Max Ermers: Die Stadt der Gesundheit und Freude

Max Ermers: Die Stadt der Gesundheit und Freude (1926)

Ein trockener Amtsbericht an den Bauaus­schuß des Gemeinderates wird diesmal zum Kulturdokument ersten Ranges, zu einem Dokument, dessen Studium uns alle mit Stolz, ja mit Begeisterung erfüllen kann. Der Bericht, über den in so hohen Tönen gesprochen werden darf und muß, ist der des Badedirektors der Stadt Wien.

Ohne modehaft anmutende Sprunghaftig­keit, stetig und konsequent vollzieht sich der Aufstieg Wiens zur Stadt der Körperkultur. Aus dem Ausflug zum Heurigen oder in den Wurstelprater wird der Ausflug aufs Gänse­häufel oder ins Sonnenbad am Krapfenwaldl. Und wenn Baden, Schwimmen, Liegen in der Sonne und an der Luft auch noch keine vollendete Körperkultur bedeutet und der Weg zu einem nordischen Hellenentum noch ein weiter ist, der Anfang ist jedenfalls gemacht, und keine dunkle und naturfeindliche Gewalt der Erde, kein Hirtenbrief und kein erzbischöf­licher Erlaß wird das Rad der Weltgeschichte jemals wieder zurückdrehen können. Und wer sein Wien, besonders sein Vorkriegs-Wien kennt, der wird auch fühlen: diese Stadt der finsteren, übel gelüfteten Höfe, diese Stadt der spekulativen Zinskasernen, der Einzimmer- und Kellerwohnungen, der Tuberkulose und Rachitis, sie hat den endlichen Ruck nach vor­wärts am allerdringendsten notwendig gehabt.

Sechs Millionen viermalhunderttausend Männer und Frauen haben im Vorjahre die kommunalen Badeanstalten frequentiert, über 700.000 Kinder durften sie unentgeltlich benützen. Unsere Bevölkerung ist seit 1914 um 10 Prozent zurückgegangen, aber unsere Bade­freudigkeit hat sich um 57 Prozent gehoben.

Das sind hoffnungsreiche, beglückende, ja unerhörte Zahlen. Badeanstalt um Bade­anstalt entsteht: Schwimmbäder, Brausebäder, Wannenbäder, Sonnenbäder, Luftbäder… Fünf Kinderfreibäder sind bereits errichtet: 140.000 Kinder baden allein alljährlich im proletarischen Ottakring. In das Bad der Hernalser, ins Jörgerbad, kamen 1925 665.000 Besucher. Als 18. Bad der Gemeinde wird in vier Wochen das Amalien-Bad eröffnet werden, im ärmsten Bezirke Wiens, das luxuriöseste Volksbad Europas.

Immer mehr kommt es den Wienern zum Bewußtsein, daß sie an der Donau, an der alten wie an der neuen, einen ungeheuren Schatz der Gesundung, der Kraftgewinnung, der Erholung und der Freude haben. Gänsehäufel und Kritzendorf, Klosterneuburg und Greifenstein sind die Kathedralen der Zukunft. Noch sind sie nicht völlig das geworden, was sie uns sein könnten. Aber auch hier ist der Anfang gemacht, wir sind auf gutem Wege, und das Ausland blickt auf uns. Das fröhliche, spiele­rische Treiben am sonntäglichen Donaustrand und in den Auen – und die verlogene Alt-Wiener Duljäh-Sentimentalität beim Heurigen: eine Welt liegt zwischen ihnen. Ein neues Verhältnis zur Natur, zum Körperrhythmus, zur Gesundheit und zwischen Geschlechtern bahnt sich an. An Stelle des Rauch- und Disku­tierklubs des Proletariers tritt das Arbeiter­strandbad. Und was früher nur den Reichen und Besitzenden gegeben war, wird nun dem ganzen Volke zugeteilt.

Wenn man das Gute und Schöne sieht, das hier geschaffen wird, denkt man unwillkürlich an das Bessere und Schönere, das noch ge­schaffen werden kann – und sicherlich geschaffen werden wird. Noch gibt es in Wien Architekten, die es wagen, riesige VolkswohnHäuser zu errichten, ohne an sonnige Plansch­becken für die Kinder zu denken. Möge sie der amtsführende Stadtrat für Gesundheitswesen und Jugend­fürsorge zur Ordnung rufen. Noch gibt es Architekten und Wohnungsreformer, die vermeinen, es sei im 20. Jahrhundert möglich, eine Volkswohnung ohne zugehörige Badevorrichtung zu projektieren. Möge ihnen der amtsführende Stadt­rat für das Wohnungswesen den // notwendigen Kursus lesen. Noch gibt es Entwerfer von Volksparkanlagen, die vergessen, daß Kindern und Erwachsenen an jeder größeren grünen Stelle Gelegenheit zu wirklicher Erholung, zum Sonnenbad, zum Turnen, zum Rhythmen gegeben sein muß. Möge der Stadtbaudirektor sie an die neuesten Fortschritte er­innern. Noch gibt es Architekten, die ver­gessen, daß die bildende Kunst, die gute Plastik, die plastische Marmor- oder Sandsteinfigur im Strandbad, im Luftbad, im Volksbad, erst das hinreißende Mittel ist, um das, was vor­läufig erst unbewußter Drang zu Hygiene und Körperkultur in uns Bresthaften und Schwäch­lichen ist, durch das verführerische Mittel der Kunst erst in das Helle, steigernde und erziehe­rische Licht des Bewußtseins gehoben und da­durch zur dauernden, bedeutsamen Volks­institution und Kultur umgeschaffen wird. Möge der amtsführende Stadtrat für Kunstfürsorge sie an diese große Möglichkeit und Notwen­digkeit erinnern. Wir sind auf gutem Wege. Gewiß. Wir wollen aber allezeit auf noch besserem sein.

In: Der Tag, 12.6.1926, S. 1-2.