Max Adler: Der Krieg ist aus, der Kampf beginnt (1918)

            Der Krieg ist aus, – und er hat anders geendet als es die militärstolzen Mittelstaaten gewähnt hatten, aber eigentlich auch anders, als es die Entente erwartet hatte. Denn wenn auch die Zentralstaaten eine so zerschmetternde Niederlage erlitten, wie es die Entente  kaum je in ihren kühnsten Hoffnungen für möglich halten konnte, so liegt das Entscheidende und geschichtlich in seiner Tragweite noch gar nicht Auszu-//schöpfende in dem Umstand, daß dieser Sieg der Entente gar nicht so sehr durch ihre militärische Überlegenheit, als durch den Willen der Völker in den Mittelstaaten ermöglicht wurde. Nicht eigentlich der Siegt der Entente, sondern die Revolution der Mittelstaaten, die mit der Meuterei ihrer Fronten begann, hat den Krieg beendet; die Entente siegte, weil die Völker Österreichs, Ungarns und Deutschlands nicht länger mehr kämpfen wollten. Das große Beispiel, das zuerst die russischen Soldaten in der letzten Offensive 1917 gegeben hatten, das sich dann im Oktober 1918 an der bulgarischen Front weiderholte, das befolgten nun auch die Soldaten der Mittelmächte im Westen und im Süden, wo sie lange unter unerhörten Opfern „siegreich“ ausgehalten hatten. Sie warfen die Waffen weg, sie verließen die Stellungen, sie ließen das „Vaterland“ im Stich, das ihnen stets ein Stiefvaterland gewesen war. Konnte man sich darüber wundern, daß der Soldat endlich müde geworden war, seine Haut zu Markte zu tragen für Interessen, die doch nicht die seinen waren? Was hätte er verteidigen sollen, da ihm doch an diesem „Vaterland“ nichts gelegen war, das ihn im Frieden ausbeutete, ihn und seiner Familie stets nur ein kümmerliches Dasein und ein freudloses Heim bereitete und ihn schließlich, ohne ihn zu befragen, auch noch in die Hölle des Krieges gezwungen hatte! Was hätte er für einen inneren Anlaß gehabt, sich noch länger für dieses ganz furchtbare Gewaltsystem des Kapitalismus und Militarismus aufzuopfern, statt dessen durch das Vordringen der feindlichen Heere bewirkte Schwächung zu benützen, um sich ihm ganz zu entziehen!

So empfand zunächst der Soldat die Niederlage auf dem Schlachtfelde, das er freiwillig verließ, eher wie eine Befreiung von dem Banne einer unerhörten Vergewaltigung. Und diese Welle der Befreiung ergoß sich mit ungestümer Kraft über das ganze Hinterland. War erst einmal der ungeheuerliche Druck, mit dem der Militarismus allen wahren Volkswillen erstickte, behoben, so machte sich dieser in elementarer Weise geltend, und vor seiner entfesselten Energie sanken überall die Throne in den Staub, die so lange ihr unbegreifliches anachronistisches Dasein behauptet hatten. Nun war es mit einem Male offenbar geworden, daß der Glanz der Habsburger, daß der stolze Trotz der Hohenzollern gar nichts gemein hatten mit der wirklichen Kraft und Anteilnahme „ihrer“ Völker, als deren bestes Teil sie sich immer ausgegeben hatten, sondern daß sie nur dank der nackten Schwertgewalt existiert hatten, die sie aufzubieten imstande waren. Gegen den brausenden Unwillen der Völker, welche ihre Dynastien als die an dem Kriege nicht am wenigsten Schuldtragenden in lächerlich kurzer Zeit wegfegten, erhob sich auch nicht eine Hand, und auf dem Boden der stolzesten Militärmonarchien der // Erde besteht jetzt ein Kranz von Republiken, von Freistaaten, in denen die gärende Kraft des Volkes darangeht, nach der politischen auch die soziale Umwälzung herbeizuführen, und damit uns erkennen läßt, daß ein neues Kapitel in der Geschichte der europäischen Kultur, ja der Menschheit aufgeschlagen ist.

            So erklärt es sich, daß diese Niederlage trotz der ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen, welche der noch ungebrochene Enteneimperialismus den Zentralstaaten auferlegt hat, doch bei den Völkern derselben nirgends als eine solche empfunden wurde. Ja im Gegenteil – und dies ist nur ein Beweis mehr für die wahnsinnige Unnatur, in welche der Zwang des Imperialismus und Militarismus seine Völker daniedergehalten hat – diese Niederlage wurde geradezu als eine Bedingung der eigenen Befreiung und der demokratischen Fortentwicklung der Welt überhaupt erhofft. Es wiederholte sich die geschichtliche Situation, die schon einmal in der Geschichte Deutschlands da war, als nach der französischen Revolution alle wirklich freiheitsdurstigen deutschen Patrioten den Siegeszügen der Franzosen innerlich zujubelten und, so sehr sie die Herrschaft Napoleons als Säbelrasselherrschaft haßten, sie doch als Bahnbrecherin einer neuen Zeit dem verrotteten Absolutismus ihrer angestammten Dynastien vorzogen. Am besten für die freie Fortentwicklung der Demokratie und für die allgemeine Abrechung der Sozialismus mit der alten Gesellschaft wäre es freilich gewesen, wenn der Krieg so ausgegangen wäre, wie es vor dem Eintritt Amerikas möglich schien, daß er enden würde, ohne Sieger und Besiegte. Aber da dies nun einmal nicht mehr möglich war, so wurde die Niederlage der Mittelmächte geradezu zu einer Bedingung jeglicher Volksfreiheit. Wie anders hätte man mit dem preußischen Militarismus und mit dem habsburgischen Absolutismus fertig werden können? Es ist nicht auszudenken, welches Übermaß von Reaktion über die Welt gekommen wäre, welche politische und soziale Knechtung, wenn Kaiser Wilhelm seinem Siegerwillen hätte frönen können, wenn die preußische Militär- und Junkerkaste die herrschende Klasse der Welt geworden wäre.

            Dieser Alpdruck ist bereits von uns hinweggenommen, und es war die Revolution, die ihn hinwegwälzte. Das Gewaltsystem des Militarismus hat aus sich selbst heraus seine Aufhebung gezeitigt. Und damit hat das schicksalsschwere Wort aus dem Kommunistischen Manifest, daß der Kapitalismus seine eigenen Tote erzeuge, auch seine Anwendung auf das gewaltigste Schutzmittel des Kapitalismus erfahren, auf den Militarismus. Auch der Militarismus erzeugt seine eigenen Totengräber. Indem der Kapitalismus gezwungen war, um seinen Eroberungsgelüsten zu genügen, immer mehr // Männer in den Dienst seiner Armeen hineinzupferchen, ist er schließlich dazu gelangt, das Volk zu bewaffnen. Aber die Waffen in der Hand des Volkes haben die verhängnisvolle Eigenschaft, daß sie nicht bloß dorthin gerichtet werden können, wohin sie die Herrschenden gerichtet sehen möchten, sondern daß sie in plötzlicher Wendung auch dorthin zielen, wo das Volk endlich seinen wirklichen Feind erblickt. Und hat das Volk erst erkannt, daß dieser wirkliche Feind gar nicht notwendig außerhalb der Landesgrenzen steht, daß es vielmehr die kapitalistisch-imperialistische Herrenkaste ist, die es in Krieg und Feindschaft mit dem äußeren Feinde verwickelt hat, um nur desto besser und sicherer ihre eigene Herrschaft und Ausbeutung erhalten und vergrößern zu können – hat erst einmal das bewaffnete Volk diesen Feind erkannt, dann ist es mit der Herrschaft desselben für immer vorbei. Dann mag der Staat durch das Versagen seiner Wehrkraft und durch die Invasion des äußeren Feindes eine Niederlage erlitten haben. Dies bedingt unter den heutigen Verhältnissen bloß eine vorübergehende Fremdherrschaft. Das Volk des besiegten Staates selbst aber feiert einen großen und entscheidenden Sieg über seine dauernden Feinde, über die Fremdherrschaft seiner unterdrückenden und ausbeutenden Klassen. Schon steht verheißungsvoll die deutsche sozialistische Republik vor den staunenden Augen der Mitwelt da, und im stürmischen Drang bereitet das Proletariat auch bei uns sich vor, diesem leuchtenden Beispiel zu folgen.

            Und das ist der Punkt, in welchem der Krieg, der sonst die größten Hoffnungen der Entente erfüllt hat, doch so ganz anders ausgegangen ist, als sie es erwartet hat und ihr recht sein kann. Die Heere der Entente ziehen zwar in ein geschlagenes Land, aber in ein revolutioniertes Volk ein. Sie finden keine niedergeworfenen Staaten: denn diese existieren nicht mehr, sie sind von dem jäh erstarkten Volkswillen hinweggefegt worden. Das alte Österreich, dieses Zuchthaus seiner vielsprachigen Völker, die übermächtige Adelsrepublik des alten Ungarn, die preußisch-deutsche Militärmonarchie – sie alle sind gewesen und an ihre Stelle sind neue Staaten getreten, in denen zwar noch nicht überall das Proletariat die Herrschaft anzutreten vermochte, was aber dadurch wettgemacht ist, daß dies in dem mächtigsten und größten dieser neuen Staaten, in der deutschen Republik, der Fall ist. Die Tatsache der deutschen sozialistischen Republik gibt der geschichtlichen Situation, die nun nach Beendigung des Krieges eingetreten ist, viel mehr das Gepräge als der Sieg der Entente.

            Denn allerdings steht der Ententekapitalismus noch ungebrochen da und zeigt seine ganze hemmungslose Raubtiernatur in den Waffenstillstandsbedingungen, die er den einzelnen Teilen der ehemaligen Zentralstaaten aufgezwungen hat. /780/ […]

An der Macht des deutschen Proletariats wird sich die Kraft der sozialistischen Bewegung in den Ententestaaten ebenso entzünden, wie sich die unsrige an der Revolution Rußlands entzündet hat. Auch der großmächtige Imperialismus der Entente wird daran glauben müssen und den lebendigen Sinn des alten Wortes an sich erfahren: Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen. Und der Gott, der sie in Gang bringt, das wird die wieder erstehende Internationale sein. //

            Nun halten wir selbst in Deutschösterreich allerdings erst bei einer bloß politischen Revolution. Wir haben erst nur die bürgerliche Republik aufgerichtet. Aber wer sich von dieser Einschätzung der bei uns vollzogenen Umwälzung allein leiten ließe, ginge mächtig an ihrer eigentlichen geschichtlichen Bedeutung vorbei. Für Österreich und ebenso für Ungarn liegt das eigentlich Revolutionäre in diesem ersten Abschnitt in der Zertrümmerung des alten alten Habsburgerreiches und damit in der endlichen Befreiung von der würgenden Fessel des Nationalitätenstreites, der jede politische und noch mehr soziale Entwicklung unmöglich gemacht hat. Hier mußten also zuerst die neuen, national einheitlichen Staaten aufgerichtet werden, was zunächst nicht anders möglich war als in der Form der bürgerlichen Republik, das heißt in der Form eines einheitlichen Vorgehens aller Klassen der Nation. Diese nationale Konstituierung hat aber, soweit die Sozialdemokratie in Betracht kommt, die sich ja zur Hauptträgerin dieser Forderung gemacht hat, ganz und gar nichts mit Nationalismus zu tun. In der Forderung nach einem deutschösterreichischen Staat ist die deutsche Sozialdemokratie in Österreich nicht etwa auf einmal deutschnational geworden. Sondern diese Forderung nach nationaler Trennung und staatlicher Konstituierung der einzelnen Völker des alten Österreich ist nur die Verwirklichung der revolutionären Forderung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. […] Das ist fürwahr kein Nationalismus, sondern die einfache Vorbedingung jeder wirklichen Demokratie. Weil sie aber das deutsche Volk in Österreich zugleich befreit von dem unfruchtbaren Streit mit Tschechen, Polen und Südslawen, weil sei endlich die Möglichkeit schafft, nunmehr statt des Nationalitätenstreites der ganzen Völker den Klassenkampf des deutschen Proletariats gegen die deutsche Bourgeoisie auf die Tagesordnung zu setzen, darum ist diese bis jetzt nur erst bürgerliche Revolution zugleich ein großer und bleibender Gewinn für das Proletariat.

            Und das gleiche gilt von von der Erringung der Demokratie. Kein Zweifel: für uns ist die Demokratie kein Selbstzweck, nicht sie ist das Ziel, sondern die sozialistische Gesellschaft. Aber die Demokratie ist dazu das unerläßliche Mittel, weil erst sie dem Emanzipationskampf des Proletariats jene Bewegungsfreiheit verschafft, die es braucht, um zur Macht zu gelangen. Die Vorgänge und das Schicksal des Sozialismus in Rußland// beweisen, wie verhängnisvoll der Weg in die Irre führt, welcher meint, die Demokratie durch die Diktatur ersetzen zu können, die sich zwar Diktatur des Proletariats nennt, aber, weil Diktatur bloß einer kleinen Gruppe desselben, eher eine Diktatur gegen das Proletariat ist. […]

            Unser Ziel aber, das nicht etwa als ein fernes zu betrachten ist, sondern als eine Sache, die heute unsere unmittelbare politische Tätigkeit praktisch zu bestimmen hat, ist die sozialistische Republik; und deren Verwirklichung gilt die von der Sozialdemokratie als treibende Kraft durchgesetzte Forderung des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Auch der Sinn dieser vielfach von dem Proletariat noch gar nicht in seiner revolutionären Bedeutung erfaßten Forderung ist kein in erster Linie nationaler. Wir unterschätzen durchaus nicht auch die nationale Seite unserer Forderung. Im Gegenteil, es erfüllt uns mit hoher Genugtuung, daß gerade die sozialistische Politik des Proletariats dazu ausersehen ist, den Traum so vieler deutscher Generationen zu erfüllen und das Ideal zum Besten unseres Volkes zu verwirklichen: die politische Einheit des deutschen Volkes. Aber dieses nationale Interesse ist nicht das Entscheidende für unsere Stellungnahme, so verscheiden es selbst in diesem Falle von dem der Deutschnationalen wäre. Denn nicht das Deutschland des Imperialismus, das Deutschland des „herrlichen Kriegsheeres“ und der der Flottenbegeisterung ist es, zu dem wir Sozialdemokraten stoßen wollen. Dieses ist vielmehr dem Arbeiter bei uns ebenso verhaßt gewesen, wie es den Haß der ganzen Welt auf sich gezogen hatte. Was der Gegenstand der Begeisterung studentischer und „völkischer“ Deutschprotzerei war, das Deutschland Bismarcks mit seinem Sozialistengesetz, das Deutschland der Hohenzollern mit seinem persönlichen Regiment und seiner Junkerherrschaft, dem waren wir stets aus ganzer Seele feind. Aber wir liebten und bewunderten stets das Deutschland der Dichter und Denker, das Deutschland der // Erfinder und Entdecker, des werktätigen Fleißes und der zielbewußten Organisation. Und darum schätzen wir dieses Deutschland als das Land der höchstentwickelten produktiven Arbeit und zugleich der höchsten geistigen Kultur, als das Land, in welchem, wenn überhaupt irgendwo, alle objektiven und subjektiven Bedingungen für die Verwirklichung des Sozialismus bereits gegeben sind. Wenn daher die Begeisterung für den Anschluß an Deutschland  hier zuerst beim Bürgertum recht hoch stieg, während die Arbeiter noch eher zurückhielten, so bemerken wir bereits jetzt, unter dem Einfluß der Aufrichtung der sozialistischen Republik in Deutschland, wie wenig echt diese bürgerliche nationale Begeisterung war, da sie schon bedeutend abzuflauen beginnt, seitdem es klar wird, daß es nicht die schwarz-rot-goldenen Fahnen und schon gar nicht die schwarz-weiß-roten Fahnen sind, zu denen wir stoßen werden, sondern die roten Fahnen. Für die Arbeiter aber wird es im selben Maße klarer, daß unser Anschluß an Deutschland keine deutschnationale Politik ist, so wenig, als die rote Fahne eine nationale Fahne ist, sondern daß dieser Anschluß eine direkte Folge unserer sozialistischen Politik ist und eine unbedingte Forderung für ihre Fortentwicklung.

            Denn Deutschösterreich, das für sich allein keine wirtschaftliche Selbständigkeit behaupten kann, ist heute auch noch nicht imstande, den Sozialismus für sich allein zu verwirklichen. Dem stehen noch der überwiegend agrarische Charakter unseres Landes entgegen. Als ein Teil des großen Deutschen Reiches aber entscheidet sich unser Schicksal mit dem des ganzen deutschen Volkes. Als ein Teil der deutschen sozialistischen Republik ist der Fortbestand einer bloß bürgerlichen Republik bei uns unmöglich. Indem wir unseren Anschluß an das deutsche Volk vollziehen, werden wir durch seine soziale Kraft mit einem Male auf eine Entwicklungsstufe hinaufgerissen, die wir allein erst beträchtlich später zu erreichen vermöchten.

[…] //

            Der Krieg ist aus und er endet mit einer Weltenwende. Ja, jetzt wird erst vollends klar, was wir Sozialisten schon immer während des Krieges von ihm sagten, daß er selbst schon der Beginn dieser Weltenwende war, der Beginn des Zusammenbruches der bürgerlichen Welt.

In: Der Kampf, H. 12/1918, S. 776-784.

Otto Bauer: Geistige Weltkrise (1930)

Es gibt nichts Ungeistigeres als öster­reichische Wahlkämpfe. Kann man geistig ringen mit ungeistiger Brutalität, mit vul­gärer Spießerhaftigkeit? Und doch gibt es auch hierzulande Menschen, die die geistige Krise unserer Generation erschüttert mit­erleben. Auch hier Unterrichtete, Denkende, für die der Akt der Wahl Stellungnahme zu den Problemen der Kultur unseres Zeit­ alters ist.

Die Technik ist das Schicksal unserer Kultur. Krieg und Nachkriegsnöte haben ihrer Entwicklung mächtigen Anstoß gegeben. Wir leiten in Hochspannungs­leitungen von 220.000 Volt den elektrischen Strom Hunderte Kilometer weit. Wir bauen Dampfkessel mit einem Druck von hundert Atmosphären und Dampfturbinenanlagen, die 250.000 Pferdekräfte liefern. Wir brauchen zur Gewinnung der Kilowatt­stunde nur halbsoviel Kohle als vor dem

Kriege. Wir haben durch die Verwendung der Verbrennungskraftmaschinen im Auto, im Motorrad, im Traktor, im Tank, im Flugzeug, im Luftschiff unser ganzes Leben umgewälzt. Die Züchtung neuer Weizen­sorten hat die Zone des Getreidebaues um hundert Kilometer nach dem Norden vor­geschoben. Die Gewinnung des Stickstoffes aus der Luft hat die Erträge unseres Bodens bedeutend gesteigert. Der Mähdrescher, der das Getreide auf dem Felde

in einem Arbeitsgang schneidet und drischt, hat das Arbeitserfordernis zur Erntearbeit auf ein Viertel herabgesetzt. Die Preßluftwerkzeuge mechanisieren den Bergbau. Die Chemie gewinnt Oel aus Kohle, Seide und Futtermittel aus Holz. Spezialisierung und Automatisierung der Arbeitsmaschinen, Fließarbeit und laufendes Band wälzen unsere Fabriken um. Kino und Radio geben der Muße der Massen neuen Inhalt.

Mister Babbit bastelt abends an seinem Auto, der Angestellte an seinem Motorrad, der Arbeiter an seinem Radioapparat. Die Menschen werden mit stärkstem Interesse für alles Technische erfüllt.

Das ingenieursmäßige Denken wird zum vorherrschenden Denken der Zeit. Wir denken in Kurven, Gleichungen, Wirkungsgraden.

Die Naturwissenschaft ist in einen Zu­stand völliger Umwälzung geraten. Die Einspannung jedes Betriebes, jeder Maschine, jedes Haushaltes in das die Länder überdeckende elektrische Stromnetz macht das Denken unserer Generation für neue Weltbilder empfänglich. An die Stelle des anschaulichen mechanistischen Weltbildes des Zeitalters der jungen Maschinerie treten in einer Zeit, in der jedermann die Anwendung der Elektrodynamik täglich erlebt, die Vorstellungen der Feld-, der Elektronen-, der Quantenphysik.

Wir sind stolz auf diese Entwicklung. Wir jubeln den Ozeanfliegern zu. Wir feiern jedes neue große Elektrizitätswerk als einen Sieg, jede neue Leistung der Konstruktionsbüros der Maschinenfabriken, der Labora­torien der chemischen Industrie als eine Errungenschaft der Menschheit.

Und doch— je mehr wir den Siegeszug der Technik rühmen, desto grauenhafter wird uns die Welt, die dieser Siegeszug schafft!

Der Arbeiter am laufenden Band. Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute in ewigem Einerlei, in ständiger Hast denselben Handgriff.

Der Angestellte an der Buchungmaschine, die für ihn schreibt und rechnet. Sein Lebensberuf, die Konti der Kunden, deren Namen mit dem Buchstaben 8 anfangen, zu führen!

Diese Menschen haben den Krieg, sie haben die Hoffnungen, die Leidenschaften, die Enttäuschungen der Revolution erlebt. Jetzt sind sie zu entgeistigter Arbeit Tag für Tag verdammt, zu einer Arbeit, die persönlicher Initiative, persönlicher Phan­tasie, persönlichem Geltungstrieb keine Betätigungsmöglichkeit gibt! Was ihnen die Arbeit versagt, suchen sie am Feierabend im Kino, auf dem Sportplatz. Sie suchen es auch im öffentlichen Leben. Je mechanischer, je monotoner die Arbeit, desto größer ihr Verlangen nach großem Erleben, ihre Sehnsucht nach dem großen Abenteuer. Die einen locken die Phantasiebilder der Weltrevolution zum Bolschewismus. Die andern lockt das Phantasiebild der nationalen Revolution zum Fascismus.

Hochgezüchtete Getreidesorten, Stickstoff­dünger aus der Luft, neue wunderbare Landmaschinen — der Erntesegen ist viel schneller gewachsen als die Kaufkraft der Welt. Millionen Bauernwirtschasten droht der Untergang. Der Bauer ist in Not. Der Bauer grollt. Und auch an ihn drängt sich die Versuchung heran: Ist das wahre Demokratie, was dir nicht einmal dürftigen Lohn für deine Arbeit mehr sichern kann?

In den Tiefen der Gesellschaft aber grollt die Masse der Arbeitslosen. Ja, wir brauchen nicht mehr halb soviel Kohle wie vordem zur Erzeugung einer Energieeinheit — aber Hunderttausende Kohlengräber bezahlen das mit der Arbeitslosig­keit! Ja, wir haben immer neue, immer vollkommenere Maschinen in den Dienst unserer Arbeit gestellt. Aber jede neue Maschine hat Menschen, Menschen aus Fleisch und Blut, Menschen mit Weib und Kind um Arbeit und Brot gebracht.

Fühlt ihr es nicht, wie die Erde unter euren Füßen bebt? Wenn die Kaffeepreise sinken, rast in Brasilien die Revolution. Wenn Europa dem Gefrierfleisch seine Grenzen sperrt, gibt es Straßenschlachten in Buenos Aires. Wenn die Baumwollpreise sinken, brennen in Indien die Flammen des Aufruhrs lichterloh. Und Europa? Europa mit seinen acht Millionen Arbeits­losen? Sind die deutschen Reichstagswahlen nicht ein warnendes Anzeichen?

In dieser im Innersten aufgewühlten Welt leben die Intellektuellen. Und das große Unbehagen packt auch sie.

Die Geldentwertung hat ihre Vermögen, ihre Renten vernichtet. Die wirtschaftliche

Not entzieht dem Arzt die Patienten, dem Rechtsanwalt die Klienten. Wer kauft noch Bücher? Wer Kunstwerke?

Und wie das wirtschaftliche Erbe der Intelligenz zerfallen ist, droht ihr Kulturerbe zu zerfallen. Das überlieferte humanistische Bildungsgut kann den Wettbewerb mit dem ingenieursmäßigen, positivistischen technisch-naturwissenschaftlichen Denken des Zeitalters nicht mehr bestehen. Was sagt der Phantasie dieser Generation Hephaistos neben Henry Ford, Dädalos neben Lindbergh? Man hat keine Zeit für die Antike, wenn man die moderne Technik verstehen lernen will, und liest kein griechisch Trauerspiel, wenn man vom Tonfilm kommt.

Gewiß, eine neue Wissenschaft steigt auf. Aber was kann sie der Masse der Gebildeten sagen? Ein halbes Jahrhundert erkenntniskritischer Arbeit hat uns ernüchtert. Uns löst die Naturwissenschaft keine Welträtsel mehr. Wir wissen: ihre Elektronen — das sind doch nur Hilfsmittel des Denkens, experimentell Erfahrenes zu ordnen; ihre Differentialgleichungen doch nur Rechnungsanweisungen, die Aufeinanderfolge der Erscheinungen, zu be­rechnen.

Und die neue Kunst? Sind nicht diese Romane, diese Theaterstücke, deren Technik mit dem Film konkurriert, Symptome nur der Mechanisierung alles Geistigen?

Viele der Besten unter den Intellektuellen lehnen sich gegen diese Kultur auf. Aus diesem positivistischen, relativistischen Wissen, das mit der ingenieursmäßigen Denkweise aufsteigt, aus diesem Wissen, das an die Stelle der „ewigen, ehernen Gesetze“, in denen eine vergangene Zeit die Lösung der Geheimnisse der Schöpfung zu entdecken glaubte, ein bloßes System von Gleichungen setzt, das die Wahrscheinlichkeit aufzeigt, mit der einem Vorgang ein andrer folgen werde — aus ihm fliehen sie alle, die Ingenieure unter ihnen mit, ins Transzendente, suchen die Befriedigung in mit dem Metaphysischen spielendem Wortgepränge.

Und dieses ganze Unbehagen an der Kultur unserer Zeit, sie übertragen es auch auf das Politische.

Was ist aus der Demokratie, in die die Intellektuellen vor zwölf Jahren hineingeschleudert worden sind, was ist aus ihr geworden?

Auf der einen Seite eine Maske der Plutokratie. Nie haben die Großbanken, nie die großen Industriekonzerne den Staaten so ihren Willen diktieren können wie in dieser Zeit der wirtschaftlichen Not, die den Staat von den Kapitalsherren so abhängig gemacht hat.

Auf der andern Seite aber der Aufstieg der Massen — der Massen, so wie sie der Kapitalismus geschaffen hat. Mit rauhen Händen. Mit dürftiger Bildung.

Verständnislos steht ein Großteil der Intellektuellen dieser neuen Macht gegenüber. Ihre Organisationen, in denen der Arbeiter das Betätigungsfeld individueller Initiative, individuellen Geltungstriebes, individueller Führerqualitäten findet, das ihm die Fabrik versagt — dem Intellektuellen erscheinen sie als Ungetüme nivellierender Massenballung. Das bißchen mehr Lohn, die Höhe der Arbeitslosenunterstützung — für den Arbeiter sind es Lebensfragen. Mieter­schutz — für den Arbeiter ist es die Frage, ob seine Kinder im Pubertätsalter neben dem Ehebett der Eltern schlafen sollen, ob er am Feierabend ein behagliches Heim finden, ob er für Wanderung, für einen Urlaub etwas erübrigen soll. Zölle — für den Ar­beiter ist es die Frage, ob er noch Arbeit finden soll! Aber was sagt all das, was die Masse bewegt, dem Intellektuellen? Was Menschen, deren Schicksal es ist, ihr ganzes Leben lang in fremdem Dienst, unter fremdem Kommando arbeiten zu müssen der Kampf um das Mitbestimmungsrecht im Be­trieb, um das Recht der Betriebsräte und der Personalvertretungen, der Kampf gegen den Unternehmerterror, der dem Arbeiter mit der Arbeit auch die Gesinnung zu dik­tieren sich vermißt, bedeutet — wie soll es der Intellektuelle, der allein und frei an seinem Schreibtisch schafft, ganz fühlen können?

So sieht mancher Intellektuelle an der Masse nichts, als daß sie rauh und unge­bildet ist; daß sie in Not, Erregung, Zorn zur Gewalttätigkeit neigt; daß ihr Aufstieg den politischen Kampf vergröbert, mechani­siert, materialisiert hat. Enttäuscht wendet er sich ab. Nun ist er reif für den Versucher. Nun lockt ihn das Phantasiebild einer autoritären Ordnung, die die Masse bän­digen, der „Arbeit edleren Stammes“, der schöpferischen, geistigen Arbeit die Führung sichern, die die Kraft des ganzen Volkes zur nationalen Selbstbehauptung zusammenfassen werde. So wird er reif für den Fascismus.

Auf der einen Seite die dumpfgrollenden Massen, die sich gegen die kapitalistische Ordnung auflehnen, die fünfzehn Millionen keinen Arbeitsplatz, keinen Erwerb zu sichern vermag. Auf der andern Seite die kapitalistischen Klassen, die, demokratisch, solange die Demokratie ihre Herrschaft nicht gefährdet, täglich bereit sind, sich dem Fascismus in die Arme zu werfen, wenn die Demokratie gegen sie zu entscheiden droht. Und zwischen beiden die Zwischenschichten, die die wirtschaftliche und geistige Erschütterung unserer Zeit dem Fascismus in die Arme zu treiben droht — spürt ihr die Gefahr?

Es ist nicht nur eine Gefahr für wirt­schaftliche Güter, nicht einmal nur eine Ge­fahr für Menschenleben. Es ist mehr.

Die geistige Freiheit ist der Lebensquell aller Demokratie. Daß alle Meinungen, alle Gesinnungen im freien Wettbewerb um die Seele des Volkes ringen können und jene obsiegt, für die sich jeweils die Mehrheit des Volkes in Freiheit entscheidet, das ist das Wesen der Demokratie.

Keine Diktatur kann geistige Freiheit dulden. Der italienische Fascismus und der russische Bolschewismus, die sonst eine Welt scheidet, in einem sind sie eins: Ein Häuflein von Gewalthabern bestimmt, was gesprochen, gelehrt, gedruckt werden darf. Es gibt nur eine Meinung, nur eine Überzeugung, die erlaubt ist. Kein Lehrer, der sie nicht lehren will, wird an den Schulen, von der Volks- bis zur Hochschule, geduldet. Keine Zeitung, kein Buch, das sie nicht verkündet, kann ge­druckt, kein Kunstwerk, das ihr nicht dient, geschaffen werden. Wer eine andre Meinung zu äußern wagt, der endet auf den Liparischen Inseln da, auf der Ssolowkiinsel dort!

Drei Jahrhunderte lang sind die Besten der Menschheit auf den Scheiterhaufen, in den Bastillen, auf den Barrikaden für die geistige Freiheit gestorben. Sie ist das kostbarste Erbe des Kampfes dreier Jahr­hunderte. Das kostbarste Erbe, das uns die bürgerliche Geschichtsepoche hinterlassen hat. Sie ist heute in bitterernster Gefahr. Wenn die Gegensätze, die die wirtschaftliche und die geistige Weltkrise des Kapitalismus her­vorruft, die Demokratie sprengen, begraben sie die geistige Freiheit unter ihren Trümmern.

Sind aus der Schöpferkraft der geistigen Freiheit die ganze moderne Naturwissenschaft und damit auch die ganze moderne Technik geboren worden, so bringt jetzt die moderne Technik, die unter der Herrschaft des Kapitals alle wirtschaftlichen, sozialen, geistigen Widersprüche bis zur Sprengung der Demokratie zu entwickeln und zu verschärfen droht, ihre eigene Mutter, die geistige Freiheit, in ernsteste Gefahr.

Wo ist der Ausweg? Wo ist die Rettung der geistigen Freiheit?

Es ist der Kapitalismus, gegen den sich die Massen auflehnen. Der Kapitalismus, der die Demokratien kapitalistischen Plutokratien Untertan macht. Der Kapitalismus, der die harte Fron in Fabrik und Büro entadelt, indem er die Arbeit für die Gesamt­heit zum Dienst am Profit von Privatleuten erniedrigt. Der Kapitalismus, der immer wieder Millionen Menschen müßiggehen und darben läßt, obwohl die Maschinen da sind, die diese Menschen bedienen, die Rohstoffe, die sie verarbeiten möchten —, Millionen müßig gehen läßt, obwohl Millionen Nahrung und Kleidung und Wohnraum entbehren.

Eine Demokratie, die nur eine Maske kapitalistischer Plutokratie ist, eine Demo­kratie, die die kapitalistische Herrschaft im Staate und die kapitalistische Anarchie im Wirtschaftsleben verewigt, wird die Massen nicht festzuhalten vermögen. Eine Demokratie, die ohne schöpferisches Ideal in den kleinen Aufgaben des Alltags aufgeht, wird die Sehnsucht der an das laufende Band gefesselten Massen nach größerem, erhebenderem Erleben nicht befriedigen können. Die Demokratie wird nur dann im festen Willen der breiten Massen unzerstörbar ver­wurzelt sein, wenn sie die Massen durch die Tat überzeugt, daß sie die Gebrechen der Gesellschaftsordnung, gegen die sich die Massen auflehnen, allmählich zu überwinden, daß sie schrittweise eine andre, eine höhere, eine sozialistische Ordnung aufzubauen ver­mag.

Warum gibt es in Wien viel weniger Kommunisten und viel weniger Nationalsozialisten als in Deutschland? Weil das Werk der Gemeinde Wien hier der Masse gezeigt hat, daß auch eine mit den demo­kratischen Mitteln gewonnene und behauptete Macht befähigt ist, Zehntausenden Arbeit, Zehntausenden Wohnungen, Zehntausenden soziale Hilfe in der Not, dem ganzen Volke mehr Kultur für seine Kinder zu sichern, Keimzellen neuer sozialistischer Ordnung zu bauen.

Bolschewismus und Fascismus locken die Massen: Ihr müßt der Demokratie entsagen, euch einer Gewaltherrschaft unterwerfen, auf die geistige Freiheit, das kostbarste Erbe der Vergangenheit, verzichten; denn nur eine Diktatur kann euch aus eurer wirtschaftlichen, sozialen Not befreien, kann euer Bedürfnis nach größerem Erlebensinhalt befriedigen. Die Demokratie kann sich gegen ihre Lockungen nur behaupten, wenn sie der Masse durch die Tat beweist, daß sie selbst aus einer Herrschaftsform des Kapitals zum Werkzeug der Befreiung der Arbeiterklasse, zur Stätte schöpferischen sozialistischen Aufbaues werden kann.

Die bürgerliche Demokratie will geistige Freiheit ohne soziale Befreiung. Sie kann die Massen nicht festhalten. Der Bolschewismus und der Fascismus versprechen den Massen soziale und nationale Revolution, um den Preis des Verzichtes auf die Demokratie.

Das wäre das Ende der geistigen Freiheit. Der demokratische Sozialismus vereint das große Erbe der Vergangenheit mit der großen Aufgabe der Zukunft: eine sozialistische Welt, die entstehen soll aus freier Ent­schließung der im geistigen Ringen dem Sozialismus gewonnenen Völker, aufgebaut in freier Selbsttätigkeit sich demokratisch selbstregierender Massen.

Kann diese Vision des demokratischen Sozialismus Wirklichkeit werden? Es kann geschehen, daß sich die kapitalistischen Klassen dem Fascismus in die Arme werfen, sobald die Demokratie ihrer Herrschaft gefährlich wird. Daß sie die Entscheidung durch die Gewalt erzwingen. Daß die Demokratie in blutigem Bürgerkrieg zugrunde geht. Und Krieg und Bürgerkrieg haben immer in der Geschichte Diktaturen gezeugt. Das wäre das Ende der geistigen Freiheit. Gegen diese Gefahr kämpfen wir. Vor diesen Gefahren die Menschheit zu retten — das ist es, wo­rum der demokratische Sozialismus heute in der Welt ringt.

Das ist es. was unser Linzer Programm, um das Ignoranz und Lüge ihr Gewebe der Entstellung gewoben haben, verkündet hat. Klar, unzweideutig hat es verkündet: Wir wollen die Macht zum Umbau der Gesell­schaft erringen im demokratischen Kampf um die Seele der Mehrheit unseres Volkes. Wir wollen diesen Umbau vollziehen auf dem Boden der Demokratie, unter allen Bürg­schaften der Demokratie, unter der demokrati­schen Kontrolle des ganzen Volkes. Aber warnend hat das Linzer Programm hinzugefügt: „die Kapitalistenklasse werde versucht sein, die demokratische Republik zu stürzen, eine monarchistische oder fascistische Diktatur aufzurichten, sobald das allgemeine Wahl­recht die Staatsmacht der Arbeiterklasse zu überantworten droht oder schon überant­wortet haben wird“. Warnend hat das Linzer Programm hinzugefügt, daß jeder Versuch, die Entscheidung des Stimmzettels zu er­setzen durch die Entscheidung der Gewalt das Land in den Bürgerkrieg stürzen würde. Und der Bürgerkrieg freilich gebiert, wer immer in ihm siege, nach allen Erfahrungen der Geschichte die Diktatur. Bestätigen die Gefahren, in denen Österreich heute schwebt, bestätigen sie nicht die große Warnung des Linzer Programms?

Wir haben in unserem Lande 1919 — zwischen Budapest und München — die Demokratie vor dem Bolschewismus gerettet. Wir haben sie heute — zwischen Rom und Budapest— vor dem Fascismus zu retten. Das ist unser Kampf um die Demokratie — um das kostbare Gefäß der geistigen Frei­heit!

Die geistige Freiheit — sie allein kann allmählich die geistige Weltkrise überwinden, die die Besten unserer Zeit erschüttert. Die bürgerliche Demokratie, eine Demo­kratie ohne großes, begeisterndes Ziel, eine Demokratie, die restlos aufgeht in den kleinen Tageskämpfen um Zölle und Unter­stützungssätze und Steuern, eine Demokratie, die sich erschöpft in dem ewigen Einer­lei täglicher Kompromisse — sie sagt dem Geiste der Zeit zu wenig. Eine Intelligenz, die aufgeht in der Ideallosigkeit des täglichen Getriebes der bürgerlichen Demokratie, denkt skeptisch, relativistisch. Sie flüchtet vor ihrer eigenen Skepsis, vor ihrem eigenen Rela­tivismus, vor ihrer eigenen Ideallosigkeit in die Sehnsucht nach dem Abenteuer, nach der geschichtlichen Tat, nach der straffenden Disziplin, in die Sehnsucht nach dem Fascismus und bringt so den Lebensquell ihres, eigenen Schaffens, die geistige Freiheit, in Gefahr. Nur die Vision des demokratischen Sozialismus kann die Demokratie mit einem Ideal beseelen, ihre kleinen Tageskämpfe durch ein hohes Ziel, das sie verknüpft, adeln, das Bedürfnis der zur entseelten Arbeit verdammten Masse nach größerem, höherem Erlebnis befriedigen, den skeptischen Relativismus der Intelligenz, der sich, seiner selbst überdrüssig, geistig in das Abenteuer metaphysischer Romantik, politisch in das Abenteuer des Fascismus wirft, durch ein hohes Schaffens-, durch ein hohes Kampfziel überwinden.

Das Zeitalter ist zerrissen im Verhältnis zu seinen eigensten Errungenschaften. Stolz auf die Technik und doch unzufrieden mit den sozialen und geistigen Wirkungen der technischen Umwälzung. Die sozialistische Organisation des Wirtschaftslebens — es ist nichts andres als die Aufgabe, die Technik, die unter der Herrschaft des Kapitals den Arbeiter aus der Produktionsstätte hinausschleudert, den Bauern in Not stürzt, das geistige Leben mechanisiert, zum Instrument zu verwandeln, den Wohlstand aller zu heben, die Arbeits­mühe aller zu lindern, die geistige Kultur der Massen zu bereichern. Die Aufgabe, die Wissenschaft in ihrer technischen Verwertung, die heute über das Volk wie ein grausames, Lebensgrundlagen und Lebensglück von Millionen zerstörendes Schicksal hereinbricht, den Völkern zum dienenden, bereichernden Erbe zu geben und damit den Völkern zu ver­söhnen. Gibt es ein andres Ideal, das das ingenieursmäßige, das technisch-naturwissenschaftliche, das positivistische Denken unserer Zeit, das so viele nicht zu befriedigen vermag und sie darum zur Flucht in das trügerische Wortgepränge neumodischer Scheinmetaphysik treibt, vereinigen und versöhnen könnte mit den hohen Menschheitswetten, die der beste Kern unserer humanistischen Kulturtradition sind?

Aber halt! Da sprechen wir von Mensch­heitsproblemen. Sie werden nicht in Österreich gelöst werden. Über sie wird sicherlich nicht in diesem Wahlkampf entschieden. Und doch — es gibt einen Faden, der die Probleme der großen geistigen Weltkrise der Zeit selbst mit unserem kleinen österreichischen Tages­kampf verbindet!

Die Bürger dieser Stadt mögen die rote Gemeindeverwaltung schmähen wie sie wollen — es bleibt dennoch wahr, daß ihr Werk ein Gegenstand des Stolzes, ein Mittel der Wer­bung für den demokratischen Sozialismus der Welt ist. Bei englischen Grafschaftswahlen und schweizerischen Gemeindewahlen, in reichsdeutschen und in französischen Wahlkämpfen haben die Sozialisten das Werk der Gemeinde Wien als ein werbendes Beispiel der Schaf­fenskraft des demokratischen Sozialismus Bürgern, Fascisten und Bolschewiken ent­gegengehalten. Wo immer Sozialisten mit Bourgeois, mit Fascisten und Bolschewiken diskutieren, wird um Wien gekämpft! Wir haben der Welt des demokratischen Sozialis­mus etwas gegeben. Wir haben für sie etwas zu verteidigen. Unser Kampf um Behauptung und Entwicklung unserer Leistung gegen spießerhafte Unkultur und fascistische Bruta­lität — es ist ein Kampf, dessen Ausgang für die Werbekraft der Idee des demokratischen Sozialismus in der Welt etwas bedeutet! In der Enge unseres Raumes ringen wir doch um etwas, was der großen Welt wichtig und wert ist, ringen wir um unseren Beitrag zu der Be­wältigung der Aufgabe, die der Welt gestellt ist: der Aufgabe der Synthese der Demo­kratie und des Sozialismus. Der Demokratie, der Bürgin der geistigen Freiheit, und des Sozialismus, der Lösung der geistigen Weltkrise. (Aus: Der Kampf, H. 11/1930, S. 449-454.)

In: AZ, 1.11.1930, S. 4-5.

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Deutsch oder russisch? (1918)

Die Demokratie die die Voraussetzung des Sozialismus –: das war bis vor einem Jahre die gemeinsame Überzeugung aller Sozialdemokraten der Welt, die Überzeugung, die den Sozialismus vom Anarchismus schied. Im Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist die Sozialdemokratie entstanden; daß alle Macht im Staate Vertretungskörperschaften übertragen werden müsse, die vom ganzen Volk frei gewählt werden sollen, war die erste Forderung jedes sozialdemokratischen Programms.  Wofür wir gekämpft haben seit einem halben Jahrhundert, das zu verwirklichen ist jetzt in unserer Macht: Die Fürsten sind davongejagt, die Herrscherhäuser beseitigt, die Wahlrechtsprivilegien zertrümmert; wir können jetzt, wenn wir nur wollen, die alte Forderung restlos verwirklichen, alle Macht der vom ganzen Volk gewählten Körperschaft übertragen.

            Aber jetzt, da wir diesem Ziele nahe sind, halten manche unserer Genossen seine Verwirklichung nicht mehr für erstrebenswert. Der demokratischen Selbstregierung des ganzen Volkes, für die sie selbst seit Jahrzehnten gekämpft haben, stellen sie jetzt die „Diktatur des Proletariats“ entgegen. Nicht Vertretungskörper, die aus allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählt werden, sollen das Land regieren, sondern Arbeiter- und Soldatenräte. Es soll nicht allen Staatsbürgern das gleiche politische Recht zustehen, sondern die Arbeiter und die Soldaten allein sollen den Staat beherrschen, die Angehörigen aller anderen Klassen sollen von allen politischen Rechten ausgeschlossen sein.

            Der Gedanke ist zuerst in Rußland aufgetaucht. Die zweite russische Revolution im Oktober 1917 gab die Herrschaft den Arbeiter- und Soldatenräten. Doch dachte man auch damals noch nicht daran, die Räte an die Stelle der aus dem allgemeinen Wahlrecht gewählten Nationalversammlung zu setzen. Erst nach der Oktoberrevolution wurde die Nationalversammlung gewählt und einberufen. Als es sich aber zeigte, daß die Industriearbeiter in dem überwiegend noch bäuerlichen Lande eine Minderheit sind, daß daher über die Mehrheit in der Nationalversammlung die Vertreter der Bauernschaft verfügten, jagten die Bolschewiki die Nationalversammlung auseinander, ohne eine neue Nationalversammlung wählen zu lassen. Jetzt erst tauchte der Gedanke auf, daß das allgemeine Wahlrecht überhaupt nicht geeignet sei, ein sozialistisches Gemeinwesen zu begründen; nur die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte könne den Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung herbeiführen.

            Diese Ansicht ist damals schon heftig bekämpft worden; nicht nur in Rußland von den Menschewiki und den Sozialisten-Revolutionären, sondern auch von den sozialdemokratischen Parteien West- und Mitteleuropas. Besonders Kautsky, der bedeutendste und bekannteste Vertreter der Marxschen Schule, hat in seiner lesenswerten Broschüre Die Diktatur des Proletariats die neue Lehre der Bolschewiki heftig bekämpft. Er hat gezeigt, daß der Versuch, die Demokratie durch die Diktatur, die Gleichberechtigung aller durch das Privileg der Arbeiter und Soldaten zu ersetzen, die Alleinherrschaft der Arbeiter durch die politische Entmündigung der Kleinbürger und der Bauern zu begründen, zu nichts anderem führen könne, als zu blutigen Bürgerkriegen, zu endlosen Wirren, innerhalb deren die große Aufgabe des Ausbaues einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht vollbracht werden könne. Wohl müsste das Proletariat die Herrschaft im Staate zu erringen suchen; aber das könne es nicht gegen die Demokratie, nicht dadurch, daß es das allgemeine Wahlrecht beseitigt, sondern nur dadurch, daß es die Mehrheit der Wähler für sich gewinnt.

            In Rußland freilich hat ein sehr großer Teil der Arbeiterklasse an der Ansicht festgehalten, daß nur die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte die kapitalistische Gesellschaftsordnung zertrümmern könne. In der Tat ging ja diese Ansicht aus den besonderen russischen Verhältnissen hervor. Da das industrielle Proletariat kaum ein Zehntel der Bevölkerung Rußlands bildet, kann es nicht hoffen, daß das allgemeine und gleiche Wahlrecht ihm die Mehrheit in der Nationalversammlung gibt. Deshalb sind die Bolschewiki Gegner des allgemeinen Wahlrechtes; deshalb haben sie den Grundsatz verfochten, nicht eine aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgegangene Nationalversammlung, sondern die von den Arbeitern und Soldaten gewählten Räte allein sollten den Staat beherrschen. Die Formel „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ ist hervorgegangen aus der wirtschaftlichen Rückständigkeit Rußlands.

            Aber in Rußland entstanden, hat diese Staatsidee bald über die Grenzen hinaus gewirkt. Auch die große deutsche Revolution hat die Macht zunächst in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte gelegt. So tauchte auch in Deutschland die Frage auf: Soll die Staatsgewalt in den Händen der Räte bleiben oder soll die von den Räten ernannte Regierung die Wahl einer Nationalversammlung ausschreiben, damit das ganze deutsche Volk durch allgemeines und gleiches Wahlrecht seine künftige Regierung einsetze? Deutschland steht also heute vor derselben Frage, vor der vor einem Jahr Rußland stand. Aber es hat diese Frage unter ganz anderen Voraussetzungen zu beantworten.

            In Deutschland ist das Proletariat nicht wie in Rußland eine kleine Minderheit, sondern die große Mehrheit der Bevölkerung. Die russischen Arbeiter können bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht die Mehrheit in der Nationalversammlung nicht erringen; die deutschen Arbeiter brauchen nur einig zu sein, um die Mehrheit in der Nationalversammlung zu erobern! Nur Kleinmütige, die der deutschen Arbeiterklassen nicht die Fähigkeit zutrauen, ihr eigenes Interesse zu erkennen, können glauben, daß das deutsche Proletariat sein Schicksal dem allgemeinen Wahlrecht nicht anvertrauen könne. Wer zu der Einsicht des deutschen Proletariats Vertrauen hat, darf darauf rechnen, daß das deutsche Proletariat auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes unschwer die Mehrheit in der Nationalversammlung erobern wird. Die Herrschaft des Sozialismus in Deutschland wird ungleich gefestigter sein, wenn sie sich auf eine vom ganzen Volke gewählte Nationalversammlung stützt, als wenn sie einen großen Teil des deutschen Volkes aller politischen Rechte beraubt; denn nur das gleiche Recht aller, nicht das Privileg einer Klasse kann eine feste und gesicherte Regierungsform begründen.

            Der Versuch einer Sowjetdikatur hätte in Deutschland zunächst wohl dieselben Wirkungen wie in Rußland: er würde den offenen Bürgerkrieg herbeiführen und dadurch das ganze Wirtschaftsleben zerrütten und die Gefahr der Einmengung des Entente-Imperialismus in Deutschlands innere Verhältnisse vergrößern. Ein so gefährliches Experiment wäre begreiflich, wenn es für Deutschlands Arbeiterklasse keinen anderen Weg gäbe, sich von der Kapitalsherrschaft zu befreien. Aber so ist es nicht. In dem russischen Agrarland mag das Proletariat nur durch die Diktatur die Macht festhalten können; in dem deutschen Industriestaat kann das Proletariat durch die Demokratie die Herrschaft erringen. Das deutsche Proletariat hat nicht russische Beispiele ungeprüft zu übernehmen; es hat nach seinen besonderen deutschen Kampfbedingungen seine Waffen zu wählen.

            Die Konferenz der Bundesstaaten hat beschlossen, eine konstituierende Nationalversammlung wählen zu lassen und die Vorbereitungen zur Wahl möglichst zu beschleunigen. Damit ist die grundsätzliche Entscheidung gegen die Diktatur, für die Demokratie gefallen; auch in Deutschland soll das Volk durch die Wahl der Nationalversammlung entscheiden, ob es eine Geldsackrepublik oder eine sozialistische Republik haben will. Gelingt es den deutschen Arbeitern allen inneren Zwist zu überwinden und ihre ganze Kraft gegen die Bourgeoisie zu sammeln, dann wird die deutsche Republik das erste wirklich sozialistische Gemeinwesen der Welt sein. Und der Sieg des deutschen Proletariats wird auch unser Sieg sein. Denn auch Deutschösterreich wird ein Teil des sozialistischen Deutschland von morgen sein.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.11.1918, S. 1.

Robert Müller: Die Kulturpolitik des Bolschewismus. (1920)

Die Reden des reichsdeutschen Außenministers Simons spielten mit dem Gedanken der deutsch-russischen Koalition. Für die Börsen in Berlin und Wien war der Bolschewismus einst das rote Tuch. Heute rechnen Börsenblätter ihn zu ihren Mitteln, wenn sie gewisse Papiere zugunsten anderer drücken wollen. Aber auch hinter dieser Anpassungsfähigkeit einer kapitalistischen Welt gesehen: die Reagenz auf den russischen Bolschewismus hat sich in Deutschland wesentlich gemildert. 

In der Tat hat das jetzige russische Regierungssystem zwar die russische Wirtschaft annihiliert, obwohl es auch Berichterstatter gibt, die von eigenartigen und nützlichen Organisationen zu berichten wissen. Auf Grund solcher Berichte hat der Minister Simons in einer aufsehenerregenden Rede dem russischen System selbst auf wirtschaftlichem Gebiete einen partiellen Erfolg eingeräumt. Verknüpft ist dieser Erfolg allerdings mit einem finanzpolitischen Fiasko. Unbestritten dagegen ist von allen Augenzeugen aller Nationen der außerordentliche kulturpolitischen Fortschritt, den die jetzige russische Gesellschaftsordnung mit sich gebracht hat. 

Der Grund ist einfach. Staat ist dem Bolschewiken eine ideologische Anstalt. Die im materialistischen Westen und seiner Zivilisation gangbare Voraussetzung der Rentabilität sine qua non fehlt dort. Kulturpolitische Maßnahmen werden gegen die finanzielle Kalkulation durchgeführt. Darum ist Rußland das Dorado aller kulturell interessierten, wirtschaftlich sei es desparaten, sei es unerfahrenen Individuen geworden. Die englischen, besonders die französischen und die deutschen, sogar die amerikanischen Künstler schwärmen für Moskau, Lenin und Lunatscharsky. Lenin überzeugt von persönlicher Tüchtigkeit die Diplomaten, Trotzky die Militärs, Lunatscharsky die Schöngeister. Es ist auffallend, wieviel Sympathie unter deutschen Offizieren der Bolschewismus genießt, seit er sich als kriegerisch, soldatisch-diszipliniert und strategisch genial erwies. Die vielbesprochene Allianz zwischen rechts und links ist psychologisch nicht mehr unwahrscheinlich. Der Offizier, auch sein Vorbild, der Ritter, der Edling, sind Geschöpfe einer unkapitalistischen, rein ideologischen Welt. Sie verstehen zuinnerst tatsächlich das Seelenleben und die Werte des überzeugten militanten Bolschewiken besser als die technisch-ökonomische Interessenswelt der Plutokratie, von der sie freilich mit zunehmender Zivilisation aufgesogen wurden. Es ist also kein Zufall, daß in der russischen Armee begeistert deutsche Junker dienen und daß sowohl Lenin als Lunatscharsky Aristokraten sind.  

Alle geistigen, d.h. nicht materiell kalkulierenden Menschen, alle, die nicht Erwerbsmehrung, sondern eine Art auskömmlicher Staatsbesoldung (wie Offiziere) wünschen, um ihren produktiven Neigungen fern vom ökonomischen Lebenskampf, in dem sie indifferent sind, zu leben, blicken heiß nach Rußland. Dort ist, wie immer man es drehen mag, der kulturpolitische Staat verwirklicht, wenn auch contra Kassa. Aber was schiert das den Offizier? Was den Künstler, den Denker, den Pädagogen? Die Künstler sind Schwerarbeiter und es geht ihnen allen gut, leider sogar den wenigen mittelmäßigen. Sie sind offizielle Persönlichkeiten. Sie erhalten Bau- und Schmuckaufträge, die Literaten sind zur Volksaufklärung und -besserung organisiert. Die Lehrer haben für ihre Ideen weitesten Spielraum. Das Erziehungswesen steht auf höchster Höhe. Übertreibungen, Verirrungen unterlaufen, die geistige Nahrung ist der Aufnahmefähigkeit des Schülerdurchschnittes oft unangemessen. Aber es wird gearbeitet, gedacht, verwirklicht, nirgends gibt es ein frischeres Tempo, wir Österreicher, verwirklichungsferner denn je, schielen mit Neid dort hinaus. Mit einem Schlage – gegen das Staatsportemonnaie – sind alle die lästigen Hemmungen wegefallen. 

Das ist die Wirkung einer geistigen Forderung. Sie ist plötzlich, von Geistigen geführt, von Millionen getragen. Nur die Finanziers stehen grollend beiseite. Da gibt es also eine Menschheit, die nicht mehr auf sie hört? Die den praktischen Verstand in den Wind schlägt? Diese Menschheit gibt es heute, sie ist da. Wie zur Zeit des absinkenden Römerreiches, so schlägt heute eine geistige Forderung die materielle Schulung unserer Urteile nieder. Wir mögen eine Zeitlang Unterproduktion und Hunger haben: aber der Geist mag wie damals Gloria feiern. 

Die geistige Forderung ist der Kern. Ihn hat das von Harald von Hoerschelmann (auch einem baltischen Junker) bei Diederichs, Jena, erschienene Büchlen „Person und Gesellschaft“ herausgeschält. Es ist das beste Buch, das man als objektive Analyse des Bolschewismus lesen kann. Es versetzt haargenau in die bolschewistische Seele, wo sie am tiefsten – und schönsten ist. Geistreich und scharfsinnig in der Deduktion, reich an Material und Beleg, kunstvoll geschrieben, lauter, beinahe weise verdient das Buch allgemeine Bekanntheit. Vielleicht sind in Wirklichkeit alle diese Dinge noch viel komplizierter, nuancierter, als Hoerschelmann sie sieht, der einen Bolschewismus ad usum des deutschen Delphini schnittmustert und Ideale des Anarchismus und der Aristokratie schon heute in Rußland verwirklicht sieht, die ich noch nicht sehen kann. Aber seine Konsequenzen sind anregend, er ist ein starker, aufbauender Geistpolitiker. Aufgabe der Gesellschaft ist nicht Sicherung einer Gemeinschaft, sondern aller schöpferischen Kräfte gegen die erstarrten, heißen sie jetzt Bürokratie oder Demokratie. Im gleichen (Diederichs) Verlage erschien von dem Weltreisenden Alfons Paquet das Buch „Im kommunistischen Rußland“. Eine dichterische Persönlichkeit mit starker sachlicher Begabung auch für das Amerikanisch-Statistische schildert persönliche Eindrücke so, daß uns dieses Rußland im ganzen sympathisch wird. Es steht ein gutes Volk, ein derbes, sinnliches, aber innerliches Volk hinter diesem Bolschewismus, und es ist dasselbe Rußland, das Dostojewsky hervorgebracht hat, ihn und die Anlässe seiner Kritik und Selbstironie; Langsamkeit, unpraktische Weltart, aber nachgiebig dem Guten, das dort meistens roh auftritt und uns darum erschreckt. Das Buch „Moskau 1920“, Tagebuchblätter von Dr. Alfons Goldschmidt (Rowohlt-Verlag, Berlin) sind brillant geschriebene Reisefeuilletons im letzten Impressionistenstil, wie er aus Kopenhagen und Paris kam. Das deutliche Urteil bleibt noch im Schatten, weil neben viel Anerkennung eine kräftige Portion Touristensarkasmus zu Worte kommt. Sehr zutreffend sind die Witze, die Goldschmidt der Konkurrenz, den britischen und amerikanischen Revolutionsbummlern, zukommen läßt, Menschen der flachsten Auffassung im Ja- und Neinfalle. Wir können mit Spannung erwarten, was Goldschmidt in seinem sachlichen Buche „Die Wirtschaftsorganisation Sowjetrußlands“, das in kurzem (bei Rowohlt) erscheint, zu sagen haben wird. Von dieser Art Literatur hängt viel ab, Europas Zukunft. Rußland macht Mode, ohne Zweifel! 

Ich möchte noch auf das von mir selbst geschriebene „Bolschewik und Gentleman“, das soeben im Erich-Reiß-Verlag, Berlin, erscheint, hinweisen; es behandelt die kulturpolitische Gradation, die Rußland dem westlichen Kulturkreis voraus hat. 

In: Der neue Merkur, H. 6/1920, S. 11-12 (KS, II, 473-475)

N.N. [Otto Bauer]: Die Weltrevolution. (1919)

4. Die historische Funktion des Bolschewismus.

Die Kommunisten betrachten die Rätediktatur nicht als eine vorübergehende Phase, sondern als die abschließende, endgültige Form der Weltrevolution. Die Rätediktatur werde die Bourgeoisie „erdrosseln“, alles Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, die Spaltung der Gesellschaft in besitzende und besitzlose Klassen aufheben, die sozialistische Gesellschaftsordnung aufrichten, und sobald dieses Werk getan sei, werde der Staat überhaupt absterben, da es einer öffentlichen Gewalt nicht mehr bedürfe, sobald es keine unterdrückten und keine unterdrückenden Klassen mehr gibt. Die Rätediktatur, in einem Lande aufgerichtet, führt die Rätediktatur in den anderen Ländern durch die Macht ihres Beispiels herbei; nach wenigen Jahren werde der Kapitalismus in aller Welt überwunden sein. 

Daß in allen besiegten Ländern starke Tendenzen zur Diktatur des Proletariats ganz unvermeidlich entstehen, unterliegt keinem Zweifel; ob aber die Diktatur des Proletariats wirklich jene Wirkungen herbeizuführen vermag, die die Kommunisten von ihr erhoffen, ist eine ganz andere Frage. Die Geschichte aller Revolutionen zeigt, daß sehr oft die objektiven historischen Wirkungen der Revolution ganz andere sind als die subjektiven Vorstellungen, Absichten und Hoffnungen ihrer Urheber und Träger. 

Der Versuch des Proletariats, seine Alleinherrschaft aufzurichten und sich alle anderen Klassen zu unterwerfen, führt zunächst den Bürgerkrieg herbei. Selbst in Rußland kann sich die kommunistische Diktatur nur in ständigem blutigen Kriege gegen die konterrevolutionären Klassen erhalten; dieser Krieg gegen die Kornikow und Kaledin, die Denikin und Koltschak dauert nun schon mehr als anderthalb Jahre und sein Ende ist nicht abzusehen. Greift der Bolschewismus auf Mitteleuropa über, so wird er hier einen noch viel gewaltigeren, noch viel blutigeren Bürgerkrieg zu bestehen haben:  denn hier würde ihm eine viel breitere, zahlreichere, widerstandsfähigere Bourgeosie und vor allem eine viel selbstbewußtere, viel besser organisierte und viel konservativere Bauernschaft gegenüberstehen als in Rußland. Der Bürgerkrieg zerstört aber die Produktivkräfte des Landes, er macht den Wiederaufbau der Industrie, die Wiederherstellung der Verkehrsmittel, die Wiederbelebung der Landwirtschaft unmöglich. Er bereitet dem Aufbau der Organisation des Proletarierstaates und der Organisierung der sozialistischen Produktion unüberwindliche Schwierigkeiten. Infolge der Desorganisation, die die Folge des Bürgerkrieges überhaupt und der passiven Resistenz der Bauernschaft im besonderen ist, ist die Rätediktatur nicht imstande, die Großstädte zu ernähren; selbst Moskau, das doch die Hauptstadt des größten und fruchtbarsten Agrargebietes Europas ist, hungert, selbst Budapest, die Hauptstadt der getreide- und viehreichen ungarischen Ebene, ist heute schlechter versorgt als Wien. Und aus denselben Gründen stockt in den Sowjetrepubliken auch die industrielle Produktion; infolge der Unmöglichkeit, die Zufuhr von Roh- und Hilfsstoffen zu organisieren, stehen in Rußland die meisten Fabriken still und die Arbeiter sind teils in die Bauerndörfer zurückgekehrt, teils in die Rote Armee eingetreten. 

Trotzdem kann sich die Rätediktatur behaupten, wo sie aus den Erzeugnissen des eigenen Landes wenigstens notdürftig den dringendsten Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen zu decken vermag. Ganz andere Schwierigkeiten würden ihr in Ländern erwachsen, die, wie Deutschland und Deutschösterreich, die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus überseeischen Ländern nicht entbehren können. Wenn wir unsere Bevölkerung ernähren, unsere Fabriken und Eisenbahnen betreiben wollen, müssen wir Getreide, Fett, Fleisch aus überseeischen Ländern, Kohle aus der Tschecho-Slowakei und aus Polen, Rohstoffe aus aller Welt einführen. Und alle diese Waren können wir nur auf Kredit bekommen; denn da wir vorerst nichts auszuführen vermögen, können wir die einzuführenden Waren nicht bezahlen. Kredit aber können wir nur von den Ländern bekommen, die allein nach Kriege kapitalstark geblieben sind; vor allem also von England und von Amerika. Die englischen und die amerikanischen Kapitalisten werden aber keinem Lande Kredit gewähren, das ihnen nicht die notwendigen Sicherheiten zu bieten vermag. Sie werden nicht einem Lande kreditieren, in dem der Bürgerkrieg wütet. Sie werden nicht einem Land Kredit gewähren, das heute durch dieses, morgen durch jenes Dekret das Privateigentum aufhebt und die privaten Rechtsansprüche für nichtig erklärt. Die Räterepublik, unfähig, den Kredit der weltbeherrschenden kapitalistischen Länder zu erlangen, ist damit auch unfähig, ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, ihre Industrie  mit Rohstoffen zu versorgen. Die Folge ist gesteigertes Massenelend, verschärfte Hungersnot, fortschreitende Desorganisation des ganzen Wirtschaftslebens. 

Selbst im besten Falle also, selbst wenn die kapitalistischen Länder nicht zu offener Feindseligkeit gegen die Proletarierdiktatur übergehen, sondern ihr nur den Kredit verweigern, für den sie den Kapitalisten keine hinreichende Sicherheit zu bieten vermag, selbst in diesem Falle muß die Räterepublik in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten, die ihr der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung schier unmöglich machen müssen. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es dabei nicht sein Bewenden haben wird, daß die kapitalistischen Weltmächte vielmehr gegen jede Räterepublik zum offenen Angriff übergehen werden, ganz so wie sie es gegen Rußland und gegen Ungarn getan haben. Denn die kapitalistischen Mächte fühlen durch die Existenz jeder Räterepublik ihre Interessen bedroht. Die besiegten Länder sind Schuldner der Sieger; ihr Staatsbankerott, ihre Einstellung der Schuldenzahlungen, ihre Expropriation des Privateigentums bedeutet daher den Versuch, den Siegern den geschuldeten Tribut zu verweigern. Die Rätediktatur in den besiegten Ländern bringt durch ihr Beispiel auch die kapitalistische Ordnung in den benachbarten kleineren Ländern in Gefahr, die die Sieger als ihre Vasallenstaaten aufgerichtet, als ihre wirtschaftlichen Interessenssphären und als Stützpunkte ihrer politischen Macht geschaffen haben: in Polen, in der Tschecho-Slowakei, in Jugoslawien und Rumänien. Und die Verbreitung der Proletarierdiktatur vom Osten nach dem Westen über immer weitere Teile Europas erschüttert schließlich auch die kapitalistische Ordnung in Italien, in Frankreich, in Belgien und gefährdet damit jene ungezählten Milliarden, die die angelsächsischen Länder diesen ihren Verbündeten geborgt haben. So widerstreitet die bloße Existenz der Räterepubliken den stärksten Interessen der herrschenden Klassen der weltbeherrschenden Staaten; deshalb suchen sie die Räterepubliken durch Blockaden zu erwürgen, durch materielle Unterstützung der Konterrevolutionäre niederzuwerfen. Der unvermeidliche Zusammenstoß zwischen den kapitalistischen Weltmächten und den proletarischen Räterepubliken treibt allerdings die soziale Entwicklung in den noch kapitalistischen Ländern weiter: denn die englische Arbeiterschaft ist erbittert über den Feldzug der englischen Herrenklassen gegen die Räterepubliken und die englische Bourgeoisie muß sie daher durch Zugeständnisse zu gewinnen, durch Beschleunigung der Demokratisierung und Sozialisierung in England selbst zu beruhigen und zu besänftigen suchen. Aber andererseits wird die Not der Räterepubliken durch den Angriff von außen furchtbar verschärft; und wenn auch große Agrarländer wie Rußland, die vom Ausland relativ unabhängig  und von außen her schwer angreifbar [gesperrt gedr.] sind, sich des Angriffs der kapitalistischen Mächte zu erwehren vermögen, so müßten Industrieländer wie Deutschland und Deutschösterreich, die amerikanischen Lebensmittel und Rohstoffe, amerikanischen und englischen Kredit, amerikanischen und englischen Schiffsraum nicht entbehren können, diesem Angriff bald und unvermeidlich erliegen. 

Die Verwüstung der Volkswirtschaft durch den Bürgerkrieg im Innern, die Verweigerung der Kredit- und Rohstoffhilfe durch das kapitalistische Ausland, schließlich gar der feindliche Angriff kapitalistischer ausländischer Mächte machen es den Räterepubliken unmöglich, die wirtschaftliche Lage der Arbeitermassen zu verbessern. Der Begeisterung der Arbeitermassen für die Diktatur des Proletariats folgt daher sehr bald die bittere Enttäuschung, die sich gegen die Rätediktatur, gegen ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen, wie den Terror, wie die Aufhebung des Streikrechtes, der Preß- und Versammlungsfreiheit, wie der Rekrutierung zur Roten //Armee, kehrt. Die Diktatur des Proletariats führt schließlich zur Auflehnung des Proletariats gegen die Diktatoren. In Rußland stand im Oktober 1917, in Ungarn im März 1919 sicher das ganze Proletariat hinter der Diktatur: heute sind da wie dort unzweifelhaft schon breite proletarische Schichten in Gegensatz gegen die Räterepublik geraten und der Terror der Diktatoren richtet sich nicht nur mehr gegen die Bourgeoisie und Bauernschaft, sondern auch gegen die opponierenden Schichten des Proletariats. Von außen bedrängt, im Innern von der Bourgeoisie und der Bauernschaft leidenschaftlich bekämpft, schließlich auch von immer breiteren Schichten des darbenden, hungernden, kriegsmüden Proletariats verlassen, verwandelt sich die Diktatur des Proletariats in eine reine Militärdiktatur, die sich auf nichts mehr stützt als auf die Bajonette der durch eiserne Disziplin zusammengehaltenen, durch wirtschaftliche Begünstigungen befestigten Roten Armee. Aber die alte Wahrheit, daß man auf Bajonetten nicht sitzen könne, gilt auch für Räterepubliken. Sobald das Proletariat von den Wirkungen der Diktatur enttäuscht ist und sich gegen die verschärfte Hungersnot und den erneuten Krieg auflehnt, ist die Rätediktatur verloren und die Militärdiktatur der Roten Armee wird abgelöst von der Militärdiktatur der Konterrevolution.  

Auch die Kommunisten wissen sehr wohl, daß die Rätediktatur scheitern muß, wenn sie auf die besiegten Länder beschränkt bleibt. Aber sie glauben, daß die Diktatur in den besiegten Ländern sehr bald die Revolution in den Ländern der Sieger auslösen werde, und darauf stützen sie ihre Hoffnungen. Diese Hoffnung ist trügerisch. Selbst wenn die soziale Revolution wirklich über die besiegten Länder hinaus greifen, selbst wenn sie auch Frankreich und Italien erfassen, auf dem ganzen europäischen Festland triumphieren sollte, selbst dann wäre der Kommunismus nicht gerettet. Denn alle wirtschaftliche Macht ist jetzt in den angelsächsischen Ländern, in England und Amerika, konzentriert; diese Länder allein verfügen über die Rohstoffe, über die Lebensmittel und über den Schiffsraum, die das ganze Festland braucht, und gerade in diesen Ländern fehlen die Voraussetzungen der Revolution. Die soziale Revolution der besiegten, der ohnmächtigen und abhängigen Länder scheitert unvermeidlich an der ungebrochenen Macht des Kapitals in den Ländern, die den Sieg errungen haben und die Welt beherrschen. 

Aber wenn die Diktatur des Proletariats in dem großen Prozeß der Weltrevolution nur eine vorübergehende Phase ist, so ist sie darum doch keine bedeutungslose Phase. Der Krieg hat die Gesellschaft mit ungeheuren Schulden belastet; über den realen Produktivkräften, die den Reichtum der Gesellschaft erzeugen, ist ein ungeheures Gebäude papierener Rechtstitel getürmt. Wo dieser Ueberbau so drückend geworden ist, daß er mit den gesetzlichen Mitteln der Demokratie nicht mehr abgetragen werden kann, dort wird der Bolschewismus unvermeidlich. Er vernichtet alle die papierenen Rechtstitel und zerreißt alle die papierenen Schuldverpflichtungen. Und wenn dann sein Herrschaftssystem wieder zusammenbricht, dann lebt nicht wieder auf, was er zerstört hat. Die Gesellschaft, von der Last jener unerträglichen Schuldverpflichtungen, die der Krieg ihr zurückgelassen hat, befreit, kann nach dem verheerenden und vernichtenden, aber auch reinigenden Sturme darangehen, ihr Wirtschaftsleben von neuem aufzubauen. Der Bolschewismus ist nicht imstande, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen; aber wenn einem Lande unerträgliche Last aufgebürdet wird, die dem Wiederaufbau im Wege steht, dann kann er der eiserne Besen sein, der die Last hinwegfegt und dadurch den künftigen Wiederaufbau erst ermöglicht.

Der Bolschewismus ist ein Nachfahre des Jakobinertums vor 1793. Als die Jakobiner die Macht eroberten, glaubten sie durch den Terror des Pariser arbeitenden Volkes eine ewige Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit aufrichten und durch ihr Beispiel alle Länder zur Nachahmung zwingen zu können. Darin haben sie sich getäuscht. Die Jakobiner haben kein tausendjähriges Reich der Freiheit und Gleichheit aufzurichten vermocht, und ihr Beispiel ist von den anderen Ländern nicht nachgeahmt worden. Aber wenn die Jakobiner nicht das erreicht haben, was sie zu erreichen hofften, so hat ihre Herrschaft doch anderes erreicht, wovon nichts ahnten: ihre Schreckensherrschaft hat nach Marxens berühmten Worte mit eisernem Besen alle Ueberbleibsel der feudalen Gesellschaftsordnung hinweggefegt und dadurch die Basis geschaffen, auf der nach ihrem Sturze das neue kapitalistische Frankreich aufgebaut worden ist. So wird auch der Bolschewismus nicht das erreichen, was er zu erreichen wähnt; er wird nicht das tausendjährige Reich einer kommunistischen aufzubauen vermögen. Aber wo unerträgliches Kriegsergebnis und unerträgliche Friedensbedingungen der Gesellschaft ein Erbe hinterlassen, das sie zu erdrücken droht, dort wird seine vorübergehende Herrschaft dieses Erbe hinwegfegen, um den Boden zu reinigen, auf dem erst nach seinem Zusammenbruch in planmäßiger demokratischer Arbeit die neue soziale Ordnung wird aufgebaut werden können. 

In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1919, S. 1-2.

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Vicki Baum: Lippenstift und Spitzenwäsche in Rußland (1931)

„Bringen Sie meinen Schwestern Lippenstifte mit“, sagte mir ein russischer Freund, als ich nach Moskau fuhr. „Das ist es, was ihnen am meisten fehlt. Sie wissen: Russinnen – und keine Schminken! Und wenn es geht: Parfüm!“

Ich packte also Lippenstifte und Parfüm ein; man darf davon nach Rußland mitnehmen, so viel man für den eigenen Gebrauch benötigt; das ist ein dehnbarer Begriff und übrigens ist die Grenzkontrolle Ausländern gegenüber sehr höflich und gar nicht kleinlich. In Rußland fand ich dann, daß den Russinnen so ziemlich alles fehlte, aber Lippenstifte – die hatten sie! „Ich habe sechs Stück in meinem Haar eingeschmuggelt“, sagte mir eine kleine Chemiestudentin, die ein paar Schuljahre in Deutschland verlebt hatte. Auch Parfüm hatten sie, Parfüm war sogar eines der ganz wenigen Dinge, die man in Läden zum Verkauf bereit sah. Und geschminkt waren viele von ihnen. Gut geschnittenes Haar hatten die meisten, sie lobten ihre Friseure, und die Aufschrift „Parruckmacherstaja“ ist in russischen Leitern oft genug zu lesen. Bolschewikinnen strenger Observanz schienen mir dem langen Haar und aufgesteckten Knoten zuzuneigen (was übrigens schön zu den breiten, stillen Bauersfrauengesichtern steht, die in Ämtern und Fabriken zu finden sind), farblose Kleidung, strenge Haltung und schlichte Frisur kennzeichnen – so schien es mir – eine bestimmte proletarische Oberschicht, wie sie in Deutschland etwas charakterisieren, das man „Potsdamer Stil“ nennen kann. 

Es gibt keine elegante Frau mehr in Rußland; oder doch: eine einzige. Sie ist auch in den europäischen Hauptstädten bekannt: Frau Lunatscharski. Man nimmt es ihr übel genug. Es wäre in diesem Land voll Hunger und Elend auch schlechter Geschmack, sich elegant anzuziehen, selbst wenn es sich eine oder die andere Frau leisten könnte. Auf den Botschaften, diesen europäischen Inseln im uferlosen Moskau, trägt man sich einfach, Wollkleider, Wollstrümpfe. „Sie werden bald einsehen, daß man hier keine Seide trägt“, hörte ich eine Botschafterin zu einer jungen Attachésfrau sagen, die im einfachen schwarzen Seidenkleid zum Lunch gekommen war. Nebenbei: Es gab gekochtes Ochsenfleisch als Hauptgang, und der Botschafter sagte mir: „Wir sind stolz, eine solche Delikatesse aufgetrieben zu haben.“

Die Russin ist von Natur aus „trés femme“, und man mag ihr so viel abstrakte Gedankenpanzer anziehen, das Allesgleichmachen bis auf das Geschlecht ausdehnen (gibt es doch für das Wort „Towarisch“ = „Genosse“ keine weibliche Form) die Frau kommt immer wieder zum Vorschein. Die Theater, in denen man keine angezogene Frau sieht, nur Genossinnen, die tragen was sie eben haben, riechen nach Parfüm. Im „Prophylaktum“, einem Heim zur Besserung von Prostituierten, hatte eine Leiter die Offenheit, mir zu sagen: „Für ein paar Seidenstrümpfe prostituieren sich so viele!“

Wirklich fand ich, daß der Seidenstrumpf den jungen Russinnen fast als ein Symbol erscheint für alles, was sie entbehren. Und sie entbehren viel; denn die Liebe gehört mit zu den Dingen, die man dort abgeschafft hat. „Es gibt noch ein bißchen Bett; keine Liebe, nichts vorher, nichts nachher. Keine Blumen –“ sagte mir eine junge Frau, und es war eine Welt von Traurigkeit darin. Diese reinen Arbeitsbienen, so farblos in ihren Kitteln und Strickkleidern – sie fangen zu zittern an, wenn sie ein Stückchen Seidenwäsche sehen oder gar verehrt bekommen. Als man vor der Revolutionsfeier ein paar Tage lang den Verkauf von Seidenblusen freigab, wurden ein paar Frauen totgedrückt, so schlimm ging es dabei zu…

Im „Grand Hotel“, wo in einem pompösen Speisesaal im Stil der Achtzigerjahre die Ausländer zu essen bekommen, ist nachts Jazz (sonst in Rußland als bourgeois verboten) und Tanz. Man fühlt sich gespensterhaft, zwischen Palmen und Seidenlampen, als wäre man Schaustück in einem Museum. In Moskau wird viel gemunkelt von der Pracht und Eleganz dieses in Spiritus konservierten Stückchens Europa im Sowjetstaat. In Wirklichkeit sieht man ein paar Ingenieure und Trustleute, ein paar Ausländerinnen, die geschmackvoll genug sind, sich aufs einfachste anzuziehen, und dann noch hier und da eine Russin, die aus irgendeinem Ziel und Grund ins „Grand“ gehen kann, ohne sich mißliebig zu machen. Diese Frauen haben alle das befangene Wesen von Menschen aus der äußersten Provinz; sie tragen ihr bestes Kleid – auch im Theater tragen sie manchmal ihr bestes Kleid. Es ist von kleinen Schneiderinnen nach verschollenen Moden gemacht, aus irgendeiner Seide, die man erwischt und mit mehr als 800 Kronen per Meter bezahlt hat. Ich wurde angefleht, eine Seite aus einem Modeblatt hinzuschicken, denn ganze europäische Zeitungen sind verboten, und sie wunderten sich sehr über unsre länger und knapper gewordene Kleider. Übrigens haben sie eine Art Modenzeitung auch dort – aber die macht Frauen nicht glücklich. Ein rührendes kleines Requisit der Eitelkeit sah ich, als ich mit ihnen ins Dampfbad ging: den Büstenhalter. Sie haben da einen Schnitt – ich denke, ihre Modenzeitung lanciert ihn – und eine besondere Methode, aus alten Spitzengardinen etwas einigermaßen Pikantes zurechtzukriegen. Es ist etwas wie der Sieg der Weiblichkeit mitten im Bankerott der Weiblichkeit. Und ich muß sagen, diese kleinen Büstenhalter aus Vorhandtüll haben mir eben so viel Eindruck gemacht und mehr verraten als der „Rote Platz“ mit den Hunderten von Menschen, die immer vor dem Grabmal Lenins warten … 

In: Prager Tagblatt 24.1.1931, S. 3.

A.H.[öllriegel]: Geist und Gesicht des Bolschewismus (1926)

Über die geistigen und künstlerischen Probleme der russischen Revolution ist bei uns noch nicht viel geredet worden. Aber gerade in diesen Tagen hat Westeuropa einige beträchtliche Proben der neurussischen Kunst zu sehen bekommen. Die Gastspielreise der „Habima“ nach dem Westen, noch mehr der große „Potemkin“-Film, von dem man in Berlin und in Wien eben so viel redet, hat bewiesen, daß es tatsächlich so etwas zu geben scheint, wie eine Kunst des Bolschewismus. Es ist zur rechten Zeit ein bemerkenswertes Buch erschienen, das über die geistigen Strebungen des heutigen Rußland die genaueste Auskunft gibt: Geist und Gesicht des Bolschewismus von René Fülöp-Miller (Amalthea-Verlag, Wien). Es ist ein unendlich umfangreiches Buch, eines von jenen, die man leicht „monumental“ nennt, es enthält allein 500 Bilderseiten, darunter viele farbige, und ist eigentlich als eine Generaldarstellung der ganzen russischen Gegenwart gedacht. Indessen scheint es, daß der Autor den Geist des Bolschewismus schärfer erkannt hat, als sein Gesicht; das Buch ist ausgezeichnet, wo es Absichten, Tendenzen, Strömungen schildert; die Ergebnisse, das Zuständliche und Gegenwärtige sind vielleicht mit Absicht ein wenig undeutlicher dargestellt. 

*

Das Buch beginnt mit einer Photographie: Die Masse. Tausend oder zehntausend russische Köpfe auf einer Platte. Wer zählt? Das ist der Held der russischen Revolution, das Objekt ihrer Kunst. 

„Einhundertfünfzig Millionen“, sagt der rote Dichter Majakowski am Eingang seines Hauptwerkes, 

„Einhundertfünfzig Millionen:
Das ist der Name des Dichters dieses Gedichts.
Geschosshagel prasselnd:
Dies ist der Rhythmus. 
Feuerböen geschleudert zickzack, 
Schlagwetter, Tretminen – 
Plätze platzen, 
Haus hüpft an Haus. –
Eine Sprechmaschine bin ich. 
Pflastersteine wirbelten.
Eure Schritte preßten den Böden sich ein
Klirrend, als Buchstaben: 
Einhundertfünfzig Millionen:
Stampft! 
Und also gedruckt war hier diese Ausgabe.“

(Nachdichtung von Johannes R. Becher)

Wladimir Majakowski ist, wie man aus Fülöps Buch erfährt, ein esoterischer Ex-Snob. Vor der Revolution hieß einer seiner Gedichtbände: Majakowski lacht, Majakowski lächelt, Majakowski macht sich lustig. Jetzt macht er sich – unwichtig. Er wie alle Dichter, wie alle Künstler des revolutionären Rußland, kennt nur noch ein Ziel: in der Masse verschwimmen. 

Das sind noch ein paar Verse von Majakowski:

Rück an die Rippen, eisenspitz, die Ellenbogen, 
Knall‘ die Faust dem frackgedrechselten Wohl-
Tätigkeitsherrn dort in die Fresse!
„Den Schlagring aufs Nasenbein!
Tabula ras!
Schleif dein Gebiß,
Beiß dich ein in die Zeit, 
Durchnage die Gitter!…
Neue Antlitze!
Neue Antlitze! Neue Träume! 
Neue Gesänge! Neue Visionen!
Neue Mythen hinschleudern wir, 
Aufzünden wir eine neue Ewigkeit…“

*

Den Kampf gegen „das kleine, rhachitische, von Angst zuckende Ich, geistig verarmt, verwirrt im Dunkel der Widersprüche“ hat schon vor der Revolution der proletarische Dichter Maxim Gorki angekündigt; er ist der Vorläufer, der Johannes des neuen Heilstraums vom „Kollektiven Menschen“, vom „Dividuum“, dem „Massenmenschen“. Diese Masse, als ein Gesamtwesen zu sehen, halb als lebendes Tier, als Tausendfüßler, halb als eine ungeheure Maschine, blieb den nachrevolutionären Theoretikern der bolschewistischen Idee vorbehalten. Fülops Buch ist voll von Zeichnungen und Plakaten, auf denen immer eines versucht wird: eine große Menschenmasse so zu zeichnen, daß ihre Arme und Beine nur noch aussehen wie Hebel, Hämmer oder Greifzangen, ihre Leiber und Köpfe wie Nägel und Schrauben, das ganze Getümmel der Masse wie eine riesige seelenlose Maschinerie. Ein berühmter Zeichner, Krinski, zeichnet fortwährend den „mechanisierten Arbeitsmenschen“ als Fortsetzung und Bestandteil der Maschine. Und wenn die heutige russische Zivilisation die Maschine anbetet – sie wahrhaftig über den Altären entweihter Kirchen erhöht und sie in den Hintergrund der aller Dekoration entblößten Theaterbühnen stellt – dann ist irgendwie immer die kollektive lebendige Maschine gemeint, die menschliche, doch irgendwie entmenschlichte Masse. Statt von einem himmlischen Jerusalem träumt die russische Seele heute von einem immensen irdischen Chicago. Wladimir Majakowski phantasiert: 

Chikago: Stadt,
Auferbaut auf einer Schraube!
Elektro-dynamo-mechanische Stadt!
Spiralförmig – 
Auf einer stählernen Riesenscheibe –
Jeden Stundenschlag
Sich um sich selbst drehend – 
5000 Wolkenkratzer –
Granitene Sonnen!
Die Plätze:
Kilometerhoch in den Himmel galoppieren, 
Menschenmillionenüberkrabbelt,
Aus Stahltrossen geflochten, 
Fliegende Broadways.
An den Wimperspitzen
Klebt knisternd dir 
Elektrisches Licht. . .
Rauchplakate in den Lüften – 
Phosphoreszierende Inschriften!“

(Nachdichtung von Johannes R. Becher) 

So plätschern durch dir Lieder des Durstlandes Arabien die kühlen Wässer des Paradieses: das Rußland von heute seufzt, lechzt nach einer hypertrophischen Technik, eben, weil es nichts dergleichen besitzt. 

*

Diese neue kollektivistische Kunst, Philosophie, Religiosität des herrschenden Bolschewismus meint immer das Volk, die Masse – singt von ihr, betet zu ihr; wird das Gebet erhört? Fülöps Buch läßt die Antwort zweifelhaft erscheinen. Sicherlich ist das Pathos dieses Wollens sehr stark, oft wohl wahrhaft hinreißend. Fülöp-Miller schildert gewisse gewaltige Konzerte, bei denen die Instrumente Fabriksirenen sind und die Dirigenten Männer mit roten Fahnen, die von der Höhe der Fabriksschlote Zeichen geben: 

„Schon im Jahre 1918 wurden in Petersburg und später in Nishnij Nowgorod Versuche mit derartigen Fabrikspfeifensymphonien angestellt; am 7. November 1923 erfolgte in Baku die erste Aufführung großen Stils. An ihr nahmen die Nebelhörner der gesamten Kaspischen Flotte, alle Fabrikssirenen, zwei Batterien Artillerie, einige Infanterieregimenter, eine Maschinengewehrabteilung, etliche Hydroplane und schließlich Chöre teil, bei welchen sämtliche Zuschauer mitwirkten. Die Feier soll sehr eindrucksvoll gewesen sein; es ist nicht zu verwundern, daß diese ‚Musik‘ weit über die Mauern der Stadt Baku hinaus zu vernehmen war. 

Auch in Moskau sind wiederholt Experimente mit Fabrikspfeifensymphonien unternommen worden, ohne daß jedoch besonders erfreuliche Resultate damit erzielt worden wären; einerseits war die Modulationsfähigkeit der verwendeten ‚Instrumente‘ nicht eben groß, anderseits waren die aufgeführten ‚Kompositionen‘ viel zu kompliziert. Obwohl die „Dirigenten“, auf hohen Kommandotürmen postiert, durch Fahnenschwenken das Einsetzender verschiedenen örtlich sehr weit auseinanderliegenden Sirenen und Dampfpfeifen regulierten, war es doch nicht möglich, einen einheitlichen akustischen Eindruck zu erzielen; die Verzerrungen waren derart, daß das Publikum nicht einmal die so bekannte und vertraute ‚Internationale‘ zu erkennen vermochte.“

Die Frage ist nur, ob so viel Wagemut im Erneuern etwa das reaktionäre alte Volkslied aus den Seelen, aus den vielen einzelnen, hoffnungslos unmechanischen Seelen eines ganzen Volkes zu reißen vermag – –

In: Der Tag, 13.6.1926, S. 10.

Ernst Fischer: Legende: Lenin (1927)

Der schöpferische, der staatengestaltende, der zukunftsbestimmende Mensch – das war bisher der große, leidenschaftliche, sich selber in allen Geschehen projizierende Egoist, der sein Privatleben ins Gigantische, Weltgeschichtliche steigerte. Alexander, der Knabe, der wagende Abenteurer, Cäsar, der Mann, der ehrgeizige Zyniker, Napoleon „Unmensch und Übermensch“, wie Nietzsche ihn nannte, Bismarck, das prachtvolle preußische Raubtier, sie alle, unberechenbar, überschäumend, wollten ihre Persönlichkeit und nichts als ihre Persönlichkeit durchsetzen, durchstoßen, wollten keine allgemeine Idee, sondern nur den eigenen Willen zur Macht verwirklichen. Sie alle waren – in höherem Sinne – ideenlos, glaubten an das eigene Genie und an die Dummheit der andern, an den eigenen Sinn und an den Unsinn der Welt, an den eigenen Aufstieg und an die Unveränderlichkeit der Masse. Sie siegten von Situation zu Situation und verachteten alle Systeme, sie meinten, die Herren einer Entwicklung zu sein, deren Werkzeuge sie waren. 

Die Gegenspieler dieser fanatischen Hasardeure waren die fanatischen Bekenner einer Idee, gegen die Tat erhob sich das Wort, gegen das Leben die Lehre, gegen die Macht der Geist. Aber so stark diese Männer in der Formulierung des Richtigen waren, so schwach waren sie, wenn es galt, das Richtige zu tun, und je mehr sie die Zukunft für sich hatten, desto mehr hatten sie die Gegenwart gegen sich. So schien es, als müsse ewig der Heiland gegen den Cäsar stehen, als gäbe es zwischen dem Genius der Erkenntnis und dem Genius der Tat keine Verständigung, als sei die Idee der Gemeinschaft unvereinbar mit der Gewalt der Realpolitik (denn Realpolitiker nannte man alle die großen Abenteurer, die Erfolg hatten). Hier der Mann der Idee, der Idealist, der Träumer, der Prophet – dort der Mann der Aktion, der Realist der Diktator, der Politiker, das war die Antithese, die man für selbstverständlich hielt. 

Auf einmal aber geschah das Unerhörte, das, was niemand erwartet hatte. Einer, der so fanatisch, so hartnäckig, so unerschütterlich an ein System, an eine Lehre glaubte wie selten ein Mensch, der den meisten als ein verbohrter Dogmatiker, als ein unbelehrbarer Irrealist galt, wurde über Nacht der Führer einer ungeheuren Bewegung, der Diktator eines gewaltigen Staates, ein Politiker von napoleonischer Intensität. Und er blieb dabei der gläubige Bekenner einer Idee, der von einer unantastbaren Überzeugung Besessene, der über alles Privatleben hinausragende Puritaner, wie eh und je. Und er war, obwohl er so rein und so bewußt der Diener einer überpersönlichen, einer allgemeinen Sache blieb, obwohl er den Geist an die Macht nicht verriet, die Zukunft an die Gegenwart nicht verkaufte, allen „Realpolitikern“, allen Diplomaten und allen Staatsmännern gewachsen. Das ist das Große an Lenin: die „Synthese von nüchternem Realismus und revolutionärem Enthusiasmus“, von der Otto Bauer am Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie sprach, die Aufhebung des Gegensatzes von Gläubigkeit und Politik, die Vereinigung von Tat und Idee in einem einzigen Menschen. In hoher Vollkommenheit verkörperte er den Typus des marxistischen Politikers und, darüber hinaus, den Typus kommender Generationen, für die der alte Zwiespalt jeder Klassengesellschaft, der Zwiespalt zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit, zwischen Denken und Tun in seiner tragischen Härte nicht mehr existieren wird. Er verkörpert den Typus des marxistischen Politikers wie Jaurés, wie Bebel – nur unter andern historischen Voraussetzungen, in einer anders gearteten Umwelt. Jaurés, der in einem demokratischen Staat mit revolutionären Traditionen um jeden Beistrich einer Resolution kämpfte, der das Kleinste und Unscheinbarste beachtete, um plötzlich mit hymnischem Schwung über alles hinauszubrausen und letzte Ziele zu weisen, Bebel, der mit verbissener Sachlichkeit für die unbedeutendsten sozialpolitischen Forderungen eintrat, um plötzlich in apostolischer Ergriffenheit die Wandlung der Welt zu predigen, sie waren bei allen Verschiedenheiten Lenin im wesentlichen verwandt. Aber die Situation, in der Lenin eingriff, war an Spannungen reicher, verlangte das Äußerste, die Übersteigerung aller Möglichkeiten. 

Man vergegenwärtige sich das Leben Lenins: als blutjunger Mensch wird er von der Idee des Marxismus gepackt, sein leidenschaftlicher Intellekt treibt diese Idee zu letzten, unerbittlichen Konsequenzen, steigert sie zu einem radikalen System – und diesem bleibt er treu, zwanzig Jahre lang im Exil, vor und nach dem fehlgeschlagenen Experiment im Jahre 1905, die Richtigkeit dieses Systems verteidigt er theoretisch gegen alle, die andrer Meinung sind. Liest hundert und hundert Bücher, tausend und tausend Broschüren, Zeitschriften, Zeitungen, polemisiert zornig, schonungslos, unduldsam gegen seine Widersacher, prophezeit, daß die Geschichte ihm recht gebe, daß er einen ungeheuren historischen Wahrheitsbeweis führen werde, konzentriert alle Gedanken, alle Gefühle, alle Energien in diesen mit Logik und Wissenschaft gepanzerten Traum und wartet, wartet. – Revolution in Rußland! Zwanzig Jahre lang hat er gewartet, nun wartet er keine Sekunde mehr: er kehrt in die Heimat zurück und schleudert, kaum angekommen, den Männern der Frühjahrsrevolution sein System wie eine Kriegserklärung entgegen. Und es beginnt das grandiose, das atemraubende Schauspiel des Eindringens der Idee in die Wirklichkeit, der Wirklichkeit in die Idee, der Verschmelzung dessen, was der Augenblick, was die politische Situation fordert mit dem, was von der Zukunft, von der Entwicklung gefordert wird. Es beginnt der Prozeß der Realisierung, in dem dieser maßlose Mensch, der zwanzig Jahre lang wartete und nun in wenigen Monaten alles vollbringen möchte, bis Maße des Möglichen kennengelernt und begreift, in dem die Theorie des Fanatikers nichts von ihrer diamantanen Unantastbarkeit verliert, der Fanatiker aber eine Geschmeidigkeit der Taktik gewinnt, die beispielslos ist. Es beginnt die Synthese von nüchternem Realismus, der zur Landverteilung, zur Neppolitik, zu den Auslandskonzessionen führt, mit revolutionärem Enthusiasmus, der durch den immer dichter werdenden Nebel der Gegenwart die Flamme der Zukunft nicht weniger deutlich sieht als einst. 

Und dieser Diktator, dieser phantastisch mächtige Mensch hat kein Privatleben, verzichtet auf alles, was nicht zur Sache gehört, scheint eine Fleisch und Blut gewordene Idee, das lebendige Symbol einer welthistorischen Bewegung zu sein. Die ganze Ungeduld der Arbeiterklasse, die über alle Vernunft hinaus an das Wunder glaubt, und die ganze Geduld der Arbeiterklasse, die gelernt hat, auf ihre Zeit zu warten, ihr ganzer Trotz und ihre ganze Klugheit, ihr ganzer wagender Mut und ihre ganze wärmende Vernunft, das alles vereinigt sich in ihm. Persönliches hat keinen Platz: Lenin liebt die Musik Beethovens, sie rührt an sein Herz, er will die Menschen umarmen und gut und brüderlich sein, wenn er sie hört – und darum versagt er sich diese Musik, denn es ist in dieser Zeit seine Aufgabe, hart zu sein und zu hassen. Vielleicht ist diese Anekdote nur eine Legende, jedenfalls aber trifft sie das Wesentliche: Napoleon, der Typus, den er verkörpert, lebte sein Leben, verschwenderisch, wild und bunt, Lenin lebt das Leben der Arbeiterklasse, das anonyme, das fachliche, das knappe Leben des Proletariats. Napoleon wall, daß sein Name, Lenin, daß seine Sache ewig sei. Napoleon ist das anarchische, Lenin das organisierte Genie. 

Auch Robespierre lebte sie wie Lenin. Nur daß jener die Wirklichkeit nicht anerkannte und ein ethisches Programm um jeden Preis durchsetzen wollte, nur daß er, der große Pendant, die Geschichte, die er schulmeisterte, nicht zu meistern vermochte, daß das papierene Gebäude seiner Theorie in dem allzu reichlich vergossenen Blut sich auflöste – und daß dann Napoleon kam, der große Gegenspieler aller Robespierres. Lenin war die Synthese: die abstrakte Reinheit des einen war in ihm und die realistische Kraft des andern, ein starres Prinzip, wie in Robespierre, aber durchstürmt von lebendiger Flamme, brutaler Lebensfülle, wie in Napoleon, aber organisiert wie eine Maschine, wie eine Partei. „Marx plus Elektrifizierung“, das war die Formel, auf die man die Revolution in Rußland brachte. Diese Formel bedeutet: „Revolutionärer Enthusiasmus und nüchterner Realismus!“ Diese Formel gilt überall, wo eine Arbeiterpartei nicht nur für eine Idee wirbt, sondern auch ein Stück Wirklichkeit verwaltet, sie gilt in Wien wie in Rußland. Diese Formel ist Mensch geworden in Lenin. 

Und so ist Lenin für alle Marxisten, für alle Arbeiter, gleichgültig, welcher Partei sie angehören, gleichgültig, ob sie die politische Taktik, die er lehrte, anerkennen oder ablehnen, als Persönlichkeit, als Typus und als Symbol die Verkörperung ihres Wesens, ihres Begriffes von menschlicher Größe – hinausragend über die Geschichte in die Legende. 

In: Arbeiter-Zeitung, 6.11.1927, S. 17.

Oskar M. Fontana: Das alltägliche und das heroische Rußland (1928)

Daß neben dem heroischen Rußland der Revolution ein alltägliches Rußland der Nachrevolution lebe, hatte man lange übersehen. Trotzgelegentlich guter Berichte. Aber diese Rußland-Reisenden, die das russische Leben in längstens zwei bis drei Monaten kennen lernen wollten, glichen sie nicht, der eine sehr, der andere nur noch nebelhaft, den Kriegsberichterstattern, denen die Front gezeigt wurde! Erst jetzt allmählich beginnt sich das alltägliche Rußland zu zeigen. Durch Selbstdarstellung. Nach dem heroischen „Potiomkin“ kommt das alltägliche „Bett und Sofa“. Es ist der Weg, den Sowjet-Rußland schon gegangen und den es bis ans Ende zurückgelegt hat. Das allein verspricht ihm Dauer. Darum auch der Wechsel der Tendenz. Der Heroismus rief zur Revolution auf, hielt sie wach; die Alltäglichkeit macht Propaganda für gute Mütter, gute Väter, viele und gesunde Kinder. 

In Lenin war das alles: der Heroismus und die Alltäglichkeit. Daher kam denn auch seine Größe, darum wußten alle schon am Beginn, auch seine Lehrer und Gefährten, hier wachse der Führer, deshalb nannten die Genossen den Siebenundzwanzigjährigen „den Alten“. Er bezwang sie durch sein Wesen und er bezwang Rußland, das zaristische und das anarchische, das knutende und das schwatzende, weil er beides hatte: den Heroismus der Empörung und das Wissen um die Notwendigkeit der Alltäglichkeit. Man merkt das genau, wenn man sein sehr merkwürdiges Leben Schritt für Schritt verfolgt, wie es jetzt Valeriu Marcu mit großer Anschaulichkeit und sehr geistreicher Verknüpfung der Tatsachen geschildert hat. (Erschienen bei Paul List, Leipzig.)

Heroisch ist schon Lenins Erwachen zur Revolution: Sein Bruder wird gehängt. Der Schatten des Bruders verläßt ihn nicht mehr, steht Zeit seines Lebens hinter ihm. Er, der zweite Sohn des Schulinspektors Uljanow, nimmt hinfort den Kriegsnamen seines Bruders an und brennt diese zwei Silben: Lenin, Europa ein. Aus Unwirklichkeit wird Wirklichkeit, die nicht mehr fortzulöschen ist. Als das Sterben ihn selber, den zum Diktator gewordenen, anrührt, hat er einen Wunsch: da er seine Tätigkeit einschränken muß, will er sich nur noch der Ökonomie des Landes widmen, sie in Ordnung bringen. In diesen beiden Zügen hat man den ganzen Menschen: das Dunkel, das um ihn ist und das er menschlich fast kaum verlassen hat, und die Wachheit des Geistes, die in ihm ist, die ihm befiehlt, immer gerade das Notwendige zu tun. Er war besessen von der Idee. Doch nicht die Theorie, in der er auch Meister war, hielt ihn fest, sondern ihre Verlebendigung zog ihn an. Immer wieder rannte er die Wirklichkeit an, höhlte sie aus, wurde nicht müde, sie kennen zu lernen. Er mußte sie immer wieder probieren und er verzagte dabei nicht, denn nur so war die Idee in die Welt zu bringen. Dieser Mann phantasierte in Organisationen und organisierte Phantasien. Immer stand sein Leben auf Messers Schneide, aber er fiel sich nicht zu Tode. Er hielt sich im Gleichgewicht. Alles vermochte er. Nie hatte er, der ins Heimliche Gehetzte, vor mehr als 100 Menschen gesprochen. Als er in einer abenteuerlichen Reise, auf der ihm Radek in Stockholm ein Paar ganzer Schuhe kauft, nach Petersburg kommt, erwarten ihn Tausende. Er soll zu ihnen sprechen. Und er spricht. Und ist sofort einer, der zu einem Volk sprechen kann. Als er die Macht des zugrundegegangenen Staates übernimmt, sagt er einem Freund: „Wir stehen vor großen Schwierigkeiten. Wir sind alte, eingeschworene Revolutionäre, wir haben nicht gelernt, die Wirtschaft und den Staat zu leiten, aber wir werden es lernen.“ Und er lernte es. Ein Riesenreich ist zusammengebrochen wie ein Toter. Als Lenin am 21.Jänner 1924 stirbt, steht dieses Riesenreich wieder, atmet, lebt. Das Ungeheuerliche dieser Leistung ist nicht zu ermessen, ist schon heute Legende. 

Bezeichnet Valeriu Marcus Lenin-Werk die Höhe des erneuernden Aufschwungs, zu der das heroische Rußland fähig war, so bedeutet der Roman Ilja Ehrenburgs „Michail Lykow“ (im Russischen „Rwatsch“, deutsch im Malik-Verlag, Berlin) das alltägliche Rußland der Revolution und Nep-Zeit. Was oben gedacht, entschieden wurde, unten wurde es gelebt. Da ist er, der jede Gestalt annehmende „Masse Mensch“, Typ, der vorgestern als Schwächling jedem Luftzug gesellschaftlicher Verhältnisse nachgab, der gestern in der Revolution unversehens ein Held war und heute in der „Neuen ökonomischen Politik“ ein Schieber wird. Da ist sein brüderliches Gegenspiel, der den Kollektiv-Willen mit stummer Zuversicht Erfüllende und an einer neuen Gesellschaft zäh, verbissen Arbeitende, seine Tränen, seine Enttäuschungen in sich Erstickende, der in beklemmender Verwirrung ich mit der Losung Tröstende, alles müsse einfacher werden, noch einfacher. Da sind die neuen Menschen, die keine Biographie haben, deren Gefühle mit achtstelligen Zahlen zu multiplizieren sind, während sie selber nur ein instruktiver Dezimalbruch sind, deren Wesen aber „die Anziehungskraft jungfräulicher, noch nicht vom Stiefelabsatz des Kolonisators berührter Erde“ hat. Da sind die „gewesenen Menschen“ die Kellermäuse der Revolution, die armseligen Existenzen, „die in einer anderen Zeit ihr Leben glücklich, langweilig und banal verbracht hätten, jetzt aber von den Ereignissen zermalmt und doppelt unglücklich waren, da sie nicht wußten, warum ihren Schultern, den schwachen Spießerschultern, die nur für einen Maßrock geschaffen zu sein schienen, von der Geschichte eine so schwere Bürde von ungewolltem Heroismus aufgebürdet worden war“. Da sind die Zeugen zwanzigjähriger, unterirdischer Arbeit, das Gesicht „eine Reißbrettzeichnung von Ideen und Gefühlen“ oder sprühend von einem in allen Kaffeehäusern Europas gelernten Sarkasmus, diese etwas anachronistischen Gestalten der ersten Internationale in einer Zeit der Trusts und Zechereien und sich Anpassenden. (Wer wird sie ablösen, diese stillen, arbeitsamen, rechtlichen und sachlichen Menschen? fragt Ehrenburg einmal.) Da sind die vom Foxtrott wie von einer eingeschleppten Seuche Ergriffenen, sie werden die Glieder, doch sie geben vor, dabei „die Zersetzung des Westens“ zu studieren. Da sind die rundweg Raffgierigen; die gestern an überschwänglichen Beglückungsplänen irgend eines Volkskommissariats Arbeitenden und heute, weil ein gesunder, aber bitterer Abbau eingesetzt, sich wahllos Verkaufenden; da sind die in Speisehäusern nach Abgabe von Marken Essenden und da sind die Schmausenden in wieder erstandenen Bars. Und ist die alte Hysterie der alten Liebe, grundlos sich opfernd und hingeschlachtet vom Tag und Wieder-Tag. Aber da ist auch das neue Geschlecht der „Komsomolzen“, der jugendlichen Arbeiter. „Wir wissen zwar nicht, was aus dieser Jugend werden wird, ob aufbauende Kommunisten oder „Speze“ auf dem Gebiete kleiner Dinge, die unser Heimatland amerikanisieren werden, erheben wir doch nicht darauf den Anspruch, die Rolle eines Orakels zu spielen. Aber wir lieben dieses neue Geschlecht, das heroisch ist in seiner Keckheit, fähig ist, nüchtern zu lernen und mutig zu hungern, nicht opernhaft, nicht nach Art der Studenten in Leonid Andrejews Stücken, sondern allen Ernstes zu hungern, von Maschinengewehren zu Lehrbüchern für den Selbstunterricht herzugehen und umgekehrt, dieses Geschlecht, das im Zirkus vor Lachen wiehert und drohend ist in seiner Trauer, tränenlos, verhärtet, fremd der Verliebtheit und den Künsten, hingegeben den exakten Wissenschaften, dem Sport und dem Kino.“

Dieser fast 600 Seiten starke Roman Ilja Ehrenburgs ist mehr als ein Produkt „künstlerischer Phantasie“ er ist Abdruck eines Landes, eines Volkes, einer Zeit. Die ungeheuerste europäische Bewegung, wie sie jenseits des Heroismus ihrer Führer und nach ihrer heldenhaften Epoche war, wie sie lebte, ich streckte und durch alle Wehen und Verwirrungen doch vorwärts stößt, in Ilja Ehrenburg hat sie einen Schilderer gewonnen, der ihrem gigantischen Feuerausbruch und dem zähen Verfließen der erkaltenden Lavamassen gewachsen ist, einen Schilderer, gleicherweise von Menschlichkeit und Kollektivität, von Pathos und Skepsis genährt, einen Schilderer, den nur Schönredner der Konterrevolution verdächtigen können, der aber in Wahrheit revolutionärer als sie ist. Denn das ist Revolution, nach einem Wort Dantons „die Wahrheit, die bittere Wahrheit“, zu wollen und zu geben und sie nicht in Hofberichte umzufrisieren. Ilja Ehrenburgs Roman ist ein Dokument und wird es bleiben als ein Zeichen der großen menschlichen Sowjet-Idee und ihrer allzu menschlichen Widerstände und des Sieges des Herzes, das „zusammengeschrumpft wie das Quecksilber des Thermometers, eigensinnig hochzuflattern versucht“. Immer wieder. 

In: Der Tag, 15.1.1928, S. 17.

Fritz Karpfen: Gegenwartskunst. Russland (1921)

MASCHINENKUNST

In den Kreis Rußlands gehört auch jene neueste Darstellung, die in aller Welt in diesem Zeitpunkt Mode ist. Es ist der völlige Verzicht auf alle herkömmlichen Materialien, wie Farbe, Kohle etc. und ihre Ersetzung durch Gebrauchswerkzeuge des Alltags. Glasscherben, Zeitungsfetzen, Holzstücke, Kistendeckeln, Gasrohre, Steine, Messing usw. Diese lieblichen Dinge aus dem Müllkasten werden auf eine Holzfläche hingepickt, festgenagelt und mit einer harmlos-naiven Überschrift versehen. Gewiß steht diese ›Kunst‹ in sehr entfernter Verwandtschaft zur Kunst. Es besteht dieselbe Beziehung des Wortbegriffes, wie etwa die Kunst eines hervorragenden Malers, zu der eines hervorragenden Taschendiebes. Aber glattweg in das Gebiet der Gaunerei darf man diese // Art nicht einreihen, davor warnt die Anwendung die von Künstlern wie Archipenko, Picasso etc. betrieben wird. Nur ist der Unterschied der, daß diese sei als ernste Arbeit, als ernsten Versuch zur Erreichung einer neuen Form nützen, während sie den anderen nur snobistischer Aufputz ihres Nichtskönnens ist. Freilich ist es schwer, den Unterschied zu treffen. Denn kein Mensch wird aus der verschiedenen Anordnung die Abfälle erkennen, ob dieses ›Bild‹ von einem Künstler und jenes von einem Kunstschwindler herrührt, in diesem Falle muß man nicht an dem Werke, sondern an der Person den kritischen Maßstab anlegen. Bei Archipenko allein sieht man mehr, hier, etwa in der der Skulptur: ›Frau im Sessel‹ merkt man schon, daß einer im rastlosen Suchen nach Erfüllung gearbeitet hat. Es ist dem tatsächlich uneingenommenen Betrachter doch möglich, aus den wirren Dingen den Sinn des Ganzen zu entnehmen, der Wille ist kennbar und man fühlt, daß der Künstler hier einen Bewegungsausdruck gestalten will. Es ist der Drang eines Geistes voll Aufruhr, eines seelischen Revolutionärs, der Kunst neue Bahnen abzustecken und im absolut Neuen, Ewigkeitsgültiges zu bereiten. Und schließlich ist diese Art nur die eruptivste Reaktion gegen das Schema des toten Abklatsch gelehriger Kunstlehrer des Impressionismus. Der Versuch wird und muß mißlingen. Aber aus der Sackgasse, in die da die echten Künstler gelangt sind, werden sie mit verstärkter Energie zum Rechten zurückkehren, und man lernt be//kanntlich aus mißglückten Erfindungen mehr, als aus alltäglichen Nutzanwendungen. 

Dieser neue Darstellungsbegriff steht in Rußland unter der geistigen Führung Tatlin’s und wird als tatlinische Maschinenkunst angesprochen. Die patentierten Anhänger Tatlins freilich werden Unterschiede zwischen der Art Tatlins und der Archipenkos entrüstet zu ziehen wissen. Was aber kein Grund ist, hier nicht die gesamte Darstellung in einem Begriff zu werfen, da doch alles derartige buchstäblich sehr bald zum alten Eisen geworfen wird. 

[…]// 

Nun zu den Repräsentanten der russischen Gegenwartskunst. Die führenden Geister, Marc Chagall, Kandinskij, Archipenko, sind auch bei uns bekannt. Weniger Burljuk, Jawlenskij, Grigorjew, Malewitsch, Lentulow und ihre Anhänger. Jeder dieser Künstler vertritt beinahe einen anderen Ismus. Von Bedeutung sind ferner die Plastiker Konekow und Koroljow, auch der abseitsstehende Igor Jakimow darf hier nicht fehlen. Die hervorragendsten Künstler sind die erstgenannten. 

Wien 1921, S. 21-22.