Oskar Maurus Fontana: Zum neuen Theater

Oskar Maurus Fontana: Zum neuen Theater. (1921)

Das Theater erlebt eine Zeitwende, Abgelebtes gespenstert noch herum, Neues bracht es erst zu Frühgeburten oder Siebenmonatskindern. Aber wie der Schoß der Zeit kreißt, so kreißt auch der Schoß des Theaters. Was wird er gebären?

    Antwort darauf kann nur die Generation der Zwanzigjährigen, der Dreißigjährigen geben. Sie kommt aus dem Alten, sie marschiert zum Neuen. Sie sammelt sich in der Forderung „Neue Bühne“, 1921, herausgegeben von Hugo Zehder im Verlage Rudolf Kämmerer in Dresden. Viele Stimmen, manche mit Lunge, manche ohne Lunge, Sprecher und Stotterer, rein und klar Denkende und auch die Spezies der Tintenfische, die bei der Verfolgung ihrer Gedanken einen alles verdunkelnden Sepiasaft ausspritzen. Wichtig aber bleibt, hier stehen Menschen für eine Generation, weil sich mit ihnen das Schicksal der neuen deutschen Schaubühne erfüllen wird. Was diese verschiedenen Köpfe, aus verschiedenen Zonen kommend (denen der Regie wie der Dichtung, wie der Kritik) eint, ist die Forderung: Das Theater soll wieder allgemein Gut // (res publica), wieder aus einem ästhetischen Problem eine Tribüne des Geistes werden. Die Situation von heute gibt Hugo Zehder in einem mit sicherer Hand geführten Querschnitt. Er stellt fest: „Es ist erreicht, dasß das Theater ein Jahrzehnt hinter den anderen Künsten zurückgeblieben und das Reproduktive statt des Schöpferischen in bejammernswerter Weise hervorkehrt.“ Robert Müller sieht die Wiedergeburt des Theaters aus dem Geist der Komödie, weil in ihr der amor fati gelehrte werde, in ihr sich die uns unentbehrliche Synthese von Natur und Reflexion vollziehe. Proletarisches Theater, Volksbühne scheinen anderen die nächsten Wege. Ihr bester Sprecher ist Ludwig Berger: „Dann (wenn der Schauspieler seine absichtliche Spezialität aufgibt, wenn der Schauspieler untertauchen lernt in die Tiefzonen dichterischer Schöpferkräfte, wenn der Dichter untertauchen lernt in die Körperschaft seiner Mittler-Menschen), dann kann – o läge es doch im organischen Kreislauf der Entwicklung vorbestimmt! – die Volksbühne, die „Jeder-Mensch-Bühne“, von innen nach außen lebendig werden!“ Aber er schließt seine Vision skeptisch: „Wären wir erst so weit, auf dem Nullpunkt reinlich zu beginnen!“ Diesen reinlichen Beginn wollen auch die anderen Mitarbeitenden, wollen ihn mit ihren Kräften, ob sie nun über den Schauspieler, den Regisseur, den Dramaturgen, die Wanderbühne, den Theaterkritiker, das Publikum sprechen, aber zum Wesentlichen, zu den Schalen des Wesentlichen scheinen mir außer den genannten nur noch Berthold Viertel, der den Regisseur des neuen Theaters anschaulich macht, und Carlo Mierendorf vorzudringen, der sehr klug über Wandertheater und Schmiere spricht: „Sich um das Wandertheater bemühen, ist als Sonderart des Theaters vor allem eine Sache kultureller Verantwortlichkeit.“ Über „Dekoration“ spricht keiner, sprechen alle, weil keiner mehr Dekoration auf dem Theater sehen möchte, weil jeder dieser Zwanzig- und Dreißigjährigen auch den Hintergrund aus der illustrativen Dekoration in das auszudeutende Wesen des Dramas einbezogen wissen möchte. Die Abbildungen nach Inszenierungen und Szenenentwürfen von Ludwig Berger, Gustav Hartung, Oskar Kokoschka, Paul Legband, Karlheinz Martin, Bertold Viertel, Richard Weichert, Robert Neppach, Emil Birchan [sic!], Ludwig Sievert gehören zum Wertvollsten des Buches, weil sie den reinlichen Beginn des neuen Theaters auf dem Nullpunkt des alten am sichtbarsten, offensichtlichsten zeigen.

             Herbert Ihering gesellt sich diesem Kreis als einzelner, er ist von ihm durch minder tropische Art der Einstellung und Diktion geschieden, er ist mit ihm durch die leidenschaftliche Bejahung der neuen Bühne verbunden. Sein Buch Regisseure und Bühnenmaler (im bibliophilen Verlag O. Goldschmidt-Gabrielli, Berlin-Wilmersdorf, 1921) ist in seinen Porträts, die es von den führenden deutschen Theatermenschen entwirft, fast in allen Einzelheiten verneinend, aber selten wird sich eine Schrift finden, die so geeint ist durch das // unsichtbare Ja, das durch alle Nein hindurchschreit. Das Nein gilt allen Halben, allen Kompromißlern, allen Machern, allen Verwässerern großer Ideen, allen Stilisten, allen Illustratoren. Er wird nicht müde, immer neue Typen als abschreckende Beispiele vorzuführen. Er tut das, was Pazaurek auf dem Gebiet des Kunsthandwerks tat: Indem er zeigt, wie es nicht gemacht werden soll, um zu zeigen, wie es gemacht werden muß. Daß es so gemacht werden muß, ist sein inbrünstiger Glaube. Zusammendrängung, Akzentuierung, Rhythmus – das ist ihm (und uns) das neue Theater und seine eifernde Liebe peitscht vorwärts, damit es „nicht nur seelisch-musischer Ausdruck geistiger Dramaturgen, sondern auch Blutwille sinnlicher Komödianten“ werde. Seine wesentliche Entdeckung ist, daß der romantische  Impressionismus Reinhardts ebenso in der Wirklichkeit blieb, wie der naturalistische Impressionismus Brahms. „Eine bunte Wirklichkeit ist so gut eine Wirklichkeit wie eine graue. Das antinaturalistische Theater beginnt in Wirklichkeit erst heute, weil jetzt erst das Gesetz der Ähnlichkeit dem Gesetz der Energie gewichen ist. Weil jetzt erst der Maßstab der Kunst aus ihr selbst, aus ihrem rhythmischen Gleichgewicht und nicht aus der Kontrolle von Vorlagen und Motiven der Realität gewonnen wird“. Herbert Ihering ist Regiekritiker, was den Deutschen bis Siegfried Jacobsohn fast ganz fehlte. Jacobsohn ist der Anschauende, der Peter Altenberg der Regiekritik, überschwenglich im Lob, überschwenglich im Tadel. Aber man mochte zehn Berichte über Jeßners Regie von Richard III. lesen, erst beim elften, bei Jacobsohn wußte man, wie es war, gewann man ein Bild. Ihering führt das so gewonnene Regiebild in die Tiefe, er gibt ihm die dritte Dimension, er ist nicht nur Analytiker, er ist Synthetiker, er führt die Regiekritik aus der impressionistische abmalenden Nervosität Jacobsons in einen architektonischen Aufbau. Auch in ihm drängt das Gesetz der Energie: Zusammenballung, Akzentuierung und Rhythmus, denn keiner sucht etwas draußen in der Welt, was er nicht bereits innen, in sich selber hat.

In: Der Merker, II/1921, S. 282-284.