Wilnaer Truppe

(jiddisch ווילנער טרופע Vilner trupe)

Dieses Ensemble aus jiddischen Schauspielerinnen und Schauspielern entstand 1916 und zwar vermutlich im Zug der Auflösung des Wilnaer Staatstheaters. Noch während des Ersten Weltkrieges kam das zunächst in Grodno, Bialystok und Kowno auftretende Ensemble nach Warschau. Erstmals berichtete in Österreich die Wiener Morgenzeitung im Juli 1920 über diese Theatergruppe, die in Warschau den Namen WT annahm. 1921 folgten weitere Berichte, die bereits in höchsten Tönen von der Qualität und vom Erfolg dieses Ensembles sprachen, welche wesentlich von der Regiekunst Stanislawskis inspiriert war sowie auf die Aufführung von Theaterstücken An-skis, insbesondere des Dibbuk/Dybuk (UA, 9.12.1920 in Warschau) zurückging. Mit diesem Stück unternahm das Ensemble auch eine Reihe von Tourneen durch Europa und später auch in die USA. Im deutschsprachigen Raum gastierte die WT zuerst im Sept. 1921 in Berlin (auf Einladung von Sammy Gronemann und dem Hg. der Zs. Ost-West, Leo Winz) mit Die verlassene Schenke von Perez Hirschbein (erregte dabei die Aufmerksamkeit von M. Reinhardt ebenso wie jene von A. Döblin); in Wien gastierte sie im Okt.-Dez. 1922 in der Rolandbühne (Freie Jüd. Volksbühne) mit dem als „Sensation“ (NWJ) aufgefassten Dibbuk, aber auch mit Uriel Acosta von K. Gutzkow und anderen, auch nichtjüdischen Stücken. R. Musil feierte in einer Besprechung für die Prager Ztg. Bohemia die „schauspielerische Kultur“, die sprachlichen Leistungen sowie die der „Umwelt chassidischer Sagen“ entnommenen Stoffe und hob insbesondere die Schauspielerin Mirjam Orleska hervor (8.12.1922). Auf dem Spielplan der Truppe standen ferner auch R. Beer-Hofmanns Jaakovs Traum, Hebbels Judith, Schillers Don Carlos sowie Stücke von Leonid Andrejew, Michail Arzybaschew, Schalom Asch, David Pinski oder Scholem Alejchem u.a. Der Erfolg dieser Aufführungen führte zur Verlängerung des Gastspiels in den Jänner 1923 hinein (auf der Rolandbühne) sowie bis Anfang Februar auf dem Lustspieltheater, wo neben dem Dybuk auch A. Weiters Der Stumme zur Aufführung gelangte.

Aus: Wiener Morgenzeitung, 18.7.1920, S. 3

Danach setzte das Ensemble seine Gastspiele in Lemberg sowie in London und anderen englischen Städten mit ähnlicher Resonanz fort, u.a. auch mit Liebelei von A. Schnitzler und Der Weibsteufel von Schönherr. Im August 1924 gastierten die Wilnaer mit dem eher hölzernen Stück Doktor Kohn von Max Nordau sowie mit dem günstiger aufgenommenen Ein verworfener Winkel von Perez Hirschbein wieder am Wiener Carltheater. Unter den Schauspielern fand sich auch L. Halpern. Im Zuge des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien hielt sich auch der künstlerische Direktor der Truppe David Herman (1879-1937, Warschau) im Oktober 1924 in Wien auf, worüber z.B. die Morgenzeitung ausführlich berichtete. Das Interesse am jüd.-jidd. Theater führte ebf. im Okt. 1924 zu Überlegungen, unter Mitwirkung von Schauspielern der Wilnaer Truppe in Wien eine ihr verwandte Kleinkunstbühne zu eröffnen. Die internat. Resonanz, insbes. auf die Dybuk-Aufführungen, ermöglichte im Feb. 1925 die erste deutschsprach. Aufführung dieses Stücks in Wien (RolandbF. RosenfeldF. Rosenfeld aufgrund ihrer Bearbeitung und Herauslösung aus dem legendenartigen kulturellen Umfeld als von „ungeheurer BühnenAZrkung“ (AZ, 4.3.1925) empfand. Im Zuge verschiedener Veranstaltungen traten Ende der 1920er Jahre immer wieder in Wien weilende Mitglieder des Ensembles als Vortragende in Erscheinung, so z.B. Luba Kadison oder Jehuda Ehrenkranz, letzterer anlässlich eines Scholem-Alejchem Gedenkfeier im Mai 1926 sowie in mehreren Lesungen in den Jüd. Künstlerspielen, aber auch in Prag (bis in die 1930er Jahre hinein). Im selben Jahr absolvierte das Ensemble zuerst eine Rumänien-, danach eine, so Wiener Zeitungsberichte, weniger erfolgreiche (als erwartet) USA (New York, v.a. am Maurice Schwartz Yiddish Theatre)- und 1927 eine Argentinien-Gastspieltournee. 1928-29 berichteten Wiener Zeitungen zwar gelegentlich von Schauspielern aus dem Ensemble und deren Auftritte; das Ensemble selbst trat jedoch erst im Jänner und Februar 1930 (Der Tag, 24.1.1930,7) sowie im Mai- Juni und Oktober-Dezember 1930 mit einem umfangreichen Programm wieder in den Künstlerspielen sowie im Theater ›Reklame‹ (Taborstraße) auf, beginnend mit Schwer zu sein ein Jud von Alejchem über Der Dorfjunge von A. Kobrin bis hin zu Reklame von František Langer, Sintflut von H. Berger und selbst einem bunten Sylvesterabend am 31.12.1930. Auch im Folgejahr blieben die Wilnaer vorerst (bis Ende Februar) in Wien und setzten ihr Gastspielprogramm mit Der Teufel lacht von Sophie Bieloe, ferner mit Tag und Nacht von An-Ski fort, wobei Alex Stein Regie führte (und als Schauspieler auftrat), gefolgt von Die Tage unseres Lebens von L. Andrejew, Der Jazzsänger (nach dem gleichnamigen ersten Tonfilm) und Tewe der Milchiger, wiederum von Alejchem. Ende Dez. 1932 traf die Truppe nochmals in Wien ein, und spielte im Jänner-Februar u.a. Herschele Ostropoler von M. Liftschütz und im Mai Kidusch Haschem von Schalom Asch. Im Juli 1934 trat das Ensemble ein letztes Mal in Wien unter A. Stein auf, danach gab es nur noch vereinzelt bis 1937 Rezitationsabende unter Beteiligung (ehemaliger) WT-Schauspielerinnen und Schauspieler, was auch mit der Auflösung des Ensembles 1935 aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten zusammenhing.


Literatur

Michael Brenner: Deutsch-jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000 (engl. Originalausg. 1996), 218-220; Mirosława M. Bułat: Wilnaer Truppe. In: D. Diner (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Bd. 6: Ta–Z. Stuttgart-Weimar 2015, 414-417; Debra Caplan: Yiddish Empire. The Vilna Troup, Jewish Theater and the Art of Itinerancy. Michigan 2018; Brigitte Dallinger: Quellenedition zur Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. = Conditio Judaica, 42, Tübingen 2003; Salcia Landmann: „Der Dibbuk“ von An-Ski. Zur Aufführungsgeschichte. In: Diess.: An-Ski: Der Dibbuk. Frankfurt am Main 1989, Robert MusilRobert Musil: Die Wilnaer Truppe in Wien. In: Bohemia (Prag) 8.12. 1922, ferner in: ders.: Ges. Werke Bd. 9, hg. von A. Frisé. Reinbek 1981, 1613-1615; Shelly Zer-Zion: Habima. Eine hebräische Bühne in der Weimarer Republik. Paderborn 2016 (aus dem Hebr. Übers.), 123-129; Armin A. Wallas: „Jiddisches Theater“. Das Gastspiel der Wilnaer Truppe in Wien 1922/23. In: Das Jüdische Echo, vol. 44/1991, 179-192.

Quellen und Dokumente

A. Kleinmann: Jüdisches Theater in Warschau. In: Wiener Morgenzeitung, 18.7.1920, S. 3-4; A. Roisig: An der Grenze zweier Welten. In: NFP, 16.4.1921, S. 1-2; K. Maril: Jüdisches Theater in Berlin (über P. Hirschbein). In: Wiener Morgenzeitung, 15.9.1921, S. 10; N.N.: Spielplan der Wilnaer. In: Wiener Morgenzeitung, 15.2.1922, S. 5; H. M[argulies]: Die Wilnaer Truppe. In: NWJ, 1.11.1922, S. 6; O.A[beles]. Der fünfte Abend der Wilnaer. (Über Arzybaschew). In: Wiener Morgenzetung, 12.11.1922, S. 10; Uriel Acosta-Annonce. In: Wiener Morgenzeitung, 27.12.1922, S. 6; O.Abeles: Der Dorfsjing. (inkl. Annonce). In: Wiener Morgenzeitung, 26.11.1922, S. 10; e. kl.: Gastspiele der Wilnaer (Bilanz).In: NFP, 24.1.1923, S. 8; S. Gronemann: Die Wilnaer Truppe (Frühgeschichte). In: Wiener Morgenzeitung, 25.7.1924R. Hualla>; R. Hualla: Doktor Kohn. In: Der Tag, 14.8.1924, S. 7; N.N.: Ein jüdischer Regisseur. D. Herman in Wien. In: Wiener Morgenzeitung, 12.10. 1924, S. 10-11; N.N.: P. Hirschbein: Ein verworfener Winkel. In: NFP, 17.8.1924, S. 12; S. Meisels: Sch. An-Ski. Zur bevorstehenden deutschen Aufführung des Dybuk. In: NWJ, 27.2.1925, S. 8; F. R[osenfeld]: Der deutsche Dybuk. In: AZ, 4.3.1925, S. 9; F.R.: Wilnaer Truppe – H. Berger: Die Sintflut. In: AZ, 25.12.1930, S. 9; Die Wilnaer Truppe in Wien. In: NWJ, 30.12.1932, S. 6; M.S.: Über Gastspiel der WT: M. Liftschütz: Herschele Ostropoler. In: Der jüdische Arbeiter, 3.2.1933, S. 6.

(PHK)