Max Pirker: Wiener Theater und expressionistische Vorlesungen

Max Pirker: Wiener Theater und expressionistische Vorlesungen. (1922)

Gerhart-Hauptmann-Feier: Rose Bernd im Burgtheater.— Die Weber im Raimundtheater.— Kulturbundabend mit Karlheinz Martin und Roma Bahn.

Es war eine Sturzflut von Theaterfesten. Gerhart Hauptmann zu Ehren: in allen deutschen Städten bis ins kleinste Provinztheater wurde das Lebenswerk des Dichters aufgeführt.

Wien ist mit Hauptmann durch viele Be­ziehungen verknüpft: man sah ihn oft bei Premièren seiner Werke im Burgtheater, er sprach in der Aula der Universität ergreifende Worte von Deutschlands Wiedergeburt, er las im großen Musikvereinssaal aus unveröffentlichten Dichtungen. Ein trüber Schatten wich in diesen Tagen: Rose Bernd, einst vom Hofburgtheater auf Wunsch einer Erzher­zogin verbannt, wurde zur Festvorstellung: das ist Freiheit, die auch wir meinen, denn die Dinge des Geistes und der Kunst stehen über dem Wechsel der Tagesmeinungen und die dichterische Kraft, die sich in den erschütternden Szenen der Rose Bernd, von Frau Medelsky ergreifend gestaltet, vor uns aus­ lebte, ist eine Naturgewalt. Weniger angebracht schien uns eine kommunistische Demonstration, die sich an die Festausführung der Weber im Raimundtheater an­schloß, indem von der Galerie aus die „Internationale“ gesungen wurde. Man versteht zwar gerade aus der genialen Inszenierung Karlheinz Martins heraus die zündende, mitreißende Kraft, die dieses Stück im

Berlin W. des wilhelminischen Deutschland ausüben mußte. Heinrich Mann hat in seinem Roman Schla­raffenland den sozialistisch gefärbten Snobismus dieser Kreise satirisch gestaltet. Aus Hauptmanns Werk redet aber das tiefe Mitleid mit den Enterbten, eine fast religiöse Inbrunst, die elementar aus dem Naturalis­mus hervorbricht: der uralte, bartumwucherte Weber Ansorge ist schon ein Vorläufer des rätselhaften Glas­bläsers Huhn aus der Pippa. Und welche fast raffinierte, an den besten Franzosen geschulte Technik: wie ist alles um das revolutionäre Dreißigerlied herum aufgebaut, wie sind die alten Weber von der jüngeren Generation differenziert! Die Regie Martins hebt alle diese Nuancen auf das feinste hervor, der Einbruch der hungernden Weber in den Salon Dreißigers war ein Elementarereignis von ungeheurer Wucht. Die ein­zelnen Darsteller traten weniger hervor, die anonyme Masse ist ja der eigentliche Held. Immerhin sind der Fabrikant Dreißiger (Willy Schmieder), der sol­datische Revolutionär Moritz Jäger Gustav Keunes, der alte Baumert Eduard Loibners, die Luise Hilfe der Lilly Karoly und die Frau Heinrich Maria Guttmanns als gute Einzelleistungen hervorzuheben. Der Jubel des Publikums galt neben dem Dichter vor allem seinem Regisseur, der schon im Vorjahre den Florian Geyer so prachtvoll als großes historisches Drama und menschliches Schicksal gestaltet hatte.

Karlheinz Martin gehört ohne Zweifel heute nicht nur zu den führenden deutschen Bühnengestaltern. Er hängt weniger als Reinhardt mit dem Naturalismus zusammen, ist wohl auch als jüngerer weiter von diesem entfernt als Reinhardt, der ja aus Otto Brahms Theater hervorging. Er hat für das Phantastisch-Irrationelle die stärkere Witterung, er ist tatsächlich den Weg der alten Barockregisseure: von der Kirche zum Theater gegangen; er kam aus dem Kloster Bouron, wo er erzogen wurde und beim Meßopfer „ministrierte“, wie er mir auf dem „Kulturbundabend“ im Salon Gräfin Alice Hoyos erzählte.

Der vom Prinzen Aston Maria Rohan, einem Freunde des Darmstädter Philosophen Grafen Hermann Keyserling angeregte Kulturbund umfaßt Mitglieder der alten Gesellschaft und Künstler durchaus nicht konservativer Prägung: wie die Salons der Romantik und des vormärzlichen Wien die heterogensten Geistesrichtungen für die Dauer eines Abends vereinigten. Nur ein gemeinsamer Kulturwille ist vorhanden, das Streben, aus dem Chaos der Gegenwart Richtlinien zu gewinnen, das Wertvolle der Vergangenheit nicht völlig untergehen zu lassen. Eine unpolitische, internationale geistige Bewegung, die in drei wichtigen, europäischen Zentren: in Wien, München und Paris führende geistige Persönlichkeiten umfaßt: Deutschland ist durch den Grafen Keyserling und durch Thomas Mann würdig vertreten, von Österreichern sind Oskar A. H. Schmitz, Stephan Zweig, Felix Braun, Erwin Rieger, E.W. Korngold zu nennen. Im Salon Hoyos las nun Roma Bahn, Karlheinz Martins Gattin, die Darstellerin // von Indras Tochter in Strindbergs Traumspiel, die Lyrik der jüngsten Generation, wie sie Kurt Pinthus in seiner schönen Anthologie Menschheitsdämmerung (Ernst Rowohlt) vereinigt hat: diese repräsentative Sammlung von Erschütterungen und Leidenschaften, von Sehnsucht, Qual und Glück unserer Epoche, Klage um die Menschheit, Sehnsucht nach Menschheit, die aus dem Chaos zum Licht einer besseren Weltordnung strebt. „Niemals in der Weltdichtung scholl so laut, zerreißend und aufrüttelnd Schrei, Sturz und Sehnsucht einer Zeit, wie aus dem wilden Zuge dieser Vorläufer und Märtyrer, deren Herzen nicht von den romantischen Pfeilen des Amor oder Eros, sondern Peinigungen ver­dammter Jugend, verhaßter Gesellschaft, aufgezwungener Mordjahre durchbohrt wurden.“ (Kurt Pinthus.) In diesem Sinne, nur etwas verbindlicher, sprach auch Franz Theodor Csokor, der Frau Roma Bahns Vortrag einleitete, und die Hohenlohe und Liechtenstein lauschten der Botschaft, die aus einer anderen Welt in Form und Gesinnung kam. Aber heute ist der revolutionäre Expressionismus schon beinahe ebenso historisch wie die alte Gesellschaft selbst, es ist erstarrte Lava, die „Aktion“ wie bekannt, einst ein führendes Organ des radi­kalen Expressionismus, ist heute ein uninteressantes kommunistisches Parteiblatt — der begabteste Lyriker der jüngsten Generation- Johannes R. Becher, ist heute ein Klassiker des Inselverlages. Dem Kulturbund aber und seinen Gästen, Karlheinz Martin und Roma Bahn, darf man für den interessanten Abend, der von dem üblichen Vorlesungstypus wohltuend abwich, dankbar sein.

In: Grazer Tagespost, 29.11.1922, S. 2-3.