Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes
Russische Revolution! Ungeheures
Gefühl, sagenhaftes Erlebnis über alle Kritik hinaus. Man kann das Resultat der
großen Erschütterung prüfen, so weit uns das Resultat bekannt ist, man kann die
wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ergebnisse des Bolschewismus, des
Leninismus analysieren, man kann seine Zeitung bejahen oder verneinen,
anerkennen oder verwerfen, man kann sich in tausendfältiger Form mit ihm
auseinandersetzen – aber es bleibt ein Rest, der aller Vernunft entrückt
scheint: die Intensität, die Größe dieser Revolution, die unvergleichlich und
beispiellos ist. Und, je mehr die vulkanische Masse auskühlt, je deutlicher das
Produkt, der Niederschlag der gigantischen Gärung mit all den Widersprüchen,
die das Wesen der Wirklichkeit sind, statistisch erfaßbar, objektiver
Betrachtung und subjektiver Wertung zugänglich wird, desto bezwingender wird
die Erkenntnis, daß diese Revolution viel mehr als ein politisches Faktum, daß
sie ein geistiges Ereignis von welthistorischer Bedeutung war. Und so selbstverständlich
es ist, daß man an politischen Überzeugungen, taktischen Maßnahmen,
wissenschaftlichen Theorien Kritik übt, daß man sie für gut oder schlecht,
klarer gesagt, für nützlich oder für schädlich hält, so töricht wäre es,
geistige Umgruppierungen, kulturelle Wandlungen zu kritisieren, an dem zu
messen, was bisher war. Man kann ein Buch, ein Bild, ein Theaterstück technisch
bewerten – obwohl auch das sehr schwierig und problematisch ist – man kann eine
Kunstform für diletantisch, wirkungslos, unecht halten, aber man kann nicht die
Lebensform, die geistige Haltung, deren Ausdruck sie ist, mit einer abfälligen,
höhnischen oder entrüsteten Kritik aus der Welt schaffen. Ihre Bedingungen
nachzuspüren, ihre Elemente zu untersuchen, ihr Lebendiges zu erfühlen, das ist
Aufgabe dessen, der sie darzustellen versucht – ob er sie anerkennt oder
ablehnt, ist seine Privatsache. Nur wenn er liebt oder haßt soll er zu seiner
Liebe, zu seinem Haß sich bekennen – denn dann will er nicht sie, die fremde
Lebensform, sondern seine an ihr sich entzündende Leidenschaft darstellen.
Solche Leidenschaftsausbrüche
haben wir häufig erlebt – und es schien lange Zeit, als könne man über die
geistige Bedeutung der russischen Revolution nur in Ekstasen der Liebe, in
Krämpfen des Hasses sprechen: wurde von einer Seite alles, was diese Revolution
gebar, bedingungslos wie Blendwerk der Hölle verdammt, so wurde es von der
andern Seite wie Erfüllung tiefster Träume gefeiert. […]
Interessanter und wesentlich
ergiebiger als die maßlosen Manifeste für und wider die geistige Schöpfung des
Bolschewismus, als das unfruchtbare Geschwätz der bürgerlichen Ästheten war ein
Buch des großzügigen Journalisten René Füllöp-Miller, „Geist und Gesicht des
Bolschewismus“, das vor einigen Jahren erschien. Füllöp-Miller hatte begriffen,
daß die russische Revolution mehr war als ein politisches und wirtschaftliches
Ereignis, daß sich dort im Osten ein kultureller Umsturz vollzogen hatte,
dessen Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und er fürchtete, daß das, was in Rußland
geschah, Europas Kultur gefährden, Europas Seele vergewaltigen könne. Daher
wollte er warnen, wollte er zeigen, daß die neue Lebensform europäischem Wesen
vollkommen fremd sei, daß der Bolschewismus als geistiges Erlebnis zwar
asiatische Barbaren, nicht aber westliche Kulturmenschen befriedigen könne.
Trotz dieser kaum verhüllten Tendenz und obwohl sehr viele Behauptungen des
geistreichen Autors unbewiesen, sehr viele Kombinationen gewaltsam, sehr viele
Erklärungen oberflächlich sind, ist das Buch wichtig, nicht nur, weil es ein
großes kulturhistorisches Material enthält, sondern auch und vor allem, weil es
einen ernsthaften Versuch darstellt, hinter der wirtschaftlichen und
politischen Umgestaltung die geistige Wandlung zu sehen. Das Füllöp-Miller meint,
die Mechanisierung des Lebens, die Entpersönlichung des Menschen, der Triumph
der Maschine über die Seele sei der Sinn dieser Wandlung, daß er den Schatten
Dostojewskys beschwört, der ihm wie den meisten Europäern als der Inbegriff des
„Russentums“ (einer unveränderlichen und undefinierbaren Substanz) gilt, um
über den Leninismus Gericht zu halten, daß er über Experimente sich lustig
macht, ohne zu untersuchen, was sie bedeuten – das alles vermindert zwar das
Gewicht seiner Leistung, entwertet sie aber nicht. […]
Die Revolution war die gewaltsame
Lösung, der explosive Ausgleich. Der Feudalismus wurde zertrümmert, der Bauer
bemächtigte sich des Bodens, das Mittelalter verbrannte und in den Flammen
ahnte man eine neue Welt. Ungeheuerste Aktivität entfaltet sich; in Lenin, dem
gewaltigsten Tatmenschen aller Zeiten, kündigte sich auf einmal der neue Typus
an, in ihm verkörperte sich das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts. Probleme
der Wirklichkeit waren zu lösen, wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische
Probleme, Gestaltung des Staates war möglich, war brennend wichtig, Trägheit,
Schwermut und Passivität mußten als ärgste Laster gelten – die historische
Situation siegte über die „russische Seele“. Daß diese ungestüme und radikale
Wandlung groteske Übertreibungen zeitigte, daß der fanatische Wille, die
Entwicklung eines halben Jahrtausends in einige Jahre zusammenzupressen und
nicht nur alles Versäumte nachzuholen, sondern plötzlich allen voran in die
Zukunft zu stürmen, oft in phantastischen Experimenten zum Ausdruck kam, daß
die Verneiner jeder Romantik aus der Sachlichkeit selber etwas Romantisches
machten, war kein Wunder: und der scheinbare Widersinn, daß diese russischen
Revolutionäre die sehr primitiven Wirtschaftsformen dem Sozialismus aufzwingen
wollten, das kapitalistische, mechanistische Amerika vergöttern, ist nichts
Ungewöhnliches, nichts dem „Russentum“ eigentümlich. Es gibt eine Reihe von
deutschen Literaten, die ebenso verzückt von Amerika reden, für die Großstadt,
Technik, Maschine, die in der Seele des Amerikaners keine besonderen Gefühle
auslösen, weil er sie als selbstverständliche Elemente seiner Welt betrachtet,
lyrische, mythische Angelegenheiten sind, ungefähr so, wie für den
Emporkömmling die Manieren der guten Gesellschaft etwas Geheimnisvolles und
Beunruhigendes sind; tausendmal mehr in dem wirtschaftlich unentwickelten
Rußland, in dem „Elektrifizierung“ ein Zauberwort, das Taylor-System ein
Kultus, die Technik ein Glaubensbekenntnis wurde. Wer in Rußland an den Erfolg
der Revolution glaubte, mußte voll Inbrunst an neue technische und ökonomische
Formen glauben, mußte sich mit Pathos und Leidenschaft zu ihnen bekennen, mußte
sie fast ins Religiöse steigern, weil er sonst empfindungsgemäß die
Zusammenhänge zwischen den Schwung des Geistes, dessen jede Revolution bedarf,
und den realen Aufgaben der russischen Revolution verloren hätte. An Inbrunst,
an Spannkraft, an Gläubigkeit fehlte es den Revolutionären nicht, aber an
Maschinen, an Fabriken, an Elektrizitätswerken fehlte es und deshalb blickten
sie voll Sehnsucht und Neid nach Amerika und deshalb mußte die mangelnde
Realität durch den glühenden Willen, sie förmlich aus der Erde zu stampfen,
ersetzt werden. Das Bekenntnis zu Amerika, es war das Bekenntnis zu den
Voraussetzungen der Sozialisierung, die man in übermenschlicher Arbeit der
Geschichte abtrotzen wollte.
Das formte die neue Geistigkeit:
die Kunst, vor dem Zusammenbruch der alten Mächte psychologisch, fatalistisch,
Sprengstoff der Seele, die Welt in das Nervensystem des Menschen
konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der
Gesellschaft, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde
nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in
die Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse konzentrierend. Majakowsky, einer der
Dichter, die im alten Rußland die Würdigkeit und den Überdruß des an allem
verzweifelnden geistigen Menschen verkörperten, begeisterte sich an den Umsturz
des Bestehenden, an der grellen Härte und Sachlichkeit der neuen Forderungen,
er, der an den Sinn der Kunst nicht mehr glaubte, begriff angesichts der
Revolution, daß man der Kunst neuerlich einen Sinn geben konnte: Aufruf zum
Kampf, Ausdruck dessen, was nun wichtiger und bezwingender waren als alles,
Ausdruck der politischen und sozialen Ereignisse. Die Sprache als Instrument
der schönen Gefühle, der einsamen Seelenkomplikationen war abgebraucht, nun
aber gab es Worte, die wie mit Ekrasit geladen waren, die man wie Bomben in die
Masse schleudern konnte, die unmittelbar und berauschend wirkten:
Elektrifizierung, Technik, Revolution, Internationale, Rote Garde – und diese
Worte wie Blöcke aneinandergereiht, gegenständlich und dennoch durchfiebert von
Fanatismus, waren die Elemente der Poesie, die nun begann. Einfacher und
wuchtiger als die Gesänge des intellektuellen Majakowsky waren die plumpen
Hymnen Budnji Demjans, poetische Tagesbefehle der Revolution, unverschnörkelte
Manifeste des Klassenkampfes.
Es würde zu weit führen, alle
Experimente zu schildern, in denen der Geist des Bolschewismus um Ausdruck
rang: was diesen Experimenten gemeinsam war, ist die Erkenntnis von der
sozialen, von der revolutionären Funktion der Kunst, die Erkenntnis, daß es im
Sturme der Weltgeschichte nicht auf das Schicksal des einzelnen ankommt, nicht
auf Seelenprobleme, nicht auf das, was die Menschen unterscheidet, sondern auf
das, was sie zu kollektiver Aktion vereinigt, daß es sich, wenn Tausendjähriges
stürzt und Niegewesenes aufsteigt, nicht um den „Ewigkeitswert“ einer Dichtung,
eines Kunstwerkes, sondern um Aktualität und politische Wirkung handelt. Erst,
wenn eine Klasse ihr Wesen gesellschaftlich verwirklicht, wenn sie das in ihr
waltende revolutionäre Prinzip erfüllt hat, wenn nicht mehr die Macht zu
erobern, sondern die Macht zu verwalten ist, kann sie versuchen, im Kunstwerk
unpolitisch und weise zu sein! Solange sie kämpft, solange sie gegen alte
Gesellschaftssysteme anrennt, ist Kunst ein Mittel, ist Kunst eine Waffe in
diesem Kampf. Das haben die Künstler des Bolschewismus erkannt. Und mit
unerhörter Entschlossenheit unterwarfen sie das Theater, das Kabarett, die
Literatur, alle Kunstgattungen dieser Erkenntnis. Es gelang ihnen, das Theater,
den Film, die kulturellen Gebilde, die am stärksten und unmittelbarsten
soziologisch bedingt sind, von Grund aus zu wandeln, es gelang ihnen nicht oder
nicht in diesem Maße bei allen übrigen Kunstgattungen.
[…]
Aber die freie, die auf sich
selber angewiesene Kunst?
Sie ist lebendig wie nirgends in Europa.
Und vor allem der russische Roman ist wieder bedeutungsvoll, fast so
bedeutungsvoll wie der russische Film.
Um Romane zu schreiben, bedarf
der Künstler einer gewissen Ruhe, einer gewissen Stabilität. In der ersten
Revolutionszeit konnten keine Romane entstehen, in Gedichten und Theaterstücken
entlud sich die geistige Spannung: als aber der Bolschewismus gesichert war,
als Trotzky der Armee „das Knochengerüst eingerenkt“ und Lenin die Wirtschaft
verhältnismäßig stabilisiert hatte, als man die Ereignisse einiger Jahre
überblicken konnte ohne fühlen zu müssen, daß morgen schon alles anders sein
könne als heute, war es wieder möglich, Romane zu schreiben. Und es zeigte
sich, daß die junge Generation in Rußland, obwohl das Tempo der Entwicklung auf
einmal stockte, obwohl die wirtschaftliche Reaktion die Seelen ernüchtert
hatte, obwohl das Resultat der Ereignisse eine große Halbheit ist, die Zeit, in
der wir leben, begreift, tausendmal besser begreift als die junge Generation in
Deutschland, in Frankreich, in England. An der Idee des Bolschewismus gemessen
enttäuscht seine Wirklichkeit: aber diese Enttäuschung verleitet die jungen
Russen nicht dazu, aus der Wirklichkeit in die Romantik zu fliehen – im
Gegenteil: stolz und tapfer bekennen sie sich zu dieser Wirklichkeit,
schonungslos setzen sie sich mit den Problemen der Revolution, mit den
Problemen des Sozialismus auseinander, unsentimental, in glühender Sachlichkeit
schreiben sie die Geschichte der letzten Jahre. Immer ist es die Gesellschaft,
die sie interessiert, immer ist es ein überpersönliches Schicksal, das sie
schildern, immer stellen sie Menschen dar, in denen das welthistorische Ringen
um die Neugestaltung aller Beziehungen zwischen den Menschen und Dingen sich
spiegelt, nein, in denen es sich vollzieht. Sie wissen genau, daß es nichts
Größeres gibt als die Revolution, deren erste Phasen wir erlebt haben, und weil
sie das wissen, gibt es für sie nur einen Stoff: eben diese Revolution. In den
westlichen Ländern knüpfen die meisten jungen Künstler dort an, wo man 1914
aufhörte, schwächlich und unfruchtbar: mag sein, daß die Revolution in
Deutschland zu schnell vor sich selber erschrak, um künstlerisch so
verpflichtend zu wirken wie die Revolution in Rußland, jedenfalls gibt es in
Deutschland sehr, sehr wenige Bücher und Theaterstücke, die wichtig sind,
wogegen in Rußland ein wichtiges Kunstwerk nach dem andern produziert wird.
Da ist vor allem Gladkows großer
Roman „Zement“. Das Problem der Nepzeit, das Problem der siegreichen Revolution
wird aufgerollt. Gljep, der Rotgardist, kehrt aus hundert Schlachten in sein
Heimatsdorf zurück. Er träumte von einem romantischen Wiedersehen mit all den
hübschen Dingen, die er verlassen hatte, von einer Familienidylle, von einem
Leben wie eh und je.
Aber die Wirklichkeit ist anders
als dieser Traum, die Straßen sind schmutzig und ungepflegt, die Häuser
verwahrlost und halb verfallen, die Menschen hungrig und faul. Und die Frau,
die kleine verliebte Frau, nach der er sich sehnte, ist anders geworden, hart,
sicher und selbstbewußt, sie hat das Kind in ein Kinderheim gegeben, sie
kümmert sich nicht um den Haushalt, sie sitzt nicht am Fenster und wartet auf
ihren Gljep, sie spielt in der politischen Organisation eine Rolle, studiert
marxistische Werke, sie nimmt an Sitzungen und Versammlungen teil, sie hat eine
eigene Meinung und einen eigenen Willen. Ja, der Krieg hat alles umgestürzt,
die Revolution hat alles verwandelt. Und wie ein Kleinbürger, wie einer der
nichts von der neuen Zeit wissen will, bäumt sich Gljep gegen das veränderte
Leben auf. Er war bereit, sein Blut und seine Gesundheit für die Revolution
hinzugeben, aber sein Heim, seinen Traum von Familienglück und
Ehebehaglichkeit, den will er nicht hingeben, den hält er für sein ewiges
Recht. Das ist das eine – das andere ist nicht so persönlich, aber nicht
weniger problematisch: die Fabrik, die große Zementfabrik, steht schon seit
vielen Jahren, die Arbeiter, zermürbt und korrumpiert von dem dröhnenden
Müßiggang des Krieges, der Revolution, wollen lieber in ihren Klubs
debattieren, um jedes Stück Brot mit den Kommissären streiten, in Hunger und
Elend verkommen als arbeiten. Nein, sie denken gar nicht daran, die
verrosteten, von Spinnweb überwucherten Maschinen wieder in Gang zu setzen, sie
lungern zerlumpt herum und warten auf irgendein Wunder. Nur der
Maschinenmeister behütet seine eisernen Lieblinge, nur einer der alten
Ingenieure hockt in seinem Arbeitszimmer über den Zeichnungen, gespenstischer
Wächter einer zerborstenen Welt.
[…]
Arbeiten muß man, sagt Gljep, das
ist die einzige Lösung. Und er reißt die Genossen mit, die Muskeln straffen
sich wieder, das Blut pulsiert in den Adern. Arbeit, Arbeit, Flamme, die über
alles Persönliche, alles Quälende und Verworrene triumphiert. Und die Maschinen
erwachen aus ihrem Schlaf, die Kolben stampfen, die Transmissionen singen, die
Förderkörbe klimmen den Berg hinan. Ungeheure Musik der Arbeit. – Oh, sie
haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, hundert Schwierigkeiten müssen sie
überwinden, hart und grausam müssen sie sein, um sich das Nötigste zu
beschaffen, aber sie greifen zu, sie sind nicht sentimental, sie kennen keine
Schonung. Kosaken, Weißgardisten überfallen das Werk, da legt man die Schaufel
weg und nimmt das Gewehr, da kämpft man mit derselben unerbittlichen Kraft
gegen Menschen, wie man gegen den Widerstand der Materie kämpfte – und kehrt
wieder zurück zur Arbeit, die das Entscheidende ist. Oh, sie haben’s nicht
leicht, Gljep und die Seinen, sie müssen mit Dingen fertig werden, von denen
sie früher nichts wußten, mit Problemen der Verwaltung, der Organisation, der
Weltanschauung, mit Problemen der Erotik und des Gesellschaftslebens, der
Freiheit und der Verantwortung. Alles müssen sie aus sich selber vollbringen,
es gibt keine Traditionen, unbeholfen und schwerfällig, wie man ist, muß man
die neue Welt gestalten, muß man sich in der neuen Welt zurechtfinden. Aber
über alles hinaus donnert und singt das Werk, das sie, die Arbeiter, auf eigen
Faust, aus freien Stücken, wieder in Gang gebracht haben, steigt der Hymnus der
Arbeit, der Hymnus der Revolution empor.
Tapfer, ehrlich und strotzend von
Lebenskraft ist dieses Buch, „unrussisch“, wenn man nur die Dichter des
Zarenreiches als russisch gelten läßt, durchstürmt von ungestümer Aktivität.
Gladkow macht sich und den Lesern nichts vor, er weiß, daß in Rußland nur ein
Bruchstück dessen verwirklicht wurde, was man verwirklichen wollte, er kennt
die Schwächen und Mängel der bolschewistischen Gesellschaft, er schildert
sachlich und objektiv – aber durch all das braust und jubelt das
leidenschaftliche Bekenntnis zu der Wandlung des Lebens, zu der Wandlung des
Geistes in Rußland, seine Liebe zur Revolution und zur Arbeit. Und darum ist
das Buch nicht „naturalistisch“ und nicht „romantisch“, nicht ein Stück
Literatur, sondern ein Stück Leben.
[…]
Erkennt man in diesen drei
Romanen, die aus einer Fülle von interessanten und bedeutenden Büchern
herausgegriffen wurden, die Wandlung des russischen Geistes? Welch ein
Bekenntnis zur Wirklichkeit, welch eine Härte und Präzision, welch ein
unverschwommener, unromantischer Wille zur Lebensgestaltung! Das ist nicht mehr
die „russische Seele“, die man wie eine rätselhafte Gottheit verehrte, das ist
der Geist des Marxismus, der Geist der Revolution, der unsere Sprache spricht
wie die Sprache des jungen Rußland. Die Probleme, die Tragödien, die
Erkenntnisse jeder Revolution werden in diesen Büchern dargestellt, und während
die deutsche, die westliche Literatur noch immer an der Vergangenheit
schmarotzt, ist die russische Literatur heute der Ausdruck unserer Zeit, Flamme
und Geist der Gegenwart. Darum lieben wir über alle Kritik und alle Gegensätze
hinaus dieses bolschewistische Rußland.
In: Der Kampf, 1927, S. 499-507