber dem kritischen Verstand nicht nur ihres Urhebers, sondern auch anderer in ihren Gefühlen ähnlich Disponierter, und einzig und allein daraus erklären sich die oft weitgehenden Meinungsunterschiede in der Wissenschaft.

Ist der gefühlsmäßige Bestandteil des Denkvorganges in der theoretischen Wissenschaft lediglich eine Fehlerquelle, so ist er auf allen praktischen Gebieten natürlich auch eine Fehlerquelle, aber auch eine unentbehrliche Notwendigkeit. Namentlich auf sozialem Gebiete muß alles Denken, wenn es einen Sinn haben soll, von vornherein darauf angelegt sein, zu Handlungen zu führen. Eine Handlung geht aber nur aus einem Wollen hervor, und das Wollen entwickelt sich nicht aus Überlegungen, sondern aus Gefühlen. Überlegungen dienen nur dazu, dem Wollen, das sich aus den Gefühlen entwickelt, den rechten Weg zu weisen. In allen Reaktionen des menschlichen Bewußtseins auf die tatsächlichen Verhältnisse geht also die gefühlsmäßige Reaktion voran, erst hinterher überprüft sie der Verstand und die durch ihn berichtigten Vorstellungen erleuchten schließlich dem sich aus den Gefühlen entwickelnden Wollen die Bahn.

Unter diesen Umständen müßten eigentlich auch bei höheren Völkern die jeweiligen Ideologien ihren unmittelbaren, auf die ihnen zugrunde liegenden Gefühle zurückwirkenden künstlerischen Ausdruck finden. Nun spiegelt sich zwar der Wandel im Fühlen, Denken und Wollen der höheren Völker zweifellos im Wandel ihrer Kunst wider; aber doch tritt die Beziehung dieses Ausdrucks zum sozialen Leben nicht so klar zutage wie bei den niederen Völkern. Das hat seinen Grund darin, daß bei den höheren Völkern immer die überlieferte religiöse Weltanschauung noch lange eine alle beherrschende Rolle spielt und der Wandel in ihrem Fühlen, Denken und Wollen nur im Rahmen dieser zum Ausdruck kommt. Die Entwicklung der höheren Völker spielt sich ferner stets unter mehr oder weniger heftigen Klassenkämpfen ab, und die Kunst ist zu einem Beruf geworden. Nicht die, in deren Fühlen, Denken und Wollen die vorwärtstreibenden Ideen geboren werden, sind auch diejenigen, die berufen sind, sie zum Ausdruck zu bringen, sondern die Künstler. Könnten sich diese vorwärtstreibenden Ideen zu einer alle umfassenden Weltanschauung ausbreiten, so hätte das wenig zu bedeuten. Das können sie aber nicht, weil sie eben Klassenkampfideen sind, und so hängt alles davon ab, inwieweit die Künstler von ihnen ergriffen werden. Nun hängen die Künstler immer von den herrschenden Klassen ab, und die herrschenden Klassen sind gewöhnlich nicht die revolutionären, sondern die konservativen. Die revolutionären Ideen hätten daher wenig Aussicht, ihren künstlerischen Ausdruck zu finden, wenn die Künstler nicht eben deshalb, weil sie Künstler sind, ein sehr feines Gefühl für die revolutionären Zeitideen besäßen. Sie bringen sie zwar infolge ihrer Abhängigkeit von den herrschenden Klassen nur selten in konkreter Gegenständlichkeit zum Ausdruck, aber immer doch in dem, was man den Stil einer Zeit nennt. Bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein bildete bei den Völkern des Abendlandes die Weltanschauung des Christentums den Rahmen, innerhalb dessen sich die vorwärtstreibenden Ideen zur Geltung brachten. In der Kunst zeigt sich das zweifellos auch in einem gewissen Wandel der religiösen Stoffe, die sie vorzüglich behandelte. Vom fünfzehnten Jahrhundert an traten überdies unter dem Einfluß der humanistischen Strömung neben die religiösen Darstellungen immer mehr und mehr solche aus der Mythologie der Alten und andere profane aus dem Leben der jeweiligen Gegenwart gegriffene. Nichtsdestoweniger wäre es unmöglich, die Kunst der Zeiten vom frühesten Mittelalter an bis in die Neuzeit nach den von ihnen dargestellten Gegenständen voneinander zu unterschieden. Romantik, Gotik, Renaissance und Barock bezeichnen nicht bestimmte Darstellungsgegenstände, sondern ein bestimmtes Formgepräge das allen Arten von Gegenständen gegeben wurde. Neben verschiedenartigen Gegenständen wurden in allen diesen Stilen auch immer wieder die gleichen Gegenstände behandelt. So etwa das Madonnenmotiv. Um wie vieles unterscheidet sich aber eine romantische Madonna von einer gotischen, eine Renaissancemadonna von einer Barockmadonna! Im Formengepräge äußert sich vor allem der Stil und damit auch der Geist einer Zeit.

Die kapitalistische Gesellschaft hat in dem Maße, in dem sie selbst zur Macht gelangte, die Macht der religiösen Weltanschauung gebrochen. Aber sie vermochte an die Stelle der alten keine neue, die Gesamtheit der Menschen umfassende Weltanschauung zu setzen. Sie vermochte es um so weniger, als ihre Ideologie nicht nur, wie die Ideologien aller höheren, sich in der Form des Klassenkampfes entwickelnden Völker, bloß die Ideologie einer Klasse ist, sondern auch ihrem ganzen Wesen nach eher geeignet ist, die einzelnen voneinander zu trennen, als sie organisch miteinander zu verbinden. Die mittelalterliche Gesellschaft war trotz aller Klassenkämpfe, die auch sie erschütterten, doch eine organisierte Gesellschaft. Infolgedessen war eine alle umfassende Weltanschauung, in die sich die zeitlichen Ideologien eingliedern konnten, möglich. Überlieferung und Kunst wirken zusammen diese Weltanschauung noch lange zu erhalten, und die Kunst, die ihr Ausdruck verlieh, konnte daher auch noch lange ihre soziale Wirksamkeit entfalten. Sie verlor sie aber, als diese Weltanschauung bedeutungslos geworden war, weil an ihre Stelle keine neue, der sie wieder hätte Ausdruck verleihen können, getreten war. Die Kunst war ganz auf sich selbst gestellt. Der Gedanke des L’art pour l’art, des Selbstzweckes der Kunst, kam auf und wurde schließlich zum Siege geführt. Und das macht es, daß sie heute eben nur mehr als ein zwar edler, aber doch eben nur als ein Luxus angesehen wird.

Allein wie einst die Kirche, so hat heute die kapitalistische Gesellschaft bereits den Höhepunkt ihrer Machtentfaltung überschritten, und das muß wieder zu einem Wendepunkt in dem Verhältnis der Kunst zum sozialen Leben führen. Denn der Sozialismus, der im Begriffe ist, den Kapitalismus zu überwinden, muß um so eher wieder zu einer aller erfüllenden Weltanschauung führen, als er nicht nur auf eine organische Gliederung der Gesellschaft abzielt, sondern letzten Endes die Überwindung aller Klassengegensätze anstrebt. Die sozialistische Weltanschauung wird dieselbe soziale Bedeutung gewinnen, die einst die religiöse besaß. Und wie die religiöse Weltanschauung ihren unbewußten Ausdruck in der Kunst fand, so wird ihn auch die sozialistische finden, und wie die religiöse Kunst verstärkend auf die religiösen Gefühle zurückgewirkt hat, so wird die sozialistische Kunst verstärkend auf die sozialistischen Gefühle zurückwirken. Die Kunst wird ihre uralte und nur vorübergehend verlorengegangene soziale Bedeutung wieder erlangen.

Daß die Kunst dazu berufen ist, im wesentlichen Maße daran mitzuwirken, die sozialistische Weltanschauung in den Gemütern der Menschen zu verankern, wird wohl von wenigen Sozialisten bestritten werden, wohl aber, daß dazu nur die moderne Kunst berufen sein kann. Gibt es doch überzeugte Sozialisten, die meinen, es genüge, in allen politischen und sozialen Fragen fortschrittlich zu sein, in künstlerischen könne man ruhig konservativ sein. Wer dieser Meinung ist, kann sich allerdings auf die Tatsache berufen, daß auch umgekehrt manche Künstler, die in der Kunst Pioniere des Fortschrittes sind, politisch konservativ sind. Allein diese wegen der Abhängigkeit der Künstler von dem besitzenden Bürgertum begreifliche Inkonsequenz rechtfertigt nicht die Inkonsequenz jener Sozialisten. Und es ist nicht nur inkonsequent, sondern sogar ein geradezu eklatanter Widerspruch, den Entwicklungsgedanken in der Kunst zu verneinen, wenn man die Wissenschaft des Sozialismus auf ihn gründet und insbesondere wenn man mit Marx überzeugt ist, daß eine Veränderung der ökonomischen Grundlage der Gesellschaft notwendigerweise eine Veränderung ihrer ideologischen Formen, zu denen nicht nur die Politik, sondern auch die Kunst zu zählen ist, herbeiführen muß. Daß dieser Zusammenhang zwischen fortschrittlicher Politik und moderner Kunst nicht immer recht begriffen wird, ist darauf zurückzuführen, daß man in der Kunst eben mehr auf den Gegenstand der Darstellung achtet als auf die Art seiner Darstellung, mehr darauf was, als darauf wie, gleichgültig was, dargestellt wird und daß man daher nicht die befremdliche moderne Kunst als den ideologischen Reflex der geänderten ökonomischen Grundlage der Gesellschaft ansieht, sondern die gewohnte konservative Kunst, sofern sie nur Gegenstände aus dem Leben und den Kämpfen der Arbeiterklasse darstellt. Es kann hier nur wiederholt werden, daß sich der Geist einer Zeit gewiß auch in bestimmten Gegenständen der Darstellung, daß er sich aber noch viel stärker in dem Formengepräge ausdrückt, das irgendwelchen Gegenständen gegeben wird. Gewiß kommt beispielsweise der Geist der Gotik auch in den religiösen Stoffen, die sie vorzugsweise behandelt, zum Ausdruck, aber dieselben religiösen Vorwürfe sind auch zu anderen Zeiten gestaltet worden, ohne daß die Darstellungen auch nur das geringste mit Gotik zu tun haben, und die Gotik hat auch profane Gegenstände gestaltet und diese Darstellungen atmen denselben Geist wie ihre religiösen. So ist es auch heute. Gewiß äußern sich die vorwärtstreibenden sozialistischen Ideen der Gegenwart auch darin, daß sozialistische Stoffe behandelt werden, aber noch viel mehr in der Art, wie von der modernen Kunst irgendwelche und auch nichtsozialistische Stoffe zur Darstellung gebracht werden, und wenn sozialistische Stoffe in der Art der konservativen Kunst behandelt werden, so hat das weniger mit dem Geiste des Sozialismus zu tun als Darstellungen irgendwelcher und auch nichtsozialistischer Gegenstände in der Art der modernen Kunst. Wie sich der Geist einer Zeit in ihrem Stil manifestiert, und insbesondere der Geist des Sozialismus in der modernen Kunst, das näher auszuführen sei einem besonderen Aufsatz vorbehalten.

In: Der Kampf H. 2/1927, S. 92-96.

E[rmers]: Große Protestaktion der österreichischen Künstlerschaft gegen den Regierungsentwurf [Schmutz- und Schundgesetz] und gegen ihre Übergehung. (1928)

             Schneller als es bei den sehr komplizierten Organisationsverhältnissen der österreichischen Künstlerschaft vermutet werden konnte, haben sich Schriftsteller, Dichter, Musiker, bildende Künstler aufgerafft, um die bedenkliche Aktion, die die Regierung mit dem beabsichtigten Schund- und Schmutzgesetz vom Zaune gebrochen hat, respektive durch die Bundesrätin Berta Pichl auffrischen ließ, in geordnete und mögliche Bahnen zu lenken. Einmütig stellten gestern in einer Delegiertenversammlung der literarischen Sektion des Gesamtverbandes schaffender Künstler Österreichs – der bekanntlich als Zentralorganisation der österreichischen Künstler und Schriftsteller die künftige Künstlerkammer vorzubereiten betraut ist – alle Organisationen fest, daß das seit dem Vorjahre bereits vorhandene Sittlichkeitsmachwerk der Regierung völlig unbrauchbar sei. Von der „Concordia“ bis zur zur Schriftstellergenossenschaft, von der Gesellschaft dramatischer Autoren bis zum Schutzverband deutscher Schriftsteller… alle verurteilten das Kautschukwerk der Regierung, das wahren Schund – ähnlich wie beim deutschen Gesetz – nirgends verhindern kann, dafür aber der Willkür, dem Unverstand des neugeschaffenen Zensors und der politischen Reaktion Tür und Tor öffnet.

             Alle irgendwie repräsentativen Schriftsteller hatten es für notwendig gehalten, persönlich zu erscheinen: Wildgans, Hofmannsthal, Auernheimer, Beer-Hofmann, … Schnitzler, Wassermann, Schönherr, Zweig hatten brieflich ihre Zustimmung zur Protestaktion gegeben. Kein Meinungsunterschied – höchstens in Nuancen – was zu sehen zwischen der Stellungnahme der mehr rechtsgerichteten Verbände (K. H. Strobl) und des Schriftstellerinteressen am radikalsten vertretenden Schutzverbandes (repräsentiert durch Hofmannsthal und Sonka). Als unerträglich wurde es einmütig empfunden, daß im neuen Gesetz durch ernannte Vollstrecker des jeweiligen Regierungswillens – Prüfungsstelle genannt – Richter und Buchhändler, Kunsthändler und Jugendfürsorger, eine neue Zensur eingeführt werde, die die wahre Kunst majorisiert und in Gefahr bringt, ohne der Sittlichkeit zu helfen. Ganz anderes wäre von einem Gesetz zu erwarten, in dem die von den Künstlerorganisationen ernannten Vertreter ausschlaggebende Stimme hätten.

             Die Delegiertenversammlung, die unter dem Vorsitz Hofrat Dr. Ernst Lothars gestern im Künstlerhaus tagte, faßte schließlich die nachstehende Resolution, der sich in den nächsten Tagen die Sektion der Tonkünstler und der bildenden Künstler zweifelsohne anschließen werden, so daß der Regierung nun die einmütige Stellungnahme der österreichischen Künstlerschaft vorliegt, an der sie schlechterdings nicht mehr vorübergehen kann:

Die unterzeichneten Schriftsteller erklären für sich und für die durch sie vertretenen Schriftstellerverbände und Organisationen, daß sie jedem Kampfe gegen die Gefährdung der Jugend durch Schmutz- und Schundschriften ihre Unterstützung zu leihen bereit sind, daß sie aber den vorliegenden Regierungsentwurf für ungeeignet halten, dieses Ziel zu erreichen. Sie verwahren sich insbesonders gegen den § 2 des Entwurfes, der die Entscheidung darüber, was jeweils als Schmutz und Schund anzusehen sei, einer zu dieser Entscheidung durchaus ungeeigneten Prüfungsstelle überläßt, da diese Prüfungsstelle unter fünf Mitgliedern nur einen einzigen Vertreter der Kunst und Literatur aufweist. Das Unerträgliche dieser Bestimmung wird dadurch noch vermehrt, daß auch die Wahl dieses einzigen Sachverständigen nicht den hiezu berufenen Organisationen und Verbänden, sondern dem Gutdünken der Regierung überlassen wird.

[… gez. von 18 Schriftstellern: R. Auernheimer – St. Zweig]

In: Der Tag, 17.4.1928, S. 2.

Arnolt Bronnen: Sabotage der Jugend (1922)

Nachdem vor etlichen Sonnenjahren mit großem Lärm sich neue Menschen und neue Geschehnisse angekündigt hatten, bemerkt der gütige Leser aus der großen Stille, daß wieder einmal mehr Worte den Zähnen entrannen, als mit der Schwäche der Lungen vereinbar war, und geht zur Tagesordnung über. Ihm sei im folgenden ein kleines, harmloses Märchen, sozusagen eine sinnige Allegorie erzählt.

             Der junge Autor hatte im Jahre x13 die kindische Idee, gänzlich unvorbereiteterweise ein Schauspiel zu schreiben. In diesem glücklichen Alter hat man natürlich keine Ahnung, wozu das weiter gut sein soll. Im übrigen ist es seinem auch völlig wurst. Also sandte der junge Autor das Produktum teils für fünfundzwanzig Mark einem literarischen Bureau, wo offenbar gleich mehrere Leute von dergleichen Späße lebten, teils einen „Autoritäten“.

             Der junge Autor erhielt zwei Schreiben, in denen behauptet wurde, das Stück müsse und werde gedruckt werden. Es sei gleich bemerkt und der gütige Leser wird mir’s aufrichtig danken –, daß dies bis heute nicht geschehen ist. Hierauf wurde das Produktum dem großen Verlage gesandt. Der große Verlag sandte es dem großen Theater, und das große Theater sandte es dem großen Verlage. So oder so ähnlich spielte sich dies anmutige „Vater, leih mir d’Scher“ ab.

             Es würde den gütigen Leser ebenso langweilen wie den jungen Autor, wenn hier geschildert werden sollte, was sich im Jahre x14 ereignete, als der junge Autor auch weiterhin furchtbar einhertrat auf der eigenen Spur. Um es kurz zu sagen: es spielte sich dasselbe ab. […] Es kann also nicht behauptet werden, daß der junge Autor etwa an den falschen gekommen ist, wie dies dem Fräulein Säuselrot geschah, als sie ihre revolutionäre Lyrik im „Schwarz-Gelb-bis-auf-die-Knochen-Verlage“ veröffentlichen wollte. Nichts hiervon. Der Kern der Sache – lag wo anders.

             Der Kaiser rief, das Volk stand auf. Der junge Autor legte rasch ein Ei und stürmte mit den k. und k. hinaus. In alter Ahnungslosigkeit wurde auch dieses Eich dem Laboratorium des großen Theaters zur Bebrütung eingesandt. Die Front verschluckte den Helden, während die Konjunktur der Kriegsstücke die Heimat ergriff, saß der junge Autor drei Jahre in der Sizilei. Andere Leute hätten in dieser freien Zeit hundert Dramen geschrieben; die gerührte Mitwelt dankte es dem jungen Autor, daß er nur ein halbes schrieb (und auch das war nichts wert).

             Es sei bemerkt, wo nicht gar betont, daß der junge Autor bis dahin zu den Leuten gehörte, die das Gefühl hochgradiger Wurschtigkeit gegenüber den eigenen Produktionen beseelte. Ach, mit den Jahren wird es anders. Als gegen Ende des Jahres x19 der junge Autor in die schiebende Heimat zurückkehrte, da – dies läßt sich nicht länger verheimlichen – war es anders geworden. Man begann zu denken, man begann zu rechnen. Und die Rechnung lautete: sechseinhalb Jahre.

             Sechseinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Der große Verlag erhielt einen Brief, der sich gewaschen hatte. Die Gönner erhielten Briefe, die sie sich kaum auf den Hut stecken werden. Sie antworteten übrigens prompt, wie schon Gönner sind. Und nun wäre ohne Zweifel alles geblieben, wie es war, wenn nicht der große Verleger sich der geschlossenen Front seiner Lektoren gegenübergesehen hätte. Nun, er nahm zwei Sachen von vieren.

             Und druckte eine. […]

Im weiteren Verlauf dieser Geschichte seien nur kurz gestreift die gebrochenen Verträge der Theater, die Sage von den Konventionalstrafen, die Legende vom modernen Theaterdirektor und die schwachen Nerven aller Beteiligten. […]

             Diese Schauermär erzählt Ihnen, gütige Leser, Herr Bronnen aus folgenden Gründen: erstens weil sie wahr ist; zweitens weil sie ein sehr mild verlaufener Fall dessen ist, was täglich passiert; drittens weil dann dieselben Leute, die wissen, daß es passiert, ebenso täglich zu behaupten pflegen, daß die Jugend nichts wert ist; und viertens, weil sie das nicht nur behaupten, sondern auch noch beweisen, und sie beweisen es nicht nur, sondern es ist auch wahr, und es ist deshalb wahr, weil die ganze Generation von den kargen Brocken lebt, die ihnen eine schroffe Zunft von Verlegern vor die Füße wirft.

             Und ich behaupte – und Gott strafe mich, wenn ich es je beweisen müßte: Niemals hat eine Zeit ihre Jugend mehr verhöhnt und frecher verhandelt als diese. Während aus den Hirnhöhlen der Verstorbenen die die Villen der Obengenannten aufbauen, vererbt sich das Wesen des Schaffenden gezwungen in Inzucht. Es geht die Epoche, ohne zu lernen, und es sterben die Jungen, ohne geben zu können.

In: B.T. (vermutlich Berliner Tagblatt, 1922; nicht verifizierbar; zit. nach F. Aspetsberger, A. Bronnen: Sabotage der Jugend. Kleine Schriften. Innsbruck 1989, S. 15-17)

Lajos Kassák: An die Künstler dieser aller Länder!

Die in ihren Gedanken unverstandenen, in ihren Handlungen allein handelnden Künstler einer Klasse, die sich zum Menschentum erlösen will, rufen wir mit brüderlichen Worten an. Höret uns! Aus unseren Stimmen empören sich blutfarbene Frage- und Rufzeichen und was sich davon zum Sinn verdichtet, ist unser unwandelbarer Glaube an die ewige Revolution. Für uns gibt es nur ein Gesetz: Ein fortwährendes Vorwärtsdrängen im großen Leben, alles andere wäre ein Verkriechen vor dem feigen Selbst oder ein entsagungsvolles Warten auf den Tod. Und wir fürchten uns nicht vor uns und wollen nicht auf unser Leben verzichten. Unser Leben ist die Revolution, unsere Revolution ist das heiligste Bekenntnis zur Liebe.

1920 sind wir bereits über das romantische Emporsehnen hinausgewachsen, mit allen blutenden Wurzeln sind wir zum Absoluten herausgerissen worden, wir haben ein Recht auf das gestenlose Wort.

Wir haben das Leben erkannt, in uns ist das Gesetz.

Wir haben keine Wurzeln in der Vergangenheit, keine Zügel, die in die Zukunft führen.

Unser einziger Weltruf ist das unserem Leben entströmende Blut: Mensch, wo bist du?

Das Wesen der neuen Kunst ist das Aufspüren der tragischen Gegenwart und ihr Aufleuchten in der kreißenden Zeit. Die Bestimmung des neuen Künstlers ist das Zu-sich-Erwecken der Menschheit, [die] einerseits der Dummheit der Unterdrückten, andererseits der Krämerspekulation der Herrschenden verfallen ist.

Also keine individuelle Verklärung und keine Massenkunst im Sinne der Volkstribunen. Darüber müssen wir uns im klaren sein. Denn nur durch diese Erkenntnis führt der Weg zur Wahrheit der Gegenwart, zur einzigen Wahrheit, zum Leben, zu mir, zu dir, zur Einheit.

Das ist unsere Forderung sowohl an die Schöpfer, wir auch an die Empfänger der Kunst. Und dadurch machen wir mit einem Handgriff den Gebenden und den Nehmenden gleich. Denn wie einst die Bedienenden und die Bedienten verschwinden werden, sollen auch die Verklärten und die Erniedrigten verschwinden. Die Parole heißt: Der Mensch. Und wir sind Menschen in unserer Kunst und wie wir in der der Vergangenheit nicht die Diener der Bourgeoisie waren, wollen wir auch in der Zukunft keiner Klasse dienen, – auch dann nicht, wenn diese Klasse „Proletariat“ heißt. Wir glauben, daß die Dienstbarkeit für irgendeine Klasse nur eine neue Variante der heutigen sklavenhaften Gesellschaftsform vorbereitet. Wir wollen keiner neuen Klasse an die Stelle // der alten Klasse emporhelfen. Wir verkünden im Gegensatz zu jeder Klassenherrschaft die siegreiche menschliche Gemeinschaft, im Gegensatz zu jeder Staatsmoral die kollektive Ethik. Und von da aus strahlt die Wärme und der Glanz unserer Bruderworte. Unsere Wege führen in das Reich der Brüderlichkeit und unsere Fahne ruft die Verkündigung der Tat aus. Nicht die des Hasses, sondern die der Erlösung.

Nur diese kann die gerechte Stimme des Heute sein.

Brüder! Wenn wir von historischem Boden euch Signale zurufen, dann suchen wir in euch zu Revolutionen mit Streitäxten bewaffneter Vernichter und Baumeister mit erhellten Köpfen. Wir werben aus den von Bitternissen überschäumenden Massen die Pioniere des befreienden Gedankens. Aus diesen Massen, die noch immer nichts als ihren Magen werten, und an welchen wieder alle gute Hoffnung zu zerschellen scheint. Die Energien des sich empörenden Proletariats sind für Leben und Tod an das Geleise gebunden und über der bremsenden Welt erschallen die Glocken der Todesstunde.

Klar sollen die Sehenden sehen!

Die Revolution kann nicht zur Lösung einer einzigen Frage, eines einzigen Motivs dienen. Die die Revolution ist nicht ein Mittel zur Eroberung des Lebens: die Revolution ist das Ziel selbst: Das Leben.

Verstehen wir uns: das gegenwärtige Beben bedeutet noch nicht den Beginn einer neuen Welt, vielmehr nur den Abschluß der alten. Es bedeutet nicht das gemeinsame und individuelle Leugnen der Herrschaft, sondern die Eroberung dieser durch Kraftgenossenschaften. Nicht die sinnvolle Überentwicklung der bürgerlich gefärbten Sozialdemokratie, sondern bloß deren Entwicklung zur vollkommenen Form: der terroristischen Sozialdemokratie.

Doch das alles ist immer noch Politik.

Kampf einzelner Parteien um die Macht durch das Bewegen der Massen.

Positionswechsel mit Positionseifersucht.

Doch schon klaffen uns die Perspektiven entgegen!

Die tragischen Individuen, wie verwunschene Engel der Mythologie tragen schon in ihrer Seele und heben wie eine Monstranz über uns die einzig sichere Bürgschaft der Revolution: das aktive Selbstbewußtsein.

Und jetzt ist unsere und eure Zeit gekommen, Brüder, die wir auf der Basis des historischen Materialismus die Seele des Menschen in Brand stecken wollen. Im Gegensatz zu jeder Klassenmoral heben wir jetzt die ewige Stabilität der Ethik ans Licht. Denn sie ist der Sinne aller Kräfte. Die Betonung der materiellen Umgestaltung genügt nicht zur Lösung der menschlichen Lebensmöglichkeiten. Die Massen haben genügend gedarbt, um zu einer Meuterei immer bereit zu sein, dadurch ihr Schicksal momentan zu verbessern; – jetzt heißt es aber, wie vorher noch niemals, die instinktive Meuterei zu einer bewußten Revolution zu vertiefen und zu stabilisieren. Mit der Befreiung der realen Kräfte müssen auch die abstrakten Begriffe umgewertet werden.

Zur gleichen Zeit, in der der belastende Morast abgestreift wird, muß auch das einzige Ziel beleuchtet werden. Denn nur das ewige Vorwärtsgehen kann uns im Kampfe mit dem Augenblick festigen. Denn nur die befreite Seele allein kann den befreiten Körper vor einer neuen Unterjochung schützen.

Brüder, aus deren traurig-fröhlicher Seele das nach dem gleichen Ziele strebende Leben der Wissenschaft, Technik und Politik emporströmt, ihr wißte es so gut wie wir, – es ist nicht anders möglich! Wir wissen, daß es wirtschaftliche Gründe sind, die den ersten Stoß (den Stoß zur Form) der revolutionären Bewegung geben, aber ihre unwandelbaren, dauernden Stützen sind doch die erwachten seelischen Kräfte, das reine einheitliche Bewußtsein. Und jetzt ruft dieses in unserer Seele neugeborene Bewußtsein euch an. Ihr neuen Künstler! Reicht euch im Chaos der Revolution die Hand, auf daß die Harmonie der Revolution als Blut desselben Blutes in uns zusammenklinge. Hinaus über die Klasseninteressen für die universalen Interessen der gesamten Menschheit. Über die Diktatur der Klasse, – für die Diktatur der Idee.

Und weg mit den auf den Fahnen geschriebenen Namen, mit dem Scheinhumanismus und mit dem individuellen Imperialismus!

Kein Stehenbleiben!

Brüder, verbrüdert euch zum Aufbau des neuen Menschen, des kollektiven Individuums!

Denn unter den Fahnen des Kommunismus, des reinsten Glaubens, kann kein anderes Interesse bestehen, als das mächtige Lebensinteresse der Menschheit, von der sowohl Du als ich gleiche Teile sind ein und desselben Stammes!

Die Verwirklichung dieses Interesses unter der Diktatur der Idee kann einzig und allein durch die Revolutionierung der Seelen geschehen.

Diese Revolution kann nur durch moralische und zweckmäßig kulturelle Erziehung des Proletariats als für die Zukunft einzig gesunden Rohmaterials gesichert werden.

Also Kultur! Und wieder Kultur!

Das Proletariat rüttelt unaufhaltsam an der Macht der unterjochten Väter; – unsere Pflicht ist es gegen die Herrschaft der erstgeborenen Brüder den Kampf aufzunehmen.

Nieder mit der mit Menschenblut kalkulierenden Politik! Nieder mit den Talmudisten der Revolution!

Die Logik der Advokaten, der Mechanismus der Administratoren, die langweiligen Reden der Redner reichen bei weitem nicht aus.

Es lebe die gegen jede Tradition kämpfende Revolution! Es lebe das verantwortliche kollektive Individuum! Es lebe die Diktatur der Idee!

Im Namen der ungarischen Aktivisten

Wien, am 15. April 1920.

In: MA, H. 1/1920, S. 2-4.

Ludwig Meidner: An alle Künstler. Dichter. Musiker

Damit wir uns nicht mehr vor dem Firmament zu schämen haben, müssen wir uns endlich aufmachen und mithelfen, daß eine gerechte Ordnung in Staat und Gesellschaft eingesetzt werde.

             Wir Künstler und Dichter müssen da in erster Reihe mittun.

             Es darf keine Ausbeuter und Ausgebeuteten mehr geben!

             Es darf nicht länger sein, daß eine gewaltige Mehrheit in den kümmerlichsten, unwürdigsten und entehrendsten Verhältnissen leben muß, während eine Minderheit am übervollen Tisch vertiert. Wir müssen uns zum Sozialismus entscheiden: zu einer allgemeinen und unaufhaltsamen Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die jedem Menschen Arbeit, Muße, Brot, ein Heim und die Ahnung eines höheren Zieles gibt. Der Sozialismus muß unser neues Glaubensbekenntnis sein!

             Er soll beide erretten: den Armen aus seiner Schmach der Knechtschaft, der Dumpfheit, Rohheit und Gehässigkeit – und den Reichen will er vom erbarmungslosesten Egoismus, von seiner Habgier und Härte erlösen für immerdar.

             Uns Maler und Dichter verbinde mit den Armen eine heilige Solidarität! Haben nicht auch viele unter uns das Elend kennen gelernt und das Beschämende des Hungerns und materieller Abhängigkeit?! Stehen wir viel besser und gesicherter in der Gesellschaft als der Proletar?! Sind wir nicht wie Bettler abhängig von den Launen der Kunst sammelnden Bourgeoisie!

             Sind wir noch jung und unbekannt, so wirft sie uns einen Almosen hin oder läßt uns lautlos verrecken.

             Wenn wir einen Namen haben, dann sucht sie uns durch Geld und eitle Wünsche vom reinen Ziele abzulenken. Und wenn wir längst im Grabe, dann deckt ihr Protzertum unsere lauteren Werke mit Bergen von Goldstücken zu. – Maler, Dichter, Musiker, schämt euch eurer Abhängigkeit und Feigheit und verbrüdert euch dem ausgestoßenen, rechtlosen, gering bezahlten Knecht!

             Wir sind keine Arbeiter, nein. Rausch, Wonne – Verglühen ist unser Tagewerk. Wir sind leicht und wissend und müssen wir Führer-Fahnen vor unsern schweren Brüdern wehen.

             Maler, Dichter….. wer sonst sollte für die gerechte Sache kämpfen als wir?! In uns pocht noch mächtig das Weltgewissen. Die Stimme Gottes in uns facht immer von Neuem unsere Empörerfäuste an.

             Seien wir auf der Hut!

             Wird nicht schon morgen wieder die Bourgeoisie die Staatsgewalt in ihre Hände reißen durch Putsche, Bestechung und skrupellose Wahlpraktiken? Wird dieses neue Deutschland der herrschenden Bourgeoisie nicht noch unverschämter menschliche Arbeitskraft ausnützen, den Armen noch brutaler ducken? Wird es nicht in allen geistigen Dingen noch arroganter und frecher triumphieren wollen, als es je das kaiserliche Deutschland getan?!

             Denn dieses, mit seiner aufgetakelten Macht von Kanonen, Kasernen und Eisenschiffen, ABC-Schulen, Polizisten und falschen Pfaffen, war zu plump und träg und unwissend, um ernsthaft in den Bezirken des Geistigen großen Schaden anrichten zu können. Wo aber der despotische Bourgeois aufkommt – wo der in den edlen Räumen des Geistes mit seiner wüsten Tatze hintritt – da wächst kein Gras mehr nach.

             Maler, Dichter! Scharen wir uns mit unseren eingeschüchterten wehrlosen Brüdern um den Geist!

             Der Arbeiter achtet den Geist. Er bemüht sich mit kräftigem Eifer um Erkenntnis und Wissenschaft.

             Der Bourgeois ist ehrfurchtslos. Er liebt nur Spielerei und ästhetisch verbrämte Stupidität und haßt und fürchtet den Geist – denn er fühlt, daß er von ihm entlarvt werden könnte.

             Der Bourgeois kennt nur eine Freiheit, seine eigene – d.h. die Anderen ausbeuten zu können. Das ist der bleiche Terror, der geht schweigend und Millionen sinken hin und verwelken früh.

             Der Bourgeois kennt keine Liebe – nur Ausnutzung und Übervorteilung.

             Auf, auf zum Kampfe gegen das häßliche Raubtier, den beutelüsternen, tausendköpfigen Kaiser von morgen, den Gottesleugner und Anti-Christ!

             Maler, Baukünstler, Skulptoren, denen der Bourgeois hohe Löhne für eure Werke zahlt – aus Eitelkeit, Snobtum und Langeweile – höret: an diesem Gelde klebet Schweiß und Blut und Nervensaft von tausend armen, abgejagten Menschen – höret: das ist ein unreinlicher Gewinn.

  • Ach, wir wollen ja nur leben können und unsere Werke tun zum Preise Gottes!

Maler, Dichter und alle Künstler, alle aufrichtigen Freunde der Künstler, Kameraden

alle; wir müssen uns stark machen: es geht um den Sozialismus. Wir wollen keinen blutbefleckten Lohn mehr. Wollen frei sein, zu unserer und der Menschheit Lust uns hinströmen.

             Kameraden, höret weiter: wir müssen Ernst machen mit unserer Gesinnung. Wir müssen uns der Arbeiterpartei anschließen, der entschieden unzweideutigen Partei. Wir müssen wahrhaft sozialistische Kämpfer werden, den Brüdern helfen, den Bürger stellen und brandmarken, wo wir ihn treffen. Wir müssen uns unter die Armen mischen, belehrend wirken, unterrichten, aufklären, anfeuern, eifern, hetzen, schüren und wenn die Stunde kommt – mit angetreten in Reih und Glied gestellt – mit der Flinte gegen den Feind – O, einen blutheißen Leiberwall der Herzen und Geister gegen den Feind!

             Ich bin organisierter Sozialdemokrat gewesen seit fünfzehn Jahren, aber ich habe die Jahre nutzlos vertan, die Zeit vertrödelt, verträumt. Nun muß ich mich in Gewühle stürzen, meine Liebe, meinen Haß zu verströmen, wie mein Blut! – O, entfachte einen nimmersatten Haß – um der Gerechtigkeit willen schüret diesen Haß in euch.

             Was nützt uns Reichtum und üppiges, parasitäres Schwelgen?! Ist’s nicht der Ruin eines jeden Talentes gewesen? Wie habt ihr Maler vor dem Kriege gepraßt und gesoffen und hirnlos eure Kraft verpufft!! Machet euch frei, so weit es geht, vom gleißnerischen Bourgeois. Und nicht mehr scharwenzelt in der Salons und die reichen Schmarotzer umwedelt. Arm sein mit den Armen! Die Hauptsache, es reicht auf den Suppen- und Farbentopf.

             Jetzt heißt es: Emanzipation der Arbeiterklasse. Aber auch: Emanzipation der Künstler und Dichter. Wir wollen keine Spaßmacher mehr sein für die gute Verdauung der reichen Narren, Snobs und Fanfarons!

             Hinan, hinan! auf die Tribünen – auf die Bastionen der kommenden Menschheit: für Menschenwürde, Menschenliebe, Gleichheit und Gerechtigkeit. Ja, wir sind alle gleich. Vom einen Ursprung sind wir ausgeschickt. Wer will sich über seinen Bruder erhöhen?!

             Entschließen wir uns zum Menschheitskampfe, wir Maler! Wir werden einen herrlichen Gewinn davontragen –: unser Werk wird tiefer werden, die Linien edler, das Pathos sublimer. Denn die Werke sind immer aufs Haar Ausdruck unseres Denkens und Tuns. Wir müssen unsere Trägheit meistern, uns anschließen den kämpfenden sozialistischen Reihen. O, uns leite an diesem dunklen Tag die göttliche Stimme: Gerechtigkeit und Liebe.

             Mit Leib und Seele, mit unseren Händen müssen wir mittun. Denn es geht um den Sozialismus – das heißt: um Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Menschenliebe – um Gottes Ordnung in der Welt.

In: Der Anbruch, H.1/1919, o. S. [1]

El Lissitzky: Die elektro-mechanische Schau

             Vorliegendes ist das Fragment einer Arbeit, die aus der Notwendigkeit, den geschlossenen Kasten des Schaubühnentheaters, den geschlossenen Kasten des Schaubühnentheaters zu überwinden, entstanden ist (Moskau 1920-21.)

             Die großartigen Schauspiele unserer Städte beachte niemand, denn jeder „jemand“ ist selbst im Spiel. Jede Energie ist für einen eigenen Zweck angewendet. Das Ganze ist amorph. Alle Energien müssen zur Einheit organisiert, kristallisiert und zur Schau gebracht werden. So entsteht ein WERK – mag man das KUNSTwerk nennen.

             Wir bauen auf einem Platz, der von allen Seiten zugänglich und offen ist, ein Gerüst auf, das ist die SCHAUMASCHINERIE. Dieses Gerüst bietet den Spielkörpern alle Möglichkeiten der Bewegung. Darum müssen seine einzelnen Teile verschiebbar, drehbar, dehnbar usw. sein. Die verschiedenen Höhen müssen schnell ineinander übergehen. Alles ist Rippenkonstruktion, um die im Spiele laufenden Körper nicht zu verdecken. Die Spielkörper selbst sind je nach Bedarf und Wollen gestaltet. Sie gleiten, rollen, schweben auf, in und über dem Gerüst. Alle Teile des Gerüstes und alle Spielkörper werden vermittels elektro-mechanischer Kräfte und Vorrichtungen in Bewegung gebracht, und diese Zentrale befindet sich in Händen eines Einzigen. Sein Platz ist im Mittepunkt des Gerüstes, an den Schalttafeln aller Energien. Er dirigiert die Bewegungen, den Schall und das Licht. Er schaltet das Radiomegaphon ein, und über den Platz tönt das Getöse der Bahnhöfe, das Rauschen des Niagarafalles, das Gehämmer eines Walzenwerkes. An Stelle der einzelnen Spielkörper spricht der SCHAUGESTALTER  in ein Telephon, das mit einer Bogenlampe verbunden ist, oder in andere Apparate, die seine Stimme je nach dem Charakter der einzelnen Figuren verwandeln. Elektrische Sätze leuchten auf und erlöschen. Lichtstrahlen folgen den Bewegungen der Spielkörper, durch Prismen und Spiegelungen gebrochen. So bringt der SCHAUGESTALTER den elementarsten Vorgang zur höchsten Steigerung.

             Für die erste Aufführung dieser elektro-mechanischen SCHAU habe ich ein modernes Stück, das aber noch für die Bühne gedichtet ist, benutzt. Es ist die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“ von A. Krutschonich, dem Erfinder des Lautgedichtes und Führer der neuesten russischen Dichtung. Die Oper wurde 1913 in Petersburg zum ersten Male aufgeführt. Die Musik stammt von Matjuschin (Vierteltöne). Malewitsch malte die Dekorationen (der Vorhang – schwarzes Quadrat). Die Sonne, als Ausdruck der alten Weltenergie, wird vom Himmel gerissen durch den modernen Menschen, der kraft seines technischen Herrentums, sich eine eigene Energiequelle schafft. Diese Idee der Oper ist in eine Simultaneität der Geschehnisse eingewoben. Die Sprache ist alogisch. Einzelne Gesangspartien sind Lautgedichte.

             Der Text der Oper hat mich gezwungen, an meinen Figurinen einiges von der Anatomie des menschlichen Körpers zu bewahren. Die Farben der einzelnen Teile meiner Blätter sind, wie in meinen Proun-Arbeiten, als Materialäquivalent zu betrachten. Das heißt: bei der Ausführung werden die roten, gelben oder schwarzen Teile der Figurinen nicht entsprechend angestrichen, vielmehr in entsprechendem Material ausgeführt, wie zum Beispiel blankes Kupfer, stumpfes Eisen usw.

             Die Entwicklung des Radio in den letzten Jahren, der Lautsprecher, der Film- und Beleuchtungstechnik und einige Erfindungen, die ich selbst inzwischen gemacht habe, das alles macht die Realisierung dieser Ideen noch viel leichter, als mir das 1920 vorgeschwebt hat.

In: MA (9), H. 8/1924, S. 5.

Josef Luitpold Stern: Auf dem Wege zur Kultur.

Die Entfaltung der Geistigkeit der modernen Arbeiterschaft ist noch wenig erforscht, noch wenig beschrieben. Die Ergebnisse dieser Forschungen sind nur versprengt, nur vom Lesefleiß auffindbar. Eine umfassende Darstellung des Erwachens der proletarischen Seele gibt es noch nicht. Aber welcher Weg von den unglücklichen Kindern des Frühkapitalismus, als Fünf- und Sechsjährige verkauft und vermietet von Armenhäusern und Pfarreien an die Fabrikaten – „Maschinengeklapper, die einzige Musik, die das Kind von seinem zarten Alter an zu hören bekommt“ – bis zum Ausklingen von Arbeiterkinderchören in Sinfoniekonzerten des Proletariats von heute! Welcher geistige Werdegang vom Manufakturarbeiter des 18. Jahrhunderts in der Schilderung Tucketts bis zum geschulten Betriebsrat mit der Sehnsucht nach der Arbeiterhochschule! Welche Wende von der Zeit, in der die Sprache der schaffenden Massen „wenig mehr als die Artikulation der dringen Bedürfnisse“ genannt werden konnte, bis zu den ergriffenen Klassengenossen eines Bebel, eines Gorki. Welche Wandlung des proletarischen Menschen aus jenem Zustand der Massennarkose und der wehrlosen Stumpfheit, noch von Viktor Adler gesehen, „unterbrochen durch Aufregungszustände mit phantastischen Träumen und ziellosen Traumhandlungen“, bis zur Klassenreise und Geschichtskraft des industriellen Volkes von Wien! Welche Revolution des Lebens vom Maschinensturm zum Arbeiterurlaub in der proletarischen Schutzhütte!

             Diese Odyssee des Heldenschicksals einer Klasse ist noch nicht in Worte gefaßt. Diese bannende, aufwühlende Wucht ihrer bald den ganzen Erdball umspannenden Leiden, Aufstände, Niederlagen und Siege wartet noch des proletarischen Homer. Ist ihr der doch gewaltige Geisterkampf des Bürgertums zur Zeit seiner glorreichen Erhebungen an die Seite zu stellen? Nicht im Maße der Tiefe und Verkommenheit, aus der es zu steigen galt; nicht im Vergleich der Millionenmassen, die ihre Befreiung planvoll ins Werk setzen; nicht in der Namenlosigkeit der Rückschläge und Verfolgungen; nicht in der Flammenkraft der Ziele, um die gestritten wird.

Aus dunklen Tiefen tagempor

sonnenhungrig ringt ein Riese…

Aus seinen Augen zucken

unlöschliche Strahlen des Lichtes,

und ob sie mit goldenen Händen

ihn niederdrücken und schänden,

der Riese läßt sich nicht ducken

und wächst mit gewaltigen Rucken

aus dem verachteten Nichts.

             Und dennoch: je sieghafter der Riese dem verachteten Nichts entwächst, je bewußter der geistige Befreiungskampf geführt wird, je kraftvoller Sehnsucht in Erprobung, Forderung in Erfüllung übergehen, um so ernster wird das erfahrende Proletariat die Weisheit des Goethe-Wortes zu werten wissen: Aller Anfang ist leicht.

             War es schwer, die verdammte Bedürfnislosigkeit der Massen zu überwinden? Es wird schwerer sein, das erwachende Kulturbedürfnis der Massen vor der Verdammnis seiner Verbürgerlichung zu bewahren. Es war schwer, in Kellergeschossen die ersten Wahlvereine zu gründen? Es wird schwerer sein, den Schöpfermut zu den Kathedralen der Massenbewegung zu finden. Es war schwer, Arbeitergesang//vereine zu schaffen? Es ist schwerer, ein halbes Jahrhundert später auf künstlerische Erfolge proletarischen Gepräges hinzuweisen. Groß ist es, Arbeiterkultur zu wünschen; größer, sie zu schaffen. Der Beginn einer Bewegung gestattet Schwäche, erklärt Unzulänglichkeit. Aufstieg und Vormacht steigern die Erwartung, spornen den Anspruch.

             Es gibt sichere Vorzeichen des Beginnens einer antiproletarischen Kulturkritik. Die Epoche des Gleichgewichts der Klassen treibt sie hervor. Das Proletariat ist nicht mehr so schwach, nur Kritik an der bürgerlichen Welt zu üben. Es schickt sich an, selbst Kulturmacht zu werden. Presse und Verlag, Architektur, Theater und Musikleben, Radio und Kino, Fest und Geselligkeit, sie bedeuten kein reines Klassenmonopol mehr. Die Bourgeoisie wird besorgt. Die Bourgeoisie ist nicht mehr so selbstbewußt, an der wachsenden Geistigkeit des Proletariat ein Klassenkampfmittel zu entdecken.

             Was kann antiproletarische Kulturkritik erhoffen? Sie tritt mit ultrarevolutionärer Geste auf; ihr Scheinradikalismus macht auf proletaroide Schichten Eindruck. Die Angreifer kommen sich und ihren Verehrern äußerst verwogen vor. Lehnt die antiproletarische Kulturkritik bloß unsere Klassenziele ab – Stichwort: Tendenz – so macht sie von einem Rechte Gebrauch, das unser Geschichtsempfinden nur verfeinert. Deckt sie aber Unzulänglichkeiten, offenkundige Minderwertigkeiten, tatsächliche Verfälschungen im Ringen des Proletariats um seinen eigenen Geist auf, so entfache sich an ihr nicht unfruchtbarer Ärger, sondern schöpferisches, immer waches Verantwortlichkeitsgefühl. Dieses geistige Verantwortlichkeitsgefühl, diese kulturelle Wachsamkeit immer beherzter und freimütiger mit fördernder Strenge wirken zu lassen, gehört mit zu den Aufgaben und Pflichten der proletarischen Generation von heute. Die Arbeiterjugend weiß es und will es. Solchem Wissen und Willen entspringen neue Triebkräfte proletarischer Kultur.

             Dies erkennen und gelten lassen, heißt den Gegensatz zwischen bürgerlicher und proletarischer Kulturkritik offenbar machen. Dies übersehen, hieße die Geschichtskraft dieses Gegensatzes zum Vergnügen des Gegners ungenützt lassen. Bürgerliche Kritik an Proletarierkultur freut sich der geistigen Unzulänglichkeiten unserer Klasse, hofft auf ihre Verewigung, übt an ihnen Spottlust und Schmähkraft, ermuntert sich an unseren Fehlern.

             Wo die Quellen proletarischer Unkultur trübe springen, das sieht nicht, das will nicht sehen der bürgerliche Kritiker. Arbeitslosigkeit, Unterernährung, Wohnungsnot, Sorge und Unsicherheit auch in Tagen der Arbeit und Gesundheit – und in Verbindung damit flackernde Sehnsucht nach ablenkendem Vergnügen, was weiß der schreibflinke Spötter von Zuckungen der sozialen Angst? Bewegt ihn die Antwort des Indianers in Guatemala auf die Frage, warum er soviel Schnaps trinke?: Zafarse de su memoria, um sich Ruhe zu schaffen vor seinem Gedächtnis …

             Nein, dorthin zeigt der Finger der bürgerlichen Kritik nicht; ihr sind ja die eigenen Stilkünste des Wortes Schnaps, um sich Ruhe zu schaffen vor eigenem Gedächtnis und Schuldgefühl! Wohin fällt also ihr Blick? Auf das Alltagsbild unseres Organisationslebens, auf die Widersprüche zwischen Programm und Form unserer Bewegung, auf die Tatsache, daß die Gewalt der sozialistischen Idee auf dem Boden der kapitalistischen Welt nie Kulturgestalt gewinnen kann. Sie borgen sich verspätet Lassalles Augen aus und entdecken die Laster der Unterdrückten, die müßigen Zerstreuungen der Gedankenlosen. Mit Lassalles Augen ist wahrhaftig scharf zu schauen. So werden sie auf viel kleinbürgerliches Verhalten des Proletariats, überkommen aus Vorkriegsjahren, noch Jagd machen können. Das Bierglas mit dem Parteiabzeichen wird daran glauben müssen.

             Wo ist unser Gegensatz? Nicht in Lassalles Blick. In Lassalles Veränderungswillen! Ragen nicht die Organisationsgebäude unserer die Massen planvoll umgestaltenden Vereinigungen? Umwogt uns nicht alle die Vielgestaltigkeit des Kampfes um den neuen Menschen?

             Dennoch: Kinderfreunde, Jugendverbände, Naturfreunde, Freidenker, Sänger, Abstinenten, Turner und Sportler, Unterrichtsauschüsse, Kunststellen, in ihrer Buntheit geschichtlich erklärbar, sie werden sich dem Gesetz der kulturellen Konzentration zu beugen haben; sie sind aus dem Nebeneinander des geistigen Strebens // zu einem Miteinander, zu einem Füreinander zu formen. Wer fühlt es nicht? Der Wille zum Zusammenschluss all dieser Gruppen und Sparten ist da. Viele fassen den Weg dahin als Frage äußerer Organisation auf; sie irren. Man versuche nur die Zusammenschweißung! Es werden sich Hemmnisse geistiger Natur, Gegensätzlichkeiten des Erziehungswillens zeigen. Der großen Vereinigung wird schwere, grundlegende Aussprache über das allein Einigende vorausgehen müssen: über Inhalt und Form proletarischer Kultur, über ihr Wesen, über ihre Geschichtsaufgaben, über die grundsätzliche Trennung von Arbeiterbildung und Volksbildung als Gesellschaftsnotwendigkeiten gesonderter Klassen, kurz über Weg und Ziel des gesamten geistigen Klassenkampes.

             Wie Partei und Gewerkschaft nicht wirken können, nicht leben wollen ohne ständige Durchdenkung, Überprüfung, Ergänzung und Beachtung ihrer Programme und Aktionsmethoden, so bedarf erst recht die proletarische Geistigkeit in ihrem Kampfverbänden eines gemeinsamen, von allen beratenen, von allen beschlossenen, alle verpflichtenden Kulturprogrammes.

             Entfernung und Annäherung der täglichen Bildungsarbeit all unserer Vereine diesem Programm gegenüber – das ist dann Grundlage unserer eigenen Kritik. Das erst schafft Möglichkeiten sozialistischer Kritik an proletarischer Kultur. Das erst pflanzt geistiges Verantwortungsgefühl und kulturelle Wachsamkeit in die Massenseele des Proletariats.

             Dann, und hoffentlich bald, reihen sich den Kongressen der Partei und Gewerkschaft die Kulturtage der kämpfenden Arbeiterklasse an, die Jahr um Jahr Rechenschaft ablegen von dem Kampfe des Sozialismus um Hirn und Herz der schaffenden Menschheit.

In: Der Kampf, Sozialdemokratische Wochenschrift, Mai 1926, Nr. 5, S. 193-195.

Erich Kühn: Nostra maxima culpa

Zum Thema: „Am Sterbebett der deutschen Seele“. – Triumphe des jüdischen Schrifttums.

Was den ›Erfolg des jüdischen Schrifttums‹ anbetrifft, so wäre dazu zu bemerken: Ein hoher Prozentsatz von Theater, Presse, Verlagsanstalten, Depeschenagenturen und Schriftstellern ist unter ausschlaggebendem jüdischen Einfluß.  Gleich einem dichten Netz kontrollieren und beherrschen sie, eng Hand in Hand arbeitend, Kunstmarkt und öffentliche Meinung. Sie unterdrücken das Aufkommen jedes nach deutschen Begriffen wertvollen Kunstwerkes, während der ganze Apparat in geschicktester Weise zur Reklame für jedes jüdische Geisteserzeugnis gebraucht wird. Mit einer sehr klugen Kunstpolitik wird jedes aufstrebende bedeutende Talent auch aus anderen Reihen rechtzeitig in das jüdische Lager geholt und so in jüdischem Sinn ›entgiftet‹. Hier versagt der Deutsche im Gegensatz zum Juden vollständig […] von einer ›Kunstpolitik‹ kann im nationalen Lager überhaupt noch nicht die Rede sein, schon weil man dort die Kraft und Wichtigkeit des geistigen Arbeiters vielfach gar nicht richtig wertet. Die Forderung, man möchte in unserem Lager zunächst einmal angesichts des Erfolgs des jüdischen Schrifttums die eigene Leistung steigern, ist gewiß berechtigt. Einen Erfolg wird das aber erst erzielen, wenn man auf unserer Seite einen Apparat ähnlich dem jüdischen geschaffen hat […] Weites ist zu untersuchen, welche Triebe denn eigentlich das jüdische Schrifttum so erfolgreich beim Deutschen spekuliert. Da ist es eine alte Klage, daß es alle die Werte herunterreißt und zerstört, die dem Deutschen seit je teuer und heilig sind; Gott, Vaterland, Ehe, Familie[…] kann der Jude in seinen Theaterstücken, Romanen und Witzblättern nicht genug beschmutzen. […] Alles in allem kann man wohl behaupten, daß der jüdische Literat seine Erfolge häufig mit dem erzielt, was Eduard Heyck sehr treffend ›Geschmacksunterbietung‹ nennt.1 Er wendet sich gern an die niederen Triebe und Instinkte, deren ›Ausleben‹ ihm höchster Diesseitszweck ist. Auch diese Neigung wurzelt natürlich in seiner ganzen Geistigkeit. Karl Marx hat bekannt: „Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden“. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz! Ganz folgerichtig ist es daher, wenn der hochbegabte jüdische Dichter Arthur Schnitzler in seinen Schauspielen es mehrfach ausspricht, daß die Ordnung in uns etwas Künstliches, das Natürliche – das Chaos sei. Man muß und darf daraus ohne weiteres schließen, daß dem Juden der dem Deutschen ursprünglich eingeborene Trieb nach Ordnung, Recht, Maß, Selbstbeherrschung, Niederhalten der minderwertigen Instinkte, den alle unsere maßgeblichen Dichter preisen, artfremd ist. Das mag zugegeben werden, dass der Jude nicht anders wirken kann, wie er es tut. Doch unsere Pflicht der Selbsterhaltung gebietet es, uns mit allen Mitteln gegen einen Geist zu wehren, der unserem Wesen widerspricht. „Was euch nicht angehört, müsset ihr meiden. Was euch das Innere zerstört, dürft ihr nicht leiden“ sagt Goethe, der sicher nicht nur zufällig der Gestalt des Mephisto viele jüdische Züge verliehen hat.

In: Schönere Zukunft, 26. 9. 1926, S. 1248 2


  1. E. Heyck (1862-1941): Kulturhistoriker, Schriftsteller, Herausgeber, Archivdirektor, Privatgelehrter, Burschenschafter, Schwiegersohn des Schriftstellers Wilhelm Jensen, 1886f. Dozent u. Ao. Professor für Geschichte an der Universität Freiburg/Br., Hg. des Allgemeinen Deutschen Kommersbuch; 1898 Palästinareise, seit 1909 nur mehr Privatgelehrter in der Schweiz, 1937 von Hitler die Goethe-Medaille verliehen erhalten.
  2. Replik und Kommentar zu: Börries Freiherr von Münchhausen: Vom Sterbebett der deutschen Seele. In: Schönere Zukunft, Nr. 48, 5.9.1926, S. 1179-1180.