Hermann Bahr: Literatur

Hermann Bahr: Literatur (1923)

            1918 sah sich das Abendland vor einer ungeheuren Kraftprobe. Daß es in ihr nicht versagt hat, ist eine weltgeschichtliche Leistung, vielleicht die stärkste nach dem Westfälischen Frieden. Die Gestalt der beiden großen Reiche in der Mitte brach: das alte Reich Habsburgs und das neue Reich Bismarcks schwanden. Die Völker Österreichs, seit 1526 vereint, schieden voneinander; jedes begann sein Leben noch einmal von vorn, nach eigener Form verlangend. Die Stämme Deutschlands gaben ihren Verein nicht auf, doch auch sie schieden von der 1871 geprägten Form. Aber fünf Jahre später sehen wir jedes der einst habsburgischen Völker in sich gesichert, jedes hat sich seine Form gegeben, von Gefahren umdrängt, aber seiner Kraft, sie zu bändigen, sich zu behaupten, gewiß: Böhmen und die Südslawen blühen auf, und sein den Tagen des Wiener Kongresses hat die Donaustadt sich nicht wieder so selig in Schönheit gewiegt wie jetzt; die weiland österreichischen Völker fanden die Kraft zur Anerkennung der neuen Wirklichkeit und daß in großen Krisen Gestalt nur zu retten ist durch Wandel der Gestalt.

            Den deutschen Stämmen ward es schwerer, sich zu dieser Einsicht durchzuringen, gerade weil die Gestalt ja zunächst noch äußerlich unversehrt blieb, so daß man hoffen durfte, sie werde sich auch der empordringenden neuen Kräfte bemächtigen können. Die Weimarer Verfassung war der Versuch, diese neuen Kräfte, die sich zunächst ja bloß erst angemeldet hatten, ohne selber noch sich recht zu kennen, der alten Form einzufügen. Man übersah dabei, daß diese Form, das 1871 geschaffene Reich, ja durchaus nicht geschichtlich gewachsen, sondern der Ausdruck eines einzelnen war, die persönliche Schöpfung Bismarcks, die ganz ureigene Tat eines Genies, das in seiner Verbindung von visionärer Kraft von ungeheurer Kühnheit mit einem untrüglichen Blick für Wirklichkeiten und dem Glück, dessen sich geborene Spieler sicher wissen, vielleicht nur mit Napoleon und Caesar verglichen werden kann. Er vergaß nur eins: vorzusorgen, daß immer ein Bismarck da wäre, die Voraussetzung, unter der allein sein bei aller Gewalt und Größe so unendlich seines, nur von zartester Hand lenksames Werk möglich blieb. Auch die Weimarer Verfassung scheint insgeheim noch auf einen Bismarck zu rechnen, ohne den sie darum zunächst noch provisorisch wirkt. Ein politisch ungeschultes Volk, das seit dem Ausgang des Mittelalters niemals Gelegenheit zur Übung in Politik, niemals auch nur Gelegenheit zur Einsicht ins Wesen großer Politik gehabt hat, soll nun, durch vier Jahre wildesten Kriegs erschöpft, von Feinden umdrängt, nur durch ein Aufgebot der innersten Kraft lebensfähig, über Nacht nachholen, was seit 1890, seit der ungnädigen Entlassung des Schöpfers seiner Form, tatenlos, dünkelhaft versäumt worden ist: ein Debutant in der Politik soll sich einer Welt von Feinden stellen!

            Daß dieses unglückliche Volk überhaupt noch lebt, daß es den Mut zu sich selbst noch nicht verloren hat, daß es sich den Glauben an sich, an seine Notwendigkeit im Abendland, an seine geheimnisvolle Sendung bewahrt hat, daß es sich zutraut, die zerstörenden Gewalten in seinem Inneren bändigen zu lernen, daß es hoffen darf, die zum ersten Male erringene Freiheit gebrauchen und sich eine Form geben die deutsche Form schaffen zu können, ist, schon durch den Entschluß allen, eine Leistung von bewundernswerter Größe. Und wenn der Deutsche jetzt zuweilen klagend fragt, warum denn, während rings bei den anderen große[n] Führer wie Seipel, Benesch, Masaryk, Mussolini, Lenin erscheinen, nurn ihm allein gerade noch immer der in sich Sinn, Gewissen und Willen der Nation summierende Mann versagt bleibt, so vergißt er nur, daß es zwar im Grunde jetzt allen diesen Völkern um dasselbe geht: um Formgebung, aber mit dem Unterschied, daß die anderen schon vorher längst im Geheimen ihrer eigenen inneren Form gewiß und gar unter dem Druck der ihnen von fremden Herren aufgezwungenen äußeren nur desto bewußter warn, während der Deutsche seit dem Ausgang des Mittelalters nicht mehr die Kraft fand, den sämtlichen Stämmen, von denen jeder eifersüchtig in seiner besonderen Form erstarrt war, darüber nun erst noch auch eine gemeinsame aufzuzwingen: unsere Geistesgeschichte besteht ja seit vierhundert Jahren aus lauter mißratenen Versuchen einer allgemeinen Formgebung. […]

            Das Deutsche Reich von 1871 war, als eines ungeheuren Genies ganz persönliche Schöpfung, über Deutschland sozusagen verhängt worden. Als es 1918 zerbrach, war kein deutscher Stamm, geschweige denn ein einzelner Mann stark genug, aus eigener Kraft ein neues zu gebieten. Zunächst mußte man sich also mit einer Notverordnung behelfen, die solange vorhalten sollte, bis sich aus dem befreiten Volke selbst die Kräfte der Formgebung erheben würden. Darauf kam es zunächst an, und darin liegt auch der Sinn aller Erscheinungen in unserer Literatur seit 1918. Sie wird noch immer unterschätzt, weil man fortfährt, sie noch immer an den alten Gewohnheiten zu messen. Aber dieses junge, durch das Erlebnis des Kriegs erstarkte, von Waffenlärm erregte Geschlecht hatte gleich auf den ersten Blick erkannt, worauf allein es jetzt zunächst ankam: Tiefen des deutschen Geistes, vor allem aber auch des deutschen Willens aufzurütteln, aus welchen, wenn nur erst der Urgrund des deutschen Wesens erschüttert wäre, die geheimsten formenden Kräfte hervorbrechen müßten; jedes unbewußt nach Form verlangende Geschlecht taucht zu den ‚Müttern‘ unter.

            Dabei ging’s freilich nicht immer ganz artig zu; Notschreie haben weder Anmut noch Würde. Doch darf man immerhin dem Ertrag dieser fünf Jahre die Bedeutung einer Epoche nicht mehr absprechen, und wenn ich nur auf gut Glück nach den paar Namen derer greife, die auf mich am stärksten wirken: Unruh, Werfel, Toller, Kaiser, Brecht, Barlach, Sternheim, Edschmid, Flake, gar aber Döblin, so genügen allein diese schon, um das Urteil zu rechtfertigen, daß wir nach der klassischen Zeit in unserer Literatur keinen Aufmarsch von Begabungen hatten, der sich an Kraftaufwand, an Willensdrang, an Wesenstrieb mit diesem hätte messen können. Man wird ihn freilich nach Gebühr erst vollends würdigen lernen, wenn sein Ergebnis erscheint: das nächste Geschlecht, das erntende, dem, was jene sich erst gewaltsam ertrotzen mußten, nun wieder schon leichter, heiterer, sorgenfrei gewohnter Besitz geworden sein wird. Schon kündigt es sich an, der Lärm verstummt, Gewölk zergeht, Lächeln erglänzt – ich greife wieder aus dieser neuen, still besonnen das Glück der Form hütenden Jugend die meiner Hoffnung wertesten Namen heraus: Alexander Lernet-Holenia, Hans Carossa, Walther Eidlitz. Zugleich wird nun erst die seit Jahren im Verborgenen am deutschen Geiste wachende Macht auch öffentlich weithin wirksam: die den Gral unserer schöpferischen Geheimnisse hütende Schar um George. Neue Jugend drängt nach, der Willkür, Selbstsucht und Anmaßung absagend und wieder in Ordnung, Maß und Gesetz das Stichwort für die Kraft des Lebens und in der Bereitschaft zur Strenge, Zucht und Entsagung die Würde des Künstlers erkennend. Hermann Hefele, mit seinem „Gesetz der Form“ und dem gewaltigen Dantebuch, gab ihr den Auftakt, und mit Paul Ludwig Landsbergs hellsichtigen Schriften über „Die Welt des Mittelalters und Wir“ und „Wesen und Bedeutung der platonischen Akademie“ setzt nun auch der Kreis um Max Scheler zur öffentlichen Wirkung ein, die, wenn Scheler erst an der Berliner Hochschule sein wird, in der Hauptstadt des deutschen Geistes ihre volle Macht der Formgebung bewähren kann.

In: Vossische Zeitung, 25.12.1923, Beiblatt: Die Leistungen unserer Zeit.