Otto Groß: Orientierung der Geistigen (1919)

             Unmeßbar allgemein ist das dunkle und drängende Ahnen, erstickend beschränkt das klare Begreifen der Urgründe und Erfüllung des großen Geschehens, das kommen soll. Die schönste neue Erscheinung, die im Bereich extremst gerichteter revolutionärer Gruppierung erblüht, das fortan unverlierbare Erleben tiefsten Einssein und nicht mehr lösbare Waffenbrüderschaft der Proletarier und der Geistigen, ist auch das erste Zeichen bewußtseinsnäheren Erkennens der ewig menschlichen Motive der Revolution. Wo immer geistige Menschen heute noch abseits geblieben sind, wird man sich überzeugen können, daß ihnen jede Kenntnis von anderen Bestrebungen fehlt. Fast jeder Hinweis auf den Welt und Leben umfassenden Horizont der wirklichen Perspektive des Kommunismus – von deren Reichtum zu erfahren ihnen in der Tat nur in geringem Maße Gelegenheit geboten wird – vermag hier Wandlung zu schaffen.

             Verbindender und trennender als Rasse, Geschlecht, Kultur und Klasse ist der typische Gegensatz zwischen dem revolutionären und dem konservativen Menschen, sagt Grete Fantl.[1]

             Das elementare Prinzip in der menschlichen Seele, dessen quantitative individuelle Verschiedenheit, dessen // Ausreichen und Versagen also die Menschen in diese beiden Kategorien trennt und einteilt, dieses im höchsten Sinne Wert und Wesen bestimmende Prinzip ist die Widerstandskraft des einzelnen Menschen, besonders des Menschen im Zustande der Entwicklung, gegen die Suggestionen von außen her, gegen die aufgedrängten Gefühle, Werturteile und Normen: die Selbsterhaltungskraft des angeborenen Menschentums, das an der eigenen Individualität wie an der Freude und dem impulsiven Ja zu allem Individuellen in allen anderen ringsum, am unbeschränkten eigenen Sein wie an der unbeschränkten Liebe festhält und seinen Widerstand der Vergewaltigung entgegensetzt wie der Verführung, dem ewigen und ringsgeschlossenen Druck zur Anpassung an die Anderen…

[…]

             Die freie grenzenlose Entwicklung des Menschentums, der Liebe und des Geistes setzt eine Ordnung der Welt voraus, welche in Allem und Jedem tödlich ist für die Angepaßten an jene andere Ordnung, // welche bis jetzt die herrschende ist und immer und überall tödlich war für Menschentum, Liebe und Geist… Es ist darum stets und ausnahmslos Lüge von vornherein, was immer gesprochen wird von allmählichem Übergang und Ausgleichung der Interessen, von Mäßigung und Vergleich – Lüge ist Alles und Jedes, in dem ein einziges gemeinsames Interesse des Revolutionären und des Angepaßten als existierend oder auch nur möglich vorausgesetzt wird.

             Was jeweils die Vermittlungspolitik erreichen kann, das ist allein ein Kompromiß von Interessen von absolut nur wirtschaftlicher Natur – mit ewiger Erhaltung des Unzulänglichen sogar auf diesem Gebiete selbst, mit definitivem Verzicht auf alle Werte des Lebens außer dem abgrenzbaren der reinen Zahl… Hier ist der Boden, auf welchem die Revolutionen sich auflösen, in Verhandlungen zwischen den Parteien, hinter welchen kein Unterschied steht von Mensch und Mensch: Verhandlungen zwischen verschieden Situierten, ohne Voraussetzung überhaupt mehr von verschiedenen seelischen Typen und deren verschiedenen Ansprüchen auf das Sein. –

             Noch nie hat eine kämpfende Partei sich einen Namen gegeben, so sehr als Ausdruck eines seelischen Typus geprägt und das gemeinsam psychologische Moment in allen ihren schöpferischen Charakteren bezeichnend, als der der »Höchstes fordenden« – das ist Derer ohne Kompromiß.

             In Jedem, dem der Kommunismus innere Berufung ist, wirkt ein lebendiger, ursprungnaher, von einer Jugendzeit der Menschheit her im besten Blut noch fortgeerbter Urgeist: ein unmittelbares Wissen vom Unterschied zwischen Mensch und Mensch: ein selbstverständliches dort ewig heimatlos und hier zu Hause Sein, dort losgelöst und hier ins Leben eingegliedert vom dominierenden Element im eigenen Innersten, der revolutionären Menschheitseele, die jedem Menschen solcher Art den Dienst des unbe-//schränkten großen Lebens zur Schicksalsbestimmung macht: ein reflektorisches Sich-Distanzieren von Allem Angepaßten, der Anpassung and das Inferiore, an Macht und Unterwerfung, Besitz, Gewohnheit, Tradition und Sittefähigen.

             Deswegen ist uns nichts so wesensinnerlich cerhaßt, erscheint uns keine je noch aufgestellte Politik so furchtbar korrumpierend und gefährlich als diese heutige des Kompromißes, dieser realpolitische Sozialismus der Vielzuvielen, der für das Proletariat und die Bourgeoisie mit einander den Boden gemeinsamer Anpassung herzustellen erraten hat – gemeinsamer Anpassung an den Geist des Bisherigen, um den Preis materieller Auskommensmöglichkeiten ein Mithinüberschleppen alles Wesentlichen aus der alten Ordnung: mit reduziertem Flügelschlag nun auch der kapitalistischen Ideen ein Realisieren von Durchschnittsmassen in Allem und Jedem, aber basiert wie früher auf die Selbstverständlichkeit von Macht und Vormacht zwischen Allen, um jeden Einzelnen herum die endlose Einsamkeit.

             Es ist diese Demokratie des »letzten Menschen«, die Nietzsche prophetisch vorhergesagt hat und vor welcher die Diktatur des Proletariats die Zukunft des Menschengeschlechtes erretten soll.

             Das Endziel alles Kommunismus ist ein Zustand, in welchem Niemand irgend eine Vormacht politischer, ökonomischer, autoritativer Natur über Irgendeinen erhalten kann. Wir wissen, daß es niemals eine Ordnung geben kann, die etwa garantierte, daß nur der seelisch Höhere über den niedriger Organisierten Macht bekäme; und würde eine solche Ordnung je gefunden, so brächte sie die Korruption der hohen Seelen… Allein die völlige Unmöglichkeit jedweder Vormacht Irgendeines über Irgendeinen gewährt die Sicherheit, daß nie ein Mensch, in dem der freie schöpferische Urgeist lebt, sich Elementen zweiten Ranges beugen muß. //

             Wir wollen die Macht den Machtlosen geben, den Räten der Armen, damit die Macht wieder ohne Sünde werde, ein Kollektivgefühl der Menschen miteinander und unpersönlicher Besitz des unpersönlichen Gesellschaftskörpers.

             Bis einst die Menschen noch einmal beginnen, als Ausdruck eines schrankenlosen Einander-Verstehens und ihrer Freude aneinander einen Turm in den Himmel hinauf zu bauen.

             Erst dieser Bau wird dann den Namen tragen dürfen: Kultur

In: Sowjet. Kommunistische Monatsschrift, Nr. 5, Nov. 1919, S. 1-5


[1] [Orig. FN] Neue Rundschau, Berlin, 1919/3.

N.N. [Originalbericht der Red.]: Die internationale Frau. Heimatgefühl und Chauvinismus. (1921)

Von Wien, vom Internationalen Frauenkongreß, dringt in diesen Tagen die Mahnung zum Frieden in die Well hinaus. Wie eine Festschrift zu diesem Ereignis wirkt da die kleine Broschüre, die Rosa Mayreder eben jetzt unter dem Titel Die Frau und der Internationalismus (Verlag Frisch& Ko) erscheinen läßt. Rosa Mayreder gehört zu Wiens ältesten, maßvollsten, aber auch klügsten und darum am meisten geschätzten Frauenführerinnen. Wenn sie mit ihrer blendenden Dialektik eine Sache vertritt, so versteht sie es meisterhaft, ihr Freunde zu gewinnen. Dafür bildet ihr neuestes Werkchen wieder einen unwiderleglichen Beweis. Auf kaum dreißig Druckseiten erörtert sie die Frage der veränderten Stellung der Frau in der Welt seit den Tagen, da rohe Kraft über die Vorherrschaft der Geschlechter und der Nationen entschied. Noch immer — schreibt sie — fühlen sich viele Frauen am wohlsten, wenn sie von starken Männerhänden geleitet werden. Das sind die konservativen, die „guten“ Frauen im althergebrachten Sinn. Aber halten die vielgepriesenen Qualitäten dieser Frauen der modernen Kritik stand? Dürfen Frauen einfach nachbeten, was ihnen seit Generationen, ja seit den Tagen, da die Macht des Stärkeren einzig Recht schuf, vorgesagt wird? Frauen haben die Pflicht, ihre Kinder zu modernen Menschen heranzuziehen, ihre Ausgabe ist es, den Heranwachsenden die Schlagworte einzuprägen, die ihnen als Eindrücke der ersten Kindheit unbewußt zu Richtlinien für das ganze Leben werden. Dürfen sie da heute im Zeitalter der durch den Krieg allerdings grausam gestörten, durch ihn aber noch stärker ins Bewußtsein getretenen Humanität an Schlagworten festhalten, die den Mord und die Zerstörung heiligen, ja letzten Endes ihren eigenen Kindern den Opfertod „auf dem Felde der Ehre“ zur Selbstverständlichkeit machen?

Die Liebe zur Heimat bildet den Ansporn, im Falle der Gefahr das Vaterland zu verteidigen, und zum Räuber und Mörder zu werden. Rosa Mayreder bringt nun den in der Zeit hochgehender nationaler Erregungen gewiß nicht zu unterschätzenden Mut auf, das Nationalgefühl von seinem natürlichen Ursprung bis zu seiner krankhaften Entartung zu beleuchten. Die Liebe zur Heimat wohnt nahezu in der Brust eines jeden normal empfindenden Menschen, sie ist auch tief begründet, denn der Mensch ist ein Produkt des Klimas, der Bodenverhältnisse, der Sitten und Gebräuche seines Landes, seine Sprache ist ihm heilig und sein Wunsch, diese Sprache, auch in seinen Kindern und Kindeskindern lebendig zu erhalten, erscheint nur zu begreiflich. Ein Heimatgefühl dieser Art wird jedermann achten, und er wird es vielleicht sogar verstehen, wenn die eine oder andere Nationaleigenschaft den Stolz der Volkszugehörigen eines gewissen Landes erweckt. Aber erwächst daraus das Recht, nur das gut, schön und edel zu finden, was der eigene Volkscharakter zeigt, und alles jenseits der Grenzpfähle mit überlegener Verachtung, ja mit latentem Haß zu betrachten, der bei jeder Gelegenheit aufloht? Entgegen der Ansicht aller glühenden Nationalisten, die dieses leicht mitreißende Schlagwort entweder selbst politisch ausbeuten oder ihm zur Beute fallen, betont die mutige Autorin, daß Nationalfanatismus nichts weiter als ein Produkt von Schlagworten ist, das in der modernen Kulturwelt längst keinen Raum mehr haben sollte. Die Kulturwerte der verschiedensten Nationen, ihre Dichtungen, ihre Musik, ihre Erfindungen und Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiet sind längst Gemeingut aller Gebildeten geworden. Die Schranken des Nationalismus wurden überall dort, wo es sich um geistige Werte handelt, aus dem Weg geräumt, bei aller  Anerkennung der Tatsache, daß bodenständige Kunst die wertvollste ist, und nur in der Politik kennt man noch den Nationalfanatismus als Hetzmittel. Er aber bewegt sich ganz in der Sphäre kriegerischer Werte, deren Überwindung die Frauenbewegung zum Ausgangspunkt ihrer Propaganda nahm. Man hat dann ihren Anhängerinnen und darüber hinaus dem ganzen weiblichen Geschlecht den Vorwurf gemacht, daß ihm der nationale Sinn fehle, alleinabgesehen davon, daß es leider sehr viele Frauen gibt, die nationalistischen Anschauungen huldigen, haben sich nicht auch viele Männer für den internationalen Gedanken eingesetzt? Goethe war der Ansicht, daß der Nationalhaß am stärksten auf der untersten Stufe der Kultur zu finden sei und von Grillparzer stammt der Ausspruch: „Von Humanität durch Nationalität zur Bestialität“ Das Zurücksinken der Menschen auf eine überwunden geglaubte Entwicklungsstufe ist das trostlose Charakteristikum der Gegenwart. Betrachten wir den durch den Nationalismus herbeigeführten Zustand der Welt, dann kann man sich eines Gefühls der Scham darüber nicht erwehren.

Aber gerade diese Gegenwart mit all ihren Schrecknissen bildet auch wieder den Antrieb für geistig hochstehende Menschen, // zu den Vorkriegsidealen der Humanität zurückzufinden uns den Nationalismus auf seine wohltuenden Einflüsse einzuschränken. Immer mehr befreit sich der moderne Mensch von Fesseln, die ihn und seinen Gesichtskreis einengten. Der Familienbegriff hat eine neue Form angenommen, insbesondere die erwerbende Frau spielt heute in der Familie eine neue Rolle, und wenn Rosa Mayreder auch vielleicht mit ihrer Behauptung, das Zusammen­gehörigkeitsgefühl durch Familienbande habe viel von dem einstigen Ansehen verloren, ein wenig zu weit geht, so ist es doch richtig, daß zumindest die Stellung der einzelnen Familienmitglieder zu einander anders geworden ist. Überall sind die Grenzen weiter gezogen, die Gemeinschaften der Angehörigen eines Standes oder einer Konfession schließen sich nicht mehr gegeneinander ab, und wer weiß, wie bald nach der jetzigen Überspannung des Nationalitätsgefühles auch hier der versöhnlichere Umschwung eintritt. In allen Staaten gibt es bereits Frauen, die diese neue Überzeugung vorbereiten, die nicht mehr im passiven Dulden zusehen wollen, wie die Menschen durch ihre Erziehung auseinander gehetzt werden. Noch weiß niemand, ob die Bestrebungen, den Krieg aus der Welt zu schaffen, von Erfolg begleitet sein werden. Jedenfalls aber wäre für den Weltfrieden viel gewonnen, wenn alle Frauen über die Frage des Internationalismus wie Rosa Mayreder denken würden. Achtung vor dem Nachbarn, nicht Haß gegen ihn soll die Menschheit erfüllen, dann entfällt jede Ver­anlassung zum Krieg von selbst.

In: Neues Wiener Journal, 16.7.1921, S. 3-4.

Hans Ankwicz-Kleehoven: Kunstausstellungen II (1924)

                           II.[1]

Die 23. Hauptausstellung des Albrecht Dürer-Bundes (Zedlitzhalle) überschreitet nur an wenigen Stellen die übliche, gut bürgerlichem Geschmack angepaßte Mittellinie. Eine dieser Ausnahmen ist die Kollektion des Bildhauers Josef Josephu, dem man das ehrliche Bestreben anmerkt, sich wirklich künstlerische Probleme zu stellen und sie in temperamentvoller Weise zu lösen. Vieles ist ihm dank seinem großen technischen Können gelungen, und es ist darum durchaus berechtigt, daß ihm heuer der Preis der Stadt Wien zuerkannt wurde; häufig aber fehlt seinen Plastiken die große, edle Linie, die man von echten Kunstwerken verlangt, und die auch bei stärkster Leidenschaftlichkeit nicht ganz verloren­ gehen soll. Seine Skulpturen scheinen alle auf Vorderansicht berechnet zu sein, in Kontur be­trachtet, büßen sie viel von ihrer Wirkung ein. Auch der Maler Anton Filkuka beschränkt sich nicht darauf, bloß gefällige Verkaufsware zu liefern wie die meisten andern. Sein Greisenbildnis hat einen Zug ins Große, sein Alter Lungauer mit Urenkel erinnert ein wenig an die farbenfreudigen polnischen Bauernbilder Vlastimil Hofmanns, seine Schneeschmelze und Verschneite Mulde sind prächtige Winterbilder und der pastos gemalte Grüne See in der Tatra zeugt von einer Zunahme an Energie, die wir in seinen früheren Arbeiten oft vermißt haben. Freilich dürfen die kräftigeren Töne, die er jetzt an­zuschlagen beginnt, nicht zum Aufgehen aller maleri­schen Feinheiten führen, die seine Bilder bisher auszeichneten. Gemälde wie die Wiesenkapelle und Partie aus Mauterndorf z.B. sind von einer banalen, grellen Farbigkeit, die keineswegs als Fortschritt zu werten ist. Fritz Lach‘s virtuose Aquarelltechnik bleibt stets auf gleicher Höhe und bietet immer wieder eine rechte Augenweide. Diesmal ist es neben Greiner und Kärntner Motiven namentlich eine Studie aus Torbole am Gardasee, die als Kabinettstück exquisiter Wasserfarbenmalerei gelten kann.  Von dem kürzlich verunglückten Rudolf Vodicka ist eine Kollektion von farbigen Zeichnungen und Ölbildern zu sehen, die den vorzeitigen Tod dieses begabten und strebsamen Malers herzlich bedauern lassen, Alexander Scherban vertieft sich nicht ohne Erfolg in die malerischen Reize eines Stahlwerkes, Hans Götzinger und Otto Elsner wissen allerlei Freundliches aus der Wachau zu erzählen, Gustav Feith hat, nicht am wenigsten durch fleißiges Zetsche-Studium, eine so große technische Fertigkeit erlangt, daß er nunmehr auf eigenen Füßen stehend, wie ein Tableau mit Aquarellen zeigt, ganz nette Leistungen zuwegebringt. Lea Reinharts in der Wiedergabe des Stofflichen vortreffliche Stilleben ermangeln zu­weilen der räumlichen Tiefe, Gertrude Danner-Dehne hat sich auf dem Gebiete der Hundedarstellungen spezialisiert und liefert in einigen Lithographien sehr ergötzliche Tierporträts. Auch Renate Tetmajer und Flori Scholl zeigen viel Geschick als Graphikerinnen, während uns die Radierungen Richard Lux‚ ziemlich enttäuschen.

*

Die Versorgung des Wiener Kunstmarktes mit moderner ausländischer Kunst lag vor dem Kriege durch lange Jahre fast ausschließlich in den Händen der Galerie H. O. Miethke, die durch ihre Aus­stellungen in der Dorotheergasse den Wienern die Be­kanntschaft mit verschiedenen neuen Kunstrichtungen vermittelte und sich namentlich um die Einbürgerung der nachimpressionistischen französischen Kunst in Wien (Van Gogh, Gauguin u. a.) nicht zu unterschätzende Verdienste erwarb. Nach dem Umsturz war es zunächst der Kunstsalon Würthle (Weihburggasse), der die bei dem Konservativismus der Wiener nicht immer dankbare Aufgabe übernahm, neben modernen einheimischen auch fremde Künstler zu propagieren, und in jüngster Zeit ist ihm in der Neuen Galerie (Grünangergasse) ein nicht minder rühriges Unternehmen an die Seite getreten, das ungefähr die gleichen Ziele verfolgt.

Im Februar konnte man in beiden Galerien Ver­treter jener gegenwärtig modernsten Kunstrichtung studieren, die sich selbst als „Konstruktivisten“ zu be­zeichnen pflegen. Im Würthleschen Parterrelokal hatte der Ungar Ludwig Kassák seine Versuche auf dem Felde der „Bildarchitektur und Raumkonstruk­tion“ als „Erste konstruktivistische Ausstellung in Wien“ zusammengefaßt und zum näheren Verständnis seiner Bestrebungen folgende Charakteristik// der dem Konstruktivismus vorangehenden Strömungen im Ausstellungslokal angebracht: „Expressionismus – Kubismus: Befreiung der Farb- und Formelemente vom Assoziationsbereiche der vergangenen Kulturepoche. Abstraktismus – Suprematismus:

Erfassung der befreiten Elemente. Konstruktivismus: Organisation der befreiten Elemente.“ Während ich mich bemühte, die Richtigkeit dieser Thesen, soweit dies überhaupt möglich war, an Kassáks zumeist aus geradlinigen geometrischen Formen und reinen Farben aufgebauten „Konstruktionen“ nachzuprüfen, hörte ich in meiner Nähe die Äußerung, daß Kassáks Arbeiten ausgezeichnet Plakate ergeben würden. Diese Bemerkung, die sich mit meinem eigenen ersten Eindrucke deckte, daß hier eine Begabung am Werke sei, die auf Grund einer mühsam aufgezäumten Theorie doch zu keinen anderen realen Effekten gelange als etwa der an konstruktiven Ideen so produktive Plakatzeichner Julius Klinger, war sicherlich richtig und rührt unwillkürlich an die Frage nach den schließlichen Ergebnissen der „gegenstandslosen Kunst“. Sind wir auch weit da­von entfernt, die außerordentlichen Anregungen zu verkennen, die wir in einer Zeit recht geistlos ge­wordenen Kunstbetriebes gerade den durchaus verstandesmäßig eingestellten radikalen Künstlergruppen verdanken, so müssen wir doch, wollen wir nicht in den törichten Fehler verfallen, sie allein wegen ihrer naturfeindlichen Haltung von vornherein abzulehnen, schon jetzt versuchen, uns über den faktischen künstlerischen Wert ihrer Leistungen ein unbefangenes Urteil zu bilden. Und da sind wir der Ansicht, daß diese „Konstruktivisten“ trotz aller tiefsinnigen und spitzfindigen Dogmatik, der sich die Anhänger der „abstrakten Kunst“ entgegen dem Goetheschen „Bilde, Künstler, rede nicht“, in so reichem Maße befleißen, für uns niemals mehr bereuten können, als ein bloßes Augenerlebnis, beziehungsweise ein interessantes Rechenexempel für den nachwägenden oder nachmesserischen Kunstverstand. Tiefere Wirkungen werden damit kaum zu erzielen sein, denn der Mensch denkt und fühlt nun einmal anthropomorph,

Menschliches läßt sich nur durch Menschliches wecken, mit Dreiecken, Rechtecken und Kreisen, Zylindern, Kuben und Prismen kann man niemand ans Herz greifen. Wohl aber wird uns der Kubis­mus, Kinetismus, Konstruktivismus und wie all diese jüngsten Richtungen sonst  noch heißen mögen, ein neues Form- und Raumgefühl, ein neues Farbenempfinden, vor allem aber eine neue Ornamentik bringen, die dem technischen Charakter unserer Zeit viel näher stehen wird als das bisherige, noch immer von der Antike oder der Renaissance beein­flußte naturalistische Ornamentik. Die Auswirkung dieser sehr wichtigen Errungenschaften wirb sich vorzugsweise dort zeigen, wo es sich nicht um „Gegenständliches“, sondern um formale, dekorative oder um Stimmungswerte handelt, wie im Kunstgewerbe, in der Bühneninszenierung oder in der Architektur. In der eigentlichen „bildenden Kunst“ werden dadurch vielleicht die Darstellungsmittel mancherlei Wandlungen erfahren, am naturgebundenen Inhalt der Malerei und Plastik aber wird wohl nicht viel geändert werden, da ja hier die Ewigkeitswerte nach wie vor den künstlerischen Verkörperungen reinen Menschentums vorbehalten bleiben, die in ihrer unmittelbaren Wirkung aufs Gemüt nicht durch „Konstruktionen“ zu ersetzen sind.

Im Hinblick auf das eben Gesagte haben wir auch die in der Neuen Galerie zur Zeit der „Russischen Kunstwoche“ von der „Gesellschaft zur Förde­rung moderner Kunst in Wien“ veranstaltete „Russische Ausstellung“, welche Arbeiten Wassili Kandinskys, E. Lissitzkys, Iwan Punis, Marc Chagalls, Elisabeth Epsteins und des Bildhauers Alexander Archipenko vereinigte, zwar ohne innere Ergriffenheit, aber doch mit angeregtem Interesse gesehen. Während Chagall in seinen Radierungen mit den Dingen seiner Umwelt ein geistreiches Spiel treibt, Archipenko in seinen Plastiken den menschlichen Körper auf eine möglichst einfache Formel zu bringen sucht, Kandinsky in seinen bunten Formphantasien augenblicklich eine Kombination von Picasso und Paul Klee anstrebt, ist Lissitzky Konstruktivist strengster Observanz und arbeitet seine komplizierten technischen Zeichnungen gleichenden Einfälle wie ein Ingenieur fein säuberlich mit Tusche, Lineal und Zirkel am Reißbrette aus. Nach der Flüchtigkeit expressionistischer Graphik muß man über die penible Ausführung dieser „Konstruktionen“ staunen und seine Verwunderung darüber aussprechen, wie rasch heutzutage ein Extrem dem andern folgt.

Gegenwärtig beherbergt die Neue Galerie eine ungemein reichhaltige Sammlung von Ölgemälden und Graphiken des berühmten norwegischen Malers Edvard Munch, dessen grandioser Pessimismus nur in August Strindbergs Werken eine Parallele findet. Wie ein dumpfes Verhäng­nis, wie ein unentrinnbares Geschick lastet es meist auf seinen Menschen, doch der hinreißende Schwung, der namentlich durch Munchs Lithographien und Holzschnitte geht, wirkt befreiend und erlösend. Es sind zum Teil frühere Arbeiten, die die Neue Galerie zur Ausstellung bringt, aber gerade aus ihnen läßt sich der große Einfluß ermessen, den der große Norweger auf die Entwicklung der modernen, insbesondere der expressionistischen Malerei und Graphik ausgeübt hat.

Kehren wir nochmals zum Kunstsalon Würthle zurück, um auch auf die übrigen Ausstellungen, die dort — ebenso wie in der Neuen Galerie — in etwas allzu kurz bemessenen Fristen stattfanden, einen raschen Blick zu werfen. Den bemerkens­werten Kollektionen der Maler Leopold Gottlieb und Fritz Groß, der mit großem Erfolge als Zeichner debütierte, sowie des begabten Bildhauers Jakob Löw reihte sich jüngst in den Atelierräumen eine Ausstellung französischer Impressionisten an, in der wohl alle signifikanten Namen von Manet bis Matisse zu finden sind, ohne daß sich jedoch die Bedeutung der ausgestellten Werke immer völlig mit dem Rang dieser Namen decken würde. Außer einzelnen Graphiken besitzen bloß eine gute Studie von G. Courbet und eine schöne Landschaft von E. Pissarro wirkliche Qualität, in den meisten anderen Fällen liegt der Wert des Bildes oder der Zeichnung vornehmlich in der Echtheit der Signatur. Dagegen verdiente die im Parterre untergebrachte Kollektivausstellung des Wiener Malers Carry Hauser, der uns hier eine Auswahl seiner letzten Aquarelle, Zeichnungen und Lithographien darbot, allgemeinere Beachtung, weil wir da Zeugen eines erfolgreichen Ringens künstlerischer Vervollkommnung wur­den, wie es uns in gleicher Intensität nicht häufig begegnet. Mit eisernem Fleiß, einem scharfen In­tellekt und einem ungewöhnlichen zeichnerischen und malerischen Talent begabt, hat sich dieser junge Künstler binnen wenigen Jahren einen ganz eigen­artigen Stil zurechtgezimmert, in welchem Lyrik mit Satire, Keuschheit mit Unmoral, Linie mit Form und Farbe in seltsamem Wechsel stehen. Die stark literarische Färbung seiner Kunst befähigt ihn in besonderem Maße zur Illustration, wofür die Ausstellung in einer Anzahl seiner Holzschnittbücher und Lithographienserien hinlängliche Beweise erbrachte. Auf Hauser ist vor einigen Tagen im selben Lokal eine Sammlung vorzüglicher Probedrucke Daumierscher Steinzeichnungen gefolgt, die noch durch einige Zeit der Besichtigung zugänglich sein wird.

[…]

Zum Schlusse noch ein Hinweis auf die Ausstellung „Phantastische Kunst“, mit welcher die Kristallgalerie (Währinger Straße 4) kürzlich in den Kreis der sich von Jahr zu Jahr ver­mehrenden Wiener Kunstsalons trat. Es war keine üble Idee, die dieser Veranstaltung zugrunde gelegt wurde: aus der Kunst verschiedener Epochen einiges von dem, was die Bezeichnung „phantastisch“ verdient, zu einem wirksamen Ensemble zu vereinigen. Daß diese Ausstellung keine lückenlose sein konnte, ist selbstverständlich, immerhin hätte man aber die zum Teil sehr interessanten und wirklich phantasti­schen Arbeiten Dagobert Peches, Richard Teschners, Oskar Laskes, Paul Scheurichs, Alfred Kubins, Julius Zimpels, Lotte Pritzels usw. zusammen mit den peruanischen Grabgefäßen, chinesischen Bronzen, persischen Miniaturen und modernen Keramiken zu einer viel einheitlicheren Gesamtwirkung bringen können, als es tatsächlich geschah. Allein für den Mangel einer entsprechenden künstlerischen Aufmachung entschädigt die Fülle reiz­voller Einzelobjekte, unter denen wir gerne auch die phantastischen Bilder Franz Waciks und Doktor Franz Sedlaceks gesetzt hätten.

In: Wiener Zeitung, 24.3.1924, S. 1-3.


[1] [Orig. FN]: Siehe „Wiener Zeitung“ Nr. 63 vom 15. März 1924.

Leo Feld: Demokratisches Theater (1919)

Daß unser Theater einer Revolutionierung bedarf, das ist eine Erkenntnis, die nicht erst diese bewegten und schöpferischen Tage ausgelöst haben. Man wußte es längst, daß die künstlerische Leitung unseres Theaters sehr fragwürdig geworden war. Gewiß, es ist noch immer dann und wann ein bedeutender Dichter und ein großer Schauspieler auf unserer Bühne anzutreffen. Aber man konnte bisher — in diesem Jahre sind freilich die beiden vornehmsten Schauspielhäuser neuen Leitungen unterstellt worden, aber die fortwährenden Hemmungen der Spielzeit haben diesen noch kaum Gelegenheit gegeben, sich künstlerisch zu betätigen – das Gefühl eines wesent­lichen Ungenügens nicht abweisen. Die künstlerische Gesinnung, die diese Leistungen führte, hatte etwas zeitfremdes. Wenn einmal Reinhardt nach Wien kam, fühlte man sofort, was uns fehlte. Es war eine andere Luft, in der diese Kunst gedieh. Aber eine Luft, die doch auch unsere geistige Atmosphäre war. Und ob dann ein Schauspieler besser oder schlechter war, das war nicht mehr wesentlich. Wenn sich bei uns moderne Kunstbestrebungen vor die Rampe wagten, dann geschah das vorzugsweise auf den kleinen Bühnen, die an der Peripherie unseres Theaterlebens lagen. Die Bühnen, die im Mittelpunkte des gesellschaftlichen Interesses standen, waren von diesem Geiste unberührt.

Und alles erobernd, verdrängend, überflutend, entfaltete sich die Operette. Sie ist die charakteristische Erscheinung des Wiener Theaters. Es ist nützlich, den Bedingungen ihrer beispiellosen Entwicklung nachzu­sinnen, weil sich hier vielleicht die Möglichkeit einer Gesundung unseres Theaters ergebe. Denn die Operette ist das demokratische Theater. Das Theater der breitesten Schichten. Daran sollte man heute nicht mehr zweifeln.

Ihre ungeheure Wirkung wurzelt vor allem im Musikalischen. Der Wiener, auch der musikalisch wenig gebildete, will und braucht Musik. In der Oper findet er sie heute nicht mehr. Das bedeutet nicht den leisesten Einwand gegen die Entwicklung der modernen Musik. Es liegt im Wesen der Kunstentwicklung — nicht nur der musikalischen— daß sie (im geistigen Sinne) natürlich) immer aristokratischer wird. Wir haben heute keine Gleichartigkeit des Geschmacks mehr; und so trägt eine hoch kultivierte Schicht die Kunst immer weiter, ihren immer subtileren, inneren Bedürfnissen gemäß. Und der Wiener, der musikalisch nicht mitschreitende, geht unbefriedigt aus dem Opernhaus. Er hört dort einfach nichts mehr. Die Musik der Operette aber füllt ihm Ohr und Herz. Daher ihr stetig wachsender Anhang. Dazu kommt, daß das Theaterbedürfnis in den unteren Schichten allgemein geworden ist. Wer früher zu den Volkssängern ging, besucht heute das Theater. Es gibt ihm doch mehr in seiner sinnlichen Fülle. Die Librettisten waren klug genug, diesen // populären Charakter der Operette zu verstehen und auszuprägen. Sie kamen der höchst bescheidenen Geistigkeit dieser — letztlich in allen sozialen Rängen heimischen — Bevölkerungsschichte sehr wachsam ent­gegen. Sie stellten keine Ansprüche an ihr Publikum. Sie gaben der Sehnsucht nach Belustigung, die Posse, dem Bedürfnis nach Rührung, die  sentimentale Komödie; das sind die beiden Elemente der heutigen Operette. Und so kamen Alle auf ihre Rechnung. Das Publikum, die Autoren und besonders die Direktoren.

Soll unser Theater wieder auf eine gesunde Grundlage gestellt werden, dann muß die Arbeit hier beginnen. Es ist sinnlos, von diesen breiten, der Unter­haltung bedürftigen Massen Interesse für die große Kunst zu verlangen. Das Burgtheater und das Deutsche Volkstheater haben ihre eigenen Aufgaben, auf die sie sich besinnen müssen und sicherlich auch besinnen werden. Hier handelt es sich zunächst um andere Bedürfnisse. Und bei dem Zusammenhang alles Geistigen wird die Erfüllung dieser Theatererfordernisse auch auf jenen höheren Kunstgebieten fühlbar werden.

Man muß das künstlerisch wenig vorgebildete Volk – denn um dieses handelt es sich hier, nicht um die kultivierteren Schichten – für ein ernsthaftes Theater zu gewinnen suchen. Den Weg zeigt die Operette. Eine einfache, im Volkstümlichen wurzelnde Komödie mit viel Musik, das würde diesen naiven Menschen Freude machen. Produktive Kräfte haben wir genug, die gerade auf diesem Boden Wertvolles leisten könnten. Ein Theater, ein wirkliches Volkstheater, würde sich wohl auch bald finden. Denn so eine musikalisch belebte Wiener Komödie würde ihr großes Publikum erobern.

Nur mißverstehe man mich nicht. Ich möchte den Verdacht vermeiden, als wollte ich dem „Volksstück“ das Wort reden. Das ist vorbei. Das ist endgültig tot. Umso mehr, je intensiver es in den Pro­grammen der Direktoren fortlebt.

Das Volksstück ist heute unmöglich geworden; und der Ruf nach ihm ist ebenso sentimental antiquiert wie etwa der nach der Postkutsche. Das Volksstück wurzelt in dem idyllisch gesehenen Milieu des kleinen Bürgertums. Idyllisch gesehen; denn es fühlt nur versöhnliche Gegensätze, die Ausschaltung des Tragischen ist direkt sein Wesen. Aber gerade diese idyllische Beleuchtung ist uns unerträglich geworden. Sie war wohl nie wirklich getreu; aber immerhin mag das Volksstück vor Jahrzehnten eine gewisse Wahrhaftigkeit besessen haben. Heute haben die großen sozialen Wand­lungen die Menschen und die Lebensweise jener Schichten so gründlich geändert, daß zwischen diesem Theater und unserer Welt keine Berührung mehr ist. Und daher kommt es auch, daß die Motive des Volksstückes sich immer wiederholen. Denn sie beruhen durchaus auf literarischer Tradition.

Die Komödie aber, die wir brauchen, sollte aus dem wir[k]lichen Leben geholt werden. Sie soll ihr Publikum dort ergreifen, wo es am empfänglichsten ist; wo seine eigene Erfahrung leicht eine Brücke zu der Welt der Bühne findet. Sie soll wahrhaftig sein; und der Charakter ihres Vortrages soll doch zu diesen künstlerisch ungeübten Menschen sprechen, Dazu bedarf es eben der Musik und aller sinnlicher Kräfte des Theaters.

Ich glaube durchaus nicht, daß damit der Operette ihr Publikum völlig entzogen wäre. Es liegt auch gar nicht in meiner Absicht, daß das geschehe. Es ist keine Frage, daß ein großer Teil des Publi­kums, das heute die Operettenhäuser füllt, an diesen musikalischen Volkskomödien keinen Gefallen fände; daß es aus einem blasierten und ermüdeten Teil des Bürgertums besteht, dem diese redliche, volkstümliche Kunst erst recht nichts zu sagen hätte. Um diesen Kreis kann es sich bei einer Neubelebung der Kunst des Theaters auch nicht handeln. Was zu erstreben wäre ist: den jungen unverbrauchten Kräften des Volkes die Nahrung zuzuführen, die sie reif und reich werden ließe; statt einer entwertenden, entseelenden, eine stärkende, innerlich aufbauende Art des Theaters ihnen zu bieten. Die komplizierten und anspruchsvollen Formen der Kunst sind ihnen zu entlegen. Und darum gebe man ihnen auf der Bühne das, was sie brauchen: Musik, sehr viel Musik, bunte Lebendigkeit des Theaters, einfache und geradlinige Menschlichkeit, die ihrem eigenen Wesen verwandt ist und sich in ernsten und heiteren Bildern ausprägt. Das wäre ein demokratisches Theater.

In: Die Frau, 22.1.1919, S. 1-2.

Oskar Ewald: Kulturperspektiven (1921)

Zu den am meisten gelesenen neuesten Büchern in deutscher Sprache gehört das Reisetagebuch eines Philosophen, dessen Verfasser Hermann Keyserling ist. Neben Spenglers Untergang des Abendlandes hat es wohl in Deutschland die stärkste und allgemeinste Wirkung geübt. Aber nicht allein aus diesem äußerlichen Gesichtspunkt des Erfolges werden beide Werke so häufig in Verbindung gebracht; es mangelt auch nicht an inneren Zusammenhängen. Beide stellen große Kulturperspektiven auf. Spengler spricht vorwiegend als theoretischer Geschichtsphilosoph, dem es freilich auch nicht an Phantasie und Intuition mangelt; Keyserling spricht in seinem Reisetagebuch aus unmittelbarer Anschauung. Keyserling, ein baltischer Graf, in dessen Familie einst Kant eine Hauslehrerstelle versehen hatte, ist in der philosophischen Literatur keine neue Erscheinung. Eine Reihe interessanter, wenn auch in vielen Punkte anfechtbarer Schriften ist bereits aus seiner Feder hervorgegangen. So: Das Gefüge der Welt, Unsterblichkeit, Schopenhauer als Verbilder, Prolegomena zu einer Naturphilosophie. Scheinbar hat sich Keyserling erst in seinem letzten Werk so recht gefunden. Auf der ersten Seite des zweibändigen Werkes lesen wir als Motto das geistreiche Paradoxon: „Der kürzeste Weg zu sich selber führt um die Welt herum.“ Sehr schön erzählt der Verfasser im ersten Kapitel, was ihn zu der Weltreise veranlaßt hat, deren Haupteindrücke er in tagebuchartigen Aufzeichnungen festhält.

„Seitdem ich erwachsen bin, bedeuten Eindrücke als solche mir wohl nichts mehr; mein Geist gewinnt nicht mehr durch bloße Stoffaufnahme. Dafür reagiert er jetzt als Ganzes verschieden, je nach den Umständen, innerhalb deren er sich befindet, und dieses Verschiedenwerden erschließt mir Seiten der Wirklichkeit, zu denen mir früher jeder Zugang fehlte. Dem Unwandelbaren kann die Welt, seitdem er erwachsen, allerdings nichts nützen. Je mehr der sieht, erlebt, erfährt, desto oberflächlicher wird er, weil er mit Organen, die bloß auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit zugeschnitten sind, nun vielen gerecht werden will und so notwendig falsche Eindrücke gewinnt; dem ist es besser, er bleibt in seiner Sphäre. Der Plastische hingegen, den jedes neue Milieu, dessen Eigenart entsprechend, verwandelt, kann nimmer genug erleben, denn er geht aus jeder Metamorphose vertieft hervor. – So trete ich denn eine Weltreise an. Europa fördert mich nicht mehr. Zu vertraut ist mir schon diese Welt, um meine Seele zu neuen Gestaltungen zu zwingen. Und dann ist sie auch zu beschränkt. Ganz Europa ist wesentlich eines Geistes. Ich will in Breiten hinaus, wo mein Leben ganz anders werden muß, um zu bestehen, wo das Verständnis eine radikale Erneuerung der Begriffsmittel verlangt, wo ich möglichst viel von dem vergessen muß, was ich ehedem wußte und war. Ich will das Klima der Tropen, die indische Bewußtseinslage, die chinesische Daseinsform und viele andere Momente, die ich gar nicht vorausberechnen kann, umschichtig auf mich einwirken lassen und zusehen, was aus mir wird.“

Es muß gesagt werden, daß die Erwartungen, die diese Sätze wecken, in dem Inhalt des Buches größtenteils ihre Erfüllung finden. Keyserling besitzt eine außerordentliche Gabe der Einführung, er besitzt jene Mischung künstlerischer Anschauung und philosophischer Reflexion, die ihn befähigt, vieles und verschiedenartiges zu erleben und sich zugleich über das Erlebnis Rechenschaft zu geben. Es ist staunenswert, wie er sich in die uns so fernen und fremden Atmosphären des Orients, Indiens und Chinas hineinzuversetzen vermag. Diese Begabung ist nicht völlig einwandfrei; man kann sich zuweilen des Eindrucks nicht erwehren, als entgleite einem in diesen unaufhörlichen Verwandlungen alles Feste und Allgemeingültige; als sei die Fähigkeit, so viele Milieus zu verstehen, so viele Kostüme zu wechseln, mit dem Preise einer einheitlichen, in sich gegründeten Persönlichkeit bezahlt. Gleichwohl ginge man fehlt, wenn man in dem Verfasser lediglich einen differenzierten Stimmungsmenschen, einen genialen Impressionisten sehen wollte. Er ist ein wirklich universaler Mensch, der um den Kern seines Wesens eine Mannigfaltigkeit von Lebensgeschichten zu bauen weiß, an denen alle mögliche Kulturen und Weltansichten ihren Anteil haben. Im Grunde aber bleibt er sich und seiner Welt treu. Vor dem Durchschnitt philosophischer Systembildner, in deren Spuren zu treten er verzichtet, hat er vieles voraus: vor allem das Vermögen, hinter die Systeme zu blicken, die Gesetze ihrer Bildung zu erforschen. Er weiß, daß der menschliche Geist ebenso wie die Natur zu reich ist, um sich auf eine Form, auf eine Methode des Denkens und Lebens festlegen zu können. Und er findet im Orient, zumal in Indien, eine Mannigfaltigkeit von Anschauungen, die bloß dem einseitigen Theoretiker widerspruchsvoll erscheinen, in Wahrheit aber jener tropischen Fülle der Natur entspringen, die sich im Innern wie im Äußern, in der Vegetation wie im Gedanken kundgibt. Daher die Toleranz, mit der die Inder selbst die verschiedenartigen religiösen und philosophischen Standpunkte gelten lassen. Sie sehen darin bloß Ausdrucksmittel oder Symbole, und was hat es für einen Sinn, sich dem Unergründlichen gegenüber an ein einziges Symbol zu binden? Wir sind im Abendland noch recht weit von dieser Weisheit entfernt; es hat Jahrhunderte gedauert, bevor sich die Idee der Duldung hier durchsetzen konnte. Man könnte sagen, daß Keyserlings Reisetagebuch ein wertvoller Beitrag zu der Literatur der Aufklärung ist, die auch heute noch keineswegs abgeschlossen ist; umsoweniger, als der Weltkrieg einen furchtbaren Rückfall in die Finsternis früherer Zeiten bedeutete. Hat doch in ihm die Unduldsamkeit, der mangelnde Sinn für fremde Art und Ausprägung einen Höherpunkt erreicht! Um so bedeutungsvoller erscheint es, daß jetzt Bücher die Öffentlichkeit beherrschen, die diese Enge der Perspektiven sprengen und ganz ins Weite einer Universalkultur streben. Spengler und Keyserling sind bei aller sonstigen Verschiedenheit hierin einig. Beiden erscheint die Kultur des Abendlandes nicht als die Kultur schlechtweg, sondern als eine mögliche Form neben anderen Möglichkeiten. Der Eigendünkel des Europäers erhält von ihnen eine gründliche Zurechtweisung und seine angemaßte Stellung im Mittelpunkt der Welt wird durch die Tiefe und Unerschöpflichkeit des Orients widerlegt. Wir können darin wohl ein Zeichen der Zeit erblicken. Hoffentlich ist dergestalt wenigstens in den Kreisen der Ernstzunehmenden endgültig nun jene Stimmung überwunden, die so intensiv den Krieg gefördert hat und einen besonders wirksamen Ausdruck in Chamberlains weitverbreiteten Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts erhält, einem Buch, das bekanntlich die geistige Produktivität als alleiniges Rassemerkmal der Indogermanen hinstellt. Bezeichnend genug hat der Verfasser in seinen Kriegsschriften diese Theorie noch mehr verengt und allen höheren Wert der deutschen Nation vorbehalten. Keyserling, der ursprünglich von Chamberlain ausging, ist weit über ihn hinausgewachsen; man kann sagen, daß er dessen Wegrichtung geradezu umgekehrt hat. Er besitzt viel mehr vom alten Klassizissmus nd bleibt der echten, ungefälschten deutschen Bestimmung, sich verstehend in fremde Art einzusenken, treu. Der mit der modernen Geistesgeschichte einigermaßen Vertraute weiß, wie innig sich hier auf Schritt und Tritt Eigenes mit Fremden verbindet. Seit der Renaissance bilden französische, italienische, englische und deutsche Kultur mehr und mehr ein untrennbares Ganzes, dem sich nunmehr auch der skandinavische und slavische Geist einzuschmelzen beginnt. Weniger bekannt ist der Anteil, den Ostasien besitzt. Längst, ehe die chinesischen und japanischen Malereien das Auge der europäischen Impressionisten entzückten – schon vom siebzehnten Jahrhundert an – waren Jesuitenmissionen im Fernorient tätig und lernten dort die gewaltigen Werke Laotses und Konfutses kennen. Ihre Berichte erregten in Europa viel Aufsehen und gewannen einen starken Einfluß auf die großen Schriftsteller der Aufklärung, zumal auf Montesquieu und Voltaire, in deren Werken wir zahlreichen Hinweisen auf chinesische Verhältnisse und Einrichtungen begegnen. Ein moderner, in England herangebildeter Chinese, Ku-Hung-Marg, hat in einer anregenden Schrifte Chinas Verteidigung gegenüber europäischen Ideen diesen Zusammenhang hervorgehoben und erwartet auch für die Zukunft eine wachsende Einflußnahme seiner Nation auf die Westkulturen. Er meint, daß die europäischen Versuche, in China Fuß zu fassen, zu diesem entgegengesetzten geistigen Ergebnis führen würden. Dies ist sicherlich einseitig geschaut, aber der Wahrheitsgehalt ist nicht in Abrede zu stellen. Die Harmonie zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen ist im fernen Orient besser verwirklicht als bei uns, weil der Pflege des Lebens dort eine größere Sorgfalt zugewendet wird. Hieraus ergibt sich ein besseres Gleichgewicht von Zivilisation und Kultur. So ist es begreiflich, daß in Zeiten allgemeinen Zusammenbruchs wir nach diesen so wesentlich anders gearteten Menschen und Lebensformen als nach neuen Vorbildern ausschauen. Das endgültige Resultat solcher Ausgleiche und Verbindungen läßt sich nicht annähernd vorausbestimmen; genug, daß sie vollzogen werden. Es besteht keine Gefahr, daß irgend eine Eigenart zu kurz komme. Es ist vielleicht nicht so sehr ein Sieg der Weißen über die Gelben oder umgekehrt zu befürchten, aber ein Sieg der Menschheitsidee, die bisher hinter jeder großen Leistung stand, zu hoffen.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.3.1921, S. 10.

D[avid] Bach: Das Arbeiter-Symphoniekonzert (1925)

Das letzte Konzert wurde mit der Aufführung eines neuen Sprechchors, Kerker von Fritz Rosenfeld, eingeleitet. Man muß sich wohl nicht erst verteidigen, daß in unseren eigenen Veranstaltungen ein Werk aufgeführt wird, das sich offen und ausdrücklich zu den Ideen des kämpfenden Proletariats bekennt. Unsere Konzerte heißen nicht bloß Arbeiter-Symphoniekonzerte, sondern sie wollen es auch im höchsten Sinne sein. Darüber also, daß insbesondere am 12. November ein Werk mit sozialistischer Tendenz aufgeführt wird, braucht man kein Wort zu verlieren. Wohl aber müssen die bei uns aufgeführten Werke, und das ist unser Stolz, nicht bloß durch ihre Tendenz, sondern auch künstlerisch gerechtfertigt sein. Der Sprechchor von Rosenfeld nun sucht innerhalb dieser noch ganz jungen Kunstgattung neue Möglichkeiten. Der Sprechchor als solcher ist geboren aus dem Bedürfnis, die Masse selbst zur tätigen Aktion auf der Bühne heranzuziehen. Die ganze Sprechchorbewegung hat natürlich ihre politischen und sozialen Ursachen und sie ist ganz besonders ein Kind der revolutionären Ereignisse des letzten Jahrhunderts. Künstlerisch begegnen sich hier zwei Entwicklungs­tendenzen. Die eine will zur Annäherung der Bühne an das Leben führen. Sie leitet sich aus dem verständlichen Wunsch her, auf dem Theater nicht bloß Angelegenheiten erörtert zu sehen, die dem Fühlen der großen Masse vollkommen fremd sind und fremd bleiben müssen. Die Gefahr eines Mißverständnisses liegt natürlich nahe. Nicht der Stoff, nicht die Handlung ist das, worauf es in Wahrheit in der Dichtung ankommt, sondern der Inhalt, das wahre Problem. Man könnte ein Stück ersinnen d solche werden leider auch oft genug geschrieben, das in Arbeiterkreisen spielt, jede der Figuren die dem Zuschauer wohlgefälligen Reden führen läßt und das trotzdem einem Arbeiterpublikum gar nichts zu sagen hat. Denn das revo­lutionäre Element der Kunst kann niemals vom künstlerischen ganz abgelöst werden. Auf der andern Seite ist es verständlich, wenn Gefühle der Masse durch die Masse selbst ausgedrückt werden. Der Chor des antiken Dramas, der mit Betrachtungen und Gefühlen die Handlung begleitet, wird hier selber der Träger der Handlung, Ausdruck eines Massenwillen und eines Massenschicksals. Die Masse als Held —das ist nicht mehr die Forderung einer nach neuen Stoffen greifenden Dramatik und ihrer ästhetischen Mode, wie es einmal der Naturalismus war, sondern es ist das einleuchtende Ergebnis einer Entwicklung, welche die Kunst im Zusammenhang des gesamten gesellschaftlichen Geschehens sieht. Damit gleichzeitig läuft das Bestreben, Theater und Theaterspielen schneller, als es den wirtschaftlichen Verhältnissen und Gesetzen entspricht, aus dem Zwange zu befreien und den lebendigen, wirksamen Kräften des Volkes zu nähern. Die Lust am Theaterspielen ist keineswegs bloß die Freude des Dilletanten, sie ist das unbewusste, darum doch sehr tiefe und sichere Gefühl: „Es geht um dich“ auch auf der Bühne; wenn der Zuschauer die Schicksale des Helden mitleidet – das ist der Sinn aller dramatischen Kunst –, dann möchte er erst recht auch darstellerisch der Held sein.

Die Versuchung liegt nahe, beim Sprechchor mit ein paar feststehenden Worten und typischen Wendungen auszukommen. Aber wie die großen Dichter des klassischen Altertums einem für sie alle gemeinsamen Stoff, der Götter- und Heldensage, jedes­mal einen neuen großen Inhalt abgewannen, so bliebe in der Gebundenheit des Sprechchors, selbst des streng sozialistischen Sprechchors, erst recht die bewegliche Kraft des Dichters zu erproben. Rosenfeld bemüht sich, von der Abänderung der Form zu neuem Inhalt zu kommen. Er versucht Chorwirkungen, legt großes Gewicht auf das Verhältnis der Gruppen zueinander, ja baut seine Sprechdichtung in verschiedenen Stufen gleichsam symphonisch auf. Weniger neu ist er in der sprachlichen Gestaltung seiner Absichten; hier wird mit den bewährten Mitteln einer poetischen Phraseologie das Auslangen gefunden. So hängt die Wirkung seines Sprechchors[1] wesentlich auch von der Begeisterung ab, die den Chor selbst trägt. Daran hat es der Sprechchor der Kunststelle wahrlich nicht fehlen lassen; sein Sprechen war erfüllt von Hingabe an die Sache des Werkes und der durch dieses ausgedrückten sozialistischen Idee, für das man der Leiterin Elisa Karau zu danken hat. Sie war auch die verständnisvolle Hauptsolistin kleinere Solostimmen waren mit tapferen und begabten Mitgliedern des Chors besetzt — des Sprechwerkes; daß die Solistin nicht gleichzeitig dirigieren kann, schon deshalb nicht, weil der Anblick stört, wird sich die Künstlerin für spätere Gelegenheiten wohl selber sagen.

Die Musik zu diesem Sprechchor hat unser Freund Paul A. Pisk beigestellt. Es ist keine Musik zu gesprochenen Worten, soll es nicht sein. Wenn einmal die Literatur der Sprechchöre ein gewisses Maß erreicht haben, wenn genügend Material und Erfahrungen aus den notwendigen Versuchen vorliegen werden, darin kann auch die Frage des Verhältnisses von Musik zu Sprechchor theoretisch geprüft werden. Augenblicklich scheint der Sprechchor an sich eine Abkehr von der Musik in Tönen zu be­deuten; will er doch gerade die Musik der Sprache mit den Mitteln der Sprache allein vernehmbar machen. Aber Massensprechen, rhythmisches, chorisches Sprechen stellt nun doch einen Übergang zur Musik dar. Friedrich Theodor Vischer, der berühmte Ästhetiker, hat deshalb in den Chören der Braut von Messina eine Vorahnung der Bestrebungen der deutschen Oper gesehen. Überdies haben von der Seite der Musik her die Künstler, trotz aller Warnungen der ästhetischen Theorie, niemals aufgehört, Versuche mit dem Melodram, der musikalischen Untermalung des gesprochenen Wortes, anzustellen. Dieses Problem wird von der Musik zum Kerker nicht berührt. Pisk beschränkt sich darauf, die Übergänge mit Musik zu füllen, die Szene an entscheidenden Punkten musikalisch anzudeuten. Er tut dies mit den einfachsten Mitteln, mit Geschmack und Können. So einfach diese Musik ist, so ist sie, um das Geheimnis zu verraten, doch „modern“; daß dies weiter gar nicht auffällt, sondern daß diese Art Musik als selbstverständlich empfunden wird, beweist, daß die Entwicklung der Musik eben ins allgemeine Bewußtsein eingegangen ist; man schreibt auch sonst heute die einfachste Begleitmusik anders als vor vierzig Jahren, die Tanzmusik ist anders geworden, die Salonmusik, die Hausmusik, die symphonische Musik — welche Frage also, ob der Arbeiter dafür „reif“ sei! Er hat auch hier nicht um die Erlaubnis gefragt, „reif“ zu werden…

Paul Pisk dirigierte auch die Musik zu Mozarts „Petits riens“, das sind „Nichtigkeiten“ oder besser „Kleinig­keiten“. Es ist eine Ballettmusik, deren textliche Grundlage verloren gegangen ist. Es lockte die Aufgabe, aus der Musik selbst das neue tänzerische Gebilde entstehen zu lassen. Die Hellerauer haben dies wahrlich verstanden. Mit Geist, Witz, Anmut und vor allen: mit musikalischem Verständnis ist hier eine Handlung ersonnen, die mit der Musik eine natürliche Einheit zu bilden scheint. Valeria Kratina, die Tanzdichterin,  Tanzkünstlerin und Führerin ihrer Gruppe, ist an erster Stelle zu nennen, dann die Damen ChIadek, Berg, Hougberg, schließlich alle anderen Mitwirkenden. Die von Emmy Ferrand entworfenen Kostüme verdienen besondere Erwähnung. Was die Musik selbst angeht, so steckt in diesem entzückenden Werkchen der spätere, größere Mozart. Einzelne Teile der Musik haben als Einzelstücke auch andre Verwendung gefunden, so die reizende Gavotte, oder das eine Hauptthema, das auch dem Bearbeiter der Grünen Flöte so gefallen hat, daß er es hinübernahm. Diese Musik wurde vorn Orchester ganz lustlos und unaufmerksam, auch technisch nicht einwandfrei, heruntergespielt. Es lag nicht am Dirigenten. Es wäre schlimm, am schlimmsten für das Orchester selbst, wenn in den Arbeitern jemals die Meinung entstünde, das Orchester glaube, sich manches gerade mit einem Arbeiterpublikum erlauben zu dürfen. Die Meinung ist auch sicherlich falsch; aber dann sollte das Orchester selber darauf Wert legen, solche Mißverständnisse zu unterdrücken.

Das Konzert enthielt noch eine zweite größere, auch umfangreichere choreographische, das heißt der tänzerischen Um­schreibung gewidmete Nummer, die Bilder aus einer Ausstellung von Mussorgsky. Es sind Klavierstücke (Paul Weingartner hat sie vor einigen Jahren zum erstenmal öffentlich in Wien gespielt), welche die Eindrücke einer Bilderausstellung wiedergeben. Es ist eine Umsetzung des Bildes in Musik. Ein Bild kann in Worten kaum umfassend beschrieben, schon gar nicht etwa durch ein Gedicht vollkommen ersetzt werden; wie sollte dies in Tönen, in der Form einer geschlossenen Komposition möglich sein? Dies meint der Komponist auch gar nicht. Denn die Aufbaugesetze, die formalen Notwendigkeiten eines Musikstückes sind andre als die eines Bildes; schon deshalb, weil dieses sich in der Gleichzeitigkeit einer Ebene, jenes aber in der Aufeinanderfolge der Zeit vollzieht. Wenn in beiden Fällen von „Komposition“ gesprochen wird, so ist jedesmal etwas andres gemeint, nämlich jedesmal eine andre Anordnung, eine andre „Zusammenstellung“, wie Komposition deutsch heißt. Bei der Umsetzung des Musikstückes in Tanz oder vielriehr in rhythmische Bewegung, Anordnung der Gruppen und so weiter, wird das Musikstück eigentlich wieder mehr dem Bild angenähert. Aber vor allem mit dem Unterschied, daß die Ebene des Bildes in den Raum der Szene übertragen, doch dabei der Rhythmus mit dem Rhythmus der Musik in Übereinstimmung [gebracht] werden muß. Diese schwierige Anfgabe hat auch hier Fräulein Kratina ausgezeichnet gelöst, sowohl schöpferisch wie, mit ihrer Gruppe als Tänzerin, als Nachschöpferin der eigenen Gedanken. Manche Nummern wurden geradezu bejubelt und mußtein wiederholt werden. Es erübrigt sich also auch hier die Frage, ob die Arbeiter, sich dafür interessieren; da entscheidet der Erfolg, geradeso wie im vorletzten Konzert die einfache Tatsache, daß ein Satz aus dem Violinkonzert von Prokofieff stürmisch zur Wiederholung begehrt wurde, die Frage nach der Berechtigung der modernen Musik im Arbeiter-Symphoniekonzert zumindest für diesen einen Fall erledigt. Kaum ein andrer Pianist hätte, übrigens, um auf Mussorgsky zurückzukommen, die Musik an sich den Hörern näher bringen können als Professor Friedrich Wührer durch sein technisch vollendetes, plastisches und farbenreiches Klavierspiel. Er wurde mit Recht durch Beifall und Hervorrufe geehrt.

Auch ohne Unterstützung der Szene behauptet die Musik zu Viel Lärm um Nichts von Erich Wolfgang Korngold ihren Rang und ihren Wert. Diese Musik ist manchem Arbeiter schon aus den Aufführungen des Burgtheaters bekannt; die sie im Konzert zum erstenmal kennen­lernten, erfreuten sich hier an der anmutigen Erfindung, an dem beweglichen Geist der Rhythmik, an der witzigen Instrumentation. Der Komponist dirigierte selbst und gewann die Hörer ohne weiteres trotz gelegentlicher Hindernisse des Orchesters; auch hier gab es Wiederholungen. Ein wahres Prachtstück bot Herr Korngold als Dirigent noch vor der Ouvertüre zu den Lustigen Weibern von Windsor von Nicolai. Der Schwung dieser in jeder Einzelheit durch­dachten Wiedergabe riß alle mit sich fort. Korngold wurde sehr gefeiert.

In: Arbeiter-Zeitung, 3.12.1925, S. 20.


[1] [Orig. FN] „Kerker“ ist im Verlag der Brüder Suschitzky, Wien, erschienen.

Max Winter: Die Zukunft Wiens (1918)

Es soll keine Vorhersage sein, kein trübe und keine rosige, nur einige Schlüsse aus dem Heute sollen gezogen werden. Wie wird Wien diesen Wandel der Dinge überstehen? Bisher Reichshaupt- und Residenzstadt, bisher der Mittelpunkt der 28 Millionen Seelen der österreichischen Völker, wirtschaftlich auch die Hauptstadt für die ungarischen Völker, wirtschaftlich der Kopf eines Körpers, den mehr als 50 Millionen Menschen bildeten, und nun die Hauptstadt Deutschösterreichs, heute, in den Tagen der tschecho-slovakischen Besetzungen, ein Staat, der kaum über mehr als sieben Millionen Menschen „gebietet“. Auf einen solchen kleinen Körper einen so riesengroßen Kopf aufzusetzen, den freudigsten Schönsehern muß solches zu denken geben. Gestern 50 zu 2, heute 7 zu 2, nach dem Frieden 10 zu 2. Wie sollen die zwei leben, wenn sie durch ihre Arbeit nun nur mehr für fünf oder höchstens acht alle Behelfe der Arbeit zu liefern haben, nicht mehr für achtundvierzig wie ehedem, und wie sollen die zwei leben, wenn ihnen nicht mehr achtundvierzig wie einst, sondern nur fünf oder höchstens acht den Tisch versorgen? Das ist das Zukunftsproblem Wiens, wie es nun aufgerollt wird.

            Wie sollen wir leben?

            Die Schwarzseher sagen einen Rückgang unserer Industrie und des Handels, der beiden lebenswichtigsten Nerven des Großstadtkörpers, voraus. Macht euch keine Sorge der augenblicklichen Wohnungsnot wegen, ihr werdet morgen Raum genug haben! Die Industrien, die bisher ganz Österreich-Ungarn, den Balkan, Südrußland, Polen versorgt haben, die werden morgen die große Floridsdorfer Fabrik nicht mehr behaupten können. Sie werden eine Fabrik in Prag, eine in oder bei Budapest, eine dritte in Agram oder Belgrad, eine vierte in Krakau oder Warschau errichten und von diesen Tochterfabriken aus ihre Kundschaft versorgen. Die Banken werden ihre Kapitalien in solchen ausländischen Unternehmungen unterzubringen suchen, die Wiener Zentralbüros großer Unternehmungen, die ihren Betrieb im Bereich der neuen Auslandsstaaten haben, wie etwa die Prager Eisenindustrie oder der Oesterreichische Lloyd, die Bahnen, wie etwa die Südbahn, werden ihren Hauptsitz nicht mehr in Wien haben, ja selbst die Staatsbahnen werden, den geänderten Verhältnissen Rechnung tragend, im nord- und südslavischen Reich große Direktionen haben, in Wien nur das Nötige für Deutschösterreich. Der Kaikaufmann, der heute nach Paris oder Nürnberg, nach der Schweiz oder nach Lyon fuhr, um dort für den österreichisch-ungarischen Markt einzukaufen, wird morgen nur noch die bescheidenen Aufträge für ein Fünftel der Kundschaft von gestern geben können und aus Prag, Krakau, Lemberg, Laibach, Agram und Budapest werden auch die Großkaufleute nach dem Ausland fahren, um Seide und Spielwaren, Hüte und Gewebe, Mode und Sportzeug dort zu kaufen, um die einheimische Kundschaft, die nun nicht mehr in Wien den Mittelpunkt des Handels sehen wird, die sich aus nationalen Gründen von Wien abwenden wird, zu befriedigen.

            Dazu die Rohstoffe. Woher die nehmen? Wieder nur aus dem Ausland. Vor allem die Kohle. Dann aber auch so vieles, was wir zum Fertigmachen brauchen, die Baumwolle, die Gewebe, die feinen Hölzer, die Metalle, ja selbst viele Werkzeuge und Arbeitsmaschinen. Wir sind ein armes Volk. Nichts als Holz, Eisenerz, Salz und ein wenig Kohle.

            Nicht einmal ernähren können wir uns selber, sagen weiter die Schwarzseher. Wie unsere Industrie noch vielfach auf niederer Stufe der Entwicklung ist, noch viel mehr gilt dies von der Landwirtschaft. Wir ringen dem Boden Erträge ab, die oft nur die Hälfte gut bewirtschafteter Böden darstellen. Wir brauchen Dünger, moderne Geräte, moderne Menschen vor allem in der Landwirtschaft. Die Erkenntnis, daß sich eines nicht für alle schickt, Körnerbau nicht auch für den Hörndlbauern, der in hohen Lagen haust, und Viehwirtschaft nicht für den Körndlbauern der Ebene, der keine Weiden hat. Jeder ist da Schuster und Schneider in einer Person. Und die Wirkung: Er bringt weder einen gut passenden Rock noch brauchbare Schuhe zusammen, weder ringt er dem Boden genug hohe Erträge ab, noch vermag er als Viehzüchter Tüchtiges zu leisten. Wie soll da Wien leben? Es wird aus dem ungarischen und polnischen Ausland das Schlachtvieh, aus dem serbischen Ausland die Schweine, aus dem polnischen und tschecho-slovakischen Ausland die Kartoffeln und aus Ungarn, Polen, Böhmen, Südrußland, Rumänien die Brotfrucht beziehen müssen.

            Selber wird es aber nichts zu geben haben als seinen Überschuß an Menschen. So reden sie: Nur keine Sorge wegen der Wohnungsnot. Es werden viele Fabriken stillstehen, der Kai wird veröden, die Büros werden entvölkert sein, der Überschuß an öffentlichen Gebäuden, an Amtshäusern aller Art, an Ministerien, an Kasernen, an Palästen der Reichen, die neue Vaterländer suchen, wird da sein – Wien wird bald einen Überschuß an Wohnungen haben, wie keine zweite Großstadt. In dem einzigen Kriegsministerialgebäude können alle Staatsmänner untergebracht werden, deren der neue kleine deutschösterreichische Staat wirklich bedürfen wird. Ihre räumliche Zusammenlegung wäre sogar ein Gewinn für die sparsame Wirtschaft, die uns so not tut. Sie würde Beamte, Papier und Tinte sparen, Kraftwagen und Arbeit der staatlichen Post. Wenn wir richtig wirtschaften, werden wir manche Sorge verringern. So die Schwarzseher.

            Ihnen stehen die anderen gegenüber, die mit dem felsenfesten Vertrauen zu Wien und seiner ihm innewohnenden Urkraft, die, die gern alles rosig sehen. Es wird schon gehen. Über das Wie denken sie nicht viel nach, aber sie sind überzeugt, daß es gehen wird. Wir haben die Donau, sagen sie, sie gilt es zu beleben, wir haben den Wienerwald, ihn gilt es in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, wir haben zur Not Kohle, aber Deutschösterreich hat nicht Wasserkräfte und wir haben vor allem kunstfertige Menschen, ein glückliches Gemisch – Schneiderinnen, die die schönsten Blusen bauen, Köchinnen, die böhmische Dalken, einen italienischen Risotto oder eine französische Tunke gleich gut treffen, wir bringen Künstler aller Art, Maler und Bildhauer, Schauspieler und Tonsetzer hervor, unsere Gelehrtenschulen genießen Ansehen, Schriftsteller von Rang wachsen auf Wiens Boden – Wien ist die geborene Kunst- und Fremdenstadt und Modestadt dazu. Ausgangspunkt für die Alpenreise, wichtigster Rastpunkt für die Balkanreise, nur nicht verzagen, wir werden bald über den Damm sein und dann wird ein neues Leben beginnen.

            Auch die, die so reden, haben recht, so recht wie die Schwarzseher. Es wird nicht alles gleich verloren sein. Das Beharrungsvermögen wird die Industrie für ihre Burgen kämpfen lehren, für die großen Fabriken, der große eigene Bedarf der Stadt und Deutschösterreichs, den der lange Krieg geschaffen hat, wird zunächst genug Arbeit für den eigenen Gebrauch bringen, die Übergangszeit wird verlängert und indes für Industrie und Handel doch wieder Zeit, abgerissene Fäden von neuem zu knüpfen oder solche, die zu reißen drohen, zu verstärken. Wer Zeit gewinnt, hat viel gewonnen. Was brauchen wir alles? Sehen wir uns heute unsere zerlumpten Eisen- oder Straßenbahnwagen an, die ausgefahrenen Geleise, den Bekleidungszustand der Menschen, ihren Wäschemangel, betrachten wir den Zustand unserer Straßen und allen Fuhrwerks, schauen wir in die Häuser und Wohnungen, in die Schulen, in die Spitäler und denken wir an den Wiederaufbau der eigenen Gesundheit – was gibt es da nicht alles für unendliche Arbeit für ein tüchtiges Volk? Sollen wir warten, bis andere diese Arbeit machen? Diese Arbeit schafft Werte, die Werte, auf die wir unsere Zukunft bauen können.

            Es ist jetzt ähnlich wie zu Beginn des Krieges. Auch damals dachten wir alle an große Arbeitslosigkeit, die lange andauern wird. Dann hat das begonnene und täglich mit neuen Schrecken fortgesetzte Zerstörungswerk alle Kräfte aufgesaugt. Nun gilt es den Wiederaufbau. Wieder Arbeitslosigkeit, wieder von drohend langer Dauer. Und doch ist der Wiederaufbau, wo wir hinsehen, nötig. Wir brauchen mechanische Kräfte. Schaffen wir sie uns, bändigen wir die Wasserkräfte! Wir brauchen Verkehr. Schaffen wir ihn, bauen wir Dampf- und Frachtwagen und Schiffe, walzen wir Schienen, tragen wir Steinbrüche ab und bauen wir Straßen. Wir brauchen Wohnungen. Halten wir Ausschau nach den freiwerdenden Amts- und Kanzlei-, Geschäfts-, Lager- und Kasernenräumen und suchen wir sie in Wohnungen zu wandeln. Nichts brachliegen lassen, alles nützen, sei es auch zunächst nur zur Not. Machen wir Wien zur reinsten Stadt des Weltteils. Lassen wir den Kehricht nicht liegen! Verwerten wir ihn besser als in unseren Lungen. Machen wir aus den Pulverfabriken von gestern heute Kunstdüngerfabriken. Helfen wir selber der Ernährung auf durch Zucht- und Mastanstalten, durch Milchwirtschaft und Feldbau. Beleben wir die Donau und die Teiche, die Alpenflüsse und Alpenbäche! Wo wir einen Schaden sehen, verschieben wir seine Ausbesserung nicht auf morgen und sorgen wir vor allem dafür, daß unsere Jugend durch ein neuaufgebautes Schulwesen, durch Lehrwerkstätten und Kunsthandwerkerschulen Gelegenheit finden zur Ausbildung der reichen natürlichen Gaben, die in dem glücklichen Wiener Gemisch schlummern. Sorgen wir für alles das und noch manches andere und wir werden für Millionen Hände Arbeit geschaffen haben. Wien braucht Arbeit! Lassen wir den Kopf hängen, dann wird es nicht gehen. Wer vorwärts kommen will, darf die Hände nicht im Sack haben oder sie verzweifelnd ringen.

            Zugreifen! Dann wird es gehen!

In: Arbeiter-Zeitung, 25.12.1918, S. 8.

Karl Renner: Das Urteil des Staatskanzlers über den Vertrag. (1919)

                Wenn man das gesamte Vertragsinstrument mit seinen 381 Artikeln durchgelesen hat, ist man erschüttert von der Tragweite der politischen Umwälzung, die durch den Vertrag für das Zentrum Europas bewirkt wird. Schwere Besorgnis erfüllt uns für die deutschen Alpenländer, die eine Schuld büßen müssen, von der ihre Bevölkerung nichts weiß. Freilich spricht, und das muß trotz alledem zum Lob des Vertrags gesagt werden, aus jeder Seite das sorgfältige Bemühen der Konferenz, der österreichischen Sphinx ihre Rätsel abzugewinnen und die verworrenen Verhältnisse halbwegs zu ordnen. Die Konferenz hat viel Fleiß auf den Vertrag verwandt, aber sie konnte, was nicht verwunderlich ist, dennoch die innersten wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht vollständig erfassen, noch hat sie in gerechter Weise die Übel und Lasten, die der Krieg zurückgelassen hat, auf die Nachfolgestaaten verteilt.

            Politisch und national sind wir schwer getroffen. Die von der Nationalversammlung unserem Land gegebene Bezeichnung Deutschösterreich entspricht den Tatsachen nicht mehr. Der Gedanke der Novemberrevolution, alle deutschen Siedlungen des alten Österreich auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes zu einem Staat zusammenzufassen, ist vereitelt. Unser Staat ist beschränkt auf die deutschen Alpenländer. Die vierhundertjährige Gemeinbürgerschaft der Alpen- und Sudetenländer ist zerrissen. Auch von den deutschen Siedlungsgebieten in den Alpen sind uns wesentliche Stücke vorenthalten. Der geheiligte Boden, das geschlossene Südland deutscher Zunge Südtirol wird dem italienischen Königreich unterworfen. Das urdeutsche Marburg, dessen deutschen Charakter die Antwortnote selbst hervorhebt, soll in Hinkunft seine Vertreter nach Belgrad schicken. Das kerndeutsche Abstaller Becken ist verloren. Das einzige Radkersburg verbleibt uns. Der Schmerz über diese Verluste kann nicht gemildert werden durch die Freude darüber, daß das Alpenvorland im Leithagebirge, nachdem es vier Jahrhunderte unter Fremdherrschaft stand, uns wieder zurückgegeben wird. Feldsberg bleibt verloren und der Gmündner Bahnhof ebenso. Die Nationalversammlung wird selbst darüber entscheiden müssen, ob trotz dieser Opfer dieser Vertrag unterzeichnet werden kann.

            National bedeutet dieser Vertrag für die Republik das schwerste Opfer. Sie büßt ihre Handlungsfreiheit ein und das mit elementarer Gewalt in den Novembertagen hervorgetretene Anschlußbestreben ist auf den schwierigen Weg von Verhandlungen mit dem Völkerbund verwiesen.

            Die deutschen Alpenländer werden politisch allein stehen. Wie können sie das? Die Entente gibt uns die Antwort: Wir schicken euch die Reparationskommission. Sie wird eure Lasten prüfen und eure Lebensnotwendigkeiten wahrnehmen. Sie wird bestimmen, wieviel Kohle ihr zum Heizen bekommt, wieviel Nahrungsmittel ihr aus dem Ausland zuführen könnt, wie ihr eure Schulden zahlen und wie ihr Kredite bezahlen sollt. Wir erhalten eine politische Souveränität, von der wir kaum Gebrauch machen dürfen, und dazu die vollständige ökonomische Oberhoheit der alliierten Großmächte, die sich in der Reparationskommission verkörpert. Über der Kommission steht dann als höchste Instanz der Völkerbund. Man ist versucht zu sagen: Das wäre wohl zu ertragen, wenn man nur wüßte, ob der Völkerbund bestehen wird und ob er so organisiert sein wird, daß er gerecht zu sein imstande ist. Wenn man nur wüßte, ob und welchen Plan die alliierten Großmächte haben, um unserer handgreiflichen wirtschaftlichen Unzulänglichkeit abzuhelfen.

            Jedenfalls ist für Deutschösterreich der Bestand und das Funktionieren des Völkerbundes ein Essentiale des Vertrages, mit dem auch dieser steht und fällt. Sehr erschwert haben sich die Mächte ihre Aufgabe und uns das Leben dadurch, daß sie uns für alle Sünden des alten Regimes zum Sündenbock gemacht haben und uns ein Übermaß von Kriegsschulden, nichttitulierten Schulden, Auslandsschulden, Valutaschulden und im Ausland befindlichen Banknoten aufgebürdet haben. Sie wollen den Ertrinkenden retten und belasten ihn zuvor mit einem Mühlstein. Offenbar rechnen sie mit dem Lebenswillen und der eigenen Kraft des Schwimmers.

            In der Tat ist unser Volk vor die furchtbarste Prüfung gestellt. Diese Probe wird uns entweder außerordentlich ertüchtigen oder dauernd verelenden. Sie setzt dem Sichgehenlassen, In-den-Tag-Hineinleben, den Herrgott einen guten Mann sein lassen und den sonstigen uns überlieferten „Nationaltugenden“ ein jähes Ende.

            Wir müssen uns zusammennehmen in einem doppelten Sinne, uns einheitlich organisieren, eine wirkliche Gemeinschaft werden im ganzen und alle Kraft einsetzen jeder einzelne. Dann kann es gelingen.

In: Neue Freie Presse, 4.9.1919, S. 1.

Joseph Roth: Das Jahr der Erneuerung (1918)

                Mit Geklirr und Geschepper verzieht sich dieses Jahr in die Annalen der Geschichte: mit seinem Zipfel schleppt es eine Menge metallener Straßentafeln nach. Als das Jahr einzog, gab man ihm eine Erkennungsmarke: das Jahr der Erneuerung. Aus den Tiefen heraus wollte sich der Mensch der Revolution erneuert haben. Er tat sein schwarzgelbes Portepee ab und wickelte um das Bajonett, das er behielt, ein rotweißes. Dann fiel er auf die Knie und sang beim Hochamt der Demobilisierung sein: De Befundis. Der Fortschritt setzte sich in die Automobile der Generalstäbler und in die Equipagen des Hofes. Autos und Equipagen entführten den Fortschritt. Das weibliche Geschlecht rückte aus der Kategorie der „Hilfskraft“ in die Region der Gleichberechtigung empor und durfte durch Versammlungsbesuch und Stimmabgabe bei den Wahlen in die Nationalversammlung seine politische Überzeugungslosigkeit ebenso geltend machen wie der Mann. Der „Umsturz“ hatte sich so vollzogen, als ob er durch einen Erlaß des Chefs für Ersatzwesens fürsorglich vorgeregelt worden wäre. Er stürzte eigentlich gar nichts: der Thron verfiel wie eine morsche Sitzbank in einem vernachlässigten Park; die Monarchie löste sich auf wie ein Zuckerwürfel im Wasserglase. Als kein Kaiser mehr da war, entdeckte man die Republik. Da man nicht mehr loyal sein konnte, wurde man revolutionär.

Dennoch war die Revolution eine Notwendigkeit. Die Geschichte ging schon lange schwanger mit der Revolution. Hinter den Goldtressen des Byzantinismus stank die Verderbtheit. Kulissen aus Phrasen und Lakaien verbargen den Dreck, der sich durch Jahrhunderte im Augiasstall des „Hofes“ aufgehäuft hatte. Die Revolution mußte geboren werden. Aber da stolperte die Geschichte über die Drahthindernisse des Weltkrieges. Durch die Erschütterung geschah die Frühgeburt der Revolution.

Diese, ein frühgeborenes Kind, muß in Wärmestuben und Kliniken mühsam aufgepäppelt werden. Denn wir, wir, das erbärmlichste Geschlecht, haben sie gezeugt. Jedes Geschlecht hat die Revolution, die es verdient. Die unserige, schwach, engbrüstig, kam in die Kinderklinik der Koalition. Und selbst das wäre noch nicht einmal so schlecht. Aber wir haben in jener Klinik keine Ärzte. Und die Revolution stirbt zwar nicht, aber sie lebt auch nicht, sie ist ein gutes österreichisches Kind und „wurschtelt sich fort“.

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Erneuerung! Erneuerung! Wo, frage ich, seht ihr Erneuerung? Ist das Erneuerung, wenn die Burgmusik um die Mittagsstunde statt zur Burg, zum Staatsamt für Heerwesen zieht? Wenn ein Minister Staatssekretär heißt? Wenn der Briefträger nicht „Diener“ mehr, sondern „Unterbeamter“ ist? Reißt ihm doch die Knechtseligkeit aus seiner armen, gemarterten Brust und er mag heißen wie er will, er wird kein Diener sein! Gebt dem armseligen Hirn des Staatssekretärs Weitsichtigkeit und Vernunft und laßt ihn nur Minister heißen! Laßt ab vom öden Geschepper der militärischen Tschinellen, laßt Beethoven spielen und verwendet eure Janitscharenkapelle zu Türstehern in Kunsttempfeln! Aber die Kesselpauke ist mächtiger als der Fiedelbogen. Im Lärm und Gepolter der Gosse, der ihr dient, geht die Stimme der Kultur verloren, der ihr zu dienen vorgebet!

Erneuerung! Ist der Befundmensch in Euch schon verloren gegangen? Ihr habt keine Furcht mehr vor dem General? Ihr steht nicht mehr beim Rapport? Ihr seid die Befreier vom Militarismus? Ihr prediget Menschenrechte?

Oh, der Streit um die Auslieferung von Kun und Levien, Fremdenrazzien und Abreisendmachungen, sind das die Erfolge Eurer Predigten über Menschenrechte? Militarismus der Geister, ist er nicht schändlicher, als der der Leiber? Habt Ihr keine Angst vor dem Arbeiterrat? Steht Ihr nicht täglich beim Rapport vor der Partei?

                                                           *

Es ist keine Erneuerung, so lange nicht Einkehr ist! Wir müssen uns befreien vom Schwert des Militarismus, das über uns hängt. Die Waffe hat Gewalt gewonnen über die Faust. Werfen wir sie weg, die Waffe. Der Polizist hat seinen Helm abgelegt, aber Polizei ist noch da. Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben. Der Zweck heiligt nicht die Mittel! Die Mittel profanieren den Zweck!

So ist es denn kein Jahr der Erneuerung gewesen. Höchstens ein Jahr der Neuerungen. Gerngroß hat seine weiße Woche. Der Kramladen der Geschichte hat zuweilen sein Jahr der Novitäten.

In: Der neue Tag, 12. 11.1919, S. 3.

N.N.: Die Organisation der Volkswehr (1918)

                Von morgen Montag angefangen werden in allen Wiener Kasernen Werbekanzleien eröffnet, um die Anmeldungen zum freiwilligen Eintritt in die Volkswehr entgegenzunehmen.

            Wer seinen Eintritt anmeldet, ist aller anderen Verpflichtungen innerhalb seines bisherigen Truppenkörpers entbunden und rückt sofort in die ihm von der Werbekanzlei bezeichnete Dislokationen ein.

            Die Angehörigen der freiwillig Eintretenden bleiben in Bezug ihrer Unterstützungen; auch ihre eigenen durch den Besitz von Tapferkeitsmedaillen erworbenen Rechte und Bezüge bleiben gesichert.

            Nach vollzogener Demobilisierung kann jeder freiwillig in die Volkswehr eingetretene Soldat wieder aus der Körperschaft austreten. Solange die Demobilisierung nicht vollzogen ist, gilt die eingegangene Verpflichtung für die Dauer von drei Monaten und kann dann wieder erneuert werden.

            Für die Aufnahme können nur körperlich rüstige Männer in Betracht kommen. Die in der Volkswehr tätigen Bürgersoldaten erhalten ohne Unterschied des Chargengrades sechs Kronen tägliche Löhnung und auskömmliche Menage, bestehend aus Frühstück, Mittagsmahl und Nachtmahl. Chargen, die als Schwarmführer oder Zugsführer Unteroffiziersdienst leisten, erhalten eine Zulage von einer Krone.

            Die Volkswehr wird sich in Bataillone zu je drei Zügen gliedern. Die Dienstführung bei den Unterabteilungen wird von den Soldatenräten überwacht und gegen jede Willkür gesichert werden. Dienstlichen Befehlen muß natürlich unbedingter Gehorsam geleistet werden. Befehle aber, die Vorgesetzte augenscheinlich in ihrem privaten Interesse erteilen, sollen dem Soldatenrat als Beschwerde gemeldet werden. Es wird dafür gesorgt, daß die ganze Dienstordnung bei der freiwilligen Volkswehr auf eine demokratische Grundlage gestellt wird, die jede Ausschreitung und Willkür der Befehlsgewalt ausschaltet, aber andererseits gute Disziplin verbürgt, die sich vor allem auf das Solidaritäts- und Pflichtgefühl aller freiwilligen Volkswehrmänner zu gründen haben wird.

Die Präsidenten des Deutschösterreichischen Staatsrates

                        Dinghofer                              Hauser                                                Seitz

In: Arbeiter-Zeitung, 3.11.1918, S. 1.

In: Neue Freie Presse, 3.11.1918, S. 5.

In: Deutsches Volksblatt, 3.11.1918, S. 6.