Hanns Margulies: Deutschland 1933. 30 neue Erzähler des neuen Deutschland
Hanns Margulies: Deutschland 1933. 30 neue Erzähler des neuen Deutschland. (1934)
Der Malik-Verlag, Berlin, hat eine Sammlung deutscher Prosaarbeiten in einem Band vereint und nennt sie:
30 neue Erzähler des neue Deutschland.
Wir wissen: Malik-VerlagDurch den Erwerb einer Schülerzeitschrift gelang Wieland Herzfelde und seinem Bruder John Heartfield (d.i. Helmut Herzf... — das ist der Sammelpunkt der linksgerichteten Literatur. Diese 30 neuen Erzähler — die wenigsten von ihnen führen bekanntere Namen— aber bekunden nicht nur ihre politische und weltanschauliche Einstellung, sondern geben einen Aspekt vom Deutschland dieser Jahre, der erschütternd ist in seiner Verzweiflung und in feiner verbissenen Revolte.
Wir lesen täglich von den Auswüchsen des politischen Lebens, Zusammenstöße, Straßenkämpfe sind gewohnte Ereignisse geworden. Wir hören von der Not, von dem ununterbrochenen Anwachsen der Arbeitslosigkeit, von den Versuchen durch Gewalttätigkeit (ließ: innere Politik) wieder Ruhe und Ordnung in Deutschland herrschen zu lassen. Aber erst diese dreißig neuen Erzähler vermitteln uns ein anschauliches Bild vom heutigen Deutschland wie es wirklich aussieht.
Eine literarische Würdigung dieser Sammlung sei denen überlassen, die angesichts der Verzweiflung, die aus diesen 30 Erzählungen spricht, noch den Mut zum Ästhetizismus besitzen. Ich muß sie mir versagen. Mir genügt die Feststellung, daß alle Dreißig, der eine künstlerischer, gerundeter, gereifter, der andere stürmischer, noch unausgegorener, ihr Bestes geben, und daß dieses Beste gut ist. Aber wichtiger als das Wie, ist das Was, das sie schildern.
Und das ist: das unterirdische Grollen des Unterdrückten, die verbissene Wut des Mißhandelten, der Aufstand der Herzen und der Fäuste, der Hunger, die Verzweiflung, die Ausbeutung, die Sinnlosigkeit — das Bild Deutschlands in allen seinen Teilen, seiner Elendsquartiere, die ein einziges, unermeßliches Elendsquartier sind — Deutschland.
Der Chor der Dreißig ist ein ungeheures Warnungssignal. Was aus ihm spricht, ist nicht Politik und nicht politische Verhetzung. Er schreit die Not, die Verzweiflung, die Wut, die finstere Drohung in alle Welt. Jeder für sich und alle gemeinsam verkünden den drohenden Untergang der Nachkriegsgenerationen und drohen den Untergang der Schuldigen an.
Deutschland (wie Österreich) hat eine Revolution ohne Revolutionäre gehabt. Der Umsturz brach herein, wurde nicht vorbereitet. Das ist die Ursache für den gewaltigen, den unerhörten Nackenschlag, den die Revolution erleiden mußte. Entwicklungen lassen sich nicht überstürzen, aber auch nicht aufhalten. Das, was damals gefehlt hat, das Fundament, der geistige Gehalt der Revolution, jetzt, unter dem Druck der Niederlage, wird es nachgeholt. Die dreißig neuen Erzähler des neuen Deutschland legen dafür Zeugnis ab.
Ob sie nun bekannt sind, wie Erich Kästner, Ernst Gläser und Andreas Latzko, ob sie kaum begonnen haben, sich einen Namen zu machen, wie Ludwig Tureck, F. C. Weiskopfmeist F. C. Weiskopf, geboren am 3.4.1900 in Prag – gest. am 14.9.1955 in Berlin; Schriftsteller, Journalist, Über..., Oskar Maria Graf, Walter Bauer, Ernst Fischergeb. am 3.7.1899 in Komotau/Böhmen – gest. am 31.7.1972 in Deutschfeistritz; Schriftsteller, Politiker (KPÖ) Ps.: F.... und Theodor Plivier, oder noch unbekannt blieben wie die anderen, ist letzten Elches gleichgültig. Wichtig aber ist, daß jede einzelne Erzählung, jeder einzelne Satz Anklage und Drohung zugleich ist, geistiger Gehalt und Fundament für das, was über kurz oder lang unausbleiblich ist: für den sozialen Ausgleich, für die Revolution, die aber diesmal keine karnevalistische Episode in der deutschen Geschichte bleiben wird.
An dem Fanale, das diese dreißig neuen Erzähler des neuen Deutschland entzündet haben, soll niemand vorübergehen, der Sinn für den Ernst der Zeit, der Gewissen für die soziale Not, der Interesse für das Gesicht der Zeit hat.

