Musikblätter des Anbruch
1919-1937, Wien; ab 1929 Titeländerung zu Anbruch. Untertitel: Halbmonatsschrift für moderne Musik (bis 1923), Monatsschrift für moderne Musik (bis 1934), Österreichische Zeitschrift für Musik (ab 1934).
Die Zeitschrift, eine der bedeutendsten im gesamtdeutschsprachigen Raum, erschien im Verlag der ›Universal Edition‹ (UE) in Wien seit November 1919. Die UE war einer der wichtigsten europäischen Musikverlage, der den Großteil der klassischen wie zeitgenössischen Moderne vertrieb bzw. unter Vertrag hatte, Bis 1922 wurden 20 Nummern/Jahrgang, oft in Doppelheft-Ausgaben, ab 1923 zehn in 6-8 Heften herausgegeben. Der Umfang schwankte zwischen 165 Seiten im Jahr 1933 und 664 Seiten im Jahre 1920. Die Auflagenhöhe ist nicht mehr bekannt, dürfte aber Mitte der 1920er Jahre zwischen 5.000 und 10.000 Ex. gelegen haben.
Erster „Schriftleiter“ war Otto Schneider, der in Berlin ›Neue Musik-Aufführungen‹ verantwortete, ab H.3/1919 firmierte im Impressum jedoch Alfred Kalmus (1889-1972). Im Oktober 1920 übernahm Paul A. Pisk diese Funktion, die er im Jänner 1922 an Paul Stefan abgab (offiziell ab April 1922), der diese bis zur Einstellung der Zs. innehatte; es waren dies durchwegs Schüler des Wiener Musikwissenschaftlers Guido Adler bzw. von Arnold Schönberg und Franz Schrekerursprünglich Franz Schrecker, geb. 23.3.1878 in Monaco – gest. am 21.3.1934 in Berlin; österreichischer Komponist au.... Die Zs. positionierte sich folglich von Beginn an als Sprachrohr einer neuen Generation von Komponisten und Musikwissenschaftlern, die einerseits das Bekenntnis zum Neuen vereinte, aber andererseits auch unterschiedliche Positionen zu Aspekten der Form und Tonalität sowie zu Beziehungen zwischen der Musik und anderen Künsten einnahmen. Zentrale Referenzen waren in den ersten Jahren Gustav Mahler, Franz Schreker und Arnold Schönberg, flankiert von einer 1920-21 einsetzenden Auseinandersetzung mit der internationalen, insbesondere der russisch-sowjetischen sowie der französischen Moderne/Avantgarde, aber auch mit Aufmerksamkeit auf die umliegenden Entwicklungen wie z.B. in der tschechischen oder italienischen Musik. Die anfänglichen Spartentitel Allgemeiner, Besonderer und Glossen-Teil wurde 1922 aufgegeben und in der Folge den jeweiligen Schwerpunkten angepasst. Diese Hefte, Komponisten oder neuen zeitgenössischen Tendenzen gewidmet, erschienen bereits ab Jänner bzw. April 1920 (zu F. Schreker bzw. G. Mahler) u. umfassten ein weites Spektrum, das von Fragen der Opernentwicklung, über den Jazz (April 1925) und Tanz (März 1926) bis hin zu einem Heft zu Musik und Maschine (Okt.-Nov. 1926) oder zur französischen Moderne u. Avantgarde (Honegger, Milhaud, Satie, April-Mai 1930) reichte. Einen bedeutenden Teil der Hefte nahmen (v.a. verlagseigene) Ankündigungen über neue verfügbare Werke resp. Noten ein, ferner Konzertanzeigen, Aufführungsbesprechungen, aber auch Forschungsberichte. Das Mitarbeiterspektrum war beeindruckend u. den Hg. gelang es immer wieder, zu den Themenheften die Experten schlechthin, d.h. in gesamteuropäischer u. transatlantischer Perspektive, zu versammeln. In der Disk. über Strawinsky anlässl. der Londoner u. Pariser Aufführungen von Le sacre du printemps (1921-22) ergriff z.B. der einflussreiche New Yorker Musikkritiker Paul Rosenfeld leidenschaftl. für Strawinsky Partei, weil mit ihm „die Rhythmen der Maschine in die Kunst der Musik ihren Einzug [halten]“ (MdA, 11-1921, 191), skeptisch über ihn urteilte dagegen Th. W. Adorno anlässl. des Frankfurter Strawinsky-Festes 1925; zum Jazzheft trugen z.B. neben A. Jemnitz der fanzös. Komponist Darius Milhaud, die Kritiker Percy A. Grainiger, César Searchinger und v.a. Louis Gruenberg, Schönberg-Schüler, der die erste Aufführung von dessen Pierrot lunaire in New York verantwortete u. selbst auch Komponist war, bei. Im Tanz-Heft war u.a. auch B. Balázsals Herbert Bauer geb. am 4.8.1884 in Szeged - gest. am 15.7.1949 in Budapest; Drehbuchautor, Filmkritiker und -theoreti..., H. v. Hofmannsthalmit vollem Namen Hugo Laurenz Anton von Hofmannsthal geb. am 1.2.1874 in Wien – gest. 15.7.1929 in Rodaun bei Wien; Sc..., Rudolf Laban oder Oskar Schlemmer vertreten, in jenem über Musik und Maschine Max Brandt u. Lazlo Moholy-Nagy. Unter den renommierten deutschen Kritikern waren Paul Bekker, Hans Heinsheimer, H.H. Stuckenschmidt u. Adolf Weismann, von den österreichischen neben P. Stefaneigentl.: Paul Stefan Grünfeld/Gruenfeld (bis 1906), geb. am 25.11.1879 in Brünn/Brno – gest. am 2.11.1943 in New ... R. S. Hoffmann, Paul A. Pisk, Erwin Stein Egon Wellesz, aber auch Ernst Krenekeigentlich Křenek, geb. am 23.8.1900, Wien – gest. am 22.12.1991 in Palms Springs, CA, USA; Komponist, Musiktheoretik... regelmäßig mit Beitr. vertreten. Die Zs. war auch Plattform für mehrere Kontroversen, etwa in H. 6/1930 zwischen Adorno und Krenek über die Gewichtung der Begriffe ›Fortschritt‹ und ›Reaktion‹ sowie für grundsätzliche, über die Musik hinausreichende Problemstellungen. So thematisiert z.B. das von A. Lunartscharsky eingeleitete Sowjetrußland-Heft (8/10/1931) den veränderten Stellenwert der Musik in der UdSSR, d.h. ihre ausdrückliche Anbindung an „die Politik der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ (ebd.,178) oder in H. 2/3/1932 unter dem Titel Kasse und Kunst P. Bekker die finanziell prekäre Lage der Theater- und Opernhäuser vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise. Kritisch positioniert sich die Zs. in H. 8/1933 zur Umgestaltung des Operntheaters in Deutschland durch H. Heinsheimer, der eine eklatante Reduktion der Präsenz moderner Musik-Kompositionen zugunsten klassischer und deutscher sowie eine Ausweitung des Operettenangebots beklagt. In H. 6/1934 wiederum erläutert Krenek (systemkonform) den Stellenwert der Musik in der berufsständischen Ordnung und bezieht sich darauf auf die Schrift von H. Schmitz, Die berufsständische Ordnung nach der ›Quadragesimo anno‹“ und verknüpfte diese mit seinen eigenen Überlegungen zu einer Reformulierung der Beziehungen zwischen Künstlern/Autoren und den Institutionen der Öffentlichkeit. Mit Jänner 1935 wird das Verhältnis zur UE einvernehmlich gelöst und die Zs. im Untertitel in Österreichische Zeitschrift für Musik umbenannt, womit die bisherige Ausrichtung auf die spezif. ‚moderne‘ Musik auch programmat. wegfiel, was sich in der Beitragsstruktur der letzten beiden Jahrgänge auch entsprechend niederschlug.
Literatur
I.Bürgers: „Das Modell einer Musikzeitschrift. Vor fünfzig Jahren erlosch der ‚Anbruch‘“. In: Neue Zeitschrift für Musik N.7/8(1988), 74-75; O. Hass: Ole Hass: Musikblätter des Anbruch1919-1937, Wien; ab 1929 Titeländerung zu Anbruch. Untertitel: Halbmonatsschrift für moderne Musik (bis 1923), Monatss... 1919-1937, Einleitung, Chronologischer Kalender und Index zur Zeitschrift. Veröffentlichung des Répertoire Internationale de la Presse Musicale (RIPM). Baltimore 2004; Einleitung online verfügbar; P-H. Kucher: Modernismus-AvantgardeIsmus am Beispiel der Debatten in den Musikblättern des Anbruch (1919-1930). In: Ders. (Hg.): Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918-1938. Göttingen 2016, 187-215.
Eintrag bei musiklexikon.at, Eintrag zu A. Kalmus bei lexm.uni-hamburg.de.
(PHK)