Friedrich Austerlitz: Ein Tag gewaltigsten Umsturzes (1918)

Welch ein Tag! In seinem Rahmen drängen sich Ereignisse zusammen, die wie Flammenzeichen aufsteigen und der ganzen Erde das Ende Österreichs verkünden. Das endgültige, furchtbare, schreckliche Ende!

Am Piave ist der Widerstand der österreichisch-ungarischen Armee zusammengebrochen und so hat sie um den Waffenstillstand gebeten. Mittwoch früh 1 hat das Armeeoberkommando zu der italienischen Heeresverwaltung einen Parlamentär geschickt. Die Italiener haben die Verhandlungen zuerst abgelehnt […] Der Sieg der Feinde ist vollendet; es gibt keine Gegenwehr mehr in Österreich, weil es kein Österreich mehr gibt. Es war von den schwarz-gelben Patrioten doch recht voreilig auf das „Österreich der Front“ stolz und rühmend hinzuweisen. Würdig an den Zusammen-//bruch des Landheeres reiht sich die Auflösung der Kriegsmarine an: Die österreichisch-ungarische Kriegsflotte besteht seit heute nicht mehr. Sie wird einfach dem kroatischen Nationalrat übergeben, der auch sofort seine Flagge hissen kann. Die Mannschaften können, wenn sie nicht Südslaven sind, nach Hause gehen; aber der ganze Stab kann auch bei dem Nationalrat Dienst nehmen. Die Übergabe wird mit der Stimmung der südslavischen Mannschaften folgendermaßen begründet: „Die Erklärung der Trennung Ungarns von Österreich, dann die Erklärungen des tschechischen und südslavischen Nationalrates konnten nicht ohne Einwirkung auf die Mannschaften der Kriegsmarine bleiben. Die Rückberufung der Mannschaften durch die Nationalräte hätte derart auflösend gewirkt, daß blutige Zusammenstöße zwischen den einzelnen Nationalitäten nicht unwahrscheinlich würden und die Flotte dadurch wehrlos gemacht, dem Feinde zum Opfer gefallen wäre. Dem vorzubeugen und das wertvolle Material der Kriegsmarine den Nationalstaaten Österreich-Ungarns zu erhalten, entschloß man sich zu dem bekannten Schritte, als dem einzig richtigen in dieser schwierigen Lage.“ Die Behörden haben bei der Übergabe das Eigentumsrecht der „nichtsüdslavischen Nationen“ geltend zu machen und sich die seinerzeitige „Ablösung“ vorzubehalten. Protokollarisch vorzubehalten! […] Triest ist von der amerikanischen Flotte besetzt worden, und das ist schon ein Trost: Man nimmt an, daß die Amerikaner die Stadt besetzt haben, damit die Italiener nicht kommen und sie gleich endgültig in Besitz nehmen, damit also ihr weiteres Schicksal noch eine offene Frage bleibe. Und um das militärische Ungemach voll zu erleiden: Fiume ist von der italienischen Flotte besetzt und in Laibach sind englische Truppen eingezogen 

Während sich in Österreich die Auflösung des Nationalitätenstaates und die Gründung der Nationalstaaten in disziplinierten Formen vollzieht, obwohl die tiefe Gärung im gesamten Volkskörper unverkennbar ist, war Budapest von Mittwoch abend an der Schauplatz von Vorgängen revolutionärster Art, die damit endigten, daß die gesamte bürgerliche und militärische Gewalt in die Hände des Nationalrates fiel. Die unmittelbare Folge war, daß die Mission des Grafen Hadik aufgegeben und Graf Michael Karoly mit der Kabinettsbildung betraut wurde. Daß nur Karoly, der Demokrat und Pazifist, fähig sei, die Dinge zu meistern, war schon längst klar; warum man sich also weigerte, ihn zu ernennen, ist nicht zu begreifen. In Karolys Regierung treten zwei Sozialdemokraten ein: die Genossen Garami und Kunfi auch das zeigt den gewaltigen Wandel an, der sich in so wenigen Tagen vollzogen hat. Dazwischen fällt als aufrüttelndes Ereignis die Ermordung des Grafen Stephan Tisza, den auf einem Spaziergang Soldaten erschossen haben. In dem Attentat hat sich offenkundig die Verbitterung der Soldaten gegen den Mann entladen, der an dem Ausbruch des Krieges so große Schuld trägt. Die neue Regierung hat ernste Aufrufe erlassen, in denen sie zur Ruhe und Ordnung mahnt. 

In guten Bahnen bewegt sich die Bildung der neuen Regierung in Deutschösterreichs. Sie ist nun vollendet, das Direktorium des Staatsrates und die Staatssekretäre ernannt und feierlich in die Pflicht genommen; die Übernahme sämtlicher alter Ministerien, soweit ihre Funktionen das deutsche Gebiet betreffen, wird ohne Verzug geschehen. Schwere, ernste, unendlich große Arbeit steht vor den Männern, die nun berufen sind, die Geschicke Deutschösterreichs zu leiten; möge ihnen fruchtbarer Erfolg beschieden sein. Die ungeheure Sorge, die sie auf sich nehmen, die Verantwortung, die auf ihnen lastet, gebietet allen, ihnen mit Vertrauen, Hingebung und Disziplin zur Seite zu stehen und alles zu tun, was ihre Arbeit fördern, alles zu unterlassen, was sie stören könnte. 

In: Arbeiter-Zeitung, 1.11.1918, S. 1-2.

  1. 10.

Robert Müller: Berlin-Wien, zwei Perspektiven.

             In Berlin entbrennt ein neues Rußland. Nicht mit Unrecht ist das Preußen vor dem Zusammenbruche von mancher Seite eine Gründung sarmatischen Geistes gleich dem zaristischen Rußland genannt worden. Wie dieses, muß es in einem inneren Kataklisma erst zusammenbrechen, bevor ihm eine Erholung gegönnt ist.

             Im Fegefeuer der spartakistischen Revolution büßt es seine junkerlichen Sünden. Diese Revolution wird es nicht zu Asche verbrennen; sie wird nur die schwachen Stellen seiner bürgerlichen Ordnung versengen. Die Preußen sind so ganz und gar nicht geschaffen, die Verwilderung ihrer Staatlichkeit aufrechtzuerhalten, daß sich dort oben sehr bald wieder eine recht brave untertanenähnliche Balance herauskrystallisieren wird. Es entbehrt – trotz allem blutigen Ernste – nicht des Humors, daß das Polizeipräsidium in Berlin der Mittelpunkt der letzten Aufregung gewesen ist. Über den Schutzmann kommen sie nicht hinweg, weder in ihrem pro noch in seinem contra.

             Das Polizeipräsidium als letzte Gesellschaftsinstanz ist ebensogut die Utopie der von rechts wie der von links. Der spartakiotische Polizeiminister wird genau so aussehen wie alle Politiker mit Spreewasser getauft. Etwa: „Ich warne Neugierige!“ Wie die Regierenden regieren, soll die jeweils Andern nichts angehen.

             Die Zukunft wird in Berlin nicht so lebensgefährlich sein, wie ihre Vertreter sie jetzt machen. Man muß von allen Programmen, ob U-bootkrieg oder Klassenkampf, die Berliner Schnauze subtrahieren.

             Die Zukunft wird nach wie vor sein: Berliner Tempo, ein kommunistisch ausgewalztes Standardbürgertum mit allen Instinkten desselben, eine sehr breite Basis der grundsatzlosen Tüchtigkeiten, „Unsar Liebknecht“ (tatütata) anstatt „unsar Kaisar“, Siegesallee von zu Bürgern und Bürobesitzern arrivierten Amokläufern der Straße und bannig Amüsemang von Nachtlokal und Sechstagerennen bis zur Rheinhard.

             Das ist die Stadt, an die wir unsere eigene Zukunft verraten sollen!

             Berlin: Wir warnen Neugierige!

             In Wien das Item der vorkriegerisch-vorpreußischen Zeit: Engländer, Amerikaner, Schweizer, Franzosen, Italiener, Rumänen, mit nationalen Epauletten versehene Husarenoffiziere der ehemals k.u.k. Ringstraße, sie alle mit derselben nicht mehr verstellten Neugierde des Wieners empfangen und angeblickt, beleben die Straßen. Die Schweizer sind am populärsten nach den Engländern, die man, noch ein bißchen verschüchtert und kleinbürgerlich, wieder am stärksten respektiert. Die Schweizer werden wie etwas Verwandtes empfunden. Da ist ein kleiner Staat unter anderm von tüchtigen und eigenartigen Deutschen bewohnt, die draußen im unmittelbaren Kontakt mit der großen Welt und mit den lebhaftesten Völkern der Erde ihre Nationalität nicht nur festgehalten, sondern im universellen Sinne verbessert haben. Diese Schweizer leuchten uns jetzt auf einmal als ein Muster ein. Warum streiten wir uns herum, ob wir von Berlin oder von Prag, statt wie früher von Budapest aus regiert werden sollen? Daß es auch ohne Küste geht und daß das Korridorprinzip zugleich mit der amerikanischen „Freiheit der Meere“ uns nicht weniger als Tschechoslawien und die Schweiz zugute kommen wird, wird jetzt sonnenklar. Wir sind der Schnittpunkt von vielen Korridoren durch Europa, ein Umschlagplatz nicht nur der Weltgüter, sondern auch der Weltgüte. Wer hat diese Schicksalsfrage für Wien aufgebracht? Nur wenn wir peripher am Deutschen Reich kleben, das wie Figura zeigt noch lange als St. Helena eines Eroberungsvolkes gescheut werden wird, sind wir diesem Kleinstadttode verfallen.

Uns winkt vielmehr ein Schicksal, das in unserem Blute, unserem Gemüte und unserem Geschmacke vorbereitet ist, und seine Erfüllung ist nur wie eine letzte Konsequenz. Eine Art Internationalisierung! Kein Temperament ist so wie das wienerische für diese hochsoziale Form geschaffen.

Inmitten einer Eidgenossenschaft von Bauernkantonen, die durch praktische Einführung eines religiös unterbauten Agrarsozialismus die wirkliche Bilanz der Revolution und des Monarchiezerfalles ziehen, liegt die Weltstadt Wien als eigener Kanton. Die sozialen Aufgaben sind auch in diesem Falle erleichtert. Mit unserer nächsten Umgebung leben wir föderativ. Wirtschaftlich grenzen wir an alle Staaten der Welt, wir sind Hauptstationen vom Ärmelkanal nach Konstantinopel, einer anderen Weltstadt. Für Tschechoslawien, das nordseewärts längs der Elbe transportiert, wir auch nach der dritten internationalen Stadt Triest, ein Exportweg geschaffen werden müssen, schon um die slawische Verbindung aufrechtzuerhalten.

Es gilt, die neuen politischen Formen zu begreifen. Die Entente unterstützt uns mit Nahrungsmitteln und Krediten. Wir haben sie redlich nötig. Die Kommissionen können sich davon überzeugen. Es ist überflüssig, daß die Zeitungen auch noch ein jammerndes Geschmuse darüber erheben, das nur den Eindruck hervorrufen könnte, wir seien entweder Querulanten oder Simulanten. Wir brauchen den im Verhältnis zu unserer Not noch immer dürftigen Anschub. Können wir da zugleich eine Politik machen, die den stänkernden Urheber dieses ganzen Unheils, der auch jetzt noch nicht aufgehört hat, die Welt mit Blutphrasen zu heizen, durch unsere Mithilfe verstärkt?

Darf man unser sogenanntes Anständigkeitsgefühl mobil machen und unsere nationalen Triebe anmustern, um mit dieser Armee – mehr werden wir in unserer Entblößtheit ohnehin nicht stellen können – den allerdings zu streng bestraften deutschen Brüdern, eigentlich sinds nur die Berliner, aufzuhelfen?

Ist es nicht besser, uns erst selbst zu rangieren, bevor wir Retter spielen wollen?

Märtyrer spielen wir seit fünf Jahren zum Schaden derer, denen unser Opfer gelten sollte. Besinnen wir uns auf uns selber.

Der weltpolitischen Perspektive für Wien entspricht im Sozialen die schon öfters aufgezeigten des sozialen Biedermeiers. Wie in Berlin, muß auch in Wien die extremistische Bewegung in die sozialbürgerliche verflachen. Der Kanton ist die weltpolitische Zukunftseinheit. Dem Kantönligeist aber tritt erfolgreich nur der großzügige Internationalisierungsgedanke entgegen, der Wille zur Föderation, der Marschtakt der güterbeladene Marschkarawanen von West nach Ost, von Nord nach Süd.

Es ist kein Zweifel, dieses introspektive geistige Wien – geistig nur in dem Sinne, daß es überdenkt statt handelt – wird sich bei dieser neuen Größe und Ausdehnung neugierig selbst zusehen.

Daraus aber wird sich spezifisch wienerische Zukunft ergeben: aus Anregung, Zergliederung und Verarbeitung ins Bewußtsein – der Welt.

Wien: wir sammeln Neugierige!

In: Finanz-Presse, 7.1.1919; (KS II, 304-307)

Karl Tschuppik: Wie Österreich zerfiel.

Vor zehn Jahren.

Am 21. Oktober 1918, nachmittags 5 Uhr, versammelten sich im Sitzungssaale des niederösterreichischen Landtags in der Wiener Herrengasse die Abgeordneten der von Österreich übrig gebliebenen Länder. In der kurzen Zeit vom 18. Oktober, an welchem Tag das Manifest Kaiser Karls verlautbart wurde, und dem 21. Oktober, hatten sich die in der Kundgebung apostrophierten Völker verlaufen. Das Manifest versprach, Österreich solle „dem Willen seiner Völker gemäß ein Bundestaat werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet“. Ehe den Lesern an den Straßenecken Wiens klar geworden, wie des Kaisers Proklamation zu verstehen sei, gab es kein Österreich mehr. Die im Reichsrate zurückgebliebenen Herzogtümer und Länder mußten darüber schlüssig werden, was sie nun beginnen sollten.

Es war ein seltsames Bild, als das auf Wien und die Alpenländer reduzierte Österreich ins eigene Antlitz blickte. Es fröstelte ihm in dem großen Bau auf dem Franzensring; das kleine Häuflein der Männer, die sich im Salle der sechs Völker zusammengefunden hatten, erschrak vor sich selber. Man war vereinsamt. In der griechischen Säulenhalle, wo ehedem das bunte Gemisch des Völkerreichs aus sechs Idiomen widerklang, stand ein Mann, umgeben von ein paar Journalisten: Mendel Singer, das Wahrzeichen versunkener Größe. Es war kein symbolischer Akt der Regie, als man das öde Marmorhaus verließ und in die trauliche Stube des niederösterreichischen Landtages übersiedelte; man floh vor der niederdrückenden Gewalt der eben noch lebend gewesenen Geschichte.

Nebenan, im Hause der Herren, agierten die historischen Gespenster. Das Herrenhaus hielt eine Sitzung ab. Es war die einzige Stätte, wo um diese Zeit noch die Stimmen der abziehenden Nationen erklangen. Die Abgeordneten des Volkshauses hatten es nicht mehr der Mühe wert gefunden, dem zusammenstürzenden Reich eine Anklage ins Grab nachzusenden. Die tschechischen Mitglieder des Herrenhauses erklärten sich mit der eben bekannt gewordenen Erklärung des Prager Nationalrates, mit der Errichtung des selbstständigen, freien tschechoslowakischen Staates solidarisch und wiesen den Gedanken einer Selbstbestimmung der Deutschen in Böhmen als „unhistorische und sachlich unbegründet“ zurück. Graf Clam-Marinitz antwortete im Ramen des konservativen böhmischen Adels. Er sprach von der unverbrüchlichen Treue zur Dynastie; der proklamierte Staatenbund könne nur unter Habsburgs Zepter entstehen. Das Herrenhaus applaudierte, die Peers erhoben sich von den Sitzen. Nach Clam-Martinitz spricht Hussarek, der Ministerpräsident. Lebt Österreich noch? Es funktioniert. Vor Hussarek kauern gespannt die Stenographen des amtlichen Nachrichtendienstes, neben ihm füllt der alte Herrenhausdiener frisches Wasser in die freundlich glänzende Flasche, hinter ihm stehen die zwei Ministerialsekretäre mit den Wappen. Hussarek kommentiert das kaiserliche Manifest: „… die logische Ergänzung des letzten Friedensschrittes …, … Bundesstaat…, …jedem Volksstamm das Seine…“ Zum Schluß ein ins Lyrische gesteigerter Satz: „Nach langer Nacht dürfen wir die aufsteigende Morgenröte als das erste Wahrzeichen eines neuen Tags begrüßen, der Wohlergehen und heitere Lebensfreude verheißt.“ Diese Lyrik war selbst den Peers wider den Geschmack. Eisiges Schweigen, als der hohe Körper Hussareks sich niederläßt.

Zur selben Stunde ungefähr hatten sich die Abgeordneten im Sitzungssaal des niederösterreichischen Landtags zusammengefunden. Die Wiener und, von ihnen auch äußerlich unterschieden, Steirer, Kärntner, Tiroler, Oberösterreicher, Salzburger. Die Versammlung wäre ratlos gewesen ohne den Kopf, den sie barg: Viktor Adler. Er sprach ohne Haß gegen das Alte, ohne Phrasen fürs Neue, das Losungswort in klarer Formulierung: der übriggebliebene Rest der Monarchie verwandelt sich in die deutschösterreichische Republik. Die Grabrede auf das alte Österreich hielt Dr. Steinwender: „Ohne Dank scheiden wir aus diesem Staate, mit dem verkettet gewesen zu sein für uns eine schwere und verzehrende Last war…“ Empfand man’s immer so? Hatten die Deutsche Österreichs ihre eigene Geschichte vergessen? Der Sprecher der Christlichsozialen erhebt sich und verkündet das Bekenntnis zur monarchischen Regierungsform. Der Abgeordnete Wolf schließt sich ihm an: „Wir sind und bleiben überzeugte Anhänger des konstitutionellen monarchischen Staates.“ Viktor Adler, die Versammlung vom Druck solchen Pathosdunstes befreiend, ruft halblaut, ohne Ironie: „Herr Kollege, soll Kaiser Karl etwa Herzog von Kärnten werden?“

Draußen, vor dem Barockportal des Landtags und im dunklen Hof stehen zwei Dutzend Neugierige. Es ist kalt, es regnet. „Was ist denn los?“ fragt ein gänzlich Uneingeweihter eine Gruppe Journalisten, die eben die konstituierende Versammlung der Republik Deutschösterreich verlassen. Da ruft eine schmetternde Stimme (sie gehört einem bekannten Wiener Schriftsteller): „Soeben ist der Gesangverein Deutschösterreich gegründet worden.“

Wien hats nicht bemerkt. Vis-à-vis im Cafè Central sitzen die Buddhisten des Schachspiels über ihren Brettern, im Billardsaal klingt das zarte Geräusch des altertümlichen Spiels, die Literatur erhitzt sich beim Tarock. Es hat sich nichts geändert.

Beim Ministerratspräsidium, dem Palais Modena, begegnet man einigen Herren vom Dienst, darunter dem Ministerialrat Doktor Safarik. „Komisch,“ sagt er, „wie sich die Wiener das Ende Österreichs vorstellen. Eben hat mich eines der großen Wiener Blätter angerufen, was denn die Prager Statthalterei zu dem Manifest des tschechischen Nationalrats sage. Wir konnten nur erwidern, daß wir von der Auflösung noch nicht offiziell in Kenntnis gesetzt sind.“ (Ein andere Herr weiß die Antwort der Prager auf so neugierige Fragen: At‘ nàm ve vidni p…p….)

Am Morgen des 22. Oktober, nach langer Redaktionsnacht, gehen wir, Dr. Walter Rode, der Prophet des Untergangs, und ich, in weitspurige historische Betrachtungen versunken, durch die leeren Gassen des schlafenden Wiens. Bei der Oper: ein Wachmann, der Chauffeur eines ramponierten Taxi und ein Straßenkehrer. Der Straßenkehrer, ein alter Mann mit einem kurios verbogenen Knie, den zu kleinen Hut schief auf dem Kopf, ist ganz bei der Arbeit. Mit zäher Beharrlichkeit jagt er jedem widerspenstigen Papierchen nach. „Sonderbar,“ sage ich, „die Revolution hab’ ich mir ganz anders vorgestellt. Wer heißt dem Mann die Arbeit zu verrichten? Wer kümmert sich noch darum, ob er schläft oder kehrt?“ Worauf Dr. Rode: „Sie kennen nicht die eigentliche Funktion der Straßenkehrer? Die Mistschaufler halten die Kontinuität der Gesellschaft aufrecht.“

In: Der Tag, 21.10.1928, S. 13.

N.N.: Die Wehen der neuen Zeit

             Der werdende deutschösterreichische Staat steht vor ungeheuren, vor unlösbaren Problemen. Die schwersten von ihnen gehen aus der Auflösung der Armee hervor. Eine Armee von Millionen Menschen ist in Italien und Tirol gestanden. Diese Armee rasch nach Hause zu befördern, sie auf dem Transport in die Heimat zu verpflegen, die Verbreitung von Seuchen durch die heimkehrenden Krieger zu verhindern, den abrüstenden Soldaten Arbeit, Brot, Wohnungen zu // beschaffen, das wäre auch in ruhigen Zeiten, auch bei ordnungs- und planmäßiger Demobilisierung eine überaus schwere Aufgabe gewesen. Aber unter den jetzigen Umständen ist eine planmäßige Demobilisierung gar nicht möglich. Die Verbände haben sich aufgelöst, die einzelnen Truppenkörper fluten in wirrer Unordnung, in wilder Hast zurück. Sie wollen nach Hause, wollen nicht warten. Aber so schnell wie die Ungeduld der Soldaten es möchte, können sie nicht in die Heimat befördert werden; dazu gibt es bei weitem nicht genug Waggons und Lokomotiven. Daher stauen sich im Süden ungeheure Menschenmassen auf engem Raume. Aber für solche Massen gibt es nicht genug Verpflegung, nicht genug Quartiere, nicht genug Spitäler. Die Soldaten, hungernd, frierend, krank, erbittert, stürzen sich auf die Landbevölkerung, um sich nur Nahrung für den hungrigen Magen und ein schützendes Obdach zu beschaffen. Sie dringen, auf solche Weise „vom Land lebend“ immer weiter in den Norden. Es ist ein Bild ungeheuren Elends, furchtbarster Verwüstung. Da Abhilfe zu schaffen, so gut es eben geht, Eisenbahnwagen, Verpflegung und Heilmittel nach dem Süden schaffen, ist jetzt die dringende Aufgabe der neuen Regierungen.

             Aber diese Aufgabe wird überaus erschwert dadurch, daß die Beziehungen zwischen den neuen Staaten noch ganz ungeregelt sind. So hat zum Beispiel der tschechische Staat nur die Ausfuhr, sondern auch die Durchfuhr vieler wichtiger Waren gesperrt. Daher fehlt es nicht nur an Lebensmitteln für die drängenden Soldatenmassen, sondern auch an Kohlen für die Eisenbahnen, die sie befördern sollen. Der ungarische Staat schickt Eisenbahngarnituren, die Soldaten nach Ungarn gebracht haben, nicht wieder zurück; dadurch wird der Mangel an Eisenbahnmaterial immer empfindlicher. Nur durch Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den neuen Nationalstaaten können solche Schwierigkeiten behoben werden; aber Verhandlungen werden wieder durch die Störungen des Eisenbahn-, Telegraphen- und Telephonverkehrs überaus erschwert.

             Dieselben Ursachen erschweren aber auch die Versorgung des Hinterlandes mit Lebensmitteln. In dieser Beziehung ist Deutschösterreich am schlimmsten daran. Ohne ungarisches Getreide, böhmischen Zucker, galizische Kartoffeln kann es nicht leben, ohne Kohle, die über tschechisches Gebiet zugeführt werden muß, nicht arbeiten. In den letzten Tagen stockt die Milchzufuhr aus Mähren; aber wenn wir für Kinder, Kranke, stillende Mütter keine Milch mehr bekommen, gehen Tausende Menschen zugrunde. Da gilt es nun, mit den anderen Nationen zu verhandeln. Aber die anderen Nationen haben danach kein so starkes Bedürfnis wie wir. Sie haben im eigenen Lande mehr Lebensmittel als wir; brauchen also nicht unsere Hilfe. Aber auch sie sind keineswegs reichlich versorgt; sind daher nicht sehr begierig, uns zu helfen. So sind die Verhandlungen überaus schwer; und sie werden noch dadurch kompliziert und verzögert, daß die anderen Nationen nationale Grenzfragen und politische Streitfragen in die Verhandlungen hineinziehen.

             Man muß diese Tatsachen kennen, um wenigstens eine Ahnung zu haben, welche geradezu unlösbare Aufgabe der neuen deutschösterreichischen Regierung gestellt ist. Diejenigen, denen der neue Staat nicht schnell genug wird und wirkt, haben wohl kaum eine Ahnung davon, welche endlosen Verhandlungen, welche Mühen und Anstrengungen es erfordert, um auch nur die notdürftige Vorsorge für den morgigen Tag, für den Abtransport wenigstens eines Teiles der im Süden angehäuften Soldatenmassen und für die Sicherung auch nur der dürftigsten Nahrung für das Volk im Hinterland zu treffen. Mit einer fliehenden Armee im Rücken und mit sich neubildenden, sich feindlich absperrenden Staaten vor sich einen ganz neuen Staat aufzubauen, eine ganz neue Verwaltung einzurichten, ist eben eine Aufgabe, wie sie wohl noch nie einem Lande gestellt war. Und dabei hängt an der Lösung dieser Aufgabe unsere ganze Zukunft. Denn wenn es nicht gelingt, die Überflutung unseres Landes durch die vom Süden her in chaotischer Unordnung heimwärts eilenden Soldaten zu verhindert, dem Volke im Hinterland sein tägliches Brot, den Fabriken die Zufuhr der Kohle und der Rohstoffe zu sichern, dann können wir Hungerrevolten und Verzweiflungsausbrüchen nicht entgehen. Aber Unruhen würden heute nicht die Revolution bedeuten, sondern die Okkupation. Die Entente hat sich im Waffenstillstandsvertrag das Recht gesichert, jede Stadt in ganz Österreich-Ungarn zu besetzen. Wenn wir die Ordnung im Lande nicht aufrecht erhalten können, dann wird sie von diesem Rechte Gebrauch machen. Und wenn die Entente unsere deutschen Länder in Österreich besetzt, dann ist es mit unserer jungen Freiheit vorbei. Die Befehlshaber der okkupierenden Armeen werden uns dann unsere staatliche Ordnung diktieren!

             So wird der neue Staat unter unbeschreiblichen Schwierigkeiten und Gefahren. Aber er wird und wächst trotz alledem. Heute hat die neue Regierung ihre ersten Verordnungen erlassen. Unter den Verordnungen steht nicht der Name des Kaisers, nicht der Name eines vom Kaiser ernannten Ministers; der Staatsekretär für soziale Fürsorge, unser Genosse Hanusch, hat sie auf Grund einer Ermächtigung des von der Nationalversammlung gewählten Staatsrates erlassen. Es sind die ersten Verordnungen in Österreich, die ihren Ursprung allein und ausschließlich in der von der Volksvertretung eingesetzten Vollzugsgewalt haben. Und diese Verordnungen dienen dem Schutze der Arbeiter. Es handelt sich zunächst darum, den Arbeitern, die infolge der Einstellung der Kriegsindustrien arbeitslos werden, Arbeit zu schaffen. Zu diesem Zwecke werden besondere „Industrielle Bezirkskommissionen“ errichtet, die, paritätisch aus Arbeitern und Unternehmern zusammengesetzt, die Arbeitsbeschaffung für die entlassenen Arbeiter organisieren, die Arbeitslosen in die neuen Arbeitsorte befördern, ihre Verpflegung sicherstellen sollen; eine „Zentralausgleichsstelle für die Arbeitsvermittlung“ soll dafür sorgen, daß die Arbeiter planmäßig aus den absterbenden Kriegsindustrien in die neuzubelebenden Friedensindustrien geleitet werden. So wird eine ganz neue große Verwaltungsorganisation geschaffen, die die Hunderttausende Arbeiter, die bisher in den Kriegsindustrien beschäftigt waren, wieder der Friedensarbeit zuführen soll. Gleichzeitig werden aber in den einzelnen Bezirken auch Einigungsämter errichtet, die and die Stelle der Beschwerdekommissionen, welche jetzt mit dem Kriegsleistungsgesetz verschwinden, treten werden. An die Stelle der Offiziere, die die Beschwerdekommissionen geleitet haben, tritt jetzt in jedem Einigungsamt ein Richter und ein vom Staatssekretär für soziale Fürsorge ernannter Beamter. Die Tätigkeit der Einigungsämter wird sich auf alle Industrie-, Bergwerks- und Eisenbahnbetriebe, auch auf Staatsbetriebe erstrecken. Sie sollen zwischen Unternehmern und Arbeitern bei Streitigkeiten über das Arbeitsverhältnis vermitteln. So enthalten diese Verordnungen ein gutes Stück sozialpolitischer Arbeit. Weitere sozialpolitische Verordnungen werden folgen; so solche über die Unterstützung der Arbeitslosen aus Staatsmitteln und über die Wiederherstellung der zu Kriegsbeginn außer Wirksamkeit gesetzten Arbeiterschutzgesetze.

Kleinlich wird man bei dem weiteren Ausbau nicht sein dürfen. Die Demobilisierung wird Riesenmassen auf den Arbeitsmarkt werfen; sie schnell aufzunehmen wird die Industrie nicht imstande sein, denn an Rohstoff und Kohle werden wir noch lange Mangel haben und starke Investitionstätigkeit erschwert die politische Umwälzung. Daher werden in jedem Falle große Massen arbeitslos bleiben; ihnen hinreichende Unterstützung aus Staatsmitteln zu sichern ist unabweisbare Notwendigkeit.

             Es ist ein ungeheuer schwerer und schmerzhafter Prozeß, diese Überleitung unseres Lebens aus dem Kriege in den Frieden und aus dem alten Zwangsstaat in die neuen Nationalstaaten. Aber so ungeheuer schwer die Probleme sind, so furchtbar groß die Schwierigkeiten und die Gefahren, so entsetzlich jenes Massenelend drunten im Süden, wo heute unsere Soldaten hungernd und frierend nach Hause streben, und so drohend die Massenarbeitslosigkeit, die die Demobilisierung der Armee und der Industrie erzeugen muß – all dieses Elend und all dieser Jammen sind doch nur die Wehen, in denen eine bessere Zeit geboren wird: die Zeit des Friedens und der Demokratie.

In: Arbeiter-Zeitung, 6.11.1918, S. 1-2.

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Ungarn und wir

             Die proletarische Revolution in Ungarn hat ihre besonderen, ihre eigentümlichen Züge. Sie ist nicht so sehr eine Erhebung gegen die Bourgeoisie des eigenen Landes als ein Aufstand gegen die Ententebourgeoisie. Die Entente hat den größten Teil Ungarns an Tschechen, Rumänen und Südslaven verschenkt. Das ungarische Volk lehnt sich gegen die Zerstückelung seines Landes, gegen die Preisgabe magyarischer Städte an fremde Nationen auf. Es faßt den verzweifelten Entschluß, sich gegen die übermächtigen Sieger mit der Waffe in der Hand zur Wehr zu setzten. Aber werden die Arbeiter und die Bauern dem Rufe zu den Waffen folgen? Werden die kriegsmüden Soldaten todesbereit gegen Tschecho-Slovaken und Rumänen marschieren? Sie werden es nur dann, wenn Ungarn wirklich zu ihrem Vaterland wird; wenn der Staat ihr Eigentum wird, wenn die Fabriken und der Boden ihr Besitz werden. Die magyarische Bourgeoisie, deren wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit die Zerstückelung des Landes zerstört, faßt den verzweifelten Entschluß, zeitweilig abzudanken, Arbeitern und Bauern kampflos die Staatsgewalt zu überlassen, weil sie darin das einzige Mittel erblickt, die Proletarier der Fabrik und der Scholle zu neuem Kampfe gegen den Landesfeind aufzubieten. So kann das Proletariat, ohne Widerstand zu finden, die Macht ergreifen. Die soziale Revolution dient hier der nationalen Verteidigung; der Übergang der Macht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Proletariats dient der Verteidigung des Landes gegen den äußeren Feind. Es ist nicht zum erstenmal so: 1792 hat das französische Volk die Jakobiner zur Macht erhoben, weil es sie allein für befähigt hielt, den nationalen Widerstand gegen die koalierten Fürsten ganz Europas zu entfesseln; 1871 ist die Pariser Commune aus der Bewegung der Patrioten hervorgegangen, die die Unterwerfung unter das Gebot des deutschen Siegers bekämpfen, den Krieg gegen Deutschland fortsetzen wollten.

             Das ungarische Proletariat ruft die Proletarier der Nachbarländer, auch die Proletarier Deutschösterreichs auf, seinem Beispiel zu folgen. Und schon leuchtet hier manches Auge heller, schon schlägt hier lauter manches Herz! Ist nicht auch hier – in Deutschböhmen und im Sudetenland, in Südtirol, Kärnten und Untersteier – deutsches Land vom übermütigen Sieger bedroht, der über Völker verfügt, als ob es Herden wären? Ist nicht auch für uns die Stunde gekommen, die Bourgeoisie zu stürzen, die Macht an uns zu reißen, die Fabriken und Bergwerke, den Boden des Adels und der Kirche mit einem Schlag dem Volke zuzueignen?

             Und doch sind wir in ganz anderer, viel schlimmerer Lage als die Brüder in Ungarn. Gewiß, die Bourgeoisie des eigenen Landes könnten wir so leicht und so schnell entthronen wie wie; das würden ein paar Bataillone Volkswehr besorgen. Aber von der Ententebourgeoisie sind wir ganz anders gefesselt als das magyarische Proletariat. Die Diktatur des Proletariats würde hier wie dort eine Herausforderung der Entente, eine Kriegserklärung an sie bedeuten. Die Ungarn ertragen es, wenn die Ententemissionen Budapest verlassen; sie haben immerhin noch Lebensmittel im eigenen Lande. Wir würden es nicht ertragen. Wir haben kein Mehl mehr als das, das die Entente uns schickt. Wenn die Entente die Lebensmittelzüge einstellt, hätten wir kein Brot mehr. Die Ungarn raten uns, uns von Paris zu trennen, um uns mit Moskau zu verbünden; aber Moskau ist weit, die Sowjetarmeen stehen noch mehr als tausend Kilometer von uns, Polen und die Ukraine sperren uns jede Verbindung mit ihnen; wir sind an Paris gefesselt, weil nur Paris uns Brot geben kann.

Was täten wir, wenn die Entente uns kein Getreide, kein Mehl mehr schickt? Bei den Reichen requirieren? In Wien gibt es ungefähr 500.000 Haushaltungen, unter ihnen etwa ein Zehntel, also etwa 50.000 reiche. Nehmen wir an, daß jede reiche Famile für zehn Tage Mehl vorrätig habe. Wir könnten dieses Mehl requirieren. 50.000 Familien brauche für zehn Tage so viel wie 500.000 für einen Tag. Wenn wir also die gehamsterten Vorräte der Reichen beschlagnahmen, so hätten wir gerade so viel Mehl, als das Wiener Volk für einen Tag braucht. Und dann?

Wir könnten bei den Bauern requirieren. Aber Deutschösterreich ist ein Gebirgsland; im größten Teil des Alpenlandes wächst kein Getreide. Wir haben auch im Frieden nie von deutschösterreichischem, sondern von ungarischem, galizischem, mährischem Getreide gelebt. Was heute bei den schärfsten Requisitionen aus den Bauernhöfen noch herauszuholen wäre, würde nicht einmal für einige Wochen, wahrscheinlich nicht für vierzehn Tage reichen. Und dann?

Ungarn kann uns nichts geben; seine getreidereichen Gebiete – die Bacsa, das Banat, die Slovakei – sind von fremden Truppen besetzt. Oder sollen wir darauf rechnen, daß die Revolution auch nach Böhmen überschlagen wird, daß die Tschechen uns dann helfen werden? Nun, die Tschechen könnten uns Kohlen liefern, sie könnten uns vielleicht für ein paar Tage mit Kartoffeln versorgen, aber Getreide für uns hätten auch sie nicht! Oder sollen wir darauf bauen, daß die Revolution auch die Ententeländer erfassen, ihr Proletariat uns dann Getreide schicken wird? Aber wann wird das geschehen? Vielleicht nach Monaten, vielleicht in einem Jahre! Und wir haben nicht für zwei Wochen Vorräte!

So ist Deutschösterreich ganz auf die Zuschübe der Entente angewiesen. Durch den Hunger sind wir der Entente wehrloser ausgeliefert, als wir es durch eine Besatzungsarmee wären. Der Versuch, hier eine Rätediktatur aufzurichten, würde damit enden, daß wir in ein paar Tagen ganz ohne Brot wären, binnen kurzem durch die Hungersnot zur Kapitulation gezwungen würden. Darum keine Illusionen! Mit der Bourgeoisie des eigenen Landes fertig zu werden, wäre leicht; aber die Ententebourgeoisie hält uns in Fesseln, die wir nicht zu sprengen vermögen, und sie hält schützend die Hand über der heimischen Bourgeoisie!

Aber so wehrlos wir heute sind, wir brauchen darum nicht zu verzweifeln. Die Rätedikatur in Ungarn beweist trotz alledem, daß unsere Sache marschiert. Unaufhaltsam wälzt sich die Welle der sozialen Revolution vom Osten nach dem Westen. Die Stunde wird kommen, in der auch die Arbeiterklasse Englands und Amerikas, Frankreichs und Italiens die Fesseln sprengen wird! Der Ententebourgeoisie wehrlos unterworfen, sind wir heute noch ohnmächtig; aber wenn sich das Proletariat der Ententeländer selbst gegen seien Bourgeoisie erhebt, dann werden im Bunde mit ihm auch wir alle Fesseln brechen.

In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.

Max Foges: „Die vaterlose Gesellschaft“. Psychoanalyse und Revolution.

             Man muß schon einigermaßen mit der Terminologie der von dem Wiener Forscher Professor Siegmund Freud begründeten und so heiß umstrittenen psychoanalytischen Methode vertraut sein, um den Titel einer soeben in der Serie „Der Aufstieg“ (Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky, Wien-Leipzig) erschienenen Broschüre des Freud-Schülers Dr. Paul Federn: Zur Psychoanalyse der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft zu verstehen. Allerdings die Lektüre der schlanken Schrift wird auch den Laien auf dem Gebiet der Psychoanalyse sicher fesseln und ihm einen Einblick gewähren in die tiefsten seelischen Zusammenhänge, die den einzelnen schon mit der gesamten menschlichen Gesellschaft verbinden. Dr. Paul Federn wagt einen geistvollen Versuch, die abnorme seelische Erregung unserer Zeit, die sich in der Revolution und allen ihren Erscheinungen manifestiert, auf psychoanalytischem Wege zu erläutern, indem er eine der Grundlagen des Lehrgebäudes Professor Freuds, die sogenannte Sohneseinstellung im Vater heranzieht. Wenn man den Gedankengang Federns darlegen will, muß man, wie Freud es bei seinen Forschungen tut, auf die Urzustände der Menschheit, auf die Psychologie der Primitiven zurückgreifen.

             Die erste Form des menschlichen Zusammenlebens war die einer Herde, die unter der übermächtigen Alleingewalt eines Vaters stand. Ihm gehörten die Brüder, ihm die Frauen. Diese Vormacht war geheiligt durch ein System primitiven Aberglaubens, dem Keim späterer Religionen, war gehalten durch die größere Stärke des Häuptlings-Vaters. Heranwachsende einzelne Söhne, die sich nicht fügen wollten, wurden anfangs getötet, in einer späteren Periode vertrieben. Dafür, daß dieser Kampf zwischen Vater und Söhnen grausam und unerbittlich war, sprechen viele Momente, unter anderem die Rolle der Kastration, die, als Recht der Väter, als Angst der Söhne durch die Geschichte der Religionen und Gebräuche ebenso nachweisbar ist, wie sie in spontanen Angstvorstellungen der kleinen Knaben noch heute wiederkehrt. Das Ende eines solchen Tyrannen und Vaters war kein sanftes. Wenn seine Kräfte nachließen oder wenn der gemeinsame Haß der entrechteten vertriebenen Söhne diese zu einer Bruderhorde zusammenschloß, bekämpften und besiegten sie schließlich den Vater und es folgte […] eine Siegesmahlzeit, unter anderem auch, damit so die vom Aberglauben vorgestellte geheimnisvolle Zauberkraft des Vaters auf den Sieger übergehe […] So wiederholte es sich durch lange Generationen, bis der einen Wendepunkt der Kulturgeschichte bedeutende Fortschritt gemacht wurde, daß die Bruderherde sich nicht mehr nur zum Morde des Vaters vereinigte, sondern nach Beseitigung des Tyrannen als Söhneorganisation mit einem durch Vertrag bestimmten Vater beisammen blieb. Dann konnten sie von dem weiteren Vatermord ablassen und es bildeten sich große Gemeinschaften aus den Herden mit Häuptlingen an der Spitze. Aber die uralten Greuel, die in Wirklichkeit aufgehoben waren, wurden als Symbol und Zeremonie festgehalten in der gemeinsamen Totenmahlzeit, in der Vergottung des Vaters im Totenkult, in Gebräuchen, deren Weiterbau an die antike Tragödie und in die religiösen Opfer ausläuft. Es erhielt sich aber auch in der Seele des primitiven Menschen die zwiespältige Einstellung zum Vater: der schuldgehemmte Haß und die furchterfüllte Liebe. Der Vatermord, mit dem die Geschichte der Menschheit einsetzt, war später so sehr zur Sünde geworden, daß er außer alles Rechtes stand. Nichts ist dem Sohn verehrungswürdiger als der Vater, und doch enthält diese Verehrung noch heute in der Kinderseele einen Rest von der uralten Feindschaft, dem uralten Trotz und der uralten Schuld.

             Und nun führt Federn aus, wie der Sohn, jeder einzelne Sohn sich loslösend von der Autorität des Vaters, doch wieder in seinem Leben nach einer Vatergestaltung sucht, und als eine solche Vatergestaltung erscheint ihm der Kaiser im Verhältnis zu seinen Untertanen. Und übergehend auf die Ereignisse des Zusammenbruchs, der sozusagen die Untertanen vaterlos machte, schreibt er: „Nicht alle waren durch den Sturz des Kaisers unvorbereitet vaterlos geworden. Für viele hatte schon die Kriegserklärung die Vaterbindung zerstört, weil kein imaginärer Vater seine Kinder töten läßt, wenn nicht in höchster Verteidigungsnot der Mutter, des Vaterlandes. Diese Partei der ›Unabhängigen‹ vermehrte der Krieg dadurch, daß zwar nicht die fernste Vatergestalt, aber die näheren, die ungezählten Vorgesetzten, Amtsstellen und Offiziere so viel eigensüchtiges Anrecht begangen und so viel unbefolgbare Befehle erteilt haben, daß die ‚Niederen‘, die Arbeiter und Soldaten, schon während des Krieges dieselbe Enttäuschung an diesen Vätern erlebten wie einst in der Kindheit. Die Enttäuschung war so groß, daß sich bei vielen Tausenden die anhängliche Vatereinstellung noch nachträglich in haßerfüllte, oppositionelle verwandelte.

             Der Sturz des Vatertums in dem kaisertreuen Volke war in Österreich durch die wenig zur Vatergestalt taugende Persönlichkeit des jungen Kaisers erleichtert. Charakteristisch ist, daß allen antidynastischen Bewegungen diffamierende Gerüchte über das Herrscherhaus vorausgehen, die wenig Wahres mit viel Falschem vereinen und nicht mehr ausgemerzt werden können. So war es auch in der Französischen Revolution und in Rußland. Diese innere Ehrfurchtsverletzung untergräbt die Vaterstellung, wie einst die gegen den Vater gerichteten Schmähworte sie in der Kindheit gelockert haben. So geschah es, daß die Regenten ohne Widerstandsversuch fallen mußten, weil die gesamte Stimmung von unten bis oben nicht mehr trug. Viele vatertreu gebliebene Untertanen äußerten ihre Erbitterung darüber, „der Kaiser habe das Volk im Stich gelassen“, was zwar nicht der Wahrheit entspricht, aber die Zahl der vaterlos Gewordenen neuerdings vermehrte. Mit dem Sturz des Kaisers mußte alles kraftlos werden, was von der ideellen Vatergemeinschaft getragen war. All dem nicht zu gehorchen, war jetzt innere Bereitschaft, fast innerer Zwang geworden. Wer diese unbewußte Ursache versteht, wird die Vorwürfe, welche einzelnen die Schuld zum Beispiel am Wirrwarr des Rückzuges geben, sehr einschränken. So wenig der einzelne Nutznießer für die in Jahrtausenden entstehenden vererbten und eingewohnten Privilegien auf der Seite der Vatergestaltungen, für die Entrechtung auf der Seite der Söhne eine moralische Verantwortung trägt, so wenig konnte der einzelne die Folgen des Sturzes in seinem Bereiche aufhalten. Sehr ungerecht ist besonders die Entrüstung über Monarchisten, Klerikale und Bourgeois, daß sie nicht über Nacht Republikaner wurden. […] Der Wirrwarr wäre noch größer gewesen, wenn nicht die organisierten Sozialdemokraten schon lange die freiwillige Einordnung in ihrer Partei gelernt und ihr ideelles Vaterbedürfnis schon lange am Führer befriedigt hätten. Daß in Deutschösterreich die Revolution ohne die Raserei haltlos gewordener Menschenrudel verlaufen ist, verdanken wir dem Glück, daß Viktor Adler noch lebte und führte, den jeder Genosse fast bewußt als Vater empfand. Dem radikalen Teil der Partei, dessen Sohneseinstellung sich längst vom Obrigkeitsstaate, während des Krieges auch von den Parteiführern gelöst hatte, bot sich wiederum in der – man kann ohne Übertreibung sagen – heldenhaften Gestalt Fritz Adlers eine gemeinsame Vaterverbindung. Die Tat Fritz Adlers war darum von solch ideeller Bedeutung für die sozialdemokratische Partei in Oesterreich, weil sie der vehemente Ausbruch der Gegnerschaft gegen den alten Obrigkeitsstaat war, einer Gegnerschaft, die während des Krieges wie betäubt verstummt zu sein schien. Daran war auch das Vaterhafte des alten Kaisers schuld gewesen, dessen altgewohnte Greisengestalt viel zum Ausbruch des knabenhaften Enthusiasmus der ersten Kriegsmonate beigetragen hat. Wir erkennen daran, wie ohnmächtig die Vernunft gegen das Unbewußte ist, der Verstand gegen den Trieb sich erweist, mußte doch das hohe Alter lediglich eine noch größere Potenz seiner Unfähigkeit beweisen. Aber dem Gefühl des Volkes – darunter auch vieler Sozialisten – war er desto mehr von der mythischen Weihe des Vatertums umkleidet. Jetzt, da das Vatertum gestürzt is, büßt auch die Partei der Mehrheitssozialisten ihre Verbindung mit dem Gewesenen. Auch die alte Organisation ist den „vaterlosen Gesellen“ zu sehr vom Vatertum durchtränkt. Sie wollen der väterlich eingestellten Partei keine Gefolgschaft leisten.

             In demselben Sinn seiner Theorie und ebenso geistreich beurteilt Dr. Federn die Ereignisse in Deutschland. Seine Schlußfolgerungen zieht er schließlich dahin: „Bei denen, die sich jetzt von der sozialen Vater-Sohn-Einstellung gelöst haben, bleibt die Tendenz doch dazu so stark, daß sie nur auf eine geeignete, neu auftretende Persönlichkeit warten, die ihrem Vaterideale entspricht, um sich wieder als Sohn zu ihm einzustellen. Mit großer Regelmäßigkeit hat deshalb nach dem Sturz von Königen die Republik der Herrschaft eines Volksführers Platz gemacht.“ Allerdings meint er, es müsse nicht so kommen und weist besonders auf Amerika hin. Aber er selbst kann doch auch da seine Bedenken nicht unterdrücken und zeigt selbst den Durchbruch der Vateridee in Erscheinungen auf wie in der Verehrung der amerikanischen Jugend für Roosevelt. Auch räumt er ein, daß Amerika, das Einwandererland, insofern eine Ausnahmestellung einnimmt, als die Einwanderer die Objekte ihrer Vater-Sohn-Einstellung in Europa zurückgelassen haben. Und so schließt er resigniert seinen Beitrag zur Psychologie mit den Worten: „Das // Vater-Sohn-Motiv hat die schwerste Niederlage erlitten. Es ist aber durch die Familienerziehung und als ererbtes Gefühl tief in der Menschheit verankert und wird wahrscheinlich auch diesmal verhindern, daß eine restlos „vaterlose Gesellschaft“ sich durchsetzt.

In: Neues Wiener Journal, 12.9. 1919, S. 7-8.

Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes

Russische Revolution! Ungeheures Gefühl, sagenhaftes Erlebnis über alle Kritik hinaus. Man kann das Resultat der großen Erschütterung prüfen, so weit uns das Resultat bekannt ist, man kann die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ergebnisse des Bolschewismus, des Leninismus analysieren, man kann seine Zeitung bejahen oder verneinen, anerkennen oder verwerfen, man kann sich in tausendfältiger Form mit ihm auseinandersetzen – aber es bleibt ein Rest, der aller Vernunft entrückt scheint: die Intensität, die Größe dieser Revolution, die unvergleichlich und beispiellos ist. Und, je mehr die vulkanische Masse auskühlt, je deutlicher das Produkt, der Niederschlag der gigantischen Gärung mit all den Widersprüchen, die das Wesen der Wirklichkeit sind, statistisch erfaßbar, objektiver Betrachtung und subjektiver Wertung zugänglich wird, desto bezwingender wird die Erkenntnis, daß diese Revolution viel mehr als ein politisches Faktum, daß sie ein geistiges Ereignis von welthistorischer Bedeutung war. Und so selbstverständlich es ist, daß man an politischen Überzeugungen, taktischen Maßnahmen, wissenschaftlichen Theorien Kritik übt, daß man sie für gut oder schlecht, klarer gesagt, für nützlich oder für schädlich hält, so töricht wäre es, geistige Umgruppierungen, kulturelle Wandlungen zu kritisieren, an dem zu messen, was bisher war. Man kann ein Buch, ein Bild, ein Theaterstück technisch bewerten – obwohl auch das sehr schwierig und problematisch ist – man kann eine Kunstform für diletantisch, wirkungslos, unecht halten, aber man kann nicht die Lebensform, die geistige Haltung, deren Ausdruck sie ist, mit einer abfälligen, höhnischen oder entrüsteten Kritik aus der Welt schaffen. Ihre Bedingungen nachzuspüren, ihre Elemente zu untersuchen, ihr Lebendiges zu erfühlen, das ist Aufgabe dessen, der sie darzustellen versucht – ob er sie anerkennt oder ablehnt, ist seine Privatsache. Nur wenn er liebt oder haßt soll er zu seiner Liebe, zu seinem Haß sich bekennen – denn dann will er nicht sie, die fremde Lebensform, sondern seine an ihr sich entzündende Leidenschaft darstellen.

Solche Leidenschaftsausbrüche haben wir häufig erlebt – und es schien lange Zeit, als könne man über die geistige Bedeutung der russischen Revolution nur in Ekstasen der Liebe, in Krämpfen des Hasses sprechen: wurde von einer Seite alles, was diese Revolution gebar, bedingungslos wie Blendwerk der Hölle verdammt, so wurde es von der andern Seite wie Erfüllung tiefster Träume gefeiert. […]

Interessanter und wesentlich ergiebiger als die maßlosen Manifeste für und wider die geistige Schöpfung des Bolschewismus, als das unfruchtbare Geschwätz der bürgerlichen Ästheten war ein Buch des großzügigen Journalisten René Füllöp-Miller, „Geist und Gesicht des Bolschewismus“, das vor einigen Jahren erschien. Füllöp-Miller hatte begriffen, daß die russische Revolution mehr war als ein politisches und wirtschaftliches Ereignis, daß sich dort im Osten ein kultureller Umsturz vollzogen hatte, dessen Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und er fürchtete, daß das, was in Rußland geschah, Europas Kultur gefährden, Europas Seele vergewaltigen könne. Daher wollte er warnen, wollte er zeigen, daß die neue Lebensform europäischem Wesen vollkommen fremd sei, daß der Bolschewismus als geistiges Erlebnis zwar asiatische Barbaren, nicht aber westliche Kulturmenschen befriedigen könne. Trotz dieser kaum verhüllten Tendenz und obwohl sehr viele Behauptungen des geistreichen Autors unbewiesen, sehr viele Kombinationen gewaltsam, sehr viele Erklärungen oberflächlich sind, ist das Buch wichtig, nicht nur, weil es ein großes kulturhistorisches Material enthält, sondern auch und vor allem, weil es einen ernsthaften Versuch darstellt, hinter der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung die geistige Wandlung zu sehen. Das Füllöp-Miller meint, die Mechanisierung des Lebens, die Entpersönlichung des Menschen, der Triumph der Maschine über die Seele sei der Sinn dieser Wandlung, daß er den Schatten Dostojewskys beschwört, der ihm wie den meisten Europäern als der Inbegriff des „Russentums“ (einer unveränderlichen und undefinierbaren Substanz) gilt, um über den Leninismus Gericht zu halten, daß er über Experimente sich lustig macht, ohne zu untersuchen, was sie bedeuten – das alles vermindert zwar das Gewicht seiner Leistung, entwertet sie aber nicht. […]

Die Revolution war die gewaltsame Lösung, der explosive Ausgleich. Der Feudalismus wurde zertrümmert, der Bauer bemächtigte sich des Bodens, das Mittelalter verbrannte und in den Flammen ahnte man eine neue Welt. Ungeheuerste Aktivität entfaltet sich; in Lenin, dem gewaltigsten Tatmenschen aller Zeiten, kündigte sich auf einmal der neue Typus an, in ihm verkörperte sich das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts. Probleme der Wirklichkeit waren zu lösen, wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Probleme, Gestaltung des Staates war möglich, war brennend wichtig, Trägheit, Schwermut und Passivität mußten als ärgste Laster gelten – die historische Situation siegte über die „russische Seele“. Daß diese ungestüme und radikale Wandlung groteske Übertreibungen zeitigte, daß der fanatische Wille, die Entwicklung eines halben Jahrtausends in einige Jahre zusammenzupressen und nicht nur alles Versäumte nachzuholen, sondern plötzlich allen voran in die Zukunft zu stürmen, oft in phantastischen Experimenten zum Ausdruck kam, daß die Verneiner jeder Romantik aus der Sachlichkeit selber etwas Romantisches machten, war kein Wunder: und der scheinbare Widersinn, daß diese russischen Revolutionäre die sehr primitiven Wirtschaftsformen dem Sozialismus aufzwingen wollten, das kapitalistische, mechanistische Amerika vergöttern, ist nichts Ungewöhnliches, nichts dem „Russentum“ eigentümlich. Es gibt eine Reihe von deutschen Literaten, die ebenso verzückt von Amerika reden, für die Großstadt, Technik, Maschine, die in der Seele des Amerikaners keine besonderen Gefühle auslösen, weil er sie als selbstverständliche Elemente seiner Welt betrachtet, lyrische, mythische Angelegenheiten sind, ungefähr so, wie für den Emporkömmling die Manieren der guten Gesellschaft etwas Geheimnisvolles und Beunruhigendes sind; tausendmal mehr in dem wirtschaftlich unentwickelten Rußland, in dem „Elektrifizierung“ ein Zauberwort, das Taylor-System ein Kultus, die Technik ein Glaubensbekenntnis wurde. Wer in Rußland an den Erfolg der Revolution glaubte, mußte voll Inbrunst an neue technische und ökonomische Formen glauben, mußte sich mit Pathos und Leidenschaft zu ihnen bekennen, mußte sie fast ins Religiöse steigern, weil er sonst empfindungsgemäß die Zusammenhänge zwischen den Schwung des Geistes, dessen jede Revolution bedarf, und den realen Aufgaben der russischen Revolution verloren hätte. An Inbrunst, an Spannkraft, an Gläubigkeit fehlte es den Revolutionären nicht, aber an Maschinen, an Fabriken, an Elektrizitätswerken fehlte es und deshalb blickten sie voll Sehnsucht und Neid nach Amerika und deshalb mußte die mangelnde Realität durch den glühenden Willen, sie förmlich aus der Erde zu stampfen, ersetzt werden. Das Bekenntnis zu Amerika, es war das Bekenntnis zu den Voraussetzungen der Sozialisierung, die man in übermenschlicher Arbeit der Geschichte abtrotzen wollte.

Das formte die neue Geistigkeit: die Kunst, vor dem Zusammenbruch der alten Mächte psychologisch, fatalistisch, Sprengstoff der Seele, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in die Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse konzentrierend. Majakowsky, einer der Dichter, die im alten Rußland die Würdigkeit und den Überdruß des an allem verzweifelnden geistigen Menschen verkörperten, begeisterte sich an den Umsturz des Bestehenden, an der grellen Härte und Sachlichkeit der neuen Forderungen, er, der an den Sinn der Kunst nicht mehr glaubte, begriff angesichts der Revolution, daß man der Kunst neuerlich einen Sinn geben konnte: Aufruf zum Kampf, Ausdruck dessen, was nun wichtiger und bezwingender waren als alles, Ausdruck der politischen und sozialen Ereignisse. Die Sprache als Instrument der schönen Gefühle, der einsamen Seelenkomplikationen war abgebraucht, nun aber gab es Worte, die wie mit Ekrasit geladen waren, die man wie Bomben in die Masse schleudern konnte, die unmittelbar und berauschend wirkten: Elektrifizierung, Technik, Revolution, Internationale, Rote Garde – und diese Worte wie Blöcke aneinandergereiht, gegenständlich und dennoch durchfiebert von Fanatismus, waren die Elemente der Poesie, die nun begann. Einfacher und wuchtiger als die Gesänge des intellektuellen Majakowsky waren die plumpen Hymnen Budnji Demjans, poetische Tagesbefehle der Revolution, unverschnörkelte Manifeste des Klassenkampfes.

Es würde zu weit führen, alle Experimente zu schildern, in denen der Geist des Bolschewismus um Ausdruck rang: was diesen Experimenten gemeinsam war, ist die Erkenntnis von der sozialen, von der revolutionären Funktion der Kunst, die Erkenntnis, daß es im Sturme der Weltgeschichte nicht auf das Schicksal des einzelnen ankommt, nicht auf Seelenprobleme, nicht auf das, was die Menschen unterscheidet, sondern auf das, was sie zu kollektiver Aktion vereinigt, daß es sich, wenn Tausendjähriges stürzt und Niegewesenes aufsteigt, nicht um den „Ewigkeitswert“ einer Dichtung, eines Kunstwerkes, sondern um Aktualität und politische Wirkung handelt. Erst, wenn eine Klasse ihr Wesen gesellschaftlich verwirklicht, wenn sie das in ihr waltende revolutionäre Prinzip erfüllt hat, wenn nicht mehr die Macht zu erobern, sondern die Macht zu verwalten ist, kann sie versuchen, im Kunstwerk unpolitisch und weise zu sein! Solange sie kämpft, solange sie gegen alte Gesellschaftssysteme anrennt, ist Kunst ein Mittel, ist Kunst eine Waffe in diesem Kampf. Das haben die Künstler des Bolschewismus erkannt. Und mit unerhörter Entschlossenheit unterwarfen sie das Theater, das Kabarett, die Literatur, alle Kunstgattungen dieser Erkenntnis. Es gelang ihnen, das Theater, den Film, die kulturellen Gebilde, die am stärksten und unmittelbarsten soziologisch bedingt sind, von Grund aus zu wandeln, es gelang ihnen nicht oder nicht in diesem Maße bei allen übrigen Kunstgattungen.

[…]

Aber die freie, die auf sich selber angewiesene Kunst?

Sie ist lebendig wie nirgends in Europa. Und vor allem der russische Roman ist wieder bedeutungsvoll, fast so bedeutungsvoll wie der russische Film.

Um Romane zu schreiben, bedarf der Künstler einer gewissen Ruhe, einer gewissen Stabilität. In der ersten Revolutionszeit konnten keine Romane entstehen, in Gedichten und Theaterstücken entlud sich die geistige Spannung: als aber der Bolschewismus gesichert war, als Trotzky der Armee „das Knochengerüst eingerenkt“ und Lenin die Wirtschaft verhältnismäßig stabilisiert hatte, als man die Ereignisse einiger Jahre überblicken konnte ohne fühlen zu müssen, daß morgen schon alles anders sein könne als heute, war es wieder möglich, Romane zu schreiben. Und es zeigte sich, daß die junge Generation in Rußland, obwohl das Tempo der Entwicklung auf einmal stockte, obwohl die wirtschaftliche Reaktion die Seelen ernüchtert hatte, obwohl das Resultat der Ereignisse eine große Halbheit ist, die Zeit, in der wir leben, begreift, tausendmal besser begreift als die junge Generation in Deutschland, in Frankreich, in England. An der Idee des Bolschewismus gemessen enttäuscht seine Wirklichkeit: aber diese Enttäuschung verleitet die jungen Russen nicht dazu, aus der Wirklichkeit in die Romantik zu fliehen – im Gegenteil: stolz und tapfer bekennen sie sich zu dieser Wirklichkeit, schonungslos setzen sie sich mit den Problemen der Revolution, mit den Problemen des Sozialismus auseinander, unsentimental, in glühender Sachlichkeit schreiben sie die Geschichte der letzten Jahre. Immer ist es die Gesellschaft, die sie interessiert, immer ist es ein überpersönliches Schicksal, das sie schildern, immer stellen sie Menschen dar, in denen das welthistorische Ringen um die Neugestaltung aller Beziehungen zwischen den Menschen und Dingen sich spiegelt, nein, in denen es sich vollzieht. Sie wissen genau, daß es nichts Größeres gibt als die Revolution, deren erste Phasen wir erlebt haben, und weil sie das wissen, gibt es für sie nur einen Stoff: eben diese Revolution. In den westlichen Ländern knüpfen die meisten jungen Künstler dort an, wo man 1914 aufhörte, schwächlich und unfruchtbar: mag sein, daß die Revolution in Deutschland zu schnell vor sich selber erschrak, um künstlerisch so verpflichtend zu wirken wie die Revolution in Rußland, jedenfalls gibt es in Deutschland sehr, sehr wenige Bücher und Theaterstücke, die wichtig sind, wogegen in Rußland ein wichtiges Kunstwerk nach dem andern produziert wird.

Da ist vor allem Gladkows großer Roman „Zement“. Das Problem der Nepzeit, das Problem der siegreichen Revolution wird aufgerollt. Gljep, der Rotgardist, kehrt aus hundert Schlachten in sein Heimatsdorf zurück. Er träumte von einem romantischen Wiedersehen mit all den hübschen Dingen, die er verlassen hatte, von einer Familienidylle, von einem Leben wie eh und je.

Aber die Wirklichkeit ist anders als dieser Traum, die Straßen sind schmutzig und ungepflegt, die Häuser verwahrlost und halb verfallen, die Menschen hungrig und faul. Und die Frau, die kleine verliebte Frau, nach der er sich sehnte, ist anders geworden, hart, sicher und selbstbewußt, sie hat das Kind in ein Kinderheim gegeben, sie kümmert sich nicht um den Haushalt, sie sitzt nicht am Fenster und wartet auf ihren Gljep, sie spielt in der politischen Organisation eine Rolle, studiert marxistische Werke, sie nimmt an Sitzungen und Versammlungen teil, sie hat eine eigene Meinung und einen eigenen Willen. Ja, der Krieg hat alles umgestürzt, die Revolution hat alles verwandelt. Und wie ein Kleinbürger, wie einer der nichts von der neuen Zeit wissen will, bäumt sich Gljep gegen das veränderte Leben auf. Er war bereit, sein Blut und seine Gesundheit für die Revolution hinzugeben, aber sein Heim, seinen Traum von Familienglück und Ehebehaglichkeit, den will er nicht hingeben, den hält er für sein ewiges Recht. Das ist das eine – das andere ist nicht so persönlich, aber nicht weniger problematisch: die Fabrik, die große Zementfabrik, steht schon seit vielen Jahren, die Arbeiter, zermürbt und korrumpiert von dem dröhnenden Müßiggang des Krieges, der Revolution, wollen lieber in ihren Klubs debattieren, um jedes Stück Brot mit den Kommissären streiten, in Hunger und Elend verkommen als arbeiten. Nein, sie denken gar nicht daran, die verrosteten, von Spinnweb überwucherten Maschinen wieder in Gang zu setzen, sie lungern zerlumpt herum und warten auf irgendein Wunder. Nur der Maschinenmeister behütet seine eisernen Lieblinge, nur einer der alten Ingenieure hockt in seinem Arbeitszimmer über den Zeichnungen, gespenstischer Wächter einer zerborstenen Welt.

[…]

Arbeiten muß man, sagt Gljep, das ist die einzige Lösung. Und er reißt die Genossen mit, die Muskeln straffen sich wieder, das Blut pulsiert in den Adern. Arbeit, Arbeit, Flamme, die über alles Persönliche, alles Quälende und Verworrene triumphiert. Und die Maschinen erwachen aus ihrem Schlaf, die Kolben stampfen, die Transmissionen singen, die Förderkörbe klimmen den Berg hinan. Ungeheure Musik der Arbeit. – Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, hundert Schwierigkeiten müssen sie überwinden, hart und grausam müssen sie sein, um sich das Nötigste zu beschaffen, aber sie greifen zu, sie sind nicht sentimental, sie kennen keine Schonung. Kosaken, Weißgardisten überfallen das Werk, da legt man die Schaufel weg und nimmt das Gewehr, da kämpft man mit derselben unerbittlichen Kraft gegen Menschen, wie man gegen den Widerstand der Materie kämpfte – und kehrt wieder zurück zur Arbeit, die das Entscheidende ist. Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, sie müssen mit Dingen fertig werden, von denen sie früher nichts wußten, mit Problemen der Verwaltung, der Organisation, der Weltanschauung, mit Problemen der Erotik und des Gesellschaftslebens, der Freiheit und der Verantwortung. Alles müssen sie aus sich selber vollbringen, es gibt keine Traditionen, unbeholfen und schwerfällig, wie man ist, muß man die neue Welt gestalten, muß man sich in der neuen Welt zurechtfinden. Aber über alles hinaus donnert und singt das Werk, das sie, die Arbeiter, auf eigen Faust, aus freien Stücken, wieder in Gang gebracht haben, steigt der Hymnus der Arbeit, der Hymnus der Revolution empor.

Tapfer, ehrlich und strotzend von Lebenskraft ist dieses Buch, „unrussisch“, wenn man nur die Dichter des Zarenreiches als russisch gelten läßt, durchstürmt von ungestümer Aktivität. Gladkow macht sich und den Lesern nichts vor, er weiß, daß in Rußland nur ein Bruchstück dessen verwirklicht wurde, was man verwirklichen wollte, er kennt die Schwächen und Mängel der bolschewistischen Gesellschaft, er schildert sachlich und objektiv – aber durch all das braust und jubelt das leidenschaftliche Bekenntnis zu der Wandlung des Lebens, zu der Wandlung des Geistes in Rußland, seine Liebe zur Revolution und zur Arbeit. Und darum ist das Buch nicht „naturalistisch“ und nicht „romantisch“, nicht ein Stück Literatur, sondern ein Stück Leben.

[…]

Erkennt man in diesen drei Romanen, die aus einer Fülle von interessanten und bedeutenden Büchern herausgegriffen wurden, die Wandlung des russischen Geistes? Welch ein Bekenntnis zur Wirklichkeit, welch eine Härte und Präzision, welch ein unverschwommener, unromantischer Wille zur Lebensgestaltung! Das ist nicht mehr die „russische Seele“, die man wie eine rätselhafte Gottheit verehrte, das ist der Geist des Marxismus, der Geist der Revolution, der unsere Sprache spricht wie die Sprache des jungen Rußland. Die Probleme, die Tragödien, die Erkenntnisse jeder Revolution werden in diesen Büchern dargestellt, und während die deutsche, die westliche Literatur noch immer an der Vergangenheit schmarotzt, ist die russische Literatur heute der Ausdruck unserer Zeit, Flamme und Geist der Gegenwart. Darum lieben wir über alle Kritik und alle Gegensätze hinaus dieses bolschewistische Rußland.

In: Der Kampf, 1927, S. 499-507

F. L.[orenz]: Dichter und Revolution. Ein Gespräch über entfesseltes Theater

Kürzlich sprach ich mit einem Dichter, der nach langjähriger Abwesenheit wieder nach Wien zurückgekehrt war und nun erschüttert vor der Ruine des Justizpalastes stand. Das Gespräch drehte sich um die Stellung des Dichters zur Revolution.

            „Was verstehen Sie unter Revolution?“ fragte der Dichter. „Wir, die wir schöpferisch arbeiten, die wir in anderem Sinn Nutznießer des Zeitgeistes sind als die Politiker, verstehen darunter schon jede Verzerrung des Straßenbildes. Das erscheint Ihnen sonderbar, überspannt? Sie meinen, daß Revolution für den Dichter erst dort beginne, wo eine Weltordnung im Wochenbett liegt? Wo aus dem Elend, der Angst Tausender von Menschen eine neue Idee entsteht? Sie irren, wir Dichter sind der Straße verhaftet, der Straße in ihrem unpolitischen Sinn, der Straße als der Summe des Unvermuteten, des Zufälligen, des Anregenden. Wir brauchen keine Haupt- und Staatsaktionen, im Gegenteil, wir scheuen sie. Was wir brauchen, sind die kleinen Winke, die uns die Straße gibt, eine schöne Frau, ein typisches Männerprofil, einen ungewöhnlichen Lichtreflex, den geheimnisvollen Chor aus Menschenstimmen, Tierlauten und Maschinengeräuschen, den krassen Wechsel der Stimmungen, der das Wesen der Städte bildet: hier Kaffeehaushalbdunkel, dort grelle Bogenlampe…“

            „Aber die Revolution?“ fragte ich.

            „Man möchte nicht glauben,“erwiderte mein Begleiter, „wie oberflächlich wir Dichter sind, wenn es Anregungen gibt. Darum scheint uns die Weltrevolution einem kleinen Straßenkrawall gleichwertig. Ueberlegen Sie doch: es handelt sich nur darum, was man sieht, was man miterlebt. Wenn wir uns einer Straße verschrieben haben, mit der wir leben, dann ist diese Straße die Welt und ihre Entfesselung die Weltrevolution. Ich habe auf meiner Reise durch die Länder viele Empörungen der Straße mitgemacht. Es waren oft nur kleine Zusammenstöße, die kaum die Lokalzeitungen beschäftigten. Mich aber erregten, schmerzten sie, als drohe die ganze Welt unterzugehen. Denn ich konzentrierte meine Liebe in diese Straßen, wie ein anderer eine Stadt, ein dritter etwa sein Vaterland liebt. Das müssen Sie festhalten, daß wir oberflächlich sind, wenn wir Stimmungen suchen. Der Kontakt mit der Welt, dem Zeitgeist findet sich später, unbewußt. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß in dem Augenblick, da die Oberfläche der Zeit, der Straße revoltiert, mit einem Schlag die Quellen der Kunst versiegen, als sögen sie ihre Kraft aus eben dieser Oberfläche. Grotesker Zustand für einen Dichter, von dem Zufall eines Lohnkonflikts abhängig zu sein! Der Grund dafür: wir brauchen friedliche Entwicklung der Dinge und verabscheuen die billige Dramatik der entfesselten Straße.“

            „Dennoch gibt es Dichter, die gerade von der Revolution befruchtet werde?! Ich meine nicht die sozialen Dichter an sich, sondern die vor allem, die Revolution als wildbewegtes Drama fesselt.“

            „So wäre also mein Bekenntnis das „ecce homo“ des Bourgeois. So wären wir mit unseren Nerven, die kein Blut spüren können, ohne zu zucken, die dafür aber stark sind, wenn es gilt, unblutige Geheimnisse zu erleben, so wären wir mit unserem Sinne für Beschaulichkeit, für innere Sensation um Jahrzehnte zu spät geboren? Ich glaube es nicht. Bedenken Sie, daß alles Wilde, Unorganische den Spiegel der Zeit beschlägt, vor dem wir sitzen. Wir haben als Menschen nicht die Kraft zu so gewaltiger Objektivität, daß wir vor einer revolutionär aufflammenden Stadt daran denken könnten, daß hunderttausend andere Städte zur gleichen Stunde im tiefsten Frieden leben. Wir sehen nur das Nächstliegende und müssen es sehen, da wir mit tausend Fühlern nur aus unserer engsten Umgebung die Stimmung holen, die wir brauchen. Der Dichter ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, Untersuchungshäftling seiner nächsten Umgebung. Und zwar ein Häftling, dem nicht einmal Selbstbeköstigung gestattet ist.“

            „Und ich dachte, daß gerade der Dichter in Zeiten der Konzeption zu größter Objektivität fähig sei. Wie vermöchte er sonst aus dem Zufälligen, das ihn umgibt, Allgemeingültiges zu holen? Und außerdem: ist die Revolution in diesem Jahrhundert wirklich bloß ein Zufall? Ist Rußland, sind die überall aufzuckenden Flammen revolutionären Geistes nicht der Beweis dafür, daß unsere Zeit im Zeichen der Umwälzungen, der Umwertung der Begriffe steht? Gibt es noch einen anderen Zeitgeist als den, den wir spüren, oder garantiert der Dichter, der seiner Zeit bekanntlich immer um ein Stück voraus ist, daß die Revolution keine Angelegenheit eines Jahrhunderts ist, sondern bloß Phase, Uebergang zu neuer Ordnung der Dinge auf überlieferter Ebene? Garantiert der Dichter mit den schwachen Nerven dafür, daß es niemals das geben wird, von dem Utopisten heute faseln, Kunst der Masse, revolutionäre Dichtung, Aesthetik des ganzen Volkes?“

            „Sie fragen mich etwas unerhört Wichtiges. Sie fragen mich nach dem Sinne unserer Zeit, wie man sich etwa bei einer Wahrsagerin nach der Zukunft erkundigen mag. Was soll ich Ihnen erwidern? Meine schwachen Nerven, die versagen, wenn die Straße revoltiert, wollen Sie als Argument nicht gelten lassen. Ist das, was wir erleben, eine Götterdämmerung der alten Kunstform, der unmittelbaren Kunst von Mensch zu Mensch, die aus inneren und nicht aus äußeren Stürmen entstand? Wird der Mensch als Persönlichkeit, von dem die Kunst bisher lebte, entwertet werden zugunsten der Masse als Inhalt des Kunstwerkes? Und mit dem Menschen auch sein Dichter? Ich glaube es nicht. Denn ich glaube nicht daran, daß der Mensch sein Herz, das große Geheimnis, um das sich alles dreht, einmal nicht mehr in seiner eigenen Brust wird schlagen hören, sondern in der Masse. Sie müssen an eine große Wahrheit denken. Jeder Mensch geht einmal nach Hause! Zu Hause, wo er sein eigenes Schicksal wieder vorfindet, wird er nicht mehr Gefahr laufen, sein eigenes Freud und Leid mit dem seiner Mitmenschen zu verwechseln. Revolution ist immer und überall ein Rausch. Ihm folgt die Ernüchterung, wenn man nach Hause kommt und statt der Barrikaden wieder sein Bett sieht. Es ist, wie wenn ein Theaterpublikum plötzlich die Bühne stürmen will, um selbst Komödie zu spielen, dann aber einsieht, daß dazu doch etwas mehr gehört als bloße Begeisterung. Zwar, die Politik, die aus Diplomatenintrigen längst eine Monstertheatervorstellung für das Volk geworden ist, erzieht die Menschen dazu, lieber Akteure zu sein, als Zuschauer. Und da haben sie das tiefste Wesen der Krise der Theater: Der Mensch in seiner Eitelkeit ist lieber der letzte Statist auf der Bühne der Zeit Als der erste Zuschauer im Parkett eines Theaters. Aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn die Menschen nach Hause kommen, unterscheiden sie wieder genau zwischen politischer Theatervorstellung und Kunst. Denn sie hören ihr Herz wieder schlagen und fühlen, daß das Geheimnis des wirklichen Dramas – Furcht und Mitleid, sagt Aristoteles – nicht dem gelegentlichen Schauspieler sich enthüllt, sondern dem Zuschauer. Und darum glaube ich als Dichter zwar an geistige Revolutionen, nicht aber an die metaphysische Bedeutung von Straßenkämpfen, die die Oberfläche des Spiegels trüben, durch den wir in die Tiefen des Menschen schauen.

In: Neues Wiener Journal, Nr. 12140, 11. September 1927, S. 19-20.