N.N.: Die schwarze Tänzerin (1928)

Wie in anderen Großstädten der Welt, wie in Newyork, London, Paris, Berlin so hat sich auch in Wien die leichte und lockere Kunstgattung der Revue eingebürgert. Eigentlich ist die Bezeichnung „Kunstgattung“ nicht ganz am Platz, denn in der Regel hat die Revue mit Kunst im ernsten Sinne des Wortes nichts zu tun. Sie dient, anders als früher die Operette, die ihre Musik Meistern wie Offenbach, Millöcker, Johann Strauß verdankte, ausschließlich dem Zerstreuungsbedürfnis abgehetzter Großstädter, nervöser Menschen, die auch schon des Zwanges, der Handlung einer Operette zu folgen, überdrüssig sind.

Die Revue besteht aus lose aneinandergereihten Szenen, die kein Handlungsfaden verbindet, aus Musik, Tanz und Scherz, aus prächtigen Kostümen und Dekorationen, aus  gutgewachsenen, zumeist wenig bekleideten jungen Mädchen. Sie ist eine Art Potpourri, ein lustiges und bewegtes Allerlei.

Man hat sich in Wien an diese Revuen gewöhnt, hat sie als leichte Zerstreuung schätzen gelernt; niemand ist es bisher eingefallen, an ihnen ernstlich Anstoß zu nehmen. Es bestand gewissermaßen ein Abkommen zwischen den Veranstaltern der Revuen und dem Wiener Publikum daß, wer Lust hatte, sich die Revuen anzusehen, eben hinging; und wer keine Lust hatte, eben zu Hause blieb. Die Direktoren der Revuetheater fühlten sich zu keinerlei besonderer künstlerischen oder volksbildnerischen Leistung verpflichtet wie etwa die Direktoren unserer ernsten Sprechtheater oder musikalischen Bühnen und das Publikum forderte von ihnen keinerlei höheres Verantwortungsgefühl. Man betrachtete das Revuetheater als eine Stätte sorgloser Unterhaltung als eine Art musikalischen Varietes und wußte genug, welche Art Darbietungen einem dort vorgesetzt würden.

Nun soll von heute abends an in Wien eine Revue gespielt werden, gegen die mancherlei Widerstände Klagen und Angriffe laut wurden. Von anderen bisher gespielten Revuen unterscheidet sich diese neue nur insofern als darin die berühmte Josephine Baker, eine dunkelhäutige Amerikanerin, die Hauptrolle spielt. Man kann oft lesen oder hören, Josephine Baker sei eine Negerin. Das ist sie nun nicht; sie ist vielmehr die Tochter eines Weißen und einer Negerin, also eine Mulattin. Aber wenn sie selbst eine Negerin wäre, bestünde noch immer kein Grund, ihrem Wiener Gastspiel feindselig zu begegnen In allen Großstädten Europas hat Josephine Baker, die sehr hübsch und eine begabte Tänzerin ist, Triumphe gefeiert. Seit Jahren dringt von überall her die Kunde nach Wien, welch besonderer Reiz von dieser jungen Mulattin ausströmt, wie anmutig ihr Spiel auf der Bühne ist. Seit ebenso langer Zeit sind viele Wiener begierig, das Wunder // selbst zu sehen, und da ja die meisten nicht in der Lage sind, nach Paris oder Berlin zu fahren, um Josephine Baker zu sehen, freuten sie sich, als sie nun endlich auch nach Wien kam. Jetzt ist sie da, und unbegreiflicherweise ist der Empfang, den ihr Wien zuteil werden läßt, alles eher als freundlich. An verschiedenen Stellen wird über die „Negerschande“ geschimpft, die unsere „weiße Kultur bedrohe“. Man läuft gegen dieses junge Mädchen Sturm, als wäre ihr Auftreten auf einer Wiener Bühne wirklich geeignet, etwa den Respekt vor den Leistungen dies Burgtheaters zu verringern.

Wäre Österreich ein Land mit großem Kolonialbesitz in den Tropen, mit vielen unterjochten, farbigen Völkern, so könnte man diesen Widerstand gegen das Auftreten einer Farbigen auf einem Wiener Theater, wenn auch nicht billigen, so doch begreifen. Amerikaner und Engländer züchten in sich die Verachtung andersfarbiger Völker hoch, weil nur dieser Glaube an ihre Überlegenheit über Fremdfarbige in den Angelsachsen selbst und in den beherrschten Kolonialvölkern das Bewußtsein aufrechterhält, daß sie, die Angelsachsen, von der Natur zum Herrschen und Beherrschen geschaffen sind. Österreich aber hat keinerlei Kolonien und daher nicht einmal diesen Scheingrund, auf irgendein Volk der Erde hinabzuschauen. Für den Österreicher kann die Mulattin, könnte auch eine Negerin ein Mensch wie jeder andere sein.

Es ist nichts als provinzlerische Wichtigtuerei, wenn man dem Gastspiel der Josephine Baker mit politischen, mit rassen- oder kulturschützlerischen Argumenten an den Leib rückt Unserer Kultur kann das Gastspiel der Josephine Baker nichts anhaben. Ihre hübschen Lieder zu hören, ihre anmutigen Bewegungen und ihren reizvollen Tanz zu sehen, kann der Laune mißmutiger Wiener nur nützen. Darum wollen wir jedem, der sich von dem Anblick der Josephine Baker Ärger erwartet, den einfachen Rat geben, zu Hause zu bleiben und jenen, die sie sehen wollen, das Vergnügen nicht zu stören.

Aus: Illustriertes Wiener Extrablatt, 1.3.1928, S. 1-2.

Ludwig Hirschfeld: Herr ohne Beschäftigung (1933)

Ein Zeittypus, der zuviel Zeit hat.

Hat es draußen nicht schon wieder geläutet? … Bevor man noch durchs Guckloch sieht, weiß man, wer vor der Tür steht. Eine Gestalt, die den traurigen Refrain dieser Zeit aufsagt: Arbeitslos, ausgesteuert, bitt’ schön, gnä Herr. Manche flüstern bloß oder strecken stumm die zur Bitte verkrampften Hände vor… Eingelernte Pose, routinierte Berufsbettelei? Kann auch sein. Aber bis einer so weit kommt, daß er vor jeder Tür diese Verzweiflungspantomime aufführt, wieviel echte Verzweiflung muß er vorher zur Abhärtung durchgemacht haben… Auf der Straße ist der Elendsbetrieb noch intensiver. Hier flüstert er nicht, hier singt und musiziert er an jeder Ecke und im Stadtbahnzug heischt er die täglich kleiner werdende Kleinigkeit mit der Mundharmonika. Und wenn man spät abends nach Hause geht, dann schleicht einem im Dunkeln eine Stimme nach: „Nur fünf Groschen…!“ Und je geringer der geforderte Betrag, desto drohender wird die Stimme…

Arbeitslosigkeit… das ist die sichtbare, die demonstrativ zur Schau getragene Not primitiver Menschen. Es gibt aber auch eine andere, eine unsichtbare und diskrete Not im guterhaltenen Rock. Keine Arbeitslosen im Sinn des Gesetzes, nur Beschäftigungslose, die noch etwas haben und dennoch arme Menschen sind. Denn wir arm einer heute ist, das hängt ja nur davon ab, was er gestern war und hatte. Was war er gestern? Fabrikant, Kaufmann, Bureauchef, Ingenieur. Und heut ist er ein Herr ohne Beschäftigung. Noch immer, so lange es geht, ein Herr, und das ist eben die Verschärfung. Ein neuer, täglich häufiger werdender Typus dieser im Unproduktiven so produktiven Zeit. Der Herr ohne Beschäftigung ist gewöhnlich ein Mann zwischen vierzig und fünfzig. Also jenes Alter, das man in besseren Zeiten die // besten Jahre genannt hat. Jetzt sind es die miserabelsten Jahre, rüstig, arbeitsfähig, in seinem Beruf erfahren und tüchtig und plötzlich von einem Tag auf dem anderen ausgeschaltet, kaltgestellt. Ein Müßiggänger wider Willen, ein Ruhestand ohne Ruhe. Denn wenn man auch einige hundert Schilling Pension, Rente oder Zinsen hat, daß es auf Wohnen, Essen, auf Kaffeehaus und Zigaretten reicht – ist das ein Leben, wenn man gerade zu leben hat? Die Illusion, die man anfangs hatte, ist längst zerstört: die berühmte Nebenbeschäftigung, die gelegentliche Arbeit. Unmöglich, als Mann in den besten Jahren irgend etwas zu finden, auch nur etwas gering Bezahltes, wo die Jugend keinen Platz findet und graue Schläfen die schlechteste Empfehlung sind. Jeder von uns kennt diesen Herrn ohne Beschäftigung in so und so vielen Exemplaren. Man begegnet ihm auf der Straße, im Stadtpark, im Prater und er wird uns nie etwas vorjammern, weil er sich ungern in sein Schicksal hineinblicken läßt. Und es wäre doch ganz interessant, sich diesen Zeittypus, in den jeder von uns sich vielleicht schon morgen verwandeln kann, einmal näher anzusehen. Wie er seinen leeren Tag ausfüllt, womit er sich in seiner ziellosen Beschäftigungslosigkeit beschäftigt. Suchen wir einige leichtere und schwerere Fälle auf und geben wir ihnen, da sie sonst nichts annehmen, eine kleine Gabe von Verständnis und Mitgefühl. Wie meinen Sie: Warum sich die Sorgen der anderen machen? Noch immer besser, als die eigenen…

Der muntere Großpapa.

            Er ist noch lange nicht im richtigen Großvateralter. In diese Würde ist er vorzeitig hineingeraten, weil er so jung geheiratet hat: mit vierundzwanzig. Und die erste Tochter war auch schon mit neunzehn Mama, so hatte er Ende Vierzig bereits eine kleine Enkelkollektion. Aber wenn man fortwährend im Beruf steckt, fortwährend geschäftliche Sorgen hat, das erhält irgendwie jung und elastisch. Aus jeder Krise, aus jedem Ausgleich schien der Herr Präsident der Familien A.G. um soviel Prozent fescher hervorzugehen, als die angebotene Quote betrug. Bis plötzlich nichts mehr auszugleichen war, weil es nur noch Passiven gab. Schluß mit dem ganzen Werkel, Liquidation durch eine Bank gegen eine bescheidene Abfertigung. Kein fescher Präsident mehr, der mit seinen gemütlichen Scherzen über die ungemütlichen Aufsichtsratssitzungen hinwegkam, sondern ein Privatier. Genauer gesagt: ein Großpapa im Ausgeding. Denn natürlich muß er jetzt bei der verheirateten Tochter wohnen, was schon in wirtschaftlicher Hinsicht das beste für ihn ist. Aber wie wird es das aushalten, was wird der unruhige alte Herr den ganzen Tag anfangen? Ein Mensch, dem man plötzlich die jahrzehntelange Geschäftigkeit und Tüchtigkeit weggenommen hat. Er hat wenigstens immer so getan, ununterbrochen präsidiert, konferiert, disponiert. Immer war er Mittelpunkt und jetzt soll er sozusagen bescheiden im Winkerl stehen – das muß doch einen gesunden Menschen vor der Zeit alt und krank machen. Diese Familienbesorgtheit hat der Großpapa rasch und gründlich widerlegt. Er nimmt sich seinen finanziellen und kommerziellen Sturz nicht übermäßig zu Herzen. Man kann nicht einmal behaupten, daß ihm die gewohnte Arbeit fehlt. Seitdem er unterbeschäftigt ist, hat er nämlich enorm viel zu tun, bedeutend mehr als früher. Frühstück, Zeitungslektüre, Rasieren und Bad erfordern allein schon zwei Stunden. Auch Gutangezogensein ist ein Ding, das Weile braucht. Die Schuhe dürfen je nach der Tagestemperatur nicht zu leicht, nicht zu schwer sein, die Krawatte muß zur Bewölkung passen. Spaziergang mit dem Hund, Bekannte treffen, ihnen wertvolle Ratschläge geben, damit vergehen auch wieder zwei Stunden. Höchste Mittagszeit, zu der er nicht nur den kräftigen Hunger des Unbeschäftigten mitbringt, sondern auch eine Fülle von Lebensweisheit. Beim Tischgespräch, da kann er wieder nach Herzenslust präsidieren und disponieren, indem er die schwebenden Angelegenheiten mit folgenden Sätzen löst: „In einem solchen Fall hätte ich… Ich würde ganz einfach… Du kannst dem Kerl von mir sagen…“ Worauf er sich befriedigt zurückzieht, zum Leihbibliotheksschlaf mit Radionebengeräusch. Ab sechs Uhr ist er hauptsächlich guter Vater und Großvater, indem er die Tochter beim Wirtschaftsbuch und die Enkel bei den Aufgaben stört. Manchmal versucht er in Arithmetik zu helfen, aber es ergeht ihm genau so wie bei seinen Bilanzen: ein Rechenfehler nach dem anderen. Allen Versuchen, ihn durch Aufträge oder Wege irgendwie zu beschäftigen, weiß er sich durch den Hinweis auf einen plötzlichen Rheumatismus oder Schnupfen geschickt zu entziehen. Auch seine Vertretung der Eltern beim Sprechtag im Gymnasium hat sich nicht bewährt, da er die Professoren durch sein eigenes Beispiel davon überzeugen wollte, daß Lernen ganz überflüssig sei, um es im Leben zu etwas zu bringen. Seine Enkel haben ihn auch beschworen: „Großpapa, wenn du noch einmal nachfragen gehst, fallen wir bestimmt durch…“ So besteht die einzige Hoffnung der Familie darin, daß vielleicht doch wieder einmal eine geschäftliche Konjunktur kommt. Dann wollen sie dem Großpapa sofort eine A.G. einrichten…

                                    Der Langschläfer.

            Das ist schon ein ernsterer Fall von Beschäftigungslosigkeit. Weil es der Fall eines älteren Junggesellen ist. Wenn man Frau und Kinder hat, da ist man nie völlig im Ruhestand, denn Familienleben nimmt den Menschen immer reichlich in Anspruch. Aber so ein Junggeselle, der die beste Nachtmahljahre hinter sich hat, mit kleinen Liebschaften verzettelt, dem bleibt schließlich nur eine große Liebe: der Beruf, die Stellung. Ob Direktor, Abteilungsvorstand, Oberingenieur, das ist egal. Die Hauptsache, daß man von neun Uhr früh bis sechs Uhr abend wer ist, daß man an einem Schreibtisch amtiert, daß im Vorzimmer die Parteien, die Angestellten warten, daß man das Schicksal von soundsovielen Menschen dirigiert, daß man das Mittagessen gehetzt hinunterschlingt, keine Zeit hat, zum Schneider zu gehen. Telephonieren, diktieren, unterschreiben, tausend Sachen im Kopf haben, bis man dieser unmöglichen Existenz verzweifelt flucht, weil ja ein bißchen Verzweiflung zu jeder echten großen Liebe gehört. Und auf einmal ist alles aus. Von heute auf morgen Pensionierung, Abbau, ganz kaltblütig und selbstverständlich. Wo er sich fünfundzwanzig Jahre lang geschunden und aufgeopfert hat, wie für eine eigene Sache, wo er tatsächlich im Dienst ergraut ist? Oh, das ist heute kein Milderungsgrund. Im Gegenteil: das ist ein Verschulden… Und dann umgibt den Abgebauten plötzlich die große Stille, die völlige Isoliertheit. Von früh bis abends nichts als Privatleben, das man nie gekannt, nie geübt hat. Der Vormittag vergeht ja noch irgendwie, aber diese entsetzliche Endlosigkeit der Nachmittage. Der Herr Abteilungsvorstand war nie ein Kaffeehausbesucher, er begreift das Vergnügen nicht, drei, vier Stunden mit Karten und Witzen hinzubringen. Er geht also fleißig spazieren, weil das sehr gesund ist, bis er sich davon krank fühlt, bis ihm die schönsten Plätze verhaßt sind. Wochenlang hat er es mit dem Lesen versucht, jeden Tag zwei, drei Bücher, wahllos durcheinander, Literatur und Kriminalschund, bis er es nicht mehr unterscheiden konnte, bis ihm alle gedruckte Weisheit sinnlos erschien. Und dann gab er den Kampf auf und flüchtete sich in den Schlaf. Bis zehn Uhr vormittags, nachmittags wieder und abends um neun. Er ist in diesem Training schon so weit, daß er fast zu jeder Stunde einschlafen kann. Anfangs hat er oft vom Bureau geträumt, vom wirbelnden Betrieb des Telephonierens und Diktierens. Jetzt träumt er gar nichts mehr. Er schläft in die Nacht und in den Tag hinein, mit einem völlig abgebauten Seelenleben. Er ist erst fünfundvierzig, vollkommen gesund, und bei seinem Pech kann er auch achtzig werden…

            Hat’s nicht schon wieder draußen geläutet?… Das ist ja zum Verzweifeln. Kaum daß man sich in unangenehme Dinge vertiefen will, wird man dabei gestört. Man kann doch nicht fortwährend aufmachen, fortwährend in die Tasche greifen, bis nichts mehr drin ist. Gewiß, lauter arme, bedauernswerte Menschen. Aber sie können wenigstens laut fordern, singen, musizieren. Doch wer hört die, die nur leise ächzen, flüstern oder sich schweigend verkriechen? Und sie werden immer zahlreicher. Täglich schwemmt der unerbittliche Geschäftsstrom seine Opfer ans Ufer und aufs völlig Trockene. Dem einen ist’s so un dem anderen so passiert, aber alle haben das gemeinsame Schicksal: daß sie unter dem ärgsten Überfluß leiden, den es geben kann: zuviel Zeit. Und noch dazu von einer Zeit, von der wir alle schon genug haben.

In: Neue Freie Presse, 30.4.1933, S. 9-10.

Das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich (1918)

Wien, 11. November 

            Der deutschösterreichische Staatsrat hat in seiner heutigen Sitzung den Beschluß gefaßt, der morgen zusammentretenden provisorischen Nationalversammlung den folgenden Antrag zur Beschlußfassung vorzuglegen:

Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich.

            Artikel 1. Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt.

            Artikel 2. Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik. Besondere Gesetze regeln die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der Deutschen Republik sowie die Ausdehnung des Geltungsbereiches von Gesetzen und Einrichtungen der Deutschen Republik auf Deutschösterreich.

            Artikel 3. Alle Rechte, welche nach der Verfassung der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder dem Kaiser zustanden, gehen einstweilen, bis die konstituierende Nationalversammlung die endgültige Verfassung festgesetzt hat, auf den deutschösterreichischen Staatsrat über.

            Artikel 4. Die k.u.k. Ministerien und die k.k. Ministerien werden aufgelöst. Ihre Aufträge und Vollmachten auf dem Staatsgebiete von Deutschösterreich gehen auf die deutschösterreichischen Staatsämter über. Den anderen Nationalstaaten, die auf dem Boden der österreichisch-ungarischen Monarchie entstanden sind, bleiben ihre Ansprüche an die erwähnten Ministerien wie auf das von diesen verwaltete Staatsvermögen gewahrt.

            Die Liquidierung dieser Ansprüche ist völkerrechtlichen Vereinbarungen durch Kommissionen vorbehalten, die aus Bevollmächtigten aller beteiligten Nationalregierungen zu bilden sind.

            Bis zum Zusammentreten dieser Kommissionen haben die deutschösterreichischen Staatsämter das Gemeinschaftsgut, soweit es sich auf dem Staatsgebiete der Republik Deutschösterreich vorfindet, als Treuhänder aller beteiligten Nationen zu verwalten.

            Artikel 5. Alle Gesetze und Gesetzesbestimmungen, durch die dem Kaiser und den Mitgliedern des kaiserlichen Hauses Vorrechte zugestanden werden, sind aufgehoben.

            Artikel 6. Die Beamten, Offiziere und Soldaten sind des dem Kaiser geleisteten Treueides entbunden.

            Artikel 7. Die Übernahme der Krongüter wird durch ein Gesetz durchgeführt.

            Artikel 8. Alle politischen Vorrechte sind aufgehoben. Die Delegationen, das Herrenhaus und die bisherigen Landtage sind abgeschafft.

            Artikel 9. Die konstituierende Nationalversammlung wird im Jänner 1919 gewählt. Die Wahlordnung wird noch von der provisorischen Nationalversammlung beschlossen, sie beruht auf der Verhältniswahl und auf dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrecht aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts.

            Artikel 10. Nach den gleichen Grundsätzen ist das Wahlrecht und das Wahlverfahren der Landes-, Kreis, Bezirks- und Gemeindevertretungen zu ordnen.

            Die Gemeindewahlordnung wird noch durch die provisorische Nationalversammlung festgesetzt, die Neuwahl der Gemeindevertretungen erfolgt binnen drei Monaten. Bis zur Neuwahl sind die bestehenden Gemeindevertretungen nach den Anweisungen des Staatsrates durch eine angemessene Zahl von Vertretern der Arbeiterschaft zu ergänzen.

            Artikel 11. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Kundmachung in Kraft.

            Dinghofer m.p.                       Hauser m.p.                Seitz m.p.

                                                           Präsidenten

                        Sylvester m.p.                         Renner m.p.

                        Staatsnotar                             Staatskanzler

Abram, Bodirsky, Ellenbogen, Fink, Freißler, Gruber, Guggenberg, Iro, Jerzabek, Luhsch, Miklas, Ofner, Prisching, Seliger, Teufel, Waldner, Wolf

                                               Mitglieder des Staatsrates

In: Neue Freie Presse, 12.11.1918, S.4

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Der Zerfall des Reiches (1918)

Der kroatische Landtag hat heute beschlossen, die kroatisch-ungarischen Ausgleichsgesetze vom Jahre 1868 für null und nichtig, die Königreiche Kroatien, Slavonien und Dalmatien für vollständig unabhängig sowohl von Österreich als auch von Ungarn zu erklären. Die Kroaten sind es, die Treuesten der Treuen, die zuerst in aller Form Rechtens, durch Beschluß ihres verfassungsmäßigen Landtages den Abfall von der Monarchie verkünden! Vor wenigen Wochen noch ist der Herr Graf Tisza in Kroatien wie ein Diktator herumgefahren, haben die Magyaren noch den schamlosen Plan erörtert, die serbischen Komitate von Kroatien abzutrennen, um sie besser magyarisieren zu können, haben Österreich und Ungarn noch um Bosnien und Dalmatien gefeilscht, als wäre das südslavische Volk ihr Eigentum, das sie nach ihrem Gutdünken zerstückeln und zu Tauschgeschäften benützen könnten. Jetzt ist es mit einemmal vorbei! Die Südslaven sind frei. Und da die Truppen in Kroatien dem südslavischen Nationalrat huldigen, da sich die Heere der Entente der slavonischen Grenze nähern und Wilson schützend seine Hand über die Freiheit der Südslaven hält, kann Ungarn es nicht wagen, einen Feldzug gegen Kroatien zu beginnen. Ungarn hat die ganze Welt in Unruhe versetzt, um nur den Serben keinen Zugang zum Meere, denn mit Kroatien ist auch Fiume verloren. Ungarn und Österreich haben den Krieg begonnen, um der Monarchie den Besitz Bosniens zu sichern; jetzt werden beide viel, viel mehr verlieren als Bosnien!

In Prag hat sich der tschechische Nationalrat mit der böhmischen Statthalterei geeinigt. Sie werden fortan die Verwaltung gemeinsam führen: die Bürokratie der Statthalterei wird unter Aufsicht der Bevollmächtigten des Nationalrates verwalten. In ähnlicher Form hat der tschechische Nationalrat auch die Brünner Statthalterei seiner Aufsicht unterworfen. So geht die Revolution ihren Gang: Schritt für Schritt geht die Staatsgewalt aus den Händen der k.k. Regierung in die Hände der freigewordenen Völker über. Und nur weil die Staatsgewalt durch die Niederlage im Kriege und durch den Abfall aller Völker völlig gebrochen, klug genug ist, jeden Widerstand gegen das Unvermeidliche aufzugeben, vollzieht sich die große Umwälzung, die Auflösung des alten Reiches ohne Gewalttaten und ohne Blutvergießen.

Auch Deutschösterreich muß nun nach. Die Nationalversammlung wird sich morgen zum zweitenmal versammeln. Der Vollzugsausschuß legt ihr Anträge vor, die, zum Beschluß erhoben, wahrhaft geschichtliche Bedeutung erlangen werden. Vor allem die Verfassung des neuen deutschösterreichischen Staates. Der Vollzugsausschuß soll zu einem Staatsrat ausgestaltet werden, der der eigentliche Souverän Deutschösterreichs sein, die Regierung ernennen, die von der Nationalversammlung beschlossenen Gesetze kundmachen wird. Nimmt die Nationalversammlung diese Beschlüsse an, so wird in den nächsten Tagen die erste Regierung Deutschösterreichs gebildet werden und sie wird die Verwaltung des Landes übernehmen. Damit wird auch das deutsche Volk in Österreich frei werden, über sein Geschick zu entscheiden. Und der erste Schritt zum auf dem neuen Wege zur Freiheit wird ein Schritt zum Frieden sein. Der Vollzugsausschuß wird morgen der Nationalversammlung auch eine Note an den Präsidenten Wilson vorlegen, die Amerika die Bildung des selbständigen deutschösterreichischen Staates bekanntgibt, für ihn das Recht beansprucht, durch seine Bevollmächtigten die Friedensverhandlungen zu führen, und jedem anderen das Recht abspricht, im Namen Deutschösterreichs Frieden zu schließen. Die k. und k. Diplomatie hat über uns den Krieg verhängt; den Frieden werden die Völker selbst schließen!

Indessen spinnen sich um den Frieden alle möglichen Ränke. Die Note des Grafen Andrassy wird von den einen überschwenglich gelobt, von den anderen leidenschaftlich bekämpft. Die einen rühmen Andrassys Entschluß, ohne Rücksicht auf Deutschland Waffenstillstand und Sonderfrieden zu schließen, als eine sittliche Tat, die den Frieden näherbringe. Die anderen bekämpfen den Abfall vom Deutschen Reiche leidenschaftlich als Undank und Untreue. Aber der Eifer beider verdunkelt nur eine sehr einfache Tatsache. Daß nach allen den ungeheuren Blutopfern, die Deutschland in diesen vier Jahren der Verteidigung des habsburgischen Länderbesitzes gebracht hat, das Sonderfriedensangebot ein Akt des Undanks und der Untreue ist, kann niemand leugnen; [3 Zeilen von der Zensur gestrichen, im Text als Auslassung markiert]

Damals, als Deutschland durch dreiste Eroberungspläne den Frieden verhinderte und die Freiheit Europas bedrohte, wäre eine Trennung von Deutschland eine sittliche Tat, eine Tat für Freiheit und Frieden gewesen; jetzt, da Deutschland in der Not, der deutsche Imperialismus gebrochen ist, da nicht mehr der deutsche, sondern der Entente-Imperialismus dem Frieden im Wege steht, werden wir uns den Sonderfrieden nicht als rühmliche Tat einreden lassen. Er ist keine sittliche Tat, sondern nur eine Tat der bittersten Not. Er ist ein Verbrechen wider beschworene Treue, aber ein Verbrechen aus unwiderstehlichem Zwang. Von allen seinen Völkern verlassen, der schwersten wirtschaftlichen und der schwersten politischen Krise verfallen, an der italienischen und an der serbischen Grenze heute schon, an der rumänischen in naher Zukunft tödlich bedroht, kann das zusammenbrechende Reich einfach nicht anders, als den Frieden um jeden Preis und auf jede Art zu erbitten. Es ist albern, den Grafen Andrassy, der zur Zeit, als der deutsche Imperialismus der gefährlichste Feind des Friedens und der Freiheit war, zu den treuesten Schildknappen Ludendorffs gehört, als den Schrittmacher des Friedens zu rühmen, weil er jetzt tut, was er muß; es ist aber auch kindlich, dem magyarischen Grafen als einem Verräter am deutschen Volke zu fluchen, weil er mit allen Mitteln zu retten sucht, was nicht mehr zu retten ist. Sein Entschluß ist jenseits von gut und böse; es ist die Kapitulation eines zusammengebrochenen Reiches, das keine andere Möglichkeit und keine andere Funktion mehr hat als die, den Kampf einzustellen, den Waffenstillstand zu schließen und es den Völkern, die durch seinen Zusammenbruch frei werden, zu überlassen, ihren Frieden untereinander und ihren Frieden mit der Welt selbst zu schließen.

Aber freilich, so wenig wir leugnen wollen, daß der Graf Andrassy nur das Unvermeidliche, ihm durch die militärische und politische Lage Aufgezwungene getan hat, so ist es uns doch klar, daß es heute Leute gibt, die aus der Lage, die durch die Trennung von Deutschland geschaffen worden ist, gefährlichen Gewinn zu schöpfen hoffen. Es gibt unzweifelhaft höfische Kreise, die hoffen, mit der Entente ein Geschäft machen, mit ihrer Hilfe den Bestand der Monarchie retten zu können, wenn sich die Monarchie nur von Deutschland abkehrt. Und insbesondere die Magyaren hoffen, die Entente werde sie für den Abfall von Deutschland belohnen, indem sie ihnen die Herrschaft über Slovaken und Rumänen läßt. Darin steckt eine Gefahr, eben die Gefahr, daß beim Friedensschluß die Interessen der Völker preisgegeben werden, um die Zustimmung der Entente zum Fortbestand der Monarchie und zur Sicherung magyarischer Herrschaft zu erlangen. Deshalb müssen die Völker jetzt erst recht darauf bestehen, daß sie völlig unabhängig sind, daß nur sie allein berechtigt sind, die Friedensverhandlungen zu führen, nur sie allein befugt, ihre staatliche Ordnung zu vereinbaren. So unvermeidlich der Entschluß des Grafen Andrassy war, so unvermeidlich ist es, daß die Völker, daß insbesondere die Deutschen in Österreich aus ihm nun erst recht den Schluß ziehen, daß nur ihre völlige Freiheit, ihre völlige Unabhängigkeit sie davor bewahren kann, daß ihre Interessen zum Preis für die Rettung der Dynastie und für die Rettung der magyarischen Oligarchie werden. So vollzieht sich der Zerfall des Reiches unaufhaltsam. Selbst die Mittel, durch die man ihn aufhalten will, beschleunigen ihn nur. Jeden Tag stürzt ein neues Stück von dem alten Bau.

In: Arbeiter-Zeitung, 30.10.1918, S. 1.

N.N.: Sozialistische Demokratie gegen bürgerliche Diktatur. (1918)

‚Demokratie‘ ist der tägliche Drohungsruf, den ein Wilson und ein Lloyd-George gegen die besiegten Völker, richtiger gegen die Proletarier der besiegten Völker ausstößt. Und dieser Drohungsruf wird von Bürgerlichen der besiegten Völker mit Begeisterung aufgenommen und wiederholt. Mit verhaltenem Jubel berufen und begrüßen sie die Ententetruppen, welche die Ruhe und Ordnung dieser „Demokratie“ gegenüber der greuelvollen „Diktatur des Proletariats“ durchsetzen und aufrechterhalten sollen.

Die Tatsache, daß diese „Demokratie“ das teuerste Gut der siegreichen und besiegten Imperialisten ist, muß die Arbeiter stutzig machen. Und es muß sie merkwürdig berühren, wenn nicht sogar erbittern, daß ihre eigenen Vertreter (unter ihnen sogar ein Friedrich Adler) diese „Demokratie“ gegenüber der so abschäulichen „Diktatur des Proletariats“ als herrlich anpreisen. In Wahrheit aber ist die Frage nicht „Demokratie“ oder „Diktatur des Proletariats“, sondern bestenfalls „Diktatur der Bourgeoisie“ oder „Diktatur des Proletariats“! Richtiger gesagt: „bürgerliche Diktatur“ oder „sozialistische Demokratie“. Dies ist die Frage, und sie zu entscheiden, dürfte nicht schwer sein.

Vorher muß aber deutlich erklärt werden, warum sich diese „Demokratie“, die den Kapitalisten recht ist, und den Proletariern nicht billig ist, als „Diktatur der Bourgeoisie darstellt.

Was ist Demokratie? Politische Freiheit aller Bürger, Preßfreiheit, Vereinsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc. Gewiß wertvolle Errungenschaften. Kurzum volle Gewährung aller politischen Rechte an alle Bürger. Aber wie steht es um diese politischen Rechte? Sie sind der gesetzliche Ausdruck der wirtschaftlichen Rechte der Bürger. Das wirtschaftliche Recht, welches durch die Staatsgesetze der Gegenwart, festgelegt und diktatorisch zur Geltung gebracht wird, ist das Privateigentum. Die Wirtschaftsform, die sich daraus entwickelt hat, ist der private Kapitalismus. Wer sich gegen das Privateigentum, den privaten Kapitalismus in irgend einer Form vergeht, wenn er einem andern etwas wegnimmt, auch ohne es sich selbst anzueignen, sondern um es z. B. der Allgemeinheit zugute kommen zu lassen, wird als Dieb, als Räuber gebrandmarkt, politisch entrechtet, mit Kerker bestraft. Da nun der Kapitalismus die Anhäufung der Arbeitsmittel in wenigen Händen (nämlich in denen der Großbourgeoisie) und die Verelendung der Massen mit sich gebracht hat, so ist diese Wirtschaftsform nichts anderes als: die Diktatur der Bourgeoisie über die Arbeiter. Denn diese sind, unter Androhung von Strafen, verhindert, die Kapitalisten zu enteignen. Sie sind gewaltsam genötigt, sich ausbeuten zu lassen. So ist in Wahrheit die bürgerliche Demokratie durch ihr Staatsrecht eine Diktatur der Bourgeoisie, der Wenigen über die Vielen. Und die sogenannten demokratischen Freiheiten sind mehr oder weniger bloßer Schaum, sind gut, damit sich die Leidenschaften der Massen ungefährlich in Wort und Schrift entladen können. Aber nicht in der Tat! Die Tat aber – die Enteignung – wird als „undemokratisch“ diktatorisch unterdrückt. (Siehe die Einmauerung von Wiener Kommunisten!) So steht es um diese gepriesene Demokratie“. Sie ist grundsätzlich die politische Schutz- und Trutzwehr des Kapitalismus, sie ist „Diktatur der Bourgeoisie“.

Wie steht es nun aber um die viel berüchtigte und verhetzte „Diktatur des Proletariats“?

Sie ist erstens keine Diktatur der Minderheit über die Mehrheit. Denn die Bauern, Gewerbetreibende, die arme Bourgeoisie ist von vornherein von ihr ausgenommen. Diese bleiben mehr oder weniger, solange sie nicht selbst sich zu großen Kapitalisten und Großgrundbesitzern auswachsen, in ihrer bisher gegebenen Wirtschaftsordnung, bei vollem Genuß aller politischen Rechte. Dies läßt sich verwirklichen, wenn jene Klassen sich den Arbeitern nicht feindlich und mörderisch widerstreben, so daß man sich gegen sie verteidigen muß, sondern wenn sie sich mit ihnen verbünden. (Darüber bei anderen Gelegenheiten).

Diese „Diktatur“ wäre also nur eine solche der industriellen sowie des land- und forstwirtschaftlichen Arbeiters, Angestellten (und vielleicht Beamten) gegen ihre Herren Arbeitgeber, kleine Häuflein im Verhältnis zur ungeheuren Masse. Aber handelt es sich da überhaupt um eine Diktatur? Wir haben festgestellt, daß die politische Verfassung nur die gesetzliche Verkleidung der wirtschaftlichen Verfassung eines Staates ist. Diktatur der Bourgeoisie war die wirtschaftliche Ausbeutung einer großen Anzahl von Arbeitenden durch eine kleine. Will jetzt nun ihrerseits die große Masse der Arbeitenden eine kleine Schar ausbeuten? Keineswegs! Die neue Wirtschaftsordnung will jede Ausbeutung zunichte machen, will die wirtschaftliche Gleichstellung aller Arbeitenden. Voraussetzung hierzu ist die Abschaffung des Privateigentums an Arbeitsmitteln, an Großgrundbesitz, ist die Vergesellschaftung der großen Betriebe. Die sozialistische Republik bedeutet somit die Abschaffung der tatsächlichen Diktatur, nämlich der wirtschaftlichen. Jeder, der für die Gemeinschaft arbeitet, hat das gleiche Recht des Genusses der produzierten Güter.

Diese Abschaffung jedweder Diktatur wird nun in gesetzliche Formen gegossen, zum Staatssozialismus. Dies „Diktatur des Proletariats“ zu nennen ist einfach böswillige Redensart. (Und ist bei einem Marxisten unbegreiflich!) Es ist nicht bloß Mißverständnis, es ist geradezu Haß gegen die sozialistische Republik, wenn man gegen sie die wirkliche Diktatur, nämlich die der Bourgeoisie, als „Demokratie“ ausspielt. (Bei einem Marxisten das unbegreiflich!) Sondern diese gesetzlichen Formen sind mindestens in demselben Sinne demokratisch wie die bürgerlichen. Sie gaben Wahlrecht, Preßfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinsfreiheit etc. allen Arbeitenden, welcher politischen und wirtschaftlichen Gesinnung sie auch sein mögen. Nur denjenigen, welche durch die Tat, gegen die Arbeitspflicht und gegen die wirtschaftliche Gleichberechtigung der Arbeitenden verstoßen, indem sie nicht die wirtschaftliche Gleichheit, das Gemeineigentum, sondern ihr Privateigentum im großen Stile befördern, oder besitzen, werden wegen Verbrechens am sozialistischen Staate gestraft, und zwar nicht durch Kerker, wie es die Bourgeoisie tut, wenn man ihre wirtschaftliche Diktatur, ihre wirtschaftliche Ungleichheit durchbrechen will, sondern bloß durch politische Entrechtung und durch Enteignung. Dies ist aber nicht Diktatur, sondern dies ist das Wesen aller Gesetzgebung, aller Staatlichkeit überhaupt. Gewiß, die volle Demokratie ist es nicht. Aber die volle Demokratie ist Gesetzlosigkeit, Anarchie (im besten Sinne des Wortes.) (Siehe in derselben Nummer die Bemerkungen über „Demokratie, Anarchie, Staatssozialismus“.)

Kurzum diese „Diktatur“ des Proletariats ist nicht nur keine, sie ist sogar die Aufhebung der einzig möglichen „Diktatur“, nämlich der der kapitalistischen Bourgeoisie. Die sozialistische Demokratie ist somit die politische Form der nicht-diktatorischen Staatsordnung, während die bürgerliche Demokratie, die sich als die alleinseligmachende Demokratie verschreibt, gar keine Demokratie, sondern die politische Form der Diktatur ist.

Und so bedeutet die revolutionäre Umwälzung, wie sie sich in Deutschland vollzieht (durch die politische und wirtschaftliche Machtergreifung des gesammten arbeitenden Volkes in Form der Räte-Regierung), nicht eine „Diktatur des Proletariats“, wenn man sie auch so nennt, wenn sie sich selbst auch fälschlich so nennt, sie bedeutet die Abschaffung jeder wirtschaftlichen Diktatur. Sie ist nur diktatorisch im engeren Sinne wie eben jedes Staatsrecht als solches, dadurch daß es eine vollziehende und strafende Macht hat, diktatorisch ist. Darüber mögen die Anarchisten, aber nicht die Bürgerlichen klagen. Denn was die Bürgerlichen betrifft, so handelt es sich hier um die Abschaffung jeder Diktatur im weiteren, im wirtschaftlichen Sinne, d. h. der bürgerlichen Diktatur. Die wahre Losung ist somit:

Sozialistische Demokratie gegen bürgerliche Diktatur!                               Kämpfer

In: Weckruf [Rote Fahne], 28.11.1918, S. 1-2.

Rafael Hualla: Schwarz auf Weiß (1928)

Die Baker-Revue im Strauß-Theater

Es gab eine Generalprobe, die aber Geduldsprobe war. Nach fünfstündiger Dauer hatte man es schwarz aus weiß: eine etwas länglich geratene Revue in 38 Bildern, spär­lich dazwischen gestreut Josephine Baker. Vor der Premiere gab’s einen kleinen Rummel, den nicht die Hakenkreuzler, wohl aber die Agioteure hervorgerufen hatten, die in dichten Schwärmen die Ankommenden um­drängten und ihnen Karten anboten. Nach und nach sank der Kurs dieser Agiotagekarten sogar unter den Kassapreis. Irgendwo beim Eingang hing auch aus Prestigegründen die Tafel „Ausverkauft“, Tatsache aber war, daß man auch zu Kassapreisen noch am gleichen Abend Karten bekommen konnte.

Beim Bühnentürl war das Gedränge so stark, daß die Schulabteilung der Polizei eingreifen mußte. Dort hatten sich jene gedrängt — nebst Taschendieben —, die die Baker gratis sehen wollten. Sie hatten kein Glück, denn die hellbraune Josephine war schon anderthalb Stunden vor Beginn der Vor­stellung ins Theater geschlüpft. Sonst das gewohnte Sensations-Premierenbild. Lange Reihen von Autos, im Foyer Pelze, im Saal Abendtoiletten, die wohlbe­kannten Gesichter der Gesellschaft, die unbe­dingt dabei gewesen sein muß. Dann ist Plötzlich „sie“ da, Josephine Baker, schleicht in der Urwaldszene, während Kam­mersänger Karl Ziegler im Tropenhelm ein Liebeslied singt, lauernd den Hang hinab und

der ganz hellbraune Leib badet im grellen Scheinwerferlicht. Dieser Mulattenkörper ist wirklich ein Wunder. Von den schmalen schönen Beinen angefangen bis hinauf zu den Hüften, die ein besonderes Leben führen und manchmal Sprünge machen wie Wildkatzen durch das Dickicht. Die Brüste frei schwebend, durch nichts gehalten, kreisrund gewölbt, und dann das grazile Spiel ihrer Arme. Er­quickend ihr nicht gekünstelter Jungmädchenhumor. Freilich, da ist noch der Bühnenkopf der Baker — eine Maske für sich; das Haar mit glänzendem Lack zur starren Perücke ge­formt, die kugelrunden, großen, weißen Augäpfel durch stark nachgezogene Augen­brauen und Wimpern ins Riesenhafte gestei­gert, bewußte Rougebetonung der wulstigen negroiden Unterlippe.

Josephine Baker ist ein Ereignis. Eines vielleicht, wie es dem Vielgereisten überall dort, wo es schöne Kinder gibt, denen Misch­blut durch die Adern fließt, zustoßen kann.

Hier aber ist es bewußt gesteigert, über der Baker liegt ein unwiderstehlicher Hauch von natürlicher, ungezwungener Anmut, grotesker und dabei doch charmanter Komik, es ist nichts „gekonnt“ an ihr und dennoch ist die Komponente dieses scheinbar naturmädchenhaften Tanzes und Gesanges individuellste Persön­lichkeit- ein künstlerische^ Erlebnis.

Sie singt mit ganz dünnem hohen Silberstimmchen, sitzt in einer Szene in einem kreisrunden weißen Perlenkleid auf einem roten Diwan und zwitschert das Limonadenliedchen.

When I am happy, when I am sad,
When I am good, when l am bad
That all depends on you…

Oder im Hennentanz. Da glucksen im Orchester die Kücken, die derbkomischen und dennoch anmutigen Hinter-Baker-Bewegungen werden onomatopoetisch illustriert, unwiderstehlich fegt ein Beifallssturm durchs Haus. Durch nichts zu überbieten aber ist die Poesie dieses schlanken, schmiegsamen Körpers im Bananentanz.

Es gibt auch eine Szene mit einem leben­den Strauß. Er hat sich anfangs in Wien nicht wohl gefühlt (vielleicht mußte er sich erst an Schalk gewöhnen), aber als er mit der Baker zu der faszinierenden Musik Joss Padillas, des Komponisten von Valen­cia, über die Bühne des Theaters stolzierte, von dem man ihm einredete, daß es nach ihm benannt sei, schien er sehr zufrieden.

Was an Einfällen in diesen 38 Bildern zu spüren ist, gehört auf die drei Autoren Beda, Bekessy und Florian ausgeteilt. (Die Kopfnote ist schmal.) Die Idee eines Bildes ist, um im Milieu zu bleiben – die Szene spielt in einem Trödlerladen und das Quar­tett Werbezirk-Brod-Berg und Imhoff erschüttert dauernd die Zwerch­felle — von Emerich Liptay übernommen, dessen Namen man ruhig im Programm hätte erwähnen können. (Bei 39 namentlich Angeführten kommt es auf einen mehr oder weni­ger nicht mehr an.)

Einer der besten Einfälle war es, Nina Payne zu engagieren; der Gipfelpunkt technischer Vollendung im Tanz, fast an Akroba­tik grenzend. Sie beweist, daß die Anmut eines trainierten Körpers nicht von dem land­läufigen Begriff „hübsch“ abhängig ist. Ihr galt, nebst der Baker, der Hauptteil des Bei­falls.

Papa Hollitzer lassen die Transozean­lorbeeren seiner Tochter, Lilly Dillenz, nicht schlafen. Deswegen holt er sie sich zusammen mit dem Malersänger Hlawa und Ziegler in der Baker-Revue durch das stimmungsvolle Matrosenterzett.

Auch Tiller-Girls gibt es. So etwas wie eine Reservemannschaft. Sollten jemand die xylophonspielenden Osterhasen nicht ge­fallen, kann er sich die gleiche Nummer, von anderen Tiller-Girls exekutiert, am nächsten Tag in der Haller-Revue ansehen. Dort sind allerdings die Osterhasen als Chinesen ver­kleidet.

Die Begleitmusik von Willy Engel-Berger entscheidet sich weder für den Heurigen, noch für die Operette. Die Revue lehnt sie in Rhythmus und Instrumentierung entschieden ab. Es wäre ein besserer Einfall gewesen, in die Revue eine Huldigung Jerzabek einzuschieben. Jerzabek hat immerhin mehr Beziehungen zu Baker als Franz Schubert. (Es ist, gelinde gesagt, eine musikalische Leichenschändung, Schuberts unvollendete 8-Moll-Symphonie an den dem Hörer zu Berge stehenden Haaren in diese Revue hineinzuzerren, und außerdem noch Hugo Thimig für diese „Huldigung“ zu mißbrauchen. Ein Amerikaner, der dieses Bild sieht, wird eine merkwürdige Vorstellung von uns bekommen. Unsere armen Musiker schlagen einen von den Amerikanern ausgesetzten 10.000-Dollar-Preis für die Vollendung dieser Symphonie aus, weil sie eine solche Vollendung als Entweihung betrachten wür­den und die gleiche Stadt leistet sich eine solche „Huldigung“).

Immerhin: wenn sich jene Unentwegten, die nicht zur Generalprobe und zur Premiere gehen konnten, diese Revue angesehen haben werden, wird man die Länge einzelner Bilder und die Preise reduzieren müssen. Sonst wird die Baker-Revue ein Quell reinster Freude für Hubert Marischka. Und dem sei es ja doch nicht gegönnt!

Am Premieretag, 12 Uhr nachts.

Ich habe genug. Ich bedanke mich für den Schluß, der vermutlich noch eine halbe Stunde auf sich warten lassen wird. Meinem Bei­spiel sind bereits Dutzende vorher gefolgt, was die Nervosität im Hause noch um ein Bedeutendes steigert. Jeden Augenblick: Klipp, klapp, ein Stuhl und eine Kolonne Gesättigter verläßt das Theater. Ein Dutzend anderer folgt in der Angst, es sei irgend etwas ge­schehen. Dafür kehren sie dann mit großem Applomb beruhigt zurück, beruhigend, es sei nichts geschehen. Das geht so seit halb 11 Uhr abends.

Die Vorstellung selbst entwickelte sich zu einem wütenden Konkurrenzkampf zwischen weiß und schwarz: zwischen der Baker und Nina Payne. Ich wage nicht zu entscheiden, wer gesiegt hat. Jedenfalls war die Baker maßlos irritiert und zeigte, wenn sich Erfolg hören ließ, immerfort auf ihre Weiße Konkur­rentin. Siegesgewisser machte sie dieser Kon­kurrenzkampf nicht.

Es war sehr schön. Es hätte viel schöner sein können, wenn die Revue kürzer, die Baker häufiger und das Publikum ruhiger gewesen wäre. Aber vielleicht kommt das bei den nächsten Vorstellungen.

In: Der Tag, 2.3.1928, S. 3.

Georg Bittner: Die „Wiener Rote Garde“. Eine Gründung der Prager Kaffeehausliteraten (1918)

                Herr Egon Erwin Kisch, gebürtig aus Prag – nicht umsonst bisher das „Schmockkästchen“ Böhmens genannt – vor dem Kriege Feuilletonist des „Berliner Tageblattes“, Verfasser des mehr pornographischen als erotischen Romans Der Mädchenhirt, rückte zu Beginn des Krieges ein, war ein tapferer und guter Soldat (wie man dem jungen Manne denn überhaupt zubilligen muß, daß er in allem, was er tut, durchaus ehrlich, wenn auch vielleicht etwas unklare Absichten hat) und wurde nach längerem Frontdienste als Oberleutnant dem Kriegspressequartier zugeteilt. Hier scheint nun Herr Kisch von einem Drange erfaßt worden zu sein, der beim Literaten begreiflich ist und in diesem Falle nur deshalb sehr getadelt werden muß, weil Herr Kisch beschloß, diesem Drange in seiner Eigenschaft als Offizier und, wie er behauptet, Sozialrevolutionär zu frönen. Herr Kisch liest nämlich seinen Namen außerordentlich gern in der Zeitung. Bei der Gründung der „Roten Garde“ lagen ihm sicherlich alle selbstischen und gar unlauteren Absichten ferne und er folgte damit nur dem unklaren und phantastischen Drange seiner jugendlichen Literatenphantasie. Im Kriegspressequartier, das in der letzten Zeit zum Zwecke der Abfassung patriotischer Propagandaschriften eine Reihe von jüngeren federgewandten Leuten an sich gezogen hat, fand nun Kisch einige Gesinnungsgenossen, die ihn bei den Vorarbeiten und bei der Propaganda für die „Rote Garde“ unterstützten.

            Da ist vor allem Herr Franz Werfel, Sohn eines Kommerzialrates, auch aus Prag, auch Sozialrevolutionär, auch Literat. Während des Krieges hielt er sich längere Zeit auf Kosten des österreichisch-ungarischen Armeeoberkommandos in der Schweiz auf, um dort österreichische Propaganda zu betreiben. Jetzt ist er, wie gesagt, Revolutionär, und wenn er es auch schon damals war, als er in der Schweiz auf militärische Kosten lebte, dürfte man ihm billig den Vorwurf machen, daß er dieser Art der militärischen Dienstleistung jede andere hätte vorziehen müssen. Gewiß hätte ihn niemand davon abgehalten.

            Damit ist aber die Runde der geistigen Väter der Wiener „Roten Garde“ noch nicht vollkommen geschildert. Zu ihnen gehörte auch der ebenfalls im k.u.k. Kriegspressequartier eingeteilte Schriftsteller Franz Blei. Er gehörte in seiner Jugend ganz kurze Zeit der sozialdemokratischen Partei an. In den langen Jahren, die seither verflossen sind, hat er mannigfache Wandlungen durchgemacht. Unter anderem gab er eine pornographische Zeitschrift Der Amethyst heraus. Zu Beginn des Krieges gründete er in Berlin mit dem Gelde eines dortigen Finanzmannes eine Zeitschrift Der Kleiderkasten, welche die Abschaffung der Pariser Mode propagierte, und sich natürlich heftig gegen alles wagte, was nicht deutsch war bis ins Mark. Dieser deutschnationalen Periode des Herrn Franz Blei folgte eine katholische, als er zum Militärdienst nach Wien eingezogen wurde. Er kam hier in die Umgebung eines bekannten Finanzmannes, als dessen Sekretär er längere Zeit lebte und der ihm auch, obwohl selbst keineswegs katholisch, die finanziellen Mittel zur Gründung der katholischen Zeitschrift Summa zur Verfügung stellte. Nebenbei wirkte die ganze Familie Bleis eine Zeitlang auf ärarische // Kosten bei den Aufnahmen für einen militärischen Propagandafilm mit.

            Der vierte in diesem Bunde ist Herr Kühtreiber, der sich in seiner Eigenschaft als expressionistischer Maler und Schriftsteller Paris von Gütersloh nennt.  

            Das Werk dieser einigermaßen gemischten Gesellschaft ist also die Wiener „Rote Garde“, die, wie aus dem Berichte der Arbeiter-Zeitung hervorging, am Tage der Proklamierung der Republik die Schießerei vor dem Parlament verschuldet hat. Daß sie in dieser Form gegründet werden konnte, muß als ein schwerer Fehler der sozialdemokratischen Parteileitung bezeichnet werden. Dieser wurde wiederholt und nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß Oberleutnant Kisch, wenn auch von bestem Willen beseelt, doch sicherlich nicht die Persönlichkeit sei, der man es zutrauen dürfe, daß sie im gegebenen Falle eine Schar radikalst gesinnter Männer in der Hand behalten werde. Kurze Zeit lang schien man darum in der Parteileitung der Bildung der „Roten Garde“ auch ablehnend gegenüber zu stehen, von der einzig richtigen Ansicht ausgehend, daß eine derartige Institution innerhalb einer Volkswehr überflüssig sei. Leider ließ man sich dann aber von der Versicherung der besonnenen Elemente, die auch in der „Roten Garde“ sicherlich in nicht geringer Zahl vertreten sind, es handle sich nur um die Bildung eines Musterbataillons, überreden. Der Unterstaatssekretär Dr. Deutsch glaubte dieser Versicherung leider so sehr, daß er der „Roten Garde“ am kritischen Tage sogar die Bewachung des Parlaments überantwortete. Natürlich bekamen dort rasch, wie immer, die unklaren und unbesonnenen Elemente die Oberhand, die glaubten, sich mit einem Handstreich der Herrschaft über die gesamte übrige Bevölkerung bemächtigen zu können.

            Es ist kein Zweifel, daß die sozialdemokratische Parteileitung das, was sich vor dem Parlament und im Redaktionsgebäude der „Neuen Freie Presse“ zugetragen hat, auf das Entschiedenste mißbilligt. Schon deshalb, weil es ja unser aller gemeinsame Pflicht ist, die Umgestaltung des Staates in Ruhe und aus eigener Kraft zu vollziehen und den Ententetruppen keinerlei Anlaß zur Besetzung Wiens zu bieten. Man darf aber die Wahrung solch ungeheurer Staatsinteressen nicht den Fähigkeiten einiger unklarer oder nicht vertrauenswürdiger Köpfe aus der Kaffeehausliteratur überlassen. Dessen dürfte sich die sozialdemokratische Parteileitung bewußt geworden sein und wird jetzt hoffentlich nicht daran zweifeln, wie sie gegen die literarische „Rote Garde“ vorzugehen hat.

In: Neues 8-Uhr-Blatt, 16.11.1918, S. 1-2.

N.N.: Die Rote Garde im Redaktionsgebäude der Neuen Freien Presse. (1918)

                                                                                              Wien, 12. November.

            Heute Dienstag gegen 4 Uhr nachmittags sind Angehörige der Roten Garde und vom Infanterieregiment Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 im Redaktionsgebäude der „Neuen Freien Presse“ erschienen. Sie erklärten dem anwesenden Sekretär des Blattes, daß die „Neue Freie Presse“ unter der politischen Kontrolle der kommunistischen Partei erscheinen solle. Der Sekretär des Blattes fragte den Offizier, auf Grund welcher Berechtigung diese Verfügung getroffen wurde und ob er sich durch die Legitimation eines Vorgesetzten beglaubigen könnte. Der Offizier antwortete, daß er keine Legitimation habe und den Vorgesetzten heute noch nicht nennen könne. Der Sekretär verwahrte sich entschieden gegen die Maßregel, für die weder ein Rechtsgrund noch eine Beglaubigung des in Österreich regierenden Staatsrates, von dem die Sicherheit der Person und des Eigentums verbürgt worden ist, vorliege. Der Offizier antwortete, daß es sich allerdings um eine Maßregel der Gewalt handle.

            Die Räumlichkeiten und die Treppen des Hauses wurden besetzt, ein Maschinengewehr wurde vor dem Haustor auf der Straße aufgestellt und eines im Hof postiert. Die Fichtegasse, wo sich das Redaktionsgebäude befindet, war gegen den Kolowratring und gegen den Beethovenpark von den Soldaten abgesperrt und nur Angehörige des Blattes durften passieren. Mit den Truppen waren auch Vertreter der kommunistischen Partei aus dem Zivilstande erschienen. Von Seiten des Staatsrates wurde eingegriffen und nach einigen Stunden war der Zwischenfall beendigt. Die Rote Garde hatte gleich nach dem Eintritt in das Haus verlangt, daß eine Extraausgabe über die Vorfälle beim Parlament veranstaltet werde, was unter entschiedener Verwahrung der Redaktion geschah. In einer zweiten Extraausgabe wurde mitgeteilt, daß die Partei durch ihre Anwesenheit in der „Neuen Freien Presse“ eine kommunistische Kundgebung habe veranstalten wollen, daß der ganze Vorgang nur demonstrative Zwecke gehabt habe und daß sich nach deren Erfüllung die Offiziere und die Truppen zurückziehen wollen.

            Wir möchten an dieses Eindringen in unser Haus die Bemerkung knüpfen, daß die Achtung vor der Preßfreiheit die oberste Pflicht jeder Partei sei. Eine Demokratie, welche das Recht auf Urteil bedrücken und Meinungen verfolgen und sich der Kritik entziehen will, ist eine Verfälschung der wahren und echten Volksherrschaft. Auch während der Anwesenheit der Roten Garde in unserem Hause hatten wir die Überzeugung, daß in Deutschland nie die Zeit kommen werde, in der die Freiheit solcher Gewaltsamkeit ausgeliefert sein werde. Die vorliegende Nummer erscheint ohne jede fremde Kontrolle als freie Meinungsäußerung der Redaktion.

In: Neue Freie Presse, 13.11.1918, S. 1.

Die Friedensnote der deutschösterreichischen Nationalversammlung an Wilson. (1918)

Wien, 29. Oktober

            Der Vollzugsausschuß der provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs hat beschlossen, folgende an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zu richtenden Note der morgen Mittwoch stattfindenden Vollversammlung zur Beschlußfassung vorzulegen:

            Herr Präsident! Wir beehrten uns, Ihnen mitzuteilen, daß die deutsche Nation in Österreich beschlossen hat, einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden. Am 21. Oktober 1918 haben sich in Wien die aus dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gewählten Abgeordneten aller deutschen Wahlbezirke in Österreich versammelt und haben beschlossen: 1. einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden; 2. sich als provisorische Nationalversammlung dieses neuen Staates zu konstituieren und die Aufgabe zu übernehmen, diesen Staat so lange zu vertreten, bis eine auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes neu zu wählende konstituierende Nationalversammlung zusammentreten kann; 3. einen Vollzugsausschuß zu wählen, der bis zur Bildung der Regierung des deutschösterreichischen Staates diesen Staat nach außen zu vertreten und die Übernahme der Verwaltung im Innern vorzubereiten und zu reorganisieren hat.

            Die Deutschen sind in Österreich ein Volk von 9.7 Millionen Menschen; bisher waren sie Bürger des österreichischen Staates, jetzt, da die anderen Nationen darangehen, ihre selbständigen Staaten zu bilden, konstituiert sich auch die deutsche Nation in Österreich als ein selbständiger Nationalstaat. Der neue Staat beansprucht die Gebietshoheit über alle jene Gebiete des bisherigen Österreich, in denen die Deutschen die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Er erkennt den anderen Nationen der Monarchie das uneingeschränkte Recht zu, ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft der Nationen in voller Freiheit zu bestimmen und fordert dasselbe Recht auch für die deutsche Nation. Er nimmt das Recht auf völkerrechtliche Persönlichkeit für sich in Anspruch. Er verlangt, daß seine Vertreter als die Vertreter eines selbständigen Staates zu den Friedensverhandlungen zugelassen werden und mit den Vertretern der anderen Nationen über die Bedingungen des Friedens verhandeln. Er behält seiner Regierung das Recht vor, den Frieden zu schließen.

            Der Vollzugsausschuß verpflichtet sich zur Annahme der folgenden Grundsätze:

1. Der Vollzugssausschuß nimmt vorbehaltlos die Grundsätze an, die Sie, Herr Präsident,

    in der Botschaft vom 8. Januar 1918 und in den Reden vom 12. Februar und vom 4. Juli 1918 festgesetzt haben.

    2. Der Vollzugsausschuß betrachtet, der Note des Herrn Staatssekretärs der Vereinigten

      Staaten an die österreichisch-ungarische Monarchie vom 18. Oktober 1918 entsprechend, die czecho-slowakische und die südslawische Nation als vollkommen unabhängige Staaten und ist bereit, die Beziehungen des deutschösterreichischen Staates durch freie Vereinbarungen mit diesen Staaten zu regeln. Der Vollzugsausschuß schlägt vor, alle Streitfragen zwischen dem deutschnationalen Staate einerseits und dem czechischen und dem südslawischen Staate anderseits, soweit sie durch freie Vereinbarungen nicht bereinigt werden können der Entscheidung eines Schiedsgerichtes zu unterwerfen, das nach den Bestimmungen der Haager Konferenzen zusammengesetzt werden soll.

      3. Der Vollzugsausschuß bittet Sie, Herr Präsident, Ihre Aufmerksamkeit der Frage der

      deutschen Gebiete der Sudetenländer zuzuwenden. In Böhmen gibt es neben 60 Bezirken, in denen die Czechen die Mehrheit der Bevölkerung darstellen 36 Bezirke, in denen die Mehrheit der Bevölkerung deutscher Nationalität ist und die deutsche Sprache spricht. Diese Bezirke stellen ein Gebiet von 16.311 Quadratkilometer dar. Nach der Volkszählung vom Jahre 1900 betrug die Bevölkerung dieses Gebiets 2.186.637 Personen. Von ihnen bedienen sich im täglichen Verkehr 2.001.962 Personen der deutschen und nur 148.051 Personen der czechischen Sprache. Es besteht also innerhalb Böhmens ein zusammenhängendes Gebiet, dessen überwiegende Bevölkerungsmehrheit deutsch ist. Ebenso bildet der westliche Teil von Österreich-Schlesien und der an ihn grenzende nördliche Teil von Mähren ein zusammenhängendes deutsches Siedlungsgebiet und auch die südlichen, an das deutsche Niederösterreich angrenzenden Gebiete Mährens sind deutsch.

                  Insgesamt wohnen in Böhmen, Mähren und Schlesien nach der letzten Volkszählung 3.512.682 Deutsche. Es ist selbstverständlich, daß der neue deutschösterreichische Staat auch die deutschen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens beansprucht. Wir sind überzeugt, Herr Präsident, daß Sie nach sorgfältiger Prüfung dieser Fragen, den von Ihnen verkündeten Grundsätzen entsprechend, es ablehnen werden, 31/2 Millionen Deutsche gegen ihren Willen dem czechischen Staate zu unterwerfen und sie zu einem Verzweiflungskampfe gegen die ihnen drohende Fremdherrschaft zu zwingen. Das Zeitalter der Demokratie in Mitteleuropa kann nicht damit beginnen, daß ein Volk von 31/2 Millionen Menschen einem Volke von 6.3 Millionen Menschen unterworfen wird.

                  Der dauernde Friede in Europa kann nicht dadurch begründet werden, daß in dem neuen czecho-slowakischen Staate eine deutsche Irredenta geschaffen wird, deren ständige Hilferufe nach Berlin und Wien dringen und den Frieden Europas gefährden würden. Und eine solche Vergewaltigung der Deutschen widerspräche auch dem von Ihnen, Herr Präsident, im Punkte 2 Ihrer Rede vom 12. Februar d.J. aufgestellten Grundsatze, „daß Völker und Provinzen nicht von einer Staatsoberhoheit in eine andere herumgeschoben werden, als ob es sich lediglich um Gegenstände oder Steine in einem Spiele handelte“, und ebenso dem 3. Und 4. Der dort aufgestellten Grundsätze, wonach „jede Lösung einer Gebietsfrage im Interesse und zugunsten der betroffenen Bevölkerungen“ und derart erfolgen müsse, „daß alle klar umschriebenen nationalen Ansprüche die weitestgehende Befriedigung finden sollen, ohne neue Elemente oder die Verewigung alter Elemente von Zwist und Gegnerschaft, die den Frieden Europas und somit der ganzen Welt wahrscheinlich bald wieder stören würden, aufzunehmen“.

                  Wir fordern daher, daß die deutschen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens als ein Bestandteil des deutschösterreichischen Staates anerkannt werden und ihre künftige staatliche Zugehörigkeit in Gemeinsamkeit mit ihm frei bestimmen sollen. Wir sind. bereit, mit der berufenen Vertretung der czechischen Nation über die Abgrenzung unserer Gebiete zu verhandeln. Sollte es sich aber als unmöglich erweisen, die Grenzen einvernehmlich festzusetzen, so schlagen wir vor, daß die Bevölkerung der umstrittenen Gebiete berufen werden soll, selbst durch allgemeine Volksabstimmungen zu entscheiden, zu welchem Staat sie gehören wollen. Wir sind einverstanden damit, daß diese Volksabstimmung unter der Kontrolle der Gesellschaft der Nationen von Beamten neutraler Mächte durchgeführt werde und daß alle näheren Bedingungen dieser Volksabstimmung vom Friedenskongreß oder von einem Schiedsgerichte in solcher Weise festgesetzt werden, daß jede Vergewaltigung der Abstimmenden und jede künstliche Beeinflussung des Abstimmungsergebnisses unbedingt vermieden werden. Die Regelung des Schutzes der in fremden Siedlungsgebieten immerhin noch übrigbleibenden nationalen Minoritäten wird im Wege der gegenseitigen Vereinbarung erfolgen können.

                  In analoger Weise wären diese Grundsätze auch auf die deutschen Siedlungsgebiete im Süden und auf die Regelung der staatlichen Grenzen gegenüber Italien und dem südslawischen Staat anzuwenden.

                  Sie, Herr Präsident, haben erklärt, daß Sie gegen die Regierungen der Mittelmächte, aber nicht gegen das deutsche Volk Krieg führen. Sie haben erklärt, daß Sie gleiche Gerechtigkeit für alle Nationen, auch für das deutsche Volk verwirklichen wollen. Wir appellieren daher an Sie, Ihre Autorität für das Selbstbestimmungsrecht unserer Nation einzusetzen. Da wir uns mithin ganz auf den Boden der Grundsätze stellen, die Sie, Herr Präsident, verkündet haben, wäre jede Verlängerung des Krieges zweckloser Mord an vielen Menschen.

                  Wir bitten Sie daher, Herr Präsident, Ihrer Autorität dafür einzusetzen, daß sofortige allgemeine Waffenruhe auf allen Fronten eintrete und uns die Möglichkeit geboten werde, auf einem allgemeinen Friedenskongreß in direkte Verhandlungen mit allen Nationen einzutreten, aus denen ein Friede hervorgehen soll der jeder Nation ihre volle Freiheit gibt und alle Nationen zu einem dauernden Friedensbund vereinigt.

                  Genehmigen Sie, Herr Präsident, den Ausdruck unserer vorzüglichsten Hochachtung.

      Der Vollzugsausschuß der deutschösterreichischen Nationalversammlung.

      Dinghofer                               Fink                             Seitz

      In: Neue Freie Presse, 30.10.1918, S. 4.                                                                  

      Max Ermers: Monarchische und republikanische Kunstpolitik (1925)

                  „Ja, aber was die Kunstpflege und das Kunstverständnis anlangt, da muß wohl auch jeder Republikaner zugeben, daß die Monarchie uns weit voraus war.“ So hört man nicht selten Menschen sprechen, die zwar schon im Herzen vollwertige Republikaner geworden, immer aber noch vom Glanz der höfischen Feste, vom Reichtum der kaiserlichen Sammlungen, von der Pracht der Spanischen Reitschule, von den Galavorstellungen in Oper und Burgtheater, von den reichen Dotierungen durch die kaiserliche Schatulle träumen. Sie sprechen dann vom Mäzenatentum der alten Aristokratie, von den Sammlungen des Fürsten Liechtenstein, von den Galerien Lanckoronski, Czernin, Harrach, Schönborn, von Wleceks Prachtburg Kreuzentein, von der Miniaturensammlung der Bourgoings, von der Albertina und von den mehr oder weniger reichen Sammlungen des Bürgertum, das, wie überall, auch im Aufspeichern von Bildern, Skulpturen, Miniaturen, Waffen, Keramiken mit einem hohen Adel wetteiferte. Gewiß, und das kann niemand leugnen, auch das 19. Jahrhundert und das Zeitalter Kaiser Franz Josefs I., an das die sehnsüchtig zurückblickenden Lobredner zumeist denken, hat seine Kunstgeschichte gehabt, hat seine Talente hervorgebracht. Gewiß, Monarchie und Aristokratie wußten sich ihrer manchmal zu bedienen. Quantitativ vielleicht sogar ausgiebiger, denn irgendwann. Aber die Kunst dieser Zeit, soweit sie in höfische Dienste treten kann, war von jener tiefinnerlichen Funktion, die sie Jahrtausende ausüben durfte, zu einer ganz äußerlichen dekorativen Angelegenheit herabgesunken, gerade gut genug, um der alternden Monarchie und der absterbenden Klasse der Feudalität die Blößen zu decken und den Abstand zum aufsteigenden Bürgertum noch einigermaßen zu wahren.

                  In Wirklichkeit aber fehlte den oberen Hundert und Tausend jene Sicherheit des Spürsinns in der Wahl der Künstler, die der Epoche äußeren Glanz verleihen durften, und das unterscheidet sie gründlich von ihren Vorläufern in den vorigen Jahrhunderten. An die Stelle von Versailles und Schönbrunn, die noch voll des echten Glanzes, treten die romantischen Kitschburgen von Neuschwanstein und Laxenburg. An Stelle der Hofmaler Raffael, Holbei, Dürer und Rubens treten die Hof- und Fürstenmaler Anton v. Werner, Winterhalter, Blaas und Angeli, Gerade bei uns in Österreich hat dieser äußere Kunstprunk die größten Verwüstungen angerichtet und es ist interessant, wie sich, auch ohne den Niedergang der Monarchie, d.h., vor ihr und innerhalb ihrer Anhängerschaft, das Urteil über jene Kunstpolitik geändert hat, die noch zu Lebzeiten ihre begeisterten Soldschreiber hatte. Von der Ringstraße, seinerzeit als Glanzstück der franziscojosefinischen Kunstpolitik angesehen, schweigt man gern still. Die Städtebauer wissen, daß sie eine verfehlte Prunk- und Auffahrtstraße war, die Architekten betrachten sie mit Recht als ein kunsthistorisches Raritätenkabinett, in dem sich die vier „Baubarone“, wie jene Zeit bezeichnenderweise Ferstel, Schmidt, Hansen und Hasenauer nennt, griechisch-gotisch-renaissancisch austoben durften. Dabei hat diese Epoche, trotz ungeheurer Geldmittel aus dem Stadterweiterungsfonds, nicht einmal die moralische Kraft gehabt, ihre Projekte auszuführen. Votivplatz, Museumsplatz, Heldenplatz sind als Plätze Torsi geblieben.

      An Stelle wirklicher Museen, die die Schätze der Vergangenheit bergen und sichtbar machen konnten, hat man uns Prunkpaläste hingestellt, bei denen die monumentalen Treppenhäuser die Hauptsache waren. Für diese Treppenpracht riß man den Canovaschen Theseus aus dem Tempel, mobilisierte Makart und Munkacsy für Deckenmalereien, die ihnen nicht zur Ehre gereichen. Ob die Museumsräume brauchbar seien, diese Frage stand an dritter Stelle— mit welcher Kon­sequenz. das weiß man. Gerade über dieses Kapitel monarchischer Kunstpolitik sollte man einmal die jüngste Schrift des Grafen Lanckoronski vornehmen, um zu wissen, wie selbst ergebene Anhänger des monarchischen Re­gimes über dessen Kunstpolitik denken. Das Maria- Theresien- Denkmal zwischen den Museen setzte dieser Kunstpflege die Krone auf. Fast noch schlimmer ist dann alles, was im neuen Burgtrakt geleistet wurde, vor dessen Vollendung uns ein glückliches Schicksal bewahrt hat. Aber die Riesensummen des Stadterweiterungsfonds wurden für diesen Riesenkitsch vertan, ohne daß auch nur ein Berufener die Stimme zu erheben gewagt hätte. Den würdigen Schlußstein dieser Bautätigkeit bildete dann das Kriegsministerium. «Nicht anders erging es der Malerei. Von der gestrichenen Pension des Realisten Waldmüller bis. zur von Franz Ferdinand gestrichenen Professur Egger-Lienz („weil nach Anblick solcher Bilder niemand mehr einrücken würde“) führt ein direkter Weg. Nur die Schlachtenmaler hatten ihre gute Zeit.

      Und was Franz Josef selbst, dieser ansonsten so liebenswürdige Ausstellungseröffner, von seinen Bilderjagden heimbrachte, war niemals geeignet, die Kunst zu fordern. Unvergeßlich seine entrüstete Abwendung von Segantinis Bild: Zwei Mütter. Der unglück­liche Maler hatte es gewagt, die Kuh, die gekalbt hatte, und die arme Häuslerin als Mütter nebeneinander zu stellen. Und nun gar erst die Bildhauerei.

      Von den großen österreichischen Plastikern wurde keiner herangezogen. Von Metzner bis Mestrovic— blieben sie ohne Aufträge. An allen Denkmälern darf sich nur die Mittelmäßigkeit und Untermittelmäßigkeit breit machen. Und das Kunstgewerbe? Einmal kam einer an der Jahrhundertwende, der die Gesundung versuchte. Der Hofrat Scala. Ein Erzherzog hat ihn hinausintrigiert und unser Kunsthandwerk krankt noch heute an seiner Hinausintrigierung.

      Nein und nochmals nein. Es war keine Heldenepoche höfischer Kunstpflege, die Habsburgerzeit des 19. Jahrhunderts. Die großen Sammlungen des Adels, Erbgut aus früherer Zeit, blieben für das große Publikum ohne Zugänglichkeit und ohne Bedeutung, das Bürgertum kopierte schlecht und recht die Sammelpolitik der Aristokraten, indem es kaufte und verkaufte, im übrigen aber den leeren Prunkwahn der Monarchie nach­zuahmen suchte. Das Wiener Rathaus und der berühmte Makartsche Festzug sind die ungewollte bürgerliche Parodie der großen Vorbilder. Das große Volk ging leer aus. An keinem einzigen Punkte setzte die Monarchie die breiten Massen mit der lebendigen, taufrisch sprudelnden Kunst ihrer Zeit in lebendigen Kontakt. Diese existierte für den Monarchen nicht, er wußte nichts von ihr, und wenn ja, dann war sie für ihn „Rinnsteinkunst“. Soweit die Kunstpflege oder — wie man eigentlich sagen müßte der Kunstbetrieb und die Kunstausnützung in der Monarchie. Und nun zur Republik.

      „Was würden Sie für dis Kunst tun, wenn Sie in Ihrem Lande Minister der schönen Künste wären?“ fragte man einmal Ferruccio Busoni. „Ich würde die Wasserkräfte aus­bauen“ war die lakonische Antwort. Diese Einstellung zum Kunst- und Massenerziehungsproblem ist für eine ganze Reihe von Päda­gogen und Künstlern charakteristisch. Alles, was einer künstlichen Überfütterung des großen Publikums mit billigen Symphoniekonzerten, mit Musteroperettenaufführungen, mit Museumsführungen, Verpflanzung moder­ner Kunstwerke in proletarische Elendswohnungen, kunstgeschichtliche Vorträge und dergleichen ähnlich sieht, erscheint ihnen verfehlt und gefährlich. Die Gesundung des Gesamtzustandes eines Volkes und insbesondre seiner Wirtschaftsverhältnisse erscheint ihnen als der einzig mögliche Weg, um an Stelle eines künstlerischen Firnisses zu einer wahrhaft künstlerischen Durchdringung der Volks­massen zu kommen. Kein Zweifel, der Weg, der gleichzeitig der Weg zur sozialen Republik ist, ist ein guter, und irgend einmal wird er schon zum Ziele führen. Aber wer hat genügend Geduld, ihn zu gehen? Wer genügend Gemütsruhe, die Häßlichkeiten, die teils als Verfalls­erscheinungen des alternden Europa, teils als Amerikanisierungserscheinungen unseres Kontinents täglich auf uns einströmen, zu ertragen? Schließlich: der.Kunstminister kann nicht alleSorge dem Volkswirtschaftsminister über­lassen.

      Gewiß: eine große republikanische Kunst­epoche, die das ganze Leben der Gemeinschaft und der einzelnen bis ins tägliche Leben künst­lerisch verklärt, kann nicht mit Rezepten irgend welcher Art verwirklicht werden. Dazu bedarf es jener großen künstlerischen Individualitäten, die wie in einem Brennpunkt das ganze Leid und die ganze Sehnsucht ihrer Zeit in sich konzentrieren und durch die Fülle hinreißender Werke die Gefolgschaft der Nation erzwingen. Ein Zeitalter Phidias oder Michelangelos kann nicht aus dem Boden gestampft werden.

      Was aber geschaffen werden kann, das sind die äußeren Vorbedingungen. Solange die Menschen in schmutzigen Städten, in elender Luft und an trüben Flüssen leben, meinte ein­mal Englands großer Kunstreformator, John Ruskin, solange sind alle Bestrebungen, ihr ästhetisches Niveau zu heben, illusorisch. Er hätte noch weitergehen können in seiner prophetischen Verkündigung. Solange die Menschen in ihren sonnenlosen, überfüllten, schlecht gereinigten mit Urvätergerümpel angestopften Wohnungen leben werden, ist jede Kunsterziehung unmöglich. Solange unsere Kinder in den monotonen Zwangsgefäng­nissen unserer Schulräume ihre disziplinier­ten und bewegungslosen Jahre absitzen müssen, Arbeitslosigkeit und Daseinssorge um die Familie ihr Gleichgewicht erschüttert, so­lange sie sich einem ungewissen Alter der Ver­armung entgegenschreiten sehen, solange sind sie für Kunstgenüsse unzugänglich… es sei denn, das Kunstwerk spiegle ihre eigene Not,ihre Probleme, ihre Leiden, ihre Hoffnungen wider… In diesem Falle stürzen sie dann meistens von der Skylla in die Charybdis, erleben statt Kunst und Dichtung politische Karikatur und gereimte Leitartikel. Wie gering der erzieherische Wert der Kunst ganz allgemein veranschlagt wird, in Europa und Amerika, das zeigt sich am besten daran, daß eigentlich kein einziges Land, mit der halben Ausnahme von Rußland, systematische Kunstpolitik treibt, ja an sie kaum denkt. Kunststellen aller Parteien und Kunstwarte der Gebietskörperschaften tauchen zwar allerorten auf, ober von keinem hat man schon ein systematisches Programm erblickt.

      Man verhütet das Allerschlimmste und wurschtelt im Traditionellen fort. Alle Städte des alten und des neuen Kontinents wachsen mit rasender Schnelligkeit. Aber hat man davon gehört, daß ihr Wachstum durch irgend welche künstlerischen Prinzipien planvoll nach bestimmten kunsterzieherischen Zielen diri­giert werde? Ohne Übertreibung darf man sagen, daß man das kunsterzieherische Wollen einer Stadt von ihrem Generalregulierungsplan mit seinen Straßenführungen, Platz­gestaltungen, lichten, schmutzlosen Gartenvororten, Grünflächen, Sonnenbädern, Strandbädern, Kindersiedlungen usw. ablesen könne. Aber welche Stadt hat sich schon zu solchem planvollen Zukunftswollen aufgerafft? Wohnreform ist der zweite Pfeiler einer vorbereitenden Kunsterziehung, die heute schon einsetzen kann. Aber welche Stadt, welches Land hat seine Wohnungspolitik auf äußere Schönheit der Architektur, auf innere Schön­heit der Bequemlichkeit, der guten Brauchbarkeit, der Gesundheit, des sinnvollen, erzieheri­schen Mobiliars, der zwangsläufigen Sauberkeit abgestellt? Welche Stadt ergänzt ihre Wohnungspolitik durch schön gebaute, geschmackvolle Erholungsheime und Klubhäuser, die die Kraft-, Zeit- und Geldvergeudung der Wirtsstuben völlig paralysieren? In Letchworth und Welwyn, die aus dem jungfräulichen Ackerboden gestampft wurden, kann man solche Heime finden, aber sonst…? Die sinnvolle Schule ist der dritte Pfeiler der Kunstvorbereitung. Die neue Methode, die die Kinder Hand anlegen läßt an alles, was lern­bar ist, die in Ton und Buntpapier und Pastell arbeiten läßt, ist gewiß ein guter Anfang. Aber so lange nicht die gesamte Jugend durch die gewaltigen Revolutionen der sinnerwecken­ den, aktivierenden Montessori-Schulen und freien Schulgemeinden hindurchgegangen ist, ist sie für künstlerische Erlebnisse nur höchst primitiv vorbereitet. Mit der Jugend muß be­gonnen werden, wenn das Alter schon nicht mehr zu retten ist, diese tiefste Erkenntnis aller Kunsterziehungspolitik müßte an der Spitze jedes Kunsterziehungsprogramms zu lesen sein.

      Körperliche Entfaltung— der vierte Grundpfeiler: Hier haben die Franzosen, die Schweizer und Amerikaner schon alles vor­bereitet, was geeignet ist, durch harmonische Entfaltung zu neuer Werteinschätzung des sich fühlenden menschlichen Körpers zu kommen. Unsere Körper sind durch Schulbank, Bureau und Werkstätte verkümmert und nur mehr aus Antikensammlung und Gipsmuseum ersehen wir ahnend entschwundene Möglichkeiten. In der harmonischen Körper­kultur bereitet sich eine neue künstlerische Revolution der Menschheit vor, die der Malerei, der Plastik, dem Drama, dem Tanz und dem öffentlichen Fest unerhörte Entwicklungen sichert. Wir aber drillen noch an tausend Orten die Weisheiten des Turnvaters Jahn. Für Schulreform und Kinderfreunde eröffnen sich hier außerordentlich« Perspek­tiven der Kunsterziehung, denen wir mit unseren wenigen Arbeiterstrand- und Sonnenbädern nur sparsam vorgetastet haben. Soweit die Vorbereitung unserer Sinne, unserer Körper, unserer Seelen, deren wir heute schon fähig sind.

      Und vollends muß man sich darüber ins Klare kommen, daß unsere heutigen Scheidun­gen im Kunstschulwesen völlig veraltet sind. Eine Künstlergeneration wächst auf der Aka­demie heran, die dem Kunstleben unserer Ge­neration völlig entfremdet ist, und Rettung ist hier nur durch einen Zusammenschluß der niedrigen und hohen Kunstschulen, des Kunst­gewerbes und der reinen Künste in eine ein­heitliche Erziehungsanstalt möglich. Dem Museumsbetrieb, der gewöhnlich mit Führungen, Umhängungen, Sonderausstellungen ins Zentrum der Kunsterziehung der Republik ge­stellt wird, gebührt lange nicht diese Aufmerksamkeit. Gewiß, was vorhanden ist, soll konserviert und zugänglich sein, auch erweitert werden. Ein Museum für Antiken, für Plasti­ken, für Naturvölkerkunst, für die städtischen Sammlungen und vor allem für die schaffende Gegenwart werden wir auf die Länge der Zeit nicht entbehren wollen. Aber, immer müssen wir uns vor Augen halten, daß Museumsbetrieb Wissenschaft ist und das musealisierte Kunstobjekt sich niemals an Wirksamkeit mit den Werken vergleichen kann, die an lebendigen Orten zeitgemäßen Seins und Erlebens aus­genommen werden. Hier klaffen Welten.

      Wie Dichtung und Theater, Musik und Kino helfen können, das Leben der Massen künst­lerisch zu durchdringen, mögen Berufenere sagen. Das meiste, was auf diesem Gebiete unternommen wurde, erscheint als tastender Versuch, der fehlschlug. Republikanische Kunstpolitik großen Stils, die diese gewaltigen Kräfte nicht als bloßen dekorativen Aufputz eines Volkes gelten lassen will, sondern als Mittel der Erhöhung des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens, ja als Mittel, die fehlende innere Gemeinschaft von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk erst zu schaffen, republikanische Kunstpolitik, wird diesen großen soziologischen Funktionen ihren rechten Platz anweisen. Alles, was heute auf diesem Gebiete versucht wird, ist gutgemeinter Dilettantismus und Mißverständnis.

      Unsere Sehnsucht aber geht dahin, daß es gerade unserer Stadt mit ihrer alten Kultur und ihrem politischen Fortschritt vergönnt sein möge, auch für das neue Verständnis, das einer republikanischen Kunstpolitik gegenüber überall in Europa wird einsetzen müssen, die Vorbedingungen zu schaffen.

      In: Der Tag, 25.12.1925, S. 28-29.