Alfred Polgar: Dada

Alfred Polgar: Dada. (= Teil 2 des Artikels: Ein paar Tage in Berlin) (1919)

             Den Dadaisten gehörte meine große Zuneigung. Sie schienen mir der Schrei und Geste gewordene Widerspruch gegen bürgerliche Vernunft und Vernünftigkeit. Sie pfiffen den gigantischen Unsinn des Lebens aus und selbst das „befreiende Gelächter“ noch verlachten sie. Sie setzten dem scheußlich-behaglichen Kulturbau aus Zeitungspapier und Ziegelsteinen, inklusive seiner heiligsten, geist-gestrichenen Räumlichkeiten und seiner Kunstkabinette mit esoterischer Wasserspülung, den roten Hahn der Verneinung aufs Dach. Sie störten die Comédie humaine-divine durch erquickend bübisches Dazwischenspielen und deckten die Szene mit einem Regen fauler Witze zu. Sie spieen ihren Haß in die Fratze der Zivilisation und nahmen überhaupt menschliche Beflissenheit als das, was sie ist: als dadaistische Angelegenheit.

             So schien es aus der Ferne. In der Nähe – bei einer Berliner Sonntags-Dada-Matinee – verblaßte der Zauber einigermaßen.

             Die Ordnung der Welt ist schlecht: also muß sie verrückt werden. Hierfür sorgt Dada. Lettern, Zahlen, Striche, Formen, Farben, Begriffe, Kausalitäten, Heiligkeiten, Betisen: alles stürzt, purzelbaumt durcheinander. Weiter als bis zu diesem Durcheinander ist Dada noch nicht gekommen.

              Der Wirrwarr hat manchmal, einfach dadurch, daß er vorhanden, etwas faszinierend Höhnisches, das leere oder lug- und mistgefüllte Innere der Ordnung unbarmherzig Aufspaltendes. Vor den Trompetenstößen der Dadaisten stürzen die kunstbeklexten Mauern der Kulturmenschensiedlungen, und Gestalten im Nachthemd, häßlich, aller Würde bloß, fallen der Lächerlichkeit zur Beute.

             Aber solche dadaistische Groß-Augenblicke hatte die Sonntagsmatinee keine. Sondern ein paar junge Leute machten allerlei Stegreif-Jux, verulkten ihre Zuschauer, trampelten, schrieen, pfiffen, telephonierten, warfen einander hinaus und herein, fistelten und brüllten, zogen einen gutmütigen Vorhang auf und zu, klatschten sich, quietschend vor Unsinnswollust, auf den Podex und sagten beiläufig: Ecce homo! Oder auch: Ecce ars!

             Sozusagen: „munteres Anarchistenvölkchen“.

             Es war erschreckend langweilig. Wenn man ihnen das aber sagte, würden sie antworten: Eben; wir sind gegen „Unterhaltung“. Und wenn man ihnen sagte: Aber warum so gottserbärmlich geistlos gegen Unterhaltung?, würden sie antworten; Eben; wir sind gegen „Geist“. Und wenn man ihnen sagte: Aber warum so jammervoll witzarm in der Verneinung von Geist?, würden sie antworten: Eben, wir sind gegen „Witz“.

             Man hat’s nicht leicht mit ihnen.

             Denn dies ist, scheint es, ein Wesentliches des Dadaismus: er ist gegen. Was immer in die Schußlinie dieses Gegen kommt, wird Zielobjekt und angeknallt.

             Dem Erlegten ziehen sie die Haut ab und treiben Schindluder mit dem armen Fell und verarbeiten es zu Dada.

             Und als höherer Sinn der Welt offenbart sich ihre tiefe Sinnlosigkeit. Oder auch umgekehrt.

             Es war die Pointe – (…wir sind gegen „Pointe“…) – der Sonntags-Matinee, als ein beleidigter dicker Bürger die Bühne berannte und von den Dadaisten, die sich die Röcke ausgezogen hatten und in Hemdsärmeln fochten, unter ungeheurem Getöse zurückgeschlagen wurde. //

             Frauen traten leider keine auf.

             Unter den Berliner Dadaisten gibt es ein Genie, einen Zeichner. Er arbeitet für zwei ultraradikale Blätter, für den „Blutigen Ernst“ und die „Die Pleite“. Seine Menschenbilder bestehen aus Kontur und Luft. Aber sei nehmen den Gesichtern und Bäuchen die Eingeweide heraus. Es sind Zeichnungen mit dem Apachen-Messer.

             Der schreckliche Mensch heißt George Groß.

             Ansonsten ist das Berliner Dada eine durchaus dadaistische Angelegenheit.

In: Der neue Tag, 25.12.1919, S. 3-4 (KS 4, 228-230).