N.N.: Die Umwälzung

N.N. [Leitartikel]: Die Umwälzung. (1918)

            Wien ist von morgen an nicht nur eine deutsche Stadt, sondern eine Stadt in Deutschland, in der deutschen Republik. Dies mag für uns Wiener der sinnfälligste Ausdruck des ungeheuren Umsturzes sein, den wir in diesen Tagen miterleben.

            Kaiser Karl hat auf seinen Anteil an den Staatsgeschäften verzichtet. Er behält den Titel eines Kaisers, erklärt aber gleichzeitig, daß er die Entscheidung Deutschösterreichs über seine zukünftige Staatsform anerkennt. Nun wird Deutschösterreich morgen seine Umwandlung in eine Republik und seinen Anschluß an die deutsche Republik verkünden. Von der kaiserlichen Würde bleibt somit nichts andres übrig als der Titel.

            Aber das Wort, das der Kaiser über die Anerkennung unsrer zukünftigen Staatsform gegeben hat, verbürgt uns, daß der morgige Tag in Ruhe und Frieden verlaufen wird und daß auch der kaisertreueste Offizier keine Veranlassung haben kann, seine Waffen gegen den Willen des Volkes zu erheben. Es gibt in diesem neuen Staate keine Macht mehr, die sich gegen die republikanische Regierungsform und gegen unser restloses Eingehen in die so herrlich neugestärkte Gemeinschaft der deutschen Brüder wehren könnte. So haben diese Tage des tiefsten Leides es neuerdings bewiesen, daß niemand Deutschland zu schwächen und zu verkleinern vermag. Die deutschen Männer, die an den Küsten des Eismeeres, in Italien und am Balkan begraben liegen, sind nicht umsonst gestorben.

            Wir wollen mitten im Jubel den schweren und langen Weg nicht vergessen, der uns noch von der Vollendung unsrer neuen Heimat trennt. Die Loslösung von den früheren Staatsgenossen, die Angliederung an ein neues Staatsgebilde, das selbst noch alle Wehen der Umbildung durchzumachen hat, können noch Schwierigkeiten der ernstesten Art bringen. Neue Staaten können nicht mit dem Gefühl allein gebildet, sie müssen mit kühler, verstandesmäßiger Überlegung aufgebaut werden. Auch wir alle, die politisch mit ihm nicht eines Sinnes waren, müssen uns trauernd eingestehen, daß der Tod Viktor Adlers in dieser Stunde für unsre Republik ein Schicksalsschlag schwerster Art ist. Seine Lauterkeit hätte dem neuen Staate, die Art, wie er allein die Rede meisterte, hätte den Friedensverhandlungen Dienste getan, in denen ihn kein anderer zu ersetzen vermag.

            Der Antrag des Staatsrates, der morgen in der Nationalversammlung zur Annahme gelangen wird, hebt alle Vorrechte der Geburt auf und verbürgt allen politischen Ansichten durch die Festlegung des Verhältniswahlrechtes die Gleichberechtigung. Wir dürfen hoffen, daß keine politische Partei den Drang verspüren wird, die Umgestaltung in ein beschleunigteres Tempo zu versetzen. Damit zerfällt auch die Drohung der Entente, sie würde, um bolschewistische Regungen zu unterdrücken, in Deutschland einmarschieren, in Nichts. Sonst könnten der König von Italien, die englischen Lords und die regierenden französischen Advokaten am eigenen Leibe verspüren, was sie uns so lange vorgehalten haben, daß nämlich in diesem Kriege die militärischen Siege nichts gelten.

In: Neues 8 Uhr-Blatt, 11.11.1918, S. 1.