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Max Foges: „Die vaterlose Gesellschaft“. Psychoanalyse und Revolution (1919)

Max Foges: „Die vaterlose Gesellschaft“. Psychoanalyse und Revolution.

             Man muß schon einigermaßen mit der Terminologie der von dem Wiener Forscher Professor Siegmund Freud begründeten und so heiß umstrittenen psychoanalytischen Methode vertraut sein, um den Titel einer soeben in der Serie „Der Aufstieg“ (Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky, Wien-Leipzig) erschienenen Broschüre des Freud-Schülers Dr. Paul Federn: Zur Psychoanalyse der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft zu verstehen. Allerdings die Lektüre der schlanken Schrift wird auch den Laien auf dem Gebiet der Psychoanalyse sicher fesseln und ihm einen Einblick gewähren in die tiefsten seelischen Zusammenhänge, die den einzelnen schon mit der gesamten menschlichen Gesellschaft verbinden. Dr. Paul Federn wagt einen geistvollen Versuch, die abnorme seelische Erregung unserer Zeit, die sich in der Revolution und allen ihren Erscheinungen manifestiert, auf psychoanalytischem Wege zu erläutern, indem er eine der Grundlagen des Lehrgebäudes Professor Freuds, die sogenannte Sohneseinstellung im Vater heranzieht. Wenn man den Gedankengang Federns darlegen will, muß man, wie Freud es bei seinen Forschungen tut, auf die Urzustände der Menschheit, auf die Psychologie der Primitiven zurückgreifen.

             Die erste Form des menschlichen Zusammenlebens war die einer Herde, die unter der übermächtigen Alleingewalt eines Vaters stand. Ihm gehörten die Brüder, ihm die Frauen. Diese Vormacht war geheiligt durch ein System primitiven Aberglaubens, dem Keim späterer Religionen, war gehalten durch die größere Stärke des Häuptlings-Vaters. Heranwachsende einzelne Söhne, die sich nicht fügen wollten, wurden anfangs getötet, in einer späteren Periode vertrieben. Dafür, daß dieser Kampf zwischen Vater und Söhnen grausam und unerbittlich war, sprechen viele Momente, unter anderem die Rolle der Kastration, die, als Recht der Väter, als Angst der Söhne durch die Geschichte der Religionen und Gebräuche ebenso nachweisbar ist, wie sie in spontanen Angstvorstellungen der kleinen Knaben noch heute wiederkehrt. Das Ende eines solchen Tyrannen und Vaters war kein sanftes. Wenn seine Kräfte nachließen oder wenn der gemeinsame Haß der entrechteten vertriebenen Söhne diese zu einer Bruderhorde zusammenschloß, bekämpften und besiegten sie schließlich den Vater und es folgte […] eine Siegesmahlzeit, unter anderem auch, damit so die vom Aberglauben vorgestellte geheimnisvolle Zauberkraft des Vaters auf den Sieger übergehe […] So wiederholte es sich durch lange Generationen, bis der einen Wendepunkt der Kulturgeschichte bedeutende Fortschritt gemacht wurde, daß die Bruderherde sich nicht mehr nur zum Morde des Vaters vereinigte, sondern nach Beseitigung des Tyrannen als Söhneorganisation mit einem durch Vertrag bestimmten Vater beisammen blieb. Dann konnten sie von dem weiteren Vatermord ablassen und es bildeten sich große Gemeinschaften aus den Herden mit Häuptlingen an der Spitze. Aber die uralten Greuel, die in Wirklichkeit aufgehoben waren, wurden als Symbol und Zeremonie festgehalten in der gemeinsamen Totenmahlzeit, in der Vergottung des Vaters im Totenkult, in Gebräuchen, deren Weiterbau an die antike Tragödie und in die religiösen Opfer ausläuft. Es erhielt sich aber auch in der Seele des primitiven Menschen die zwiespältige Einstellung zum Vater: der schuldgehemmte Haß und die furchterfüllte Liebe. Der Vatermord, mit dem die Geschichte der Menschheit einsetzt, war später so sehr zur Sünde geworden, daß er außer alles Rechtes stand. Nichts ist dem Sohn verehrungswürdiger als der Vater, und doch enthält diese Verehrung noch heute in der Kinderseele einen Rest von der uralten Feindschaft, dem uralten Trotz und der uralten Schuld.

             Und nun führt Federn aus, wie der Sohn, jeder einzelne Sohn sich loslösend von der Autorität des Vaters, doch wieder in seinem Leben nach einer Vatergestaltung sucht, und als eine solche Vatergestaltung erscheint ihm der Kaiser im Verhältnis zu seinen Untertanen. Und übergehend auf die Ereignisse des Zusammenbruchs, der sozusagen die Untertanen vaterlos machte, schreibt er: „Nicht alle waren durch den Sturz des Kaisers unvorbereitet vaterlos geworden. Für viele hatte schon die Kriegserklärung die Vaterbindung zerstört, weil kein imaginärer Vater seine Kinder töten läßt, wenn nicht in höchster Verteidigungsnot der Mutter, des Vaterlandes. Diese Partei der ›Unabhängigen‹ vermehrte der Krieg dadurch, daß zwar nicht die fernste Vatergestalt, aber die näheren, die ungezählten Vorgesetzten, Amtsstellen und Offiziere so viel eigensüchtiges Anrecht begangen und so viel unbefolgbare Befehle erteilt haben, daß die ‚Niederen‘, die Arbeiter und Soldaten, schon während des Krieges dieselbe Enttäuschung an diesen Vätern erlebten wie einst in der Kindheit. Die Enttäuschung war so groß, daß sich bei vielen Tausenden die anhängliche Vatereinstellung noch nachträglich in haßerfüllte, oppositionelle verwandelte.

             Der Sturz des Vatertums in dem kaisertreuen Volke war in Österreich durch die wenig zur Vatergestalt taugende Persönlichkeit des jungen Kaisers erleichtert. Charakteristisch ist, daß allen antidynastischen Bewegungen diffamierende Gerüchte über das Herrscherhaus vorausgehen, die wenig Wahres mit viel Falschem vereinen und nicht mehr ausgemerzt werden können. So war es auch in der Französischen Revolution und in Rußland. Diese innere Ehrfurchtsverletzung untergräbt die Vaterstellung, wie einst die gegen den Vater gerichteten Schmähworte sie in der Kindheit gelockert haben. So geschah es, daß die Regenten ohne Widerstandsversuch fallen mußten, weil die gesamte Stimmung von unten bis oben nicht mehr trug. Viele vatertreu gebliebene Untertanen äußerten ihre Erbitterung darüber, „der Kaiser habe das Volk im Stich gelassen“, was zwar nicht der Wahrheit entspricht, aber die Zahl der vaterlos Gewordenen neuerdings vermehrte. Mit dem Sturz des Kaisers mußte alles kraftlos werden, was von der ideellen Vatergemeinschaft getragen war. All dem nicht zu gehorchen, war jetzt innere Bereitschaft, fast innerer Zwang geworden. Wer diese unbewußte Ursache versteht, wird die Vorwürfe, welche einzelnen die Schuld zum Beispiel am Wirrwarr des Rückzuges geben, sehr einschränken. So wenig der einzelne Nutznießer für die in Jahrtausenden entstehenden vererbten und eingewohnten Privilegien auf der Seite der Vatergestaltungen, für die Entrechtung auf der Seite der Söhne eine moralische Verantwortung trägt, so wenig konnte der einzelne die Folgen des Sturzes in seinem Bereiche aufhalten. Sehr ungerecht ist besonders die Entrüstung über Monarchisten, Klerikale und Bourgeois, daß sie nicht über Nacht Republikaner wurden. […] Der Wirrwarr wäre noch größer gewesen, wenn nicht die organisierten Sozialdemokraten schon lange die freiwillige Einordnung in ihrer Partei gelernt und ihr ideelles Vaterbedürfnis schon lange am Führer befriedigt hätten. Daß in Deutschösterreich die Revolution ohne die Raserei haltlos gewordener Menschenrudel verlaufen ist, verdanken wir dem Glück, daß Viktor Adler noch lebte und führte, den jeder Genosse fast bewußt als Vater empfand. Dem radikalen Teil der Partei, dessen Sohneseinstellung sich längst vom Obrigkeitsstaate, während des Krieges auch von den Parteiführern gelöst hatte, bot sich wiederum in der – man kann ohne Übertreibung sagen – heldenhaften Gestalt Fritz Adlers eine gemeinsame Vaterverbindung. Die Tat Fritz Adlers war darum von solch ideeller Bedeutung für die sozialdemokratische Partei in Oesterreich, weil sie der vehemente Ausbruch der Gegnerschaft gegen den alten Obrigkeitsstaat war, einer Gegnerschaft, die während des Krieges wie betäubt verstummt zu sein schien. Daran war auch das Vaterhafte des alten Kaisers schuld gewesen, dessen altgewohnte Greisengestalt viel zum Ausbruch des knabenhaften Enthusiasmus der ersten Kriegsmonate beigetragen hat. Wir erkennen daran, wie ohnmächtig die Vernunft gegen das Unbewußte ist, der Verstand gegen den Trieb sich erweist, mußte doch das hohe Alter lediglich eine noch größere Potenz seiner Unfähigkeit beweisen. Aber dem Gefühl des Volkes – darunter auch vieler Sozialisten – war er desto mehr von der mythischen Weihe des Vatertums umkleidet. Jetzt, da das Vatertum gestürzt is, büßt auch die Partei der Mehrheitssozialisten ihre Verbindung mit dem Gewesenen. Auch die alte Organisation ist den „vaterlosen Gesellen“ zu sehr vom Vatertum durchtränkt. Sie wollen der väterlich eingestellten Partei keine Gefolgschaft leisten.

             In demselben Sinn seiner Theorie und ebenso geistreich beurteilt Dr. Federn die Ereignisse in Deutschland. Seine Schlußfolgerungen zieht er schließlich dahin: „Bei denen, die sich jetzt von der sozialen Vater-Sohn-Einstellung gelöst haben, bleibt die Tendenz doch dazu so stark, daß sie nur auf eine geeignete, neu auftretende Persönlichkeit warten, die ihrem Vaterideale entspricht, um sich wieder als Sohn zu ihm einzustellen. Mit großer Regelmäßigkeit hat deshalb nach dem Sturz von Königen die Republik der Herrschaft eines Volksführers Platz gemacht.“ Allerdings meint er, es müsse nicht so kommen und weist besonders auf Amerika hin. Aber er selbst kann doch auch da seine Bedenken nicht unterdrücken und zeigt selbst den Durchbruch der Vateridee in Erscheinungen auf wie in der Verehrung der amerikanischen Jugend für Roosevelt. Auch räumt er ein, daß Amerika, das Einwandererland, insofern eine Ausnahmestellung einnimmt, als die Einwanderer die Objekte ihrer Vater-Sohn-Einstellung in Europa zurückgelassen haben. Und so schließt er resigniert seinen Beitrag zur Psychologie mit den Worten: „Das // Vater-Sohn-Motiv hat die schwerste Niederlage erlitten. Es ist aber durch die Familienerziehung und als ererbtes Gefühl tief in der Menschheit verankert und wird wahrscheinlich auch diesmal verhindern, daß eine restlos „vaterlose Gesellschaft“ sich durchsetzt.

In: Neues Wiener Journal, 12.9. 1919, S. 7-8.