Ernst Lothar: Gespräch über die besten Bücher des Jahres. Ratschläge, Urteile, Feststellungen

Ernst Lothar: Gespräch über die besten Bücher des Jahres. Ratschläge, Urteile, Feststellungen (1928)

Der Bücherfreund (zum Kritiker): Sie haben kürzlich vom „Glück der Bücher“ gesprochen, das einem seither ja auch auf allen Plakatwänden mundgerecht gemacht wird. Wollten Sie nicht über das Allgemeine hinausgehen und bestimmte Werke nennen? Vor Weihnachten haben viele, die Bücher kaufen werden, den Wunsch nach einem Rat. Blättert man aber die Kataloge durch, dann erschreckt man vor der Quantität und wird noch konfuser. Welche Bücher empfehlen Sie? 

Der Büchersnob: Die Frage des Herrn ist wohl in der Einzahl gemeint! Er will, hoffe ich, schlimmstenfalls sagen: welche zwei oder drei Bücher empfehlen Sie? Denn das, worum es sich hier handeln kann, ist doch nur: das Buch des Jahres. Das Buch, von dem man spricht. Sind Sie mehr für den Ulysses von James Joyce oder für das Chinabuch Die Eroberer von Malraux? 

Der Kritiker: Auf diese Art werden wir uns schlecht verständigen. Rekommandationen für Fünfuhrgespräche zu liefern, bin ich außerstande. Auch ist es weder meine Sache, das Verstiegen-Abseitige zu bestätigen noch irgend etwas nur deshalb zu rühmen, weil es von Ausländern herrührt. Damit will ich nicht sagen, daß dieses Jahr nicht eine ganze Anzahl ausgezeichneter ausländischer Bücher, darunter etwa die genannten, hervorgebracht hat. Aber solange es ausgezeichnete neue Bücher deutscher Verfasser gibt, werde ich zuerst für diese stimmen. Besonders dann, wenn man ihre Autoren noch nicht gebührend kennt. 

Der Bücherfreund: Gibt es denn neue wertvolle deutsche Namen?

Der Kritiker: Es gibt zwei. Sie heißen: Ernst Glaeser und Ernst Weiß. Ernst Glaeser steht im Beginn, Ernst Weiß hat sich trotz vielfachen Beweisen seiner Dichterschaft noch nicht „durchgesetzt“. Lassen Sie mich mit dem Unbekannten beginnen. Von Ernst Glaeser liegt ein Roman Jahrgang 1902 (Verlag Kiepenheuer) vor. Nichts ist mir zuwiderer als die fetten Lobkleckse, die fast jedem Druckwerk prompt und wahllos angepinselt werden. Aber bei ersten Buche eines jungen Deutschen, das die Epoche, die dem Krieg unmittelbar voranging, aus Knabenausgen sieht, das von lapidarer Sachlichkeit ist, ohne nüchtern oder roh zu sein, das die junge Generation hinreißend verteidigt, weil es ihre Defekte aus ihrem Erlebnis ursächlich erklärt und ihre Vorzüge wortlos sichtbar macht: bei diesem Buch, das überall dokumentarisch wirkt, ist das Wort „außerordentlich“ am Platze und vielleicht noch zu gering. Wer die höhnischen Schlagworte über die neue Jugend verlernen und die um 1902 Geborenen verstehen lernen will, erwerbe den Jahrgang 1902. Auch der Roman Boetius von Orlamünde (Verlag S. Fischer), der Ernst Weiß zum Dichter hat, formt das Problem des jungen Menschen dieser Zeit. Mit reinsten Mitteln, in einem beispielhaften Deutsch von // schöner epischer Ruhe wird das Heranreifen eines adeligen Konviktszöglings erzählt und der Sport monumentalisiert. Doch nicht auf die landläufige Zyniker-Art, welche den Erd- zu einem riesigen Fußball deformiert, sondern in einer neuen, persönlichen, harmonischen Verbindung von Muskel- und Seelentum. Ergreifend klingt ein Oberton von Güte und Zartheit aus diesen Blättern, die den Fäusten Reverenz erweisen… Ein Ton, der in den jüngeren geistigen Hervorbringungen Deutschlands selten wurde. 

Der Büchersnob: Sie preisen also noch immer „Romane“ an? Haben Sie gelesen, was bei einer Rundfrage nach den besten Büchern Bert Brecht einer Berliner Zeitschrift jüngst geantwortet hat: er findet den Roman von heute „stumpfsinnig“ und nennt als „Prototyp der üblichen stumpfsinnigen Form unsres Romans“ den Fall Maurizius von Jakob Wassermann. Was sagen Sie dazu? 

Der Kritiker: Dazu lache ich. Urteile solcher krassen Verantwortungslosigkeit kann man nicht ernst nehmen. Derselbe Bert Brecht spricht übrigens an derselben Stelle von der „respektablen Dummheit“, die er in Wells „Welt des William Clifford“ gefunden haben will. Ich, meinerseits, habe sie in seinem Werturteil über Wassermann und Wells gefunden, und nicht einmal so respektabel. Was aber den „Fall Maurizius“ betrifft, ist er der beste deutsche Roman dieses Jahres; in Problematik, Komposition und Ausdruck. 

Der Bücherfreund: Wie denken Sie über Arthur Schnitzlers Therese? Ich habe in deutschen Blättern Beurteilungen gelesen, die miteinander nicht übereinstimmen. 

Der Kritiker: Hier liegt ein kritisch sonderbarer Fall vor. Man hat, in Deutschland, der Therese ihren „grauen Ton“ zum Vorwurf gemacht. Man fand die chronikale, sozusagen protokollhafte Aneinanderreihung von Fakten des kargen Lebens einförmig und der Gesamtfarbe abträglich. Dieser Meinung kann ich nicht beipflichten. Denn hier wird als ein Manko betrachtet, was bewußte dichterische Absicht und wohl auch Notwendigkeit war. Nie hat sich Arthur Schnitzler um Vortrag oder Thema monoton gezeigt; immer als das absolute Gegenteil. Schon dieser sinnfällige Unterschied zwischen seinem bisherigen Werk und der „Therese“ hätte klarstellen müssen, daß dieser Unterschied gewollt war. Nicht also zufällig oder aus nachlassender Kraft hat hier ein großer Dichter einen Lebensalltag grau in grau gezeichnet, sondern: dies war strenges Darstellungsprinzip. Richtiges, wie ich glaube. Aus der Summe gleichbleibender Summanden sollte die ungeheure Differenz zwischen Anspruch und Erfüllung abgelesen werden; aus dem lebenslang Unveränderten die Überlebensgröße des Unabänderlichen; aus dem Oberflächengrau die unterirdische Blutröte der Sehnsucht. Deshalb wirkt das Buch ganz so beklemmend wie unser Leben. Die Französin Bovary hat in der Wienerin „Therese“ eine ebenbürtige Schwester gefunden. 

Der Bücherfreund: Und wie steht es mit den Büchern anderer Autoren von anerkanntem Rang?

Der Kritiker: Es sind Nieten darunter. Dem Rang ihrer Dichter entsprechen: Heinrich Manns Eugenie (Verlag Zsolnay): eine faszinierende Frauenfigur, von einem bizarren Hintergrund meisterhaft abgehoben. Dann: Franz Werfels Abituriententag (Verlag Zsolnay); René Schickeles Blick auf die Vogesen (Verlag Kurt Wolff): Beide von innerem Blick, zeitnah, vollkommen erzählt. 

Der Bücherfreund: Und das nichtdeutsche Ausland? Jetzt werden Sie doch wohl Ausländer nennen?

Der Kritiker: Ich habe noch nicht die Absicht. Ich fange geradezu erst an. Denn nun kommen die Bücher jener Autoren, die zwar bekannt, aber in Österreich nicht genug gelesen sind. Wappnen Sie sich mit Geduld, denn ihrer sind nicht wenig! Da ist vor allem Arnold Zweig. Kennen Sie seinen Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa? (Verlag Kiepenheuer). Es ist der Kriegsroman Deutschlands. Ganz abgesehen davon, daß er (technisch) mit einer staunenswerten Kunst gebaut, gesteigert, vorgetragen ist, besitzt er eine Universalität der Anschauung, eine Objektivität des Urteils, eine Schlagkraft der gestalterischen Beweisführung, daß man diesem Buche anheimfällt wie einer Passion. Um dieses gräßlich abgegriffene Wort zu brauchen: das Buch ist ein Erlebnis. Arnold Zweig hat in diesem Jahre außerdem die Erzählung Pont und Anna veröffentlicht, die eine Figur aus dem „Sergeanten Grischa“ übernimmt und fortsetzt (Verlag Kiepenheuer). Auch diese Erzählung überragt durch Realität und Landschaftsbildnerschaft den Durchschnitt hoch. Hier nenne ich gleich Leonhard Frank, aus dessen Humanitätsschule der junge Ernst Glaeser kommt, mit dem entzückenden Ochsenfurter Männerquartett (Insel-Verlag); Heinrich Eduard Jacobs kleinen Roman Jacqueline und die Japaner (Verlag Rowohlt): Rassenfragen mit Takt und Feinfühligkeit gültig beantwortet und in schwebende Sprachmusik gesetzt; „Als Mariner im Krieg“ von Joachim Ringelnatz (Verlag Rowohlt): Berichte von einer Präzision, Vitalität und Ungeschminktheit, die ihresgleichen suchen; Bruno Frank: Politische Novelle (Verlag Rowohlt), fesselnde Verbindung von politischer und Menschenanschauung, die einem eminenten Stilisten gelang; erfreulicherweise auch zwei österreichische Erzähler: O. M. Fontanas Roman Gefangene der Erde (Verlag Knaur), der mit Recht den Preis der Stadt Wien erhielt, da er Phantasie, Feuer und ethische Kraft vereint; Paula Grogger, die steirische Dichterin, deren Roman Grimmingtor und deren Novelle Die Sternensinger (Ostdeutsche Verlagsanstalt) seit langem wieder ein großes österreichisches Frauentalent beglaubigen. Lassen Sie mich hier der herrlichen Gedichte gedenken, die Max Mell im Speidelschen Verlage hat erscheinen lassen. Es sind Strophen von einer solchen edlen Anmut, von solcher spürbaren Naturnähe, schlichten Macht und keuschen innersten Melodie, daß ich sie zum Kostbarsten zähle, was wir an deutscher Lyrik überhaupt besitzen. 

Der Büchersnob: Und das Ausland? Geben Sie doch endlich die Pfahlbürgerei auf, immer nur „Nationales“ // zu propagieren. Europäisch muß das Buch sein, wenn es mir gefallen soll. Nennen Sie mir europäische Bücher!

Der Kritiker: Entschuldigen Sie es, wenn ich bei meinen Ratschlägen und Feststellungen auf Ihre Privatmeinung nicht genügend Rücksicht nehme. Denn ich fürchte, daß Ihnen das Wort „europäisch“ nur deshalb so ans Herz gewachsen ist, weil es mit den drei anderen eisernen Intelligenzphrasen („Einstellung“, „Mentalität“, „Rhythmus“) zum täglichen Weltbürgerbedarf gehört. Was sich davor drängt – aber lassen wir das. Ich nenne Ihnen lieber einen ausländischen Roman, der mir den Begriff „europäisch“ vorbildhaft zu verkörpern scheint: „Die amerikanische Tragödie“ von Theodore Dreiser (Verlag Zsolnay). Halten Sie das für paradox: ein amerikanisches Erzeugnis als europäisch reklamiert? Dafür müßten gerade Sie Verständnis haben, obschon ich nichts weniger als ein Paradox beabsichtige. Doch in der Dreiserschen Trilogie manifestiert sich, wie in keinem Buche irgend einer Nation zuvor, der europäische Gedanke: Gegen die Todesstrafe! Wer gelesen hat, wir der junge Clyde Griffith im „Todeshaus“ auf den elektrischen Stuhl vorbereitet wird und ihn nach Jahresfrist erleidet… der ist so unsäglich erschüttert, ja wochenlang ans Kreuz dieser Vision genagelt, daß er für sein ganzes Leben erzogen worden ist. Europäisch erzogen. 

Der Bücherfreund: Ich fürchte, das ist zu deprimierend. Ich für meinen Teil wäre für minder triste Bücher dankbar. 

Der Kritiker: Dann lesen Sie Hamsuns letzten Roman: Landstreicher (Verlag Langen): Nicht ganz so bezaubernd wie „Segen der Erde“ und Die Weiber am Brunnen. Aber immer noch: Hamsun. Also göttliche Ironie der Darstellung. Leben aus der Distanz, trotzdem tief genähert. Und lesen Sie die beiden ersten Originalbände von J. Haseks Geschichte des braven Soldaten Schwejk (Verlag Synek): das ist nicht etwa der von Piscator plakatierte Theaterfilm, sondern ein Epos tiefgründigen Humors, eine gelassene entlarvende Auseinandersetzung mit Schändlichkeiten. Auch der Roman Das Schlangenhemd von Grigol Robakidse (Verlag Diederichs), einem neuen „Ausländer“, zeigt ein unvergeßliches Gesicht, das sich der „Monotonisierung der Welt“ entgegenstemmt und die Charakterzüge des Georgischen Volkes aus dem Hexenkessel europäischer Gleichmacherei erhebt. 

Der Büchersnob: Das alles sind Romane, Novellen, Gedichte. Gibt es denn nichts, das im Grenzgebiet zwischen dem allen läge? Eine neue Form? 

Der Kritiker: Gewiß gibt es das. Es ist die „kleine Form“, die Alfred Polgar meistert. Sein neues Buch Schwarz auf Weiß (Verlag Rowohlt) bereitet ein durch nichts geschmälertes Vergnügen. Delikatessen für literarische Feinschmecker, und noch etwas mehr. Denn in diesen Miniaturen unseres kleinen Lebens ist eine blendende Stilkunst, doch auch eine Beobachtungsschärfe am Werk, welche mit des Messers Schneide spielt und trifft. Überdies empfehle ich für jeden, der vor Allzumenschlichem fliehen will, Paul Eippers Tiere sehen dich an (Verlag Reimer) als Rettung. 

Der Büchersnob: Und? 

Der Kritiker: Ich nehme Ihnen das Wort vom Munde, das Sie vorwurfsvoll zurückhalten: Memoiren. Sie wollen (weil auch das zu den Gemeinplätzen gehört, auf denen „europäisch Eingestellte“ mit Vorliebe lustwandeln) vermutlich sagen: „Mir sind Memoiren hundertmal lieber als die besten Romane!“ Bedienen Sie sich. Ob Ihnen freilich Rudolf G. Bindings Erlebtes Leben (Verlag Rütten & Löning), das eines Dichters Dasein schildert, nicht zu „einfach“ sein wird? Diese Einfachheit ist, notabene, grandios. Und ob sie Vera Figner Nacht über Rußland (Malik-Verlag) nicht zu revolutionär finden werden? Ungeachtet diese Denkschrift das Gedächtnis der Welt für alle Zeiten wachrütteln müßte! Ohne mir indes den Kopf hierüber zu sehr zu zerbrechen, nenne ich auf exakteren Literaturgebieten: den zweiten Band von Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit (Verlag Beck): Barock und Rokokko in durchaus persönlicher Weise gesehen und sichtbar gemacht; falsche Meinungsfassaden glänzend blankgeputzt, eingekrustete Vorurteile rabiat abgerissen; eines wie das andere mit einer Polyhistorkenntnis, mit außerordentlicher Formulierung und mit bedeutender Kraft zu rebellischer Synthese. Wells Weltgeschichte (Verlag Zsolnay): Mehr als Wissenschaft, die es natürlich auch ist. Hier wird Welt- als Menschheitsgeschichte vorgetragen. Schließlich, vom Biographischen dieses Jahres: Josef Redlichs bewundernswertes Standard-Werk über Franz Joseph (Verlag für Kulturpolitik); André Maurois: Disraeli (Verlag S, Fischer), der die großartige Figur Lord Beaconsfields der Dauer überliefert; Paul Wieglers „Wilhelm I, und seine Zeit“ (Avalun-Verlag): eine Epoche nobel empfunden und ebenso beschrieben; Rudolf Kayser: „Stendhal“ (Verlag S. Fischer): Verlebendigung der schönen Gestalt durch Nach- und Nahgefühl; Werner Hegemann: Der gerettete Christus“ (Verlag Kiepenheuer): mißverständlich als Lästerung aufgefaßt, während der Autor im Gegenteil die heilige Idee stützt und reinigt; Emil Ludwig: Der Menschensohn (Verlag Rowohlt): Heilandsbiographie, nicht durchaus auf der Höhe von Ludwigs vorangegangenen historischen Porträts, doch um ihrer psychologischen Klarheit willen lesenswert. Damit bin ich am Ende. 

Der Bücherfreund: Ist Ihre Liste vollständig?

Der Büchersnob: Meiner Meinung nach überkomplett! Und nun verraten Sie mir noch, was Sie bei der Auswahl aller dieser Bücher geleitet hat? 

Der Kritiker: Sie irren in der Annahme, mein Lob-Index erhebe nur den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Er ist unvollständig, weil subjektiv. Damit beantwortet sich auch Ihre Frage. Um gut zu sein, müssen Bücher, meiner Meinung nach, zwei Forderungen erfüllen: Die der Kunst: diese Forderung ist relativ. Die der Menschlichkeit: diese Forderung ist absolut. 

In: Neue Freie Presse, 16.12.1928, S. 1-3.