Groß, Otto

Geb. 17.3.1877 in Gniebig/Steiermark, gest. 13.2.1920 in Berlin. Mediziner, Psychoanalytiker, Anarchist.

Der Sohn des Begründers der Kriminalistik (im deutschsprachigen Raum) Hans Groß und dessen Gattin Adele wuchs ab 1881 in Graz auf und besuchte weitgehend Privatschulen. 1899 promovierte er aus Medizin und heuerte 1900 zunächst als Schiffsarzt auf einer deutschen Südamerika-Linie an. Dort kam er in Kontakt mit Kokain, woraus sich eine lebenslange Drogenabhängigkeit ergab. Trotzdem gelang es ihm, sich 1905 zu habilitieren und Privatdozent für Psychopathologie zu werden. 1903 kam es zur Eheschließung zwischen Otto Gross und Frieda Schloffer, einer Nichte des Philosophen Alois Riehl. 1906 war bereits die zweite Entziehungskur (der später viele weitere folgten) nötig und zwar in Ascona im Monte Verità-Kreis. Dort lernte Gross u.a. Erich Mühsam kennen, zog nach München, wo er als Assistenzarzt arbeitete und u.a. Johannes R. Becher in Behandlung hatte. Während seiner Zeit in München unterhielt Gross intensive Kontakte zur Münchner Anarchistenszene und zur Schwabinger Bohème. Am Ersten Psychoanalytischen Kongress in Salzburg (April 1908) kam es zu einem wenig beachteten, jedoch folgenschweren Konflikt: Otto Gross, der sich schon seit Jahren öffentlich für S. Freud eingesetzt hatte, wollte in einem Vortrag gesellschaftspolitische Schlussfolgerungen aus ihr ziehen. Freud, der sich kurz zuvor in seiner Schrift Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität konträr geäußert hatte, antwortete knapp und abschätzig, dies sei nicht Aufgabe von Ärzten, und sorgte dafür, dass Gross aus der Psychoanalyse gedrängt und aus ihren Annalen getilgt wurde. Zwischen 1909 und 1912 folgten mehrere Entziehungskuren, die Übersiedelung nach Berlin, aber auch Strafverfahren, die Franz Jung u.a. durch Solidarisierungsaufrufe zu einem öffentlichen Fall machten. 1913 kam er über F. Pfemfert in den Kreis der Zs. Aktion, wo er auch drei Beiträge über Psychoanalyse veröffentlichte. Als Folge seiner Strafverfahren wurde Gross nach Österreich abgeschoben, wo ihn sein Vater übernahm und in eine psychiatrische Anstalt sowie unter Kuratell stellte, wogegen er jahrelang ankämpfte. Im Ersten Weltkrieg zwar freigestellt, arbeitete Gross zeitweise als landsturmwilliger Zivilarzt in Vinkovsci (Slawonien/Kroatien), bevor er im Mai 1917 dienst- und landsturmuntauglich erklärt wurde. 1917 hielt er sich in Prag auf, traf dort Kafka und Werfel (der ihn später in Barbara oder die Frömmigkeit für die Figur des Gebhardt als Vorbild genommen hatte). 1918 wurde die Entmündigung aufgehoben, und er begann ein unstetes Pendeln zwischen Wien, München und Berlin, wo er bei Jung wohnen konnte und an verschiedenen Zeitschriften mitwirkte wie z.B. an den Zs. Erde oder Sowjet. 1919 wechselte er wiederholt den Wohnort zwischen Wien und Berlin; am 11.2. 1920 wurde er, unter Entzugssymptomen leidend, bei einer Lagerhalle in Berlin aufgefunden und verstarb wenige Tage danach.

Weitere Werke:

Ludwig Rubiners „Psychoanalyse“. In: Die Aktion. 3/1913, Sp. 506–507; Vom Konflikt des Eigenen und Fremden. In: Die freie Straße. 4, S. 3–5; Zum Problem: Parlamentarismus. In: Die Erde. 1, 22./23. Heft, 1919 S. 639–642.

Forschungsliteratur:

Thomas Anz, Christina Jung (Hgg.): Der Fall Otto Gross. Eine Pressekampagne deutscher Intellektueller im Winter 1913/14. Marburg 2002; Walter Fähnders: Die multimediale Präsenz von Otto Gross. In: Psychoanalyse & Kriminologie. Hans & Otto Gross – Libido & Macht. 8. Internationaler Otto Gross Kongress, Graz 14.–16. Oktober 2011, Marburg 2015, 314-337; Verena Hofeneder: Revolution und Literatur. Russland-Diskurse in der Zeitschrift Sowjet. In: P.-H. Kucher, R. Unterberger (Hgg.): Der lange Schatten des ›roten Oktober‹. Berlin 2019, 351-368.

Materialien und Quellen:

Raimund Dehmlow, Gottfried Heuer: Otto Gross. Werkverzeichnis und Sekundärschrifttum. Hannover 1999; online verfügbar und aktualisiert: hier.

Anton Kuh: Die Lehre des Otto Groß. In: NWJ, 21.1.1921, S.5; Wilhelm Stekel: Sammelbesprechung, darin über Groß’s Drei Aufsätze über den inneren Konflikt. Bonn 1920. In: Medizinische Klinik H. 1/1920, Berlin, S.707-708; Anton Kuh: 1000 Jahre und ein Tag oder Habsburgs Ende im Spiegel des Literaturcafés. In: Der Tag, 28.10. 1928, S. 17-18;

(PHK, work in progress)