Eugen Hoeflich: Die Wilnaer

Eugen Hoeflich: Die Wilnaer. (1922)

             Neunzehnhundertfünfzehn beschlossen einige junge Leute in Wilna, Studenten, ein Kirchenmaler unter ihnen, ein jiddisches Theater zu gründen; ein wirkliches Theater, das – nichts mehr und nichts weniger wurde zum Vorbild genommen – Stanislawskis Ziele erreichen sollte. Aus einer Gruppe Dilettanten, anfänglich von den russischen Behörden unterdrückt, dann von der deutschen Okkupationsmacht begünstigt, von Eulenberg, Zweig, Jacobsohn, Struck und anderen außerordentlich gefördert, wurde nach wenigen Jahren gewaltigster Anstrengung das, was man heute in Europa als die Wilnaer Truppe kennt: eine Gruppe von starken schauspielerischen Potenzen, die trotz ihrer Zusammensetzung aus eigenwilligen Individuen, zur Truppe, zur individuellen Gruppe katexochen wurde. „Wilnaer Truppe“ wurde zu einer Marke, zu einer eindeutigen Bezeichnung, wie etwa Moskauer Künstlertheater.

             An einem Damaszener Sommerabend kam ich einmal unversehens in ein arabisches Theater. Stegreiftheater, naiv, primitiv, das Stück belanglos, die Akteure aber hinreißend in ihrer einfachen, naiven Hingabe. Nicht aus Überlegung, nicht aus Berechnung hob jener die Hand, dieser den Kopf, sondern spontan, intuitiv, voll eingefangen im Sinne des Menschen, den er zu verkörpern hatte, seiner Rolle hingegeben mit der letzten Faser seines Herzens. An dieses arabische Theater mußte ich mich erinnern, als ich die Wilnaer zum erstenmal sah. Es ist ein Stück Orient – selbst wenn sie ein Stück des europäischen Repertoires geben – ein Stück Osten, der vor uns aufsteht in seiner Beweglichkeit, Intuition, Spontanität; die außerordentlichste Hingabe an das Geschehen, das der Dichter ihnen vorzeichnet: es ist nicht mehr Schauspiel, sondern dramatisches, dramatisiertes Leben, Lebensschicksal in drei Theaterstunden eingefangen, zwingend hineingestellt in das Leben des Zuschauers, selbst wenn das Stück ein schlechtes und seine Personen nicht lebensfähig sind. Das Zusammenspiel von Menschen, die in ihre Rollen stündlich neu hineingeboren werden, sie allabendlich neu erleben, sie wahrhaftig durchdringen mit dem Intellekt und, was wichtiger ist, mit dem Instinkt, dieses Zusammenspiel pries und das Gerücht, ehe wir die Wilnaer hier sahen. Gleichgültig nun, ob wir ihre Sprache, diese außerordentlich modulationsfähige Sprache, verstehen oder nicht – wir erleben hier ein Ineinandergreifen, das uns vergessen macht, daß nach zwei, drei Stunden diese Menschen dort oben durchaus anderen Gesetzen, anderen Bewegungen und anderen Erlebnissen untertan sein werden, die kein Dichter und kein bewunderungswürdiger Regisseur tief durchdacht hat. Mitunter hat man den Wunsch, daß diese wunderbar klappende Regieführung nur einen Augenblick lang versagen möge.

             Mit den „Wilnaern“ verknüpft, kam stets ein anderes Wort zu uDybukem>Der Dybuk. Dieses Theaterstück von Sch. An-ski, das in Warschau allein über zweihundertmal gespielt wurde, trug zum Weltruhm der Truppe mehr bei als die enthusiastischsten Artikel westeuropäischer Dichter von Namen. Als vor einigen Wochen die Königin von Holland der Aufführung beiwohnte, erschüttert den Schauspielern dann Dank sagte, als Redie Bühnef die Bühne kam, um ihnen zu danken, in diesem Augenblick wurde der Dybuk, die mystische Legende chassidischer Ekstatiker, auch zum Ereignis in Westeuropa. Für Polen und Rußland war er schon Sensation, als der sterbende, von den Bolschewisten verfolgte Dichter das Manuskript den Wilnaern übergab. Er war tot, ehe es aufgeführt werden konnte. Von der Vorstellung ans Sterbelager geholt, schwuren die Schauspieler, das Stück noch während der dreißigtägigen Trauerzeit aufzuführen. Über hundert Proben in einem Monat, die Nervenkraft eines halben Lebens, und der Wille, den ein Schwur am Bette eines Toten leitete, brachte eine Erstaufführung am dreißigsten Tage der Trauer zustande, die bis zwei Uhr nachts dauerte. Hunderte Menschen übernachteten im Theater, Hunderte im Polizeiarrest. Kriegsrecht verbot das Betreten der Straßen bei Nacht. Der Dybuk brach Krieg und Gesetz, Furcht und Befehl. Unlöslich verbunden waren von diesem Augenblick an Wilnaer und Dybuk.

             „Der Dybuk“: Ein mittelalterlicher Holzschnitt mittelalterlicher Menschen, Legende von einem Geschehen, das jenseits des bewußten Lebens und diesseits des Jenseits spielt: „abgeschnitten von beiden Welten“, liegt der Sinn dieses mystischen Ereignisses auf jener Linie, die von ältester urmenschlicher Mystik zur Mystik in uns Menschen dieser Tage führt und das mystische Blühen eines gotischen Europa irgendwo berührt. Ein wunderbares Stück Orient, wunderbarer als die Wunder der Tausend und einen Nacht, gleichnislos in der Literatur anderer Völker, blühte es aus dem Biden, der nicht der Nährboden seines Volkes ist, ein erschütterndes Wiedererleben verdunkelnder Erinnerungen an verklungene Lieder, die wir einmal hörten, als geheimnisvolle Strahlen aus den Landschaften grenzenloser Erwartungen uns umspielten. Ein Stück ursprünglichen reinen Judentums, das einen Baal Schem das wunderbare Gleichnis vom Spiegel oder das vom Seiltänzer lehren lassen kann – das kann keine andere Truppe aus dem schweren, starren Rahmen des Holzschnittes ins Leben hinausstellen. Der Dybuk ist für die Wilnaer geschrieben, ihm immer von neuem zu dienen, ist ihre Existenzpflicht. Das erschütternde unvergeßliche Erlebnis eines Meschulach, wie ihn Nachbusch verkörpert, eines Morevsky als Zaddik, einer Orleska als Leah, irgendeines Menschen dieser Truppe in irgendeiner Rolle, dieses Erlebnis zwingt zu neuen Einstellungen, die unabhängig sind von allen Einflüssen, die von außen kommen, sie revidieren die früheren Erlebnisse, aus denen sich uns Großes zu manifestieren schien und machen sie peripher.

             Man wird versuchen, das Stück auch auf dem europäischen Theater zu spielen (eine deutsche, außerordentlich schlechte Übersetzung liegt bereits vor) und der Versuch wird mißklingen. Würde ich jenes arabische Theaterstück der Damaszener Schauspieler in irgendeinem französischen Kolonialtheater sehen, dann würde statt Ergriffenheit ein Gefühl sinnloser, grotesker und peinlicher Art mich ergreifen. Europäische Schauspieler können den Dybuk nicht spielen, denn ihnen fehlen die spezifischen Schwingungen, die sich dort zu Elementen einer eingebornen Hingabe an etwas im Unterbewußtsein Erlebten verdichten und im Schauspielen immer wieder das grenzenlose Ereignis gebären, das allein ihn fähig macht, Erlebnis zu werden, Erlebnisse zu gestalten, Schauspiel zum Spiel unirdischer, unterirdischer Leidenschaften zu machen, nicht durch Logik, sondern durch jenes gütige Mitzittern zu zwingen, das einen Kontakt zu jedem einzelnen Zuschauer herstellt, das in seiner inbrünstigen Intensität jeden einzelnen Zuseher glauben machen muß, daß er allein Miterleber dieses Geschehens dort oben sei. Dieses höchste Ziel des Theaters, das der Phantasie des Menschen im Zuschauerraum schrankenlose Freiheit gibt, ist hier erreicht – selbst wenn er dann und wann die Sprache nicht versteht. Es kann aber nicht erreicht werden, wenn das Spiel den Zwängen einer seinem Wesen fremden Sprache unterworfen wird.

             Als nationales Kulturinstitut gegründet, als nationale Errungenschaft ersten Ranges (auch wenn Schauspieltalent im Juden eine Assimilationserscheinung ist) gewertet, haben die Wilnaer mit unheimlicher Schnelligkeit einen Weg zurückgelegt, der in der Historie des Theaters irgendeiner europäischen Nation durch Jahrhunderte führt. Unwesentlich, ob dies Vor- oder Nachteil bedeutet: die Zukunft wird zeigen, ob sie fremdnationale Elemente wird assimilieren können, ohne Schaden zu nehmen, ob sie die gefährliche Klippe des Spezialitätentheaters, die Gefahr liegt selbst bei Konzessionen an das fremdnationale Repertoire nahe, wird überwinden können, ohne auf den toten Punkt zu gelangen.

In: Neue Freie Presse, 10.11.1922, S. 7.