Ernst Decsey: Reinhardts „Helena“-Revue in der Volksoper

Ernst Decsey: Reinhardts „Helena“-Revue in der Volksoper. (1932)

Es ist eine Augenweide. Und die Weide beginnt mit dem Vorspiel im Vorspiel: während der Ouver­türe, nach ein paar Orchestertakten geht der Vorhang hoch, zwei Arbeiter öffnen Kisten und heben aus dem entnagelten Grab die Figuren der Operette heraus. Da liegen sie als halbtote Wurstel, der Agamemnon, der Orest, der Pylades, und langsam erwachend fangen sie unter Führung der zwei Ajaxeln zu leben, zu singen, zu spielen an. Ein geistreicher Regie-Einfall, dem das Publikum sofort Dank und Anerkennung ausspricht. „Echter Reinhardt…“

Und nun beginnt die eigentliche Helena-Revue: ein Ueberschüttetwerden mit Farben, Kostümen, Tänzen. Musik, und man weiß tatsächlich nicht, welcher von den drei Akten der üppigste ist. Es scheint, das Publikum entschied sich für den ersten, und das mit gutem Gefühl. Reinhardt ist nicht nur bei Shakespeare, er ist auch bei Offenbach der Regisseur der Regisseure, kurz das Genie, von dem die Talente lernen können. Ein Genie wie Reinhardt hat aber auch die Fehler des Genies. Er denkt nicht an Steigerung im Überschütten, nur ans Überschütten. Ein normales Talent hätte den ersten Akt zum schwächeren, den dritten Akt zum stärksten gemacht. Hier ist es fast umgekehrt: der stark eingekochte dritte Akt erscheint mager, weil man schon genug hat, weil man blasiert wurde, weil man — sagt der Chor in der griechischen Tragödie — über den Appetit hinaus nichts mehr verträgt. Zuviel des Besten, zuviel des Guten…!

Es gibt allerdings märchenhaft schöne Bühnen­dinge, neben denen verblaßt, was man sonst in diesem Genre sieht. Die traumhafte grüne Trauerweide mit dem darunter schlummernden Paris, die goldleuchtende Muschel-Badewanne, worin Helena badet, das zauber­hafte Boudoir, das laszive, farbenwirrende Bacchanal, das geschlossene Tor des Menelaus-Palastes, an dem die bezechten Bacchanten vorbeischweben, vorbeischwirren, vorbeitorkeln. Dann die Burg Ilion, von deren Mauerkranz Bogenschützen Pfeile versenden, die silberlanzenstarrenden Heere der Griechen und Trojaner, die aufgetakelten Prunkschiffe im Hafen, alles, alles Bühnenwunder. Revue-Wunder. Reinhardt kennt keine Grenzen. Und keine Pausen. Pausenlos drängt sich Bild an Bild. Er duldet zum Glück keine Wiederholung, wie sonst in Operetten üblich. Tempo, Tempo. Er überschüttet fortgesetzt bis zum Schluß, unaufhörlich, und man fragt schon gar nicht mehr, welchen Sinn der dritte Akt und ob er überhaupt einen habe.

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Sinn? Ad vocem Sinn. Die Uridee der Offenbachiade, das Sittenstück in antiker Maske, die Persi­flage des Kaiserreiches ist mit dem Witz der Bearbeiter Friedell und Saßmann imprägniert worden, und schüchtern wie Menelaus duckt sich ihren Blitzen der Kritiker und meint halt: es ist eine moderne Zeitsatire daraus geworden, anspielungsreich. amüsant, mit Erotik geladen, so ungefähr wie es Offenbach eigentlich hätte machen müssen….

Alles ganz buffonesk, wenn aus der Zeitsatire nicht wieder in Reinhardts Händen und dank seiner Phantasie eine Revue geworden wäre. Eine geistvolle Revue, aber eine, die Offenbach gar nicht im Sinne lag: dazu war er nicht geistreich genug. Deutlich zeigt dies

der unentschlossene dritte Akt der Bearbeitung. Boudoir der Helena. Frühstück mit Paris. Hektor macht den Drückeberger aufmerksam, daß draußen Krieg ist. Kriegswitze. Verwandlung. Schlacht vor Troja. Duell zwischen Menelaus und Paris. Entrückung des Paris durch die Venus, die Dea ex machina. Waffenstillstand. Abfahrt des Menelaus mit Helena, zu Schiff nach Hellas, als ob gar nichts gewesen wäre. Schlußhymne. Was war? Was ist? Versöhnung des Ehepaars? Wozu, fragt man, haben wir die Kröte überhaupt.. .? Homer tritt trotz Vorhersage nicht auf. Homer scheint hier wirklich geschlafen zu haben. O popoi…!

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E. W. Korngold saß in der Orchestra und dirigierte seine Offenbach-Musik mit dionysischem Schwung. Als ob er einen Thyrsos-Stäb schwänge. Er singt den Dar­stellern, er deklamiert ihnen alles mit den Lippen vor, jede charmante Wendung des Rhyt[h]mus, jedes Legato und Stakkato. Muß er nicht auf die Sänger achten, gibt er sich dem Reiz der Musik hin. seine Mienen strahlen: Evoë! Die Musik selbst ist abermals eine Offenbach-Revue, rollt vieles aus vielen Offenbach-Partituren auf, eine Ohrenweide. Aber sooft das Schalksauge des Originals durchblitzt, geht ein freudiges Raunen des Wiedererkennens durch das Publikum. So beim Traumduett, so bei „Menelaus dem Guten“, so beim Esprit des chromatisierenden Hauptwalzers und dem Cancan. Evoë!

Die Bühne der Volksoper ist fast zu wenig ge­räumig für die Massenentfaltungen, für die in Wogen hereinflutenden Gruppen, die meistens im Sprungschritt ansausen oder amphorentragend, lanzenschwingend antreten. Wie schön wären diese Farben- und Formenquirle erst in der tiefausgedehnten Bühne der Staatsoper gewesen und sicher wäre die Helena-Revue auch nicht das übelste Geschäft geworden…. Das Ballett des Großen Schauspielhauses Berlin zeigte seine Schöngestalten und seine Künste, und es gab darunter Solokünste der Nini Teilhade sowie der ephebenhaft aussehenden La Jana. Dazu wirbeln immer die zwei Ajaxe (Brüder Latabar) über die Bühne, die femininen Gegenstücke zu den virilen Damen. Dazwischen erscheint der Fußballkämpfer Achilles mit Augen, die „Immer feste druff“ rollen (Raoul Lange), und zeigt sich eine weiße Marmor­statue, die berlinsche Mundart, echter Kurfürstendamm, redet, der Merkur (Herr. v. Meyerinck). „Sie, Herr Weiß…!“, ruft den mehlbestaubten Berliner einmal Menelaus an: das ist Hans Moser, von dem der über diesem Griechenland lachende Himmel herrührt.

Oh, Hans Moser!… Man freut sich, daß dieser Menelaus nicht nach Kreta fährt, sondern gleich wieder­kommt, denn sooft er da ist, wird Hellas fidel. Herr­lich die Szene im Schlafzimmer, wo er sich selbst als Paris neben seiner Frau im Bett zu sehen glaubt und die Fußpaare abzählt. Oh, Hans Moser! In dem kleinen Komiker lebt der große parodistische Geist des Ganzen, und seine Wiener Note, der rührend komische Armitschkerlton, sagen wir’s noch einmal, macht Hellas ideal. Marie Rajdl singt mit den feinsten Kopftönen die Helena, und Gerd Niemar als Paris ist ein echter deutscher Operntenor mit hoher, blonder Stimme. Als echter Opernbariton gesellt sich ihm Herr Ballarini (Agamemnon); aber ich sage zum drittenmal: Hans Moser….

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Welche von den Frauen die schönste war, darüber möchten wir uns kein Paris-Urteil erlauben. Frau Rajdl war es, Frau La Jana, Fräulein Overhoff, die junge Dänin Teilhade, und nicht zuletzt war es die gaminhafte Friedel Schuster, die den Orest, die Minerva und den Epilog mit gleicher Grazie sang. Das Publikum rief nach ihr. Wie es nach fast allen rief. Nach fast allen mit Stentorstimme.

Besonders stentorhaft, als sich Max Reinhardt vor dem Vorhang zeigte, der bisher unsichtbare Heros eponymos. Wir haben hier den Thersites gespielt, der gegen alles Schöne einen Einwand wußte. Aber Thersites will auch nicht stören, sondern empfiehlt sich nun und beugt sich sowohl den Göttern wie ihrem Obergott Max. Aber auch dem Erfinder des unvergeß­lichen: „Weil es ja nur ein Traum ist…“ Evoë!

In: Neues Wiener Tagblatt, 8.6.1932, S. 9.