Doderer, Heimito

(eigentl. Franz Carl Heimito Ritter von Doderer)

Geb. 5.9.1896 in Hadersdorf-Weidlingau (bei Wien), gest. 23.12.1966 in Wien. Schriftsteller, Feuilletonist.

Doderer wurde in eine vermögende, seit seinem Großvater väterlicherseits in den Adelsstand erhobenen Familie geboren; sein Vater war als Ingenieur in leitender Position im Bahn- und Wasserregulierungsbau tätig, seine Mutter stammte aus einer protestantischen deutschen Bauunternehmerfamilie. Er war das jüngste von insges. sechs Kindern. Schon während seiner Gymnasialzeit bildete sich ein erotisches Interesse, verbunden mit homo- wie heteroerotischen Erfahrungen aus, zu dem später bisexuelle und sadomasochistische Neigungen traten. 1914 legte er eine nur aufgrund eines Kommissionsbeschlusses zustande gekommene Matura ab, immatrikulierte im Herbst 1914 an der Universität Wien das Studium der Jurisprudenz und rückte 1915 als Einjährig-Freiwilliger bei einem Kavallerieregiment ein. Ab Jänner 1916 an der russischen Front eingesetzt, geriet er schon im Juli in der Bukowina in russische Gefangenschaft und wurde in ein Lager in Sibirien (nahe Chabarowsk, dann Novosibirsk und Krasnojarsk) verbracht, in dem er beschloss, Schriftsteller zu werden und Erzählungen u. Romane zu verfassen anfing. Diese wurden erst 1991 im Bd. Die sibirische Klarheit. Texte aus der Gefangenschaft zugänglich gemacht, während das ebf. in jener Zeit entst. Romanfragment Der Grenzwald 1967 erstmals erschien. Seine ersten (allerdings unter dem Namen A. Reifs; Kleinlercher, 45) veröffentlichten Russland-/Sibirien- Texte, erschienen nach Kriegsende u. seiner Rückkehr nach Wien im August 1920 in der Wiener Mittagszeitung, z.B. Das russische Land (16.10.1920) bzw. in der Wr. Allgem. Ztg. Die neuen Russophilen (25.6.1921). Es folgte 1923 der Gedichtbd. Gassen und Landschaften im Verlag R. Haybach, mit dem Doderer die sibirische Gefangenenerfahrung geteilt hat. Diesen Band hat immerhin, wenngleich zwiespältig, B. Balázs im Tag besprochen; Doderer wirke auf ihn als „feiner Künstler“, seine Technik, habe die „solide Männlichkeit der Werkstättenandacht“, erinnere ihn aber auch an Liliencron. Zwischen 1921 u. 1926 entstanden mehrere Divertimenti, die auch als Bausteine für spätere größere Arbeiten figurierten, wie das (seit 1920 geführte) Tagebuch Auskunft gibt. 1925 schloss Doderer sein Studium mit der Promotion und der Dissertation Zur bürgerlichen Geschichtsschreibung in Wien während des 15. Jahrhunderts ab. 1926-27 arbeitet er mit Reiseberichten u.a. Texten an der Zs. Moderne Welt mit, ab 1927 im linksliberalen Tag, wo er sich u.a. auch mit Musik im Kino beschäftigte (3.6.1927), mit der Frage des Kollektivismus (3.1.1928) oder mit dem „seelischen Monstrum“ Gilles de Rais (8.1.1928), ferner mit Katharina II (9.5.1929), mit dem Schifahren (15.12.1929) u.a.m. Im selben Jahr erschienen dort auch das Stadtfeuilleton Komplize wider Willen, das am Wiener Praterstern die Großstadt aus der Perspektive der Peripherie in den Blick nahm sowie die Besprechung zu Paradies Amerika von E. E. Kisch (18.12.1929). 1930 erschienen zum einen sein Sibirien-Russlandbuch Das Geheimnis des Reichs, das keine offene Abrechnung mit der Revolution vornahm, vielmehr Trotzkis „militärisches Ingenium“ und Lenins Persönlichkeit zu würdigen unternahm und ein grundlegend positives Russland-Bild vermittelt, sowie ein Buch über A.P. Gütersloh, das er in versch. Institutionen (Urania, VHS Ottakring) bis 1932 mehrmals vorstellte. 1930 heiratete er Auguste/Gusti Hasterlik, eine katholisch getaufte Pianistin aus einer angesehenen jüd. Familie, die er seit 1921 kannte und mit der er eine turbulente, von psycho-physischen Übergriffen u. antisemitischen Beleidigungen nicht freie Beziehung, eingetrübt zudem von einer Syphilis-Infektion 1928 (Kleinlercher, 53f.), unterhielt. Das Paar trennte sich auf Drängen Gustis 1932; 1938 setzte Doderer die Scheidung durch. 1931 kommentierte Doderer die Ausrufung der spanischen Republik in einem Beitrag für die Ztg. Der Tag. Am 1.4.1933 trat Doderer der NSDAP (Österreich) bei, veröffentlichte in der ihr nahestehenden Deutsch-österreichischen Tages-Zeitung bis zu deren Verbot im Juli 1933 vier Kurzgeschichten und begann mit den frühen Fassungen seines späteren Romanprojektes Die Dämonen, das damals noch den Titel Dicke Damen trug. 1936 übersiedelte er nach Dachau und stellte dort auch den Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer (TB 27.8.1936). Ende der 1930er Jahre näherte er sich der katholischen Kirche an (Konversion vom Protestantismus zum Katholizismus 1940), trat jedoch aus der NSDAP nicht aus. 1937 trat mit dem Verlag C.H. Beck in Kontakt, wo 1938 sein zweiter Roman Ein Mord, den jeder begeht, erscheinen konnte. Ende August 1938 kehrte Doderer nach Wien zurück und bezog gem. mit Gütersloh eine Atelierwohnung. 1940 wurde er zur Deutschen Wehrmacht eingezogen, verrichtete meist Verwaltungsarbeiten, u.a. in Frankreich, wo er mit der Niederschrift der Strudlhofstiege begann, und Russland. Nach einem Lazarettaufenthalt ab 1943 wieder in der Nähe von Wien, wurde er im April 1945 nach Oslo geschickt, wo er das Kriegsende erlebte. Im Jänner 1946 kehrte Doderer nach kurzer Gefangenschaft nach Österreich zurück, wo er sich einem Entnazifizierungsverfahren zu stellen hatte. Nach Fürsprache von Freunden, u.a. auch seitens H. Spiel, gelang es ihm, zunächst als ›minderbelastet‹ eingestuft und nach der Zahlung einer Sühneabgabe 1947 auch von dieser Liste gestrichen zu werden. 1948 war die Arbeit an der Strudlhofstiege abgeschlossen, Doderer belegte aufgrund der beruflich unsicheren Aussichten auch Kurse am Österr. Institut für Geschichtsforschung, um evtl. als Bibliothekar oder Archivar eine Anstellung zu finden. Mit dem Erschienen der Strudlhofstiege 1951 kehrte Doderer erfolgreich in die literarische Öffentlichkeit zurück.



Weitere Werke (bis 1953):

Die Bresche (1924); Der Fall Gütersloh (1930); Ein Umweg (1940); Die erleuchteten Fenster (1951); Das letzte Abenteuer (1953); Frühe Prosa. Hg. von W. Schmidt-Dengler u. M. Loew-Cadonna (1995); Tagebücher 1920-1939, 2 Bde. Hg. von W. Schmidt-Dengler u. M. Loew-Cadonna (1996).

Quellen und Dokumente:

Nachlass: Österreichisches Literaturarchiv, ÖNB; Radioprträt, ORF 1, Österreichische Mediathek 1996.

Balázs über Doderer. In: Der Tag, 18.9.1923, S. 8; Musik im Kino. In: Der Tag, 3.6.1927, S. 9; Kollektivismus. In: Der Tag, 20.1.1928, S. 3;Gilles de Rais. Das seelische Monstrum heute und einst. In: Der Tag, 8.1.1928, S. 22; Ratschläge für den Ski-Säugling. In: Der Tag, 15.12.1929, S. 19; Komplize wider Willen. In: Der Tag, 12.11.1929, S. 15; Von Moskau bis Hollywood. (Über: Kisch: Paradies Amerika), in: Der Tag, 28.12.1929, S. 5; Der Dichter und Maler Gütersloh. In: Der Tag, 7.1.1931, S. 6; Die Insel Spanien. In: Der Tag, 19.4.1931, S. 3;

Literatur (Auswahl)

W. Fleischer: Das verleugnete Leben. Die Biographie des Heimito von Doderer. Wien 1996; G. Sommer, W. Schmidt-Dengler (Hgg.): „Erst bricht man Fenster. Dann wird man selbst eines.“ Zum 100. Geburtstag von Heimito von Doderer. Riverside (CA) 1997; G. Sommer/K. Luehrs-Kaiser (Hgg.): „Schüsse ins Finstere“. Zu Heimito von Doderers Kurzprosa. (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft, 2). Würzburg 2001; G. Sommer: Heimito von Doderer: „Technische Mittel“. Fragmente einer Poetik des Schreibhandwerks. Wien 2006; A. Kleinlercher: Zwischen Wahrheit und Dichtung. Antisemitismus und Nationalsozialismus bei Heimito von Doderer (= Literaturgesch. in Studien und Quellen. 16). Wien-Köln-Weimar 2011; W. Schmidt-Dengler: Jederzeit besuchsfähig – Über Heimito von Doderer. Hg. von G. Sommer, München 2012; K. Nüchtern: Kontinent Doderer. Eine Durchquerung. München 2016 (rez. Durch St. Gmünder, in: Der Standard, 23.12.2016.

(PHK)